Autorenseite

   weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Das Labyrinth des Daidalos

Auf der langgestreckten Insel Kreta in der Stadt Knossos lebte ein Kameenschneider Timon mit seinem Weibe Phrynia und ihrer Tochter Thisbe in dem Hinterhofe eines reichen Hauses. Er schnitt seine farbigen Schmucksteine, drehte sein Rädchen und hantierte geschickt mit seinen Stahlstiftchen von verschiedener Größe, mit dem Schleifpulver also kunstvoll, daß die erwünschten Vertiefungen sich als Bilder in den Stein einschliffen, so daß seine Kameen von den Käufern und Sammlern mit hohen Preisen gezahlt wurden.

Er war ein etwas träumerischer Mann geworden, der in seiner Jugend viel mit allerhand Weibern ein gewisses Wohlleben geführt hatte, bis daß ihn die verführerische Phrynia ganz an sich gefesselt hatte, also daß er mit ihr erst in Liebe gelebt hatte. Mit den Jahren aber hatte sich die Liebe, die sich zwei junge Leute gewöhnlich in der Zeit ihres Sinnenrausches einbilden, in Gleichgültigkeit und später in Kampf und Streit verändert und dies gar, als ihnen das Töchterchen Thisbe geboren wurde, das beide liebten und in dessen Erziehung sich gar bald Unstimmigkeiten breit machten, da der in Folge seiner jugendlichen Ausschweifungen krank gewordene Timon sein Kind streng von der Verführung der Menschen zurückhielt, während Phrynia nicht genug die wahrhafte Schönheit der dunkeläugigen Thisbe rühmen hören und offen zeigen konnte.

In den Pausen seiner Arbeitsstunden, die jetzt schon etwas größere Sorgfalt heischten, da Timon die Sehkraft seiner Augen schwinden fühlte, Zittern seine Hände unbeholfen machte und abspannende Müdigkeit seinen Körper lähmte, nahm der kranke Vater sein etwa 15jähriges Töchterlein gern auf die Knie, er schwärmte ihr in zärtlichen Worten vom Segen der Arbeit vor, er bat sie immer wieder in der Nähschule aufzupassen, damit sie später nicht um ihrer Schönheit allein, sondern auch ihrer guten Erziehung wegen begehrt und bewundert werde, er erzählte ihr von seinen Wanderfahrten durch Griechenland, den heiligen Tagen in Athen und seiner Rückkehr auf einem Regierungsschiffe nach Kreta, wo auch damals schon Minotauros, der Stiermensch, in dem in das Meer mündenden Ausgange des Labyrinthes wohnte. »Das Labyrinth, das weißt du«, so erzählte der Vater, »ist eine große Stadt unter der Erde, von Daidalos, dem Tausendkünstler, erbaut, wer es betritt, kann nie wieder zurückkehren und, wenn ihn das Schicksal in die Straße des Minotauros führt, so muß er sterben, da er ihn oder sie auffrißt«.

Dem Mädchen schauderte. »Ganz in der Nähe unserer Stadt liegt eine Stadt unter der Erde?« staunte sie. »Die Mädchen haben mir wohl von diesem Labyrinth oft geheimnisvoll erzählt, das alle schlimmen Mädchen verschlingt und alle Männer, die lasterhaft auf Erden lebten. Aber ich hielt ihre Reden immer für Märchen, sie plauderten so gemütlich von der großen Höhle, in die einzelne Kammern eingebaut wären, darin die Paare immerwährende Feste feierten, die Jünglinge heitere Kränze in den Locken, die Mädchen und Frauen in den herrlichsten Haematien aus Byssos, Linnen oder weißer Wolle mit glitzernden Gürteln oder im Doppelchiton, Spangen auf den Schultern und wunderschöne Kameen auf der Brust, vielleicht von dir geschnitten«.

Thisbe war dem Vater vom Knie weggehupft, sie tanzte vor ihm durchs Zimmer, daß er ihr mit beglückten Beifallsrufen folgte, bis daß Phrynia eintrat, Thisben Halt gebot und wütend auf den Vater losstürzte: »Das ist eine schöne Erziehung, du Narr, willst wohl dein Kind zur Hetäre erziehen, du Dummkopf!«

Da antwortete der gereizte Vater: »Eine Hetäre wird ein Mädchen nur, wenn sie es ist, wenn sie von ihrer Mutter als solche geboren ist«. Und da ihm Phrynia mit verzerrtem Munde und mit häßlichen Kopfstellungen, mit hängendem Unterkiefer und geducktem Körper nachäffte, stand er mühselig auf, er machte einen Umkreis um sein entstelltes Weib und schlich sich auf den Hof, die Nähe der häßlich werdenden, seine Augen beleidigende Frau zu fliehen.

Im Zimmer drinnen keifte die Mutter indessen weiter, sie verbot ihrem Kinde vor dem täppischen Vater zu tanzen, der sei ohnehin nicht fähig, dem schönen Rhythmus ihrer Glieder zu folgen, dazu sei er viel zu abgenützt und dumm, dieser Krüppel, auch müsse sie ihr Kleid höher bis zu den Knien raffen, wenn ihr Tanz Wohlklang und Gleichgewicht sein, wenn er die Männer berauschen und ihre Blicke ihr schwärmerisch folgen lassen solle, also wie sie ihr jetzt zeigen werde. Schon hatte sie ihren Chiton erhoben, schon setzte sie ihre spitzen Sandalen, das Knie des anderen Beines gebeugt, vor sich hin, sie hob ihr Gewand in schönen Falten empor und hüpfte also mit zurückgeworfenem Kopfe und lockenden Blicken durchs Zimmer, sie stieß einzelne Laute der Verführung aus, sang wohl auch wortlos die Melodie eines schamlosen Liedchens mit, um endlich mit tiefer Kniebeuge vor ihrem Kinde hinzusinken und die ihr atemlos Folgende zu umarmen, daß diese in die Hände klatschte und dann die keuchende Mutter umarmte: »Mutter, was bist du schön!« jauchzte Thisbe, »lehre mich doch auch die Füßchen so setzen und den Körper so seitlich nach rückwärts beugen, Mütterlein, mein geliebtes Mütterlein!«

Da trat der Vater wieder ins Zimmer, seine Füße schlürften kraftlos über den Boden, er sah traurig sein geliebtes Kind in den Armen der verruchten Phrynia, die ihm über dem Haupte seiner Thisbe häßliche Fratzen zuhöhnte, er setzte sich wieder zu seinen Steinen und schon kreischte sein Stahlstift wieder über dem surrenden Rädchen.

Thisbe aber sprang aus dem Zimmer, sie wußte ja, daß ihre Mutter mit bösen Reden und häßlichen Grimassen auf ihren Vater einreden werde, bis dieser ihr einen Hammer nachwerfen und die Schreiende aus der Tür drängen werde, Tränen in den Augen, die in die Falten seiner blutleeren Wangen niederrollten. Und so verging Tag um Tag.

 

II.

Tag um Tag. Aber auch die Nächte, die sonst doch ruhig verlaufen waren, wurden mählig unruhig hinter dem Vorhange, der vor dem Bette der Eltern hing, denn der Vater war immer leidender, er fiel am Abend auf sein Bett, kaum daß sich Thisbe niedergelegt hatte, indes Mutter Phrynia noch außer Hause weilte, wer weiß wo. Sie kam jetzt immer nach süßem Weine duftend und blumengeschmückt nach Hause, sie war aufgeregt und doch müde und stieß beim Bettsuchen an irgend einen Sessel oder an Vaters Tisch, dahinter ihr gemeinsames Lager war.

Vater wälzte sich schon unruhig auf seinem Bette, wenn er sie immer wieder von einem Gelage heimkehren hörte, er war empört über die Rücksichtslosigkeit, mit der sie durch das Zimmer der Schlafenden taumelte, er dachte dabei weniger an seinen gestörten Schlummer, als an sein unglückliches Töchterlein, das doch gewiß auch schon das lasterhafte Leben seiner Mutter verstand. Ihretwegen unterdrückte er jeden Fluch, er stöhnte nur vor sich hin und holte sich nach einigen so verbrachten Wochen bei einem Jünger Aeskulaps Schlafmittel, die ihm die Nächte erträglich machten, obgleich seine Vormittage nach solch einem erzwungenen Schlafe wie die verlängerte Nacht schienen und seine zitternde Hand nur widerwillig die scharfspitzige Arbeit des Stiftlenkens besorgte.

Die 16jährige Thisbe schlich jetzt schon oft vor der Abendröte aus ihrem Zimmer; sie trafen einander mit ihren Altersgenossinnen und den jungen Männern aus Knossos, die alle an ihrem freien Wesen große Freude fanden, besonders aber der wohlhabende Bürgerssohn Laërtes, der sich gern später mit der geschmeidigen, schlanken Thisbe von dannen schlich, um durch den Hain beim Sonnenuntergange zu wandeln, träumend die Zärtliche an sich gedrückt, unter einer rauschenden Zeder stehenbleibend oder über der Stadt auf einer der halbrunden Bänke der Bürgergärten sich in das Dunkel des Abends zurücklehnend, Thisbe zu umarmen und bebend und glückselig die entzückenden Wellen ihres schlanken, biegsamen, schmiegsamen Mädchenkörpers an seine kräftige Jünglingsgestalt zu pressen.

Indessen war der große, hellsilberne Vollmond über dem Meere emporgeschwommen, die Wogen schimmerten, die Tropfen der die Wogenrücken herabhüpfenden Schaumblasen flimmerten wundersam und wie bei den Kameen des Vaters schnitten die klüftigen Felsen ihre tiefdunklen Schatten scharf und hart in das Silber des weißen Strandes; die Schatten wurden manchmal von weißen Nebeln verdrängt, nur an jener Stelle dort war auch in der Nacht stete Bewegung, auch schien von dort her das furchtbare Brüllen des Wellenbrausens herzudröhnen, sodaß Thisbe, an Laërtes Brust geschmiegt, immer wieder wie abwehrend zu jenen Klüften hinwies, in deren Dunkel scheinbar die Mondmilch der Inseloberfläche hinunterfloß.

»Kennst du denn jene Stelle nicht, weil du mit so weiten Augen hinstarrst?« fragte Laërtes. »Das ist doch der Ort, wo Minotauros haust, der Stiergott, der so viele tausend Jahre immer wieder auf Kreta einbrach, starke und tapfere Helden ebenso auf seinen Hörnern aufspießend und dann zerfleischend, wie Jungfrauen und Hetären in Mengen. Da diese wahllose Metzelei des unersättlichen Riesenmenschen mit dem Stierkopfe ganz Kreta bedrohte, so folgte der König dem großen Alleskönner Daidalos, der den Minotauros zwischen den Felsen einmauerte, indes er in der Richtung gen Kreta das Labyrinth baute, die Riesenirrstadt unter der Erde, für Minotauros zu eng in ihren Gassen und zu niedrig für seine ungeheure Größe, so daß der Vielfraß auf die Leichname der Ertrunkenen angewiesen war, die ihm seine Knechte lieferten, und später auf die toten Körper all der Hetären und Lüstlinge, die in den Wirrgängen des Labyrinthes hausen. Hier huldigen sie ihrer Göttin Aphrodite. Die Weiber und sittenlosen Mädchen werden aus ganz Kreta in das Labyrinth getrieben, ihre Verehrer folgen ihnen zu Hunderten und so jubeln sie durch die Straßen der unterirdischen Stadt, wohnen in den Zellen der Felsengänge, bis sie von den Knechten des Minotauros gegen das Meer getrieben und dort aufgefressen werden.

»Ja, drücke dich nur warm an mich«, schloß Laërtes, »ich will dich schützen, daß du ruhig auf Kreta wohnst und niemals gezwungen bist, ein unterirdisches Dasein zu führen, weder im Wachen noch im Traume, meine süße, liebste, meine reizende Thisbe.« Sie küßten einander.

»Aber wie soll ich dich vor dem anderen großen Unglück schützen«, fuhr er fort, »das dir auch als reiner Kreterin drohen könnte, wenn Athen alle neun Jahre seine Seeleute hersendet, um sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge oder wenigstens einen Teil davon aus Kreta zu entführen, da Athen von Zeus auf Wunsch unseres tapferen Königs Minos zur Strafe für die Verwüstungen Kretas durch Minotauros verurteilt ist, sieben reine Jungfrauen und Jünglinge herzusenden, daß der Sonnenstier sie verschlinge. Aber Athen kauft dann statt seiner eigenen Opfer hier Jungfrauen und Jünglinge und es wird nicht mehr lange dauern, daß die neun Jahre um sind und zum drittenmale die schwere Buße auf dem Schiffe mit schwarzen Segeln hiehergebracht wird.

Da schleichen schon jetzt vertraulich scheinende Unterhändler auf der Insel umher, leichtgläubige, makellose junge Leute zu entführen. Nimm dich in acht, meine Geliebte, daß du nicht solch einem fremden Greise glaubst, der dich nach Athen bringen will, denn du würdest wohl nach Kreta heimkehren, aber in trauriger Rückkehr, als Zwangsgabe Kretas für Minotauros, aber nicht als Labyrinthsgeschenk, sondern vom Meere her als keusche Jungfrau«.

Thisbe hatte mit lauschenden Augen auf die Worte Laërtes geachtet, sie überlegte schaudernd, was schlimmer wäre, der Tod als Labyrinthsopfer nach Monaten oder Jahren des Schwärmens mit kopfverdrehten Männern, oder nach einem sonnenlosen Leben als Märtyrerin der Keuschheit und Reinheit. Sie entschied sich nicht, sie wollte dem Laërtes Treue wahren, sie umarmte ihn stürmisch und leidenschaftlich, sie küßte ihn mit glühenden Lippen, wobei ihr Tränen die Wangen herunterliefen, nicht aus Wehmut oder Schmerz, sondern bloß aus Mitleid mit sich selbst, der Leiderkorenen. Dann breitete sie die Arme gegen das Meer aus, durch die Schönheit der Welt ringsum bedrückt und ängstlich und doch in geheimer Zärtlichkeitssehnsucht.

»Ich muß nach Hause, eh daß meine Mutter zu meinem armen Vater heimgekehrt ist, weil sich dann ihre gemeinsamen Flüche auf mir vereinigen würden!«

Sie gingen rasch den Weg nach Knossos zurück, Thisbe drückte plötzlich heiß die Hand ihres Laërtes, dann verschwand sie in einer Nebenstraße; leise schlüpfte sie in ihre Kammer und ungesehen und ungehört in ihr Bett. O Träume dieses erregten Schlummers, Träume einer Jungfrau, die soviel Haß einer einmal Liebe gewesenen Leidenschaft um sich schaute voll Mitleids für den armen kranken Vater, die selbst so viel schöne Zärtlichkeit in ihrem dürstenden Herzen fühlte, heiß dürstende Sehnsucht nach Liebe, Liebe, Liebe!

Am nächsten Abend hatte sich Thisbe in ihr Feiertagsgewand gehüllt, hatte ihre Locken mit besonderer Sorgfalt geordnet und sich mit Rosen und Veilchen geschmückt, hatte immer wieder den Spiegel zur Hand genommen, um feurige Blicke senden zu lernen; und so schlüpfte sie zierlichen Schrittes, ihr Kleid hebend, durch den Abend, genau beobachtend, ob ihr auch alle Männer huldigend nachschauten, erfreut über ihre zärtlichen Worte ihm Vorübergehen, gar nicht gekränkt durch die höhnende Sprache einer Gleichaltrigen, die verachtenden Schmährufe der Frauen, die oft das Wort Labyrinth und Daidalos ihr zuwarfen, die Fragen der Bekannten ihrer Mutter, ob sie mit der ein Fest feiern gehe, und schon war sie in ihrem Freundschaftshaine angelangt und alle die Freundinnen und Jünglinge kamen ihr entgegen: Bist du Aphrodite selbst oder eine ihrer Chariten, eine der Halbgöttinnen der Holdseligkeit und Lieblichkeit? –

Laërtes aber warf ihr einen bewundernden Blick zu, bewundernd und doch ein wenig mißlaunig über diese Art der absichtlichen Geschmücktheit seiner Geliebten, zwei Freundinnen hatten sie schon zwischen sich gesetzt und Laërtes war ganz zufrieden damit, es drängte ihn über die Gründe dieses auffallenden Geschmücktseins Thisbe's nachzusinnen, er mußte immer wieder an sein gestriges Abendgespräch denken, vom Labyrinth und der Buße Athens an Minotauros, er schämte sich, daß er der Jungfrau all dies erzählt hatte, umsomehr als er von den vielen Freunden wußte, welch' eine lüsterne, heuchlerische Buhlerin ihre Mutter war und gar jetzt, da ihr Mann so krank und abgelebt dahinsiechte.

Er versank immer tiefer in seine Gedanken, er schaute noch manchmal gegen Thisbe hin, die lachend zwischen den beiden Freundinnen saß und doch immer wieder sehnende Blicke zu ihm schickte, die ihren Zweck verfehlten, da sie aus dem gefällig lachenden und den Anderen ebenso gefällig winkenden Angesicht kamen, er schlich sich aus der Helle seines Sitzes weg und ging den Hain heimsuchen, um über seine Gefühle dem Mädchen gegenüber nachzudenken und sich klar darüber zu werden, ob er sie wirklich geliebt oder nur begehrt hatte. Er hörte das Lachen und die fröhlichen Worte seiner Freunde und Freundinnen ihn noch lange geleiten, er hörte sogar in seiner Stille Thisbe noch singen, ein Lied, das sie in seiner Anwesenheit gewiß nicht gesungen hätte, er verschwand in dem Haine und seufzte oft aus seinem Sinnen, er legte sich auf das dunkle Moos unter den Bäumen, zufrieden mit seiner Flucht aus der Gesellschaft seiner leichtsinnigen, genießerischen Freunde und Freundinnen, er schwur, nicht mehr in ihren Kreis zurückzukehren und sich ernst der Wissenschaft zu ergeben.

Als er eine Stunde später aufstehen wollte, da sah er den Weg im Mondschein herauf ein Paar daherwandeln, er erkannte gleich seine Thisbe umarmt von Hedonos, der scheinbar berauscht – durch Wein oder Liebe – große Bewegungen machte, immer wieder den Nacken unter dem verschobenen Chiton Thisbe's suchend und küssend, immer von Neuem Thisbe niederzuwerfen versuchend, welchen buhlerischen Versuchen Thisbe wie im Kinderspiel entlief, bis Hedonos alle seine Kraft zusammenfaßte und Thisbe auf eine Bank niederzwang. Er wollte sich eben eng an sie drängen, da trat Laërtes aus dem Haine heraus; er sprach kein Wort, er schaute nur ernst verweisend auf das Gesicht des Mädchens, er wies Hedonos mit erhobenem Arme und ausgestreckten Fingern von dannen, dann aber, da der Trunkene sich auf ihn stürzen wollte, kehrte er ruhig um und ging Knossos entgegen, um in der nächsten Straße zu verschwinden.

Thisbe hatte sich emporgerafft, sie hatte ihr Kleid gehoben, daß seine Falten sie nicht im Laufe hemmten, und lief Laërtes nach, ohne ihn zu erreichen; ein rückwärts gewendeter Blick zeigte ihr den auf die Bank gefallenen Hedonos schlafend, da fühlte sie ihre Lippen sich härten, »häßliches Schwein«! rief sie ihm zu, sie fühlte jetzt auch ihre Müdigkeit nach dem Weine und ihrem Gange auf dem Bergwege, auf dem sie den schweren Hedonos gestützt hatte, immer wieder seinen schamlosen Angriffen wehrend. Sie lief jetzt die Straße hinunter, sie trat in ihre Stube, ein entsetzlicher Schreck lähmte sie, da ihre Mutter scheinbar eben nach Hause gekommen war und Vater, mit beiden Händen sich stützend, die Flut höhnender und gemeiner Worte sich über seinen elenden Körper ergießen fühlte, die von den verzerrten Lippen ihrer jetzt häßlichen Mutter ins Halbdunkel strömten.

»Da kommt dein geliebtes Kind Thisbe«, höhnte die Mutter, »schau' sie dir nur an, wie sie sich geschmückt hat als Straßendirne!«

»Wie du«, stöhnte der Vater, »wer ist in Knossos noch so verkommen und von allen ordentlichen Frauen und anständigen Männern so gemieden wie du, du Häßliche, Unsittliche! Du wirst bald von Knossos verschwinden, das Labyrinth erwartet dich schon. O Tag, erscheine, der mich von dir befreit!«

»Halt dein kläffendes Maul«, schimpfte sie, »was soll ich denn tun, da du in jeder Art ein Krüppel bist und kaum siehst, wenig hörst, die Hände gelähmt und die Beine gegeneinander schlotternd schon lange, lange kein Mann mehr! Soll ich dich noch lieben, da du so ein Jammerhaufen bist, und lieben muß ich, müssen wir alle Frauen und Mädchen auf Kreta, im Dunste des brüllenden Minotauros, der schwülen Wollust über Kreta und der Geilheit des Labyrinthes! Womit soll ich denn das Geld verdienen, das du brauchst, da du hinter deinem Arbeitstische sitzt und vor dich hinstarrst. Soll ich Thisbe wehren, wenn sie ihre Jugend genießen will, genießen und dabei verdienen!«

Da schrie Thisbe aus entsetztem Munde dem Vater zu »Glaube ihr nicht, ich verdiene nicht, wie die Mutter sagt, ich gehe mit meinen Freundinnen aus guten Häusern und mit wohlerzogenen Jünglingen durch den Abend, aber diese schrecklichen Flüche der Mutter kann ich, will ich nicht mehr anhören, dazu bin ich zu schwach, dazu habe ich dich, du armer Vater, zu lieb, habe ich mir von dir, Mutter, ein viel zu reines Bild gemalt. Ich bin todmüde, nun will ich mich in meine Decke hüllen, nicht mehr hören noch sehen, ich muß schlafen«.

Sie hörte aber noch einige Zeit das höhnende Lachen der Mutter, das traurige Aechzen des Vaters. Dann war die Nacht stille geworden, der häßliche Kampf Friede ...

 

IV.

Fehlerhafte Kapitelnumerierung im Buch. Re

Mutter und Tochter schliefen. Der Vater aber starrte in das dunkle Leere, er hörte nur immer noch die Worte seines Weibes, das sich angeblich um seinetwillen verkaufte und sein geliebtes Kind anfeuerte ein Gleiches zu tun, da er ja, kein Mann mehr, ein Krüppel und unfähig sei etwas zu verdienen. Er wiederholte immer von Neuem diese Worte, diese schamlose Bloßstellung seines Unglückes vor seiner Tochter, er wollte es nicht glauben, daß seine Tochter schon jetzt, als Kind, ihrer Mutter nachgeraten sei, es zog ihn aus dem Bette, er nahm seinen Umwurf und torkelte an dem Arbeitstische, seinem ehemaligen Arbeitstische, vorbei in den Hof und durch die Halle des Vorderhauses auf die im Morgengrauen schweigende Straße, er wußte selbst nicht, wohin es ihn zog, aufwärts gegen das Schloß oder die Hochebene mit den Gärten trugen ihn seine Beine nicht, so fiel er den steilen Weg abwärts gegen den Hafen und die Klippen und dort: ein letzter Aufschrei, der wie Thisbe! gellte, und sein widerstandsloser Körper ward von den Wellen gehoben und gegen den Felsen geschleudert, von wo er schlaff ins Meer sank, erlöst und erledigt, wohl bald eine Beute des Minotauros.

War es der Schrei, der Thisbe weckte? Die Sonne leuchtete schon hell und grell in das Zimmer, da fuhr Thisbe empor, sie saß wie lauschend und sich auf sich besinnend im Bette, sie schaute sich um, dort lagen die Kleider ihrer Mutter, sie erinnerte sich des gestrigen Abends, der Vorhang vor dem Bette ihrer Eltern war beiseite geschoben, Mutter schlief noch, den Kopf mit dem wohlgeordneten, ölduftenden Haar auf dem emporgeschlagenen, runden Arm, aber wo war der Vater, wo war der arme Vater? Thisbe sprang vom Lager, durchsuchte das Zimmer, sie schaute in den Hof, der Vater war verschwunden, ein furchtbarer Verdacht gegen die Mutter würgte sie, sie stürzte in das Zimmer zurück.: »Mutter« schrie sie, »wo ist der Vater?«

Da fuhr die Mutter in die Höhe. »Bist du verrückt?«, herrschte sie Thisbe an. Dann sah sie das Lager neben sich leer, sie griff sich an die Stirne: »Wo ist der Vater«, lallte sie die Worte ihrer Tochter nach, »wo ist der Vater?«

Sie machten sich rasch fertig, die Mutter fragte die Mägde des Vorderhauses, die im Hofe die Kleider der Herrschaft säuberten, aber niemand hatte den kranken Timon gesehen, da lief sie auf die Straße, sie fragte jeden ihr Begegnenden, sie lief weiter und weiter zur Burg empor, in alle Quergassen mit aufgerissenen Augen schauend, daß sie ihn entdecke.

Thisbe aber lief zum Hafen abwärts, ihr ging die Erinnerung an den gestrigen Abend nicht aus dem Hirn, ein häßlicher Geschmack verbitterte ihr den Mund, sie hörte die abscheulichen Reden ihrer Mutter wieder, die sich ganz offen als Buhlerin bezeichnet und auch sie, Thisbe, als solche dem Vater, dem armen, verwüsteten, unglücklichen Vater genannt hatte. Sie sah hie und da eine Bekannte zur Arbeit eilen, die entweder davonlief, wenn Thisbe sie ansprechen wollte, oder ihr mit der Frage zuvorkam: »Du gehst doch nicht auch zur Arbeit?« so daß Thisbe es bald aufgab, die Mädchen nach ihrem Vater zu fragen.

Im Gewühle des Hafens aber hörte sie aus dem Gerede der Schiffersleute, daß das Segelschiff Athens vor Anker liege, das Jünglinge und Jungfrauen für den Minotauros anwerbe, ein Schauder lief ihr den Rücken hinab und doch straffte sie sich empor. Ich will dem Vater beweisen, dachte sie, daß ich eine Jungfrau bin, er wird wieder nach Hause kommen, dann soll er hören, daß ich als Jungfrau angeworben wurde, um als Jungfrau zu sterben. Zur Mutter will ich nicht mehr zurück!

Das Wort Jungfrau war in jedem Gedanken, den sie dachte, es war gewiß keine Keuschheit in diesen Gedanken, sie war eine Jungfrau bloß deshalb, weil sie noch körperlich eine Jungfrau war, indes ihr Sinnen erfüllt war von Eitelkeit und Unkeuschheit, als ob sie schon in den Gängen des Labyrinthes wohne, aus denen kein Sterblicher mehr den Rückweg finden kann, dem verfallen er sein ganzes Leben angehören muß. Ich will dem Vater beweisen, daß sein Kind noch Jungfrau ist, ich muß es ihm beweisen, damit er weiterlebe, der Mutter, auf daß sie aufhöre, den Vater zu schmähen und zu kränken.

Sie sah so seltsam aus zwischen all den grauen Seegreisen und gebräunten Schiffsleuten, da sie bald hier, bald dort auftauchte den Vater zu suchen, daß schon in der nächsten Stunde ein athenischer Ausgesandter sie anwarb, daß sie die abscheuliche Untersuchung überstand, ob sie tauglich sei, als athenische Geisel dem Stierriesen vorgeworfen zu werden, noch drei andere unglückliche Mädchen, kranke oder sinnverwirrte, häßliche Jungfrauen waren aus Kreta auf dem Schiffe – was liegt dem Minotauros an Schönheit! – und fünf Jünglinge, die sich freuten, daß nun auch die schöne Thisbe zu ihnen kam.

Unter den Jünglingen war einer, dessen Bruder hatte ihn auf das Schiff geleitet, um den letzten Tag noch mit dem Armen zu verleben. Als er abends dann zum Strand gerudert werden sollte, da schlich sich Thisbe an ihn heran: »Du mußt mir einen Dienst erweisen, ich will dafür deinen Bruder überwachen auf unserer traurigen Reise. Geh' morgen früh zu meiner Mutter, der Frau des Kameenschneiders Timon im Hinterhause des reichen Aristobulos, der sage, daß ich mich habe anwerben lassen von den Athenern, um als Jungfrau dem Minotauros mit sechs anderen Jungfrauen und sieben Jünglingen vorgeworfen zu werden, damit er, dem das scheußliche Fett der Buhlerinnen aus dem Labyrinthe widersteht und das faule Fleisch der Buhler, einmal in neun Jahren reines Fleisch genießen könne, wie Zeus es befohlen. Wirst du mir den Dienst erweisen? Ich danke dir. Und grüße meinen armen Vater!«

Schon am nächsten Morgen stieß das Schiff vom Strande, um nach Athen zu fahren. Da standen die Mädchen und Burschen auf Bord des Schiffes, als sie an den Klüften des Minotauros vorbeifuhren, hier sollten sie gelandet werden, wenn das athenische Segelschiff mit der vollen Zahl von Jünglingen und Jungfrauen wieder zurückkehren würde im nächsten Monat. Sie hörten das fürchterliche Schnaufen des wilden Minotauros, dem der kretische König Minos von Daidalos das Labyrinth hatte bauen lassen, daß er eingemauert Kreta nicht mehr verwüste.

Thisbe erinnerte sich, wie ihr Laërtes vom Labyrinth erzählt hatte; sie stellte sich vor, was der für ein verschämtes Gesicht machen werde, wenn er von dem Entschlusse Thisbes hören würde, ihre Jungfräulichkeit dem Minotauros zu opfern, wie er sich Vorwürfe machen werde beigetragen zu haben, daß sie sterbe. Der alte Athener, der sie angeworben hatte, stand bei ihnen, da sahen sie plötzlich auf einem flachen Platze vor dem Ausgange des Labyrinthes einen alten Mann, Daidalos mit seinem Sohne Ikaros, dem hatte sein Vater mächtige Flügel an die Schultern geschnürt, daß er fliegen lerne; denn Ikaros hielt es nicht mehr lange aus in der Luft von Buhlerei, Häßlichkeit und Gemeinheit, und so hatte der Tausendkünstler Daidalos feste Adlerfedern mit Wachs an ein Gestell befestigt, das sein Sohn umgeschnürt bekam, sich damit in die reine Luft über dem Meere zu schwingen. Heute aber, da die unglücklichen Jünglinge und Jungfrauen auf ihrem Schiffe am Labyrinth vorbeifuhren, rein und unverderbt nach Athen fuhren, um später zurückzukehren als Fraß des Sonnenstiers, da schwang sich Ikaros in die Lüfte, daß die verzweifelten Opfer auf dem Schiffe ihn sähen, ihn in seiner Sehnsucht nach dem reinen Aether, seiner Sehnsucht nach oben, wo die Götter wohnen. Schweigend die Hände an ihr unglückliches Herz gepreßt, sahen dem in den Lüften Schwebenden die Unglücklichen auf dem Schiffe nach. Dann schwand langsam Kreta, Knossos mit der Burg und die Felsen vor dem Labyrinth, das Schiff segelte mit frischer Brise gen Athen.

 

V.

Mutter Phrynia war abgehetzt gestern Mittag nach Hause zurückgekehrt, sie hatte von keinem Menschen etwas über ihren Mann erfahren, sie hoffte Thisbe zu Hause zu finden und auch Timon, der gewiß in einer geistigen Verwirrung in der Nacht aus dem Hause entwichen war, ohne selbst zu wissen, was er wollte. Sie verbohrte sich in diesen Gedanken, daß ihr Mann nicht mehr zurechnungsfähig sei, ihr Haß gegen ihn vertiefte sich und ihr Mitleid mit sich selbst, die nun Mann und Kind allein ernähren mußte, wer weiß wie lange noch, bis die Götter sich ihrer erbarmen und den häßlichen Unnütz in den Tartaros holen lassen würden. So kam sie nach Hause, aber ihr Zimmer war leer, weder Vater noch Kind waren zurückgekehrt, da liefen die auch sonst leichtflüssigen Tränen über ihre Wangen nieder, indes sie ihr Essen vorbereitete, während des Essens und dann auf dem Lager, darauf sie sich ausgestreckt hatte, ihre müden Glieder auszuruhen. Sie hatte mit großem Schrecken im Spiegel gesehen, wie eingefallen ihre Wangen waren, wie dieser Vormittag ihrer Schönheit geschadet hatte.

Als sie nach einigen Stunden erwachte, war ihr Erstes, daß sie ihr Gesicht wieder schminkte und puderte, daß sie ihre Augenbrauen unterstrich, die Haare ordnete und ihre Stirnbinde umlegte, so daß sie wieder mit sich zufrieden war. Sie dachte an die stets übertrieben fühlende Thisbe, die wohl immer noch den Vater suchte, aber der Hunger werde sie wohl endlich nach Hause treiben, wenn sie nicht vielleicht einen ihrer Verehrer gefunden hatte, der sie mit Speise und Trank tröstete, Speise, Trank und Liebe. Sie bereitete jedenfalls ein Mahl vor, falls Thisbe während ihrer Abwesenheit nach Hause käme, dann zog sie wieder aus, Timon zu suchen; sie hatte für Abend ohnedies ein Stelldichein mit einem ihrer Freunde, der sollte ihr raten, was sie tun solle, falls Timon nicht heimkehre; denn das hoffte sie jetzt schon ganz bestimmt, ihre Brust hob sich freier bei dieser Zuversicht, sie selbst wollte sich schon durchbringen mit ihrem Körper und Thisbe werde ihrem Rate folgen. So verderbt sie war, so war doch bei aller Niedrigkeit und Verruchtheit ein starker Geiz in ihr, sie wollte von dem verdienten Gelde auch fürderhin beiseite legen was möglich war und auch Thisbes Verdienst überwachen und sie Vorsicht lehren, daß nicht die Stadtdiener sie aufgreifen und in das Labyrinth schleppen könnten, woher es keine Rückkunft gab.

Sie redete sich in eine ruhige Stimmung hinein, sie wollte nicht mehr weinen, weil das ihr sorgfältig hergerichtetes Gesicht wieder zerstört und häßlich gemacht hätte, so traf sie abends verlockend in gezwungener Heiterkeit ihren Buhlen, der sie zuerst in den Kreis seiner Freunde und ihrer Freundinnen geleitete, wo sie sangen, tanzten und tranken, einander küßten und kosten in vergessenmachendem Jubel, denn jeder hatte etwas zu vergessen. Während des gemeinsamen Abendmahles erzählte sie dann ihrem Freunde von dem großen Ereignisse der vergangenen Nacht, er kannte den kranken Timon, und so war in seinen Trostworten mehr Hohn über den verschollenen Schwächling, der sein Weib der Unzucht überließ, als Mitleid, er lachte, als er scheinbar Phrynias Eifersucht aufstachelte, daß ihr Timon gewiß in den Armen einer Dirne Frieden gefunden habe und daß sie ihn bei ihrer Heimkehr zu Hause finden werde; die Tochter werde zu gleicher Stunde von einem der jungen Burschen aus der Stadt getröstet heimkehren und so werden die drei noch ein festliches Wiedersehen feiern. Er hob seinen Becher hoch und trank auf die reine Liebe, die echte, kretische, reine Liebe; wie gern wäre er heute dabei, wenn sie dieses Fest feiern würden.

»Du mußt auch mit mir nach Hause gehen«, sagte Phrynia, »ich fürchte mich allein in meinem Heime. Er wird sicher nicht zurückkommen, Thanatos hat mirs im Traum ins Ohr geflüstert, und Thisbe, Thisbe ...«

Sie versank in Sinnen, ihr gefiel der Einfall, daß ihr Freund sie heimgeleiten werde, sie wolle erst nachschauen, ob Thisbe heimgekehrt sei, wenn nicht, dann müsse er bei ihr bleiben und sie trösten. Und so geschah es auch.

Sie sprachen noch dem für Thisbe bereitstehenden Mahle zu, dann schloß sie die auf den Hof gehende Türe und dann, dann schliefen sie ein.

Für sie war es noch dunkle Nacht, als es mächtig an die Tür klopfte, da sprang Phrynia vom Lager, sie zog den Vorhang vor, daß ihr schlaftrunkener Buhle auch weiterhin im Dunkel lag, und ging die Tür öffnen, sicher, daß Thisbe endlich heimkomme. Aber draußen stand ein unbekannter junger Mensch, der kam ihr melden, was ihm Thisbe aufgetragen hatte. Da schrie sie entsetzt auf, ihre Tochter als Fraß des Minotauros! Ein Jammer zerwühlte sie, ihre Tochter im Labyrinth, in der Stadt der Wollust, aber ohne ihre Freuden zu genießen, als Opfer und Sühne für die Sünden, die sie, Phrynia, verbrochen bis heute, ihr unglückliches Kind, an dessen Reinheit sie in ihrem verderbten Sinn schon lange nicht geglaubt hatte und das nur deshalb auf das Schiff der Athener sich verdingt hatte, um ihr seine Unschuld zu beweisen! Sie hatte keinen Halt mehr, sie dankte dem Fremden kaum, sie hatte nur einen Gedanken, sie müsse ihrer Tochter entgegen in das Labyrinth, sie werde sich schon durchtasten und durchfragen bis zum Strande des Sonnenstieres, sie werde ihre Tochter retten, und wenn sie selbst sich statt ihrer dem Minotauros vorwerfen sollte. Sie lief davon, ihren Freund auf dem Lager lassend, dem Eingang des Labyrinthes entgegen. O, sie mußte nicht fragen, wo das Tor der Stadt der Wollust sich öffne, der Dunst der Buhlerei schwebte über Kreta seit vielen Jahren, bis er endlich in die unterirdische Stadt gebannt ward, in die von Staatswegen alle Dirnen und Buhlerinnen, alle Verführer und Buhler gebracht wurden, daß sie sich hier zu Tode buhlen, da niemand, der diese sonnenlose Stadt der Unsittlichkeit betrat, jemals den Weg zurückfand und endlich dem immerdar hungrigen Minotauros zum Fraße vorgeworfen wurde.

So war die Stadt Symbol und doch nicht Symbol, sie sollte die sitten- und seuchenverwüstete Insel von allem Laster reinigen helfen, Diener des Landes schleppten immer von neuem gefangene Buhlerinnen mit ihren Opfern, Verführern und Lüstlingen zum Tore des Labyrinthes hinunter, wo sie von den vielen, zu lebenslangem unterirdischem Dienste verdammten Dienern des Labyrinthes übernommen wurden. Einem solchen Trupp schloß sich Phrynia an, sie ließ, je näher sie dem Tore kamen, einen umso größeren Zwischenraum zwischen den Verurteilten und sich, der freien Bürgerin, der sich selbst opfernden Dulderin, im Tore drehte sie sich noch einmal der Sonne zu, die Arme emporwerfend, ob nicht Zeus ein Wunder an ihr vollführe; da aber hatten sie schon zwei Knechte erfaßt und weggeschleppt durch die halbdunklen Gänge, die sich zu Gassen erweiterten, kreuz und quer, die breit anfingen und plötzlich schmal endigten, über allen als Himmel der tropfende Felsen, alle Wege eingesäumt von scheinbaren Palästen, Häusern und Hütten, die aber nur die Vorderwände als solche kennzeichneten, indes hinter diesen in den Felsen gehauene Säle, Zimmern oder Kammern ihrem elenden Zwecke dienten, Lasterhöhlen zu sein umso schamloserer Unzucht, als weder eine Sonne noch ein Sternenhimmel die Sünder gemahnte, daß Götter über ihnen wandeln, Götter der Gerechtigkeit und Götter der reinen Lebensfreude, Liebe und Schönheit.

Es waren aber auch zwischen den vielen Schenken und Lasterhäusern offene Läden, in denen allerhand Buhlerinnenputz und -schmuck, Blumen und Perlen verkauft wurden, da den Dirnen bei ihrer Erfassung erlaubt war Geld in das Labyrinth mitzunehmen, soviel ihre Taschen fassen konnten, Geld und Gold und Zierrat aus ihren Häusern oben im Sonnenlichte, indes an einem andern als dem allgemeinen Tore Händler aus Kreta ihre Waren, Schmuck und Leckerbissen, Wein und Obst feilboten, die im Auftrage der reichen Labyrinthhändler von den Aufsehern und Knechten aufgekauft wurden. Vor ihren Geschäften leuchteten Ampeln in vollem Lichte, während an den Straßenecken ärmliche Oellämpchen schwälten und aus den Fensterhöhlen qualmten und roh gemeißelte Standbilder der Unzucht, eines so häßlich wie das andere, holzgeschnitzte Priape, beleuchteten, die mitten im Wege standen, bis dieser sich zu einem Marktplatz erweiterte. Die eine Seite des Platzes war von dem Strafgerichtshause eingenommen, dessen großer Saal die oberirdischen Gerichtshöfe verhöhnte und an dessen Tischen schlaff gewordene Lüstlinge Richter spielten, strenge Richter der Keuschheit und Reinheit, die aus den ihnen vorgeführten Lüstlingen und Metzen die auswählten, welche heute dem Minotauros vorgeworfen werden sollten.

Vor diese Richter ward Phrynia gebracht, denen sie ihr trauriges Schicksal mit Mann und Tochter, dem jungfräulichen Opfer Athens für den Sonnenstier schildern wollte. Da hob aber der Oberrichter abweisend die Hand; jede Dirne erzählte solche Geschichten, die Diener rissen Phrynia das Augenstirnband herunter und wiesen sie aus dem Saale. Draußen harrte eine Menge suchender Männer, durch deren Reihen ging die wieder eitel Werdende, unter den Männern aussuchend und von einem gewählt, der ihr verlockend eine Perlenschnur entgegenhielt mit einer abschließenden Kamee, wie sie so zart und doch so scharf geschnitten nur Timon in seiner jungendlichen Vollkraft hatte fertigen können. Da schien es Phrynia ein gutes Werk, daß sie sich just dem ältlichen Gunstbewerber anschloß, als erstem Buhlen im Labyrinthe des Daidalos, im Labyrinthe des Minotauros.

 

VI.

Traurig war das Schiff mit den kretischen Opfern in den schönen Hafen Athens eingefahren. Thisbe hatte die Tage damit verbracht, auf Bord des Schiffes in das Meer und über das Meer in die Zukunft zu starren, die für sie den sicheren Tod im Labyrinthe bedeutete. Immer wieder drängte sich ihr die Frage auf, ob sie nicht doch klüger gehandelt hätte durch das Labyrinth von Knossos her der Fraß des Stieres zu werden nach dem Genusse des Lebens in vollen Zügen, aber immer wieder hatte sich das Bild ihres verschollenen Vaters, das verzerrte Gesicht ihrer Mutter, der sicher Labyrinthbestimmten, in den Wellenschaum gezeichnet, die reine Meeresluft hatte den Dunst verdrängt, der so schwül über Kreta lastete, ihre Gedanken waren von Tag zu Tag, der sie Athen näherte, Athen und der trüben Heimfahrt nach ihrer Geburts- und Todesstadt Knossos, ernster und reiner geworden. Sie hatte unter den Jünglingen zwei gefunden, die gleich ihr dem lähmenden Fluche Kreta's entweichend sich freier werden fühlten, die mit ihr Gedanken tauschten, die ihre Muskel in der Meeresluft sich härten fühlten und einen Drang nach Betätigung, nach Kraftäußerung in ihrer Brust wachsen merkten und die dann umso ernster ihr Schicksal vor ihren Blicken drohen sahen, ihr Schicksal, schimpflich und doch selbst gewählt, den Tod durch den Sonnenstier.

Sie gingen dann mit der klugen Gefährtin ihrer schwermütigen Gedanken, mit Thisbe, auf dem Schiffe auf und nieder, sie sprachen sich ihr Elend von den einsilbig gewordenen Lippen und waren aufs Tiefste empört, wenn sie die Blicke ihres Aufsehers auf sich brennen fühlten, der darüber wachen mußte, daß die aus Kreta, der Insel der Lüste, Stammenden nicht noch jetzt vor Athen wieder kretisch empfindend und auch kretisch handeln mögen. »Was denkt der Narr von uns, deren Seelen in Kurzem auf den Ufern des Styx stehen werden, daß Charon sie in seinen Nachen nehme! Wir sind nicht Kinder Kreta's mehr, auch nicht Opfer Athens, wir sind bloß noch Schatten jugendlicher Menschen, deren Glut nur deshalb noch durch unsere Adern fließt, an die Schläfen pocht, damit des Minotauros Hunger nach reinem Menschenfleisch befriedigt werde. Dieses Blut hat längst seine roten Süchte vergessen, es ist nicht mehr heischendes Menschenblut ...«

Dann trat der Aufseher wohl zu ihnen, er fragte, ob sie Wünsche hätten, dann aber erzählte er ihnen von Theseus, des attischen Königs Aigeus herrlichem Sohne, der stark war wie Herakles und doch lieblich die Lyra meisterte, der eben von seinen heroischen Zügen durch die Küstenstriche des Peloponnes nach Athen heimgekehrt war, die er von all den tierischen und menschlichen Ungeheuern gereinigt hatte, von Periphetes, dessen furchtbare Eisenkeule er dem erlegten Riesen abgenommen, von Sinis, dem isthmischen Fichtenbeuger, Skeiron, Kerkyon, Prokrustes, von Phaya, dem wütenden Wildschwein, und vielen anderen. Heimgekehrt hatte er noch die fünfzig Thronanwärter, die ihm seine Thronberechtigung streitig machen wollten, besiegt und war jetzt der Stolz Athens, das herrliche Vorbild aller jungen Helden.

Da hatten wohl beim Lauschen auf die Erzählungen ihres Wächters die Augen seiner Zuhörer aufgeleuchtet, aber waren dann umso trauriger geworden. Was war doch ihr Schicksal schwarz neben dem Sonnenleuchten dieses Auserwählten!

Und doch zitterten ihre Herzen einige Tage später, als Theseus, der Uebermensch, im Hafen von Athen auf das Schiff kam, der göttlich schöne, starke Held, um sie, die Gebeugten und Gebückten, anzusehen und zu begrüßen als Helfer Athens. Er freute sich der Kinderschönheit Thisbe's, die zart und schlank und lieblich geblieben war, trotz der traurigen Ueberfahrt, von der ein so seltsam weicher und doch starker Duft ausging, daß er, Theseus, der Held, aus Jugendkraft, aus Ueberschuß an schlummerndem, gern gewecktem Siegerdrange, aus brennend heißem Wunsche des Heldenblutes sie am liebsten mit einer Hand erfaßt und zu sich emporgehoben hätte, um sie dann zart wie seine Lyra an die Brust zu drücken, ängstlich, ihr nicht weh zu tun mit seiner gesunden, überstarken Zärtlichkeit. Er sprach sie an, er streichelte ihr Haar wie das Fell eines Kätzchens, aber er hemmte sich, sie mußte ja Minotauros aufbewahrt bleiben nach Zeus Beschlusse. Dann aber reckte er sich empor, ein Gedanke war ihm bis in die Fingerspitzen gefahren.

»Ich will mit euch nach Kreta«, rief er aus, »ich fahre mit euch zum Labyrinthe! Gebt den Jungfrauen und Jünglingen, deren Zahl sich noch heute in Athen auf je sieben ergänzt, auf meinem Schiffe gute Unterkunft, denn mich dünkt, sie sind ebenso heldenhaft im Dunkel, wie ich Glücklicher es im Lichte bin. Zieht die Trauerfahnen hoch auf meinem Schiffe, wie befohlen ist, damit sie in ihrem Schatten wandeln können, bis wir nach Kreta kommen, und schafft mir die eiserne Keule des Periphetes aufs Schiff. Die will ich brauchen!«

Er eilte in die Königsburg, seinem Vater von seinem Entschlusse zu melden, selbst die sieben männlichen und weiblichen Opfer nach Kreta zu bringen, er wolle seine Taten krönen durch einen Zweikampf mit dem stierköpfigen Minotauros, um die Schmach von Athen für immer zu nehmen. Dann eilte er zum Hafen, wo sein großes Segelschiff mit den schwarzen Segeln schon bereitlag und darauf eben die armen Opfer gebracht worden waren, er ging aber noch nicht auf das Schiff, er eilte in den säulengestützten Tempel Aphrodite's, der Göttin des Liebreizes, der Anmut und Liebeslust, der Meergeborenen und Meerbeherrschenden; seine Diener trugen in Körben üppige Lasten von Rosen und Anemonen, Granaten, Tamarisken und Myrthen, die sie, die Frühlingsschöne, erschaffen hat, sie, Aphrodite Urania, die Gebieterin über Mond und Sterne, Regen und Gewitter. Er ließ die Körbe vor dem ragenden Standbilde der üppigschlanken Göttin mit den runden Brüsten auf den Boden leeren, daß die herrlich duftenden Blumen wie ein Samtteppich den Marmor deckten.

»Du Göttin Aphrodite, die ich anbete als Göttin des Meeres, als Göttin des Frühlings und als Lenkerin des Menschenschicksals, beschütze mich, da ich ausfahre den Menschenstier Minotauros zu töten in seinem von Wollust durchtobten Labyrinth, damit von Athen die Schmach genommen werde, ihm Jünglinge und Jungfrauen zum Fraße vorwerfen zu müssen, steh mir bei, du Goldene, Holdleuchtende, lenke mein Schiff durch die Wogen, beschirme mich, auf daß ich mit heiteren Segeln zurückkehre, der ich jetzt mit schwarzen Segeln ausfahre. Ich bin Dein, Du Blühende, Du Schöne, Du Liebreizende, Du hohe Göttin!«

Da war es Theseus, das Lächeln auf dem wunderschönen Angesichte Aphrodites werde noch lieblicher, noch reizvoller, ihm war, als ob ihr Haupt trotz des weiß schimmernden Marmornackens sich ihm huldreich neige, er wandte sich jubelnd und betrat das Schiff, umkost von dem Dufte all der blühenden Blumen, die er der Göttin gestreut, dann löste sich das Schiff vom Ufer und fuhr nach Kreta den Weg zurück, den Thisbe und ihre Leidgefährten schon gefahren waren; so ruhig aber ihr Schiff damals durch die Wellen geglitten war, so beruhigt heiter fuhr jetzt das Schiff des Theseus durch die Wogen, das Meer war wie mit Seerosen bedeckt, die Wellen waren stolz, daß sie das Schiff des Helden von Athen tragen durften, die Tage im jubelnden Sonnenglanze unter dem blaubespannten Himmelbaldachin vertrieben die Trauer und Schwermut der Toderwählten, die Klänge der Lyra, die Theseus beherrschte, als ob seine Hände nicht so schwere Taten vollbracht, Riesen getötet und Felsen geschleudert hätten, milderten die Seufzer der Dämmerung, der Mond aber in der sterndurchfunkelten Nacht horchte auf die Seufzer jedes Einzelnen der Opfer auf dem Schiffe, er sprach Trost in der träumenden Thisbe Ohr: Schlaf ruhig weiter, Thisbe, dein Vater schläft auch auf dem Meeresgrunde, ihm ist leicht geworden und er grüßt dich, du reine Jungfrau, deiner Mutter aber ward, was ihr werden mußte nach ihrem Wunsche! Sei heiter, Thisbe, du bist rein geblieben mit deinem geschmeidigen Körper, so haben dich die beiden Fahrten auf dem Meere auch seelisch rein gemacht, daß keine Verlockung dir nahetreten kann.

Nach solcher Nacht lag ein unsäglich zarter Glanz wie Mondesschimmer auf den bleichen Wangen Thisbe's und Sterngeflimmer in ihren Augen. So sah sie Theseus, der königliche Held, er neigte das Haupt vor ihr und dankte mit lauten Worten Aphrodite, der Schützerin seiner Fahrt, die nun auch eine ihrer Horen oder Chariten auf das Schiff gesandt hatte, seine Augen zu beglücken.

Er ging dann in seine Gemächer, er hob die Keule des Periphetes empor: »Dank dir, Aphrodite, du wirst mir auch beim Kampfe mit Minotauros beistehen, daß deine holdselige Dienerin, die du mir auf das Schiff geschickt, ihm nicht zum Fraße werde!«

 

VII.

Aphrodite dankte Theseus für seine glühende Anbetung, denn noch war Kretas Burg nicht zu sehen, da kam dem Schiffe des Theseus ein anderes königliches Schiff entgegen, Minos, der König von Kreta, war dem athenischen Helden entgegengefahren und hatte auf Rat Aphrodites seine Tochter Ariadne mitgenommen, daß sie den auserwählten Helden und Königssohn grüße.

Da standen die beiden herrlichen Königskinder einander gegenüber, staunten einander an und Aphrodite weckte – wie sie auf Erden den Lenz erweckt – nun auf dem Meere, dem sie ja selbst, die Schaumgeborene, entstiegen war, Liebe in dem Herzen der Königstochter von Kreta, daß sie am liebsten gleich ihre Arme um den Nacken des Helden von Kreta gelegt hätte. Er beugte sein Haupt vor Minos und seiner schönen Tochter, dann aber geleitete er die Gäste in seine Schiffsgemächer und weihte sie in den Zweck seiner Reise ein, den Stierkopf zu töten und also Athen von seiner Schmach, aber auch Kreta von seinem Fluche zu erlösen.

»Wagst du Solches?« fragte da Minos zweifelnd und staunend. »Wage es nicht«, mahnte Ariadne, »es wird dir übel geraten!«

»Ich werde es unternehmen«, lachte Theseus, »ich hab schon andere solche Ungeheuer erlegt.«

Er stand von seinem Sitze auf. »Du wirst mir beistehen, liebliche Ariadne, daß ich zu Minotauros gelange, wenn wir beim Labyrinthe anlegen.«

»Ich werde dir beistehen«, sagte sie, »auf meinem Schiffe habe ich den Knäuel verwahrt, der dich durchs Labyrinth geleitet und, wenn die erhabenen Götter es zugeben, dich zurückführen wird aus dem Labyrinth; den will ich jetzt holen.«

Da winkte Theseus einem Diener: »Bring mir Thisbe her, daß sie die hohe Königstochter geleite. Sie ist eines der Opfer, das dem scheußlichen Menschenzerfleischer vorgeworfen werden sollte. Ich will es verhüten. Sie ist eine stille Heldin, laß dich von ihr auf meinem Schiffe bedienen, nimm dich ihrer an, holde Ariadne, so es mir nicht gelingt den Minotauros zu fällen. Sie wird dir's danken.«

Da stand schon Thisbe in der Tür, geneigten Hauptes, Ariadne nahm ihre Hand und sie schritten vorsichtig über die Brücke, die ein Schiff mit dem anderen verband. Hand in Hand kehrten sie wieder zurück. Da hieß Ariadne Thisbe vor der Tür warten, sie trat zu Theseus und reichte ihm den Knäuel, der ihm den Weg vom erlegten Minotauros zurück zeigen sollte.

König Minos wies jetzt Theseus die hohe Königsburg von Knossos, seine ragende Königsburg, und, dem Schiffe scheinbar immer näherkommend, den Strand des Labyrinthes zwischen den Klippen, und sie hörten schon das wohllüstig-lüsterne Schnauben des Stieres, der wohl jetzt die Nüstern in die Höhe hob und durch die fettig-dicken Schwaden aus dem Labyrinthe einen Duft von reinem Fleische einsog und brünstig brüllte in Sinnenlust und Genußahnung. Sein Brüllen war immer grausamer, je näher das Schiff kam, er war ganz toll vor Begierde und trampelte den Boden des Labyrinthes, darin er gefangen war.

Das weckte die Lust in Theseus Brust, diesem häßlichen Feinde gleich entgegenzutreten, er sprang auf:

»Ich habe deinen Knäuel, holdselige Ariadne, ich fühle den Segen deiner Göttin Aphrodite, die dich mit Schönheit und Anmut unter den Schönen der Erde ausgezeichnet hat, daß du auch als Mädchen eine Königin bist. Ich will gleich nach dem Anlegen meines Schiffes auf den Strand und zu dem brüllenden Stierriesen, mit ihm zu kämpfen!«

Da umarmte Ariadne ihren Vater: »Laß ihn noch nicht an den Strand, Helios, der Sonnengott, steht strahlend am Himmel, er wird dem Sonnenstier beistehen! Warte bis morgen früh, eh, daß Helios noch dem Meere entsteigt, dann tritt dem furchtbaren Minotauros entgegen, dann wirst du ihn erschlagen!«

Da rief Theseus Thisbe herein; er nahm ihre Hand in die seine, so führte er sie vor Ariadne und sagte: »Möchtest du dulden, Königliche, daß dieses unglückliche Geschöpf und die anderen sechs Mädchen und die sieben toderwählten Jünglinge noch einen halben Tag und eine Nacht das grausame Brüllen des Stieres hören, das sie erbeben macht in seiner Grausamkeit? Willst du jetzt sterben, Thisbe, oder willst du noch warten bis morgen früh, daß wir euch heute noch auf dem Schiffe lassen?«

»Nein, ich will heute sterben!« sagte Thisbe. »Ich weiß, daß mir Vater und Mutter verloren sind, für ewig verloren, so will ich nur ganz leise die Worte vor mich hinsprechen: Ich bin verlassen auf Erden! Diese Worte sollen mir das Schnauben und Brüllen des Minotauros übertönen, daß ich taub gegen sein gieriges Schnauben, aber auch blind für sein Zähnefletschen und unempfindlich für den Schmerz sein werde, wenn seine Hauer in mein Fleisch dringen und meine Knochen krachen. Laß mich gleich an den Strand, ich danke dir für all deine Güte und deinen Edelmut!«

Da legte das Schiff an den Strand des Labyrinthes an. Theseus hieß die Opfer antreten und die Falltreppe auf den Strand niedersteigen, dann stieg er, die Keule des Periphetes auf der Achsel, ihnen nach. Daidalos war mit hundert Dienern auf dem Strande aufgestellt, er wollte die vierzehn Todbestimmten übernehmen und dem schnaubenden Minotauros in sein Gefängnis entgegenführen, nun sank er und die Knechte ins Knie, da sie den herrlichen, strahlenden Helden, diesen Herakles, mit seiner Keule vor sich stehen sahen und seine ruhige und doch zwingende Stimme hörten, da er zu Daidalos sprach:

»Führe mich zu Minotauros, ich will ihn töten. Du mußt nicht bis zu dem Wütenden mitgehen, nur in seine Nähe bringe mich, ich habe den Knäuel, der wird mich zurückgeleiten.«

Da stürzte Thisbe zu seinen Füssen nieder: »Geh nicht, du Starker und Guter, laß uns sterben, wie wir übernommen haben! Lebe weiter, du herrlicher Königssohn, Theseus, lebe weiter!«

Nun wußten die labyrinthverdammten Knechte, daß der berühmte Athener vor ihnen stand, ein Jubel füllte ihre Herzen, sie reckten die Arme empor wie vor einem Gotte, Theseus aber hob Thisbe von der Erde:

»Ich will die Schmach von Athen nehmen, ich will nicht, daß vierzehn Unschuldige für meine Vaterstadt sterben!« Dann hob auch er die Arme empor: »Aphrodite, mein Schirm und Schutz, du Schöne, Liebe, du herrliche Göttin, die das Häßliche haßt, so nicht Güte es verschönt, du wirst bei mir sein, wenn ich dem Vielfraß gegenübertrete! Sei du meine gnädige Helferin, ich danke dir.«

Da standen die Todbestimmten und die Knechte auf, Daidalos hieß die Diener in das Labyrinth treten, die vierzehn Opfer aber standen allein auf dem fließengetäfelten Boden des Labyrinthausganges, die wagten kaum zu atmen, da die Sonnenstrahlen auf ihre Häupter niederfluteten und eine neue Lebenshoffnung ihre Herzen erregte. Ikaros aber war mit den Flügeln an den Schultern zu ihnen getreten:

»Ihr seid glücklicher als ich,« sagte er »der ich schon so lange Jahre hier in dem scheußlichen Sündendunst des Labyrinthes leben muß. Wenn Theseus siegt, seid ihr erlöst und dürft heiter dem Morgen entgegensehen. Wenn er unterliegt, seid ihr auch erlöst! Ich will emporfliegen, aber heute nicht zu hoch, daß nicht, wie mein Vater stets warnt, die Sonne das Wachs meiner Flügel schmelze, ich will bloß über den nach oben offenen Kerker des Minotauros mich schwingen, den furchtbaren Zweikampf zu sehen um als Erster euch zu künden, wer gesiegt hat. O, wäre mir das ein Glück, ein Jubel, wenn Minotauros gefällt würde!«

Er breitete die Arme, er schwang sich empor und schwebte über dem Strande. Da hielten alle Menschen den Atem an, die vierzehn Todbestimmten lagen wieder auf den Knieen in heißem Gebete und mit aufwärts gerichteten Köpfen, um dem Fluge des Ikaros zu folgen, die Knechte in den Ausgängen des Labyrinthes, König Minos und Ariadne und alle Schiffsleute auf den beiden Schiffen, da das Brüllen und Schnauben des Minotauros die ganze Insel Kreta, die Wogen des Meeres, die Lüfte ringsum erschütterte, daß der Menschen Herzen stillstehen wollten vor Schrecken. Dann aber schien sich das Brüllen und Fauchen und Dröhnen zu einem rasenden Riesengeschrei zu sammeln, wie ihn nie vorher Menschen gehört, das Beben der Erde, das Schüttern der Lüfte, das Aufschäumen der Wellen hielten inne, so furchtbar schmetterte der eine, letzte Stierschrei aus dem Labyrinthe, Ikaros ward hin und hergeschleudert in den entsetzten Lüften, wie ein Vöglein im Gewittersturm – dann aber war es plötzlich hell auf Erden, die Sonnenstrahlen leuchteten auf wie ein Opferfeuer, Ikaros winkte in seiner Höhe und schrie, sich niedersenkend: »Ein Keulenschlag zwischen die Hörner des Stieres, Sieg, Sieg des Theseus!« Da hob sich ein neuer Aufschrei zum Himmel, aber ein lachender Aufschrei des Jubels und des Glückes aus all den Menschenkehlen. Glückseligkeit war auf Kreta vom Strande des Labyrinthes bis zum ragenden Schlosse droben, denn, ohne Ahnung woher, wußte Kreta, daß es befreit war von dem Fluche des Minotauros, dem es die Schuld gegeben hatte an seiner Sündhaftigkeit.

Thisbe war auf den Knieen gelegen mit den anderen Opfern, sie hatte, indeß ihr Herz ihr die Brust zu sprengen drohte, mit starren Blicken vor sich hingeschaut, dann hatten ihre irren Lippen Worte zu stammeln begonnen, sie wußte kaum davon. »Ich bin eine Jungfrau, Mutter,« lispelte sie erst, dann kehrte sie sich gegen das Labyrinth und, je stärker das Schnauben und Brüllen des Stieres geworden war, desto eindringlicher, desto lauter schrie sie die Worte in das Labyrinth. Und als der furchtbare Todesschrei des Minotauros Erde, Meer und Lüfte erschütterte, daß der Menschen Ohren betäubt ertauben wollten, das Labyrinth krachte donnernd zusammen; da stand Thisbe mit erhobenen Armen vor dem Meereingange des Labyrinthes: »Ich bin unschuldig, Mutter, ich bin eine Jungfrau und werde mein Lebtag dieser Stunde gedenken!«

Aus dem Labyrinthe schwoll ein dicker Rauch und Nebel mit Felsstaub vermischt, dann aber wehte ein reiner Wind vom Meere her, die Sonnenstrahlen jubelten um die Klippen auf das Meer und Land und all die befreiten Menschen.

Jetzt kam Theseus, von Daidalos gefolgt, zurück auf den Strand, der Held tiefatmend und übergossen vom Blute des Minotauros, die vierzehn lebenrückgegebenen Jünglinge und Jungfrauen wollten sich um ihn drängen, ihm die Füße zu küssen in unsäglicher Dankbarkeit; da nahm Ikaros, der Sonnensüchtige, mit seinen Knechten dem Helden die Keule ab und seinen bluttriefenden Chiton und führte Theseus zwischen die Felsen, daß das Meer ihn reinige von dem Stierblute. Er warf ihm dann ein Tuch um, daß er damit die Lenden gürte, und so trat der Herrliche auf den Strand zurück und stieg mit den glückgesegneten Lebenneuerwählten auf sein Schiff empor, von Minos und der von Liebe überwältigten Ariadne empfangen und umarmt.

Theseus ergriff seine Lyra, sie erbebte erst unter dem übermächtigen Fingerdrucke des Helden, dann aber ordneten sich die Töne zu einem schönen Rhythmus, der alle zwang, und bald regten die Jünglinge und Jungfrauen die Glieder in einem neuen Tanze, dem Geronstanze, der Lust und Lebensfreude bedeutete und noch Jahrhunderte lang viele, viele Menschen erfreute auf Kreta und in ganz Griechenland.

Die beiden Schiffe fuhren mit geblähten Segeln den Strand entlang in den Hafen von Kreta, alle Männer und Frauen von Knossos waren dort versammelt in Festgewändern, die Frauen Kameen- und Blumengeschmückt, sie bildeten eine Gasse, durch die Theseus, von Minos und Ariadne geführt, einherschritt, Thisbe ging gleich hinter Ariadne, da trat ein schöner Jüngling aus dem Gedränge zu Thisbe und reichte ihr eine weiße Rose und bat um Gnade und Verzeihung.

»Komm' nach Jahresfrist wieder,« sagte Thisbe. »Ich bin nicht mehr die, die du gekannt. Ich habe mit offenen Augen den Tod gesehen. Nun prüfe dich, Laërtes, ob ich dir noch gefallen kann.«

Sie half Ariadne in die Sänfte und stieg neben ihr die steile Straße zum Schlosse empor, an ihrem Elternhause vorbei.

Aphrodite aber, vor deren leuchtendem Marmorbild Thisbe bald im Schlosse droben in heißem Danke kniete, segnete auch sie, die reine Jungfrau, erst jetzt als Neugeborene wahrhaft eine Jungfrau, und segnete sie, daß ihre weiße Rose, die Rose des Laërtes, nicht welkte ein volles Jahr ...


   weiter >>