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II.

»Maientag 1638.

Diesen Morgen ging ich vor Sonnenaufgang nach dem Liebfrauen-Quell, um mein Gesicht im Maienthau zu baden. Dort traf ich Lätitia Davenant mit ihren Dienerinnen. Sie trug ein Mieder von grasgrüner Seide und einen blauen Taffetrock; ihre Augen glichen zwei bethauten Veilchen und ihr braunes Haar welligen Strängen ungesponnener, glänzender, mit Gold durchflochtener Seide. Sie selbst sah aus wie eine Maiblume, die eben erst aus ihrer grünen Scheide an den Sonnenschein hervorbricht. Gerade wie bei den Blumen, so wechselten und verwoben sich bei ihr die Farben alle in einander.«

»Und sie legte ihre kleine weiche Hand in die meinige und sagte, ihre Mutter habe die meinige geliebt, und ich möchte sie auch lieb haben und ihre Freundin sein. Dann küßte sie mich mit ihrem süßen kleinen Mündchen, das einer Rosenknospe gleicht. Und ich umschlang sie fest mit meinen Armen, indeß ihr seidenes Haar auf meine Schulter herabwallte, denn sie ist gerade um so viel kleiner als ich. Ihr Herz schlug an dem meinen. Und ich will sie lieb behalten, so lange ich lebe. Kein Wunder, daß Roger sie schön findet.«

»Ja, ich behalte sie lieb mein Leben lang, was auch Tante Dorothea sagen mag.«

»Erstlich, weil ich es nicht ändern kann. Und zweitens, weil es Recht, ganz Recht ist zu lieben; stets Recht, so innig, so zärtlich, so treu zu lieben, wie man nur immer kann; stets Recht, zu lieben, nie Recht, zu verachten, oder sich fern zu halten oder abzuwenden. Zuweilen ist es Recht, zu hassen, wenigstens glaube ich es; zuweilen Recht, zu zürnen, das weiß ich gewiß; aber nie ist es Recht, zu verachten, und immer, immer Recht, zu lieben.«

»Roger und ich haben alle Evangelien durchgegangen, um der Sache gewiß zu sein. Der Pharisäer verachtete, der Priester und Levite gingen vorüber, und selbst die Jünger sagten ein paar Mal: ›Laß sie von Dir!‹ Aber der Heiland kam, rief sie zu sich, berührte sie, nahm sie in Seine Arme und liebte sie. Er liebte sie, wenn sie in der Irre gingen, – liebte, wenn sie nicht kommen wollten; liebte selbst, wenn sie ›hinweg gingen‹«!

»Tante Gretchen denkt gerade so. Oft wünsche ich, wir hätten vor hundert Jahren gelebt, in jener Zeit, von der sie uns erzählt, und aus der ihre Familien-Chroniken stammen. Denn damals waren es die Leute, welche die falsche Religion hatten, die die Andern verachteten und hart und streng waren. Aber dann gingen sie in Klöster, was für die übrige Familie eine große Erleichterung sein mußte. Jetzt aber scheint es, als ob die Leute mit der rechten Religion es machen wie die Pharisäer. Und dabei bleiben sie zu Hause, was viel schwerer zu begreifen und unangenehmer zu ertragen ist.«

 

Diese heftigen, in spätern Zeiten reumüthig durchkreuzten Aeußerungen sind noch immer ganz leserlich und von großem Interesse für mich, indem sie mir die verschwundene äußere Welt und die stürmische innere Welt in's Gedächtniß zurückrufen.

Denn an jenem Maienmorgen begegnete ich auf meinem Heimwege durch den Wald den Burschen und Mädchen des Dorfes, welche den Maienbaum geholt hatten. Als ich unser Haus erreichte, war es schon spät; die Knechte und Mägde hatten bereits ihr Frühmahl an dem langen Tische in der Halle beendigt, Tante Dorothea saß an dem obern Ende des Tisches und spann, Base Placidia saß schweigend ihr gegenüber, gleichfalls mit Spinnen beschäftigt. Das Schnurren ihrer Räder tönte wie ein fortwährender Vorwurf in meinen Ohren, bis ich mich endlich gezwungen fühlte, sowohl auf dieses als auf Tante Dorotheens Stillschweigen zu antworten.

»Tante Dorothea, bitte, verzeih mir! Ich bin blos am Liebfrauen-Quell gewesen, um mein Gesicht im Maienthau zu baden. Und dort traf ich Lätitia Davenant.«

»Ich habe Dir keine Vorwürfe gemacht, Kind. Dafür herrscht zu große Freiheit in diesem Hause. Allein das muß ich sagen, die Entschuldigung ist schlimmer als das Vergehen. Wie oft habe ich Dich schon ermahnt, Deine Lippen nicht mit dem abgöttischen Namen dieser Quelle zu beflecken? Und was das Baden mit Maienthau betrifft, so ist es Papisterei – reine Papisterei!«

»Nicht Papisterei, Schwester Dorothea,« sagte mein Vater, von seinem soeben aus London erhaltenen Zeitungsblatte aufschauend; »nicht Papisterei, sondern Heidenthum. Dieser Gebrauch rührt von den alten Römern her, wahrscheinlich von dem Fest, welches der Mutter Merkurs, der Göttin Maia, zu Ehren gefeiert wurde. Allein hierüber sind die Ansichten der Alterthumsforscher getheilt.«

»Das ist auch kein Wunder,« bemerkte Tante Dorothea. »Was anders kann heraus kommen, als Spaltungen und Sekten, wenn man sich mit solchen Eitelkeiten und Abgöttereien abgibt? Mir ist es ziemlich gleichgültig, ob der Gebrauch von den neuen oder den alten Römern, oder von den Hethitern, Pheresitern, Amoritern und Jebusitern herrührt. Ich weiß ganz wohl, wer das Götzenbild gemacht hat – mag es bemalt haben, wer da will. Und am Ende sind mir die ungetauften Götzen noch die liebsten von beiden.«

»Nicht so ganz, Schwester Dorothea; nicht immer,« wendete Vater ein. »Es ist freilich ein großer Irrthum, die Jungfrau Maria anzubeten. Aber der Moloch, dem man kleine Kinder opferte, war doch weit schlimmer.«

»Wenn dies der Fall war, so ist es am besten, je weniger wir von ihm hören, Bruder,« versetzte meine Tante. »Was aber das Verbrennen betrifft, so sehe ich deinen großen Unterschied. Die schwarzen Stellen sind noch immer sichtbar, wo die Feuer der Königin Maria gebrannt haben. Und Lätitia Davenant ist am Hofe der neuen Königin Maria (wie man sie nennt) gewesen; – ein Unglücksname für England! Und unsere Olivia wird wenig Gutes von ihr oder den Ihrigen lernen!«

In mir kochte es vor Entrüstung, und wer weiß, wozu es noch gekommen wäre, wenn nicht Tante Gretchen, ganz geröthet von der Hitze des Küchenfeuers, mit ihren lieben blauen Augen, die von einem freundlichen Plane strahlten, uns unterbrochen hätte.

»Es wird heute das fröhlichste Maienfest geben, das man in vielen Jahren gehabt hat,« sagte sie. »Unsere Margot, die Tochter unserer Melkerin Tib, wird Königin sein. Und ein besseres Mädchen oder ein lieblicheres Gesicht gibt es weit und breit nicht. Richard, der Sohn des Gärtners vom Schlosse, ist ihr Liebhaber, und Lady Lucia Davenant hat die Laube mit Blumen aus ihrem eigenen Garten schmücken lassen, und die ganze Familie vom Schlosse, Lady Lucia und Sir Walter und Fräulein Lätitia mit ihren sieben Brüdern werden kommen, um die Lustbarkeit mit anzusehen.«

»Sage dem Mann unserer Tib, er solle ein Faß von unserm besten Bier anzapfen, Schwester Gretchen,« sagte mein Vater; »wir wollen auch hingehen und zuschauen.«

Diese Worte waren in einem Tone gesprochen, dem Tante Dorothea niemals zu widersprechen versuchte; sie machte daher auch jetzt keine Gegenvorstellungen, ausgenommen durch das Schnurren ihres Spinnrades. Dieses sahen Roger und ich stets als ihren »Sklaven« oder ihr anderes Ich (natürlich von der weißen, nicht der schwarzen Art) an, da es gerade ausdrückte, was sie dachte, aber nicht sagen mochte, und womit sie nicht nur ihren Faden, sondern auch ihre Gedanken und ihr Leben ausspann und ergänzte.

Bald nachher stand mein Vater auf, um nach der Landwirthschaft zu sehen. Stillschweigend spann Tante Dorothea an dem einen und Placidia an dem andern Ende des Tisches, während ich zwischen beiden saß, zu aufgebracht, um einen Bissen zu genießen, und Tante Gretchen, ängstlich bemüht, die Gemüther zu versöhnen, herumging.

»Die Bibel ermahnt uns, fröhlich zu sein, Schwester Dorothea,« sagte sie endlich, indem sie wie gewöhnlich – um bildlich zu reden – ihren Fuß auf Tante Dorotheens Spinnrad setzte.

»Ohne Zweifel,« erwiderte diese. »Ist Jemand gutes Muthes, der singe Psalmen!«

»Das wollte ich auch,« sagte Tante Gretchen. »Nichts macht mir größere Freude. Uebrigens, Schwester Dorothea,« fuhr sie kühner werdend fort, »die ganze Welt scheint in dem herrlichen grünen Maien zu singen und zu tanzen: die Vögelein hüpfen und singen (noch dazu Liebeslieder, Schwester Dorothea); die Blätter tanzen und säuseln, und die Blumen legen alle Farben des Regenbogens an.«

»Was die Blumen betrifft,« entgegnete Tante Dorothea, »so haben sie ihre Kleider nicht selbst gewählt und sind also auch nicht zu tadeln, die armen, vergänglichen Dinger. Ich bin überzeugt, daß sie in Scharlach und Purpur gekleidet wurden, wie die Narren in ihre buntscheckigen Röcke, gerade um uns zu beschämen, damit wir uns einfach und ernst in der Kleidung zeigen sollen. Die Vögel freilich mögen hüpfen und singen so viel sie wollen. Obgleich die armen, unbedachtsamen Geschöpfe eben nicht große Ursache dazu haben, wenn man das Nesterausnehmen, die Wilddieberei und Herrn Cromwell's Versuche bedenkt, die Moore auszutrocknen. Aber sie haben keine Vorsicht und keine unsterblichen Seelen; und wenn sie morgen in einer Pastete gebacken werden, so wissen sie nichts davon und sind den nächsten Tag nicht schlimmer daran.«

»Aber gerade weil wir unsterbliche Seelen haben,« sagte Tante Gretchen, »sollten wir, meine ich, noch tausendmal besser singen, als die Vögelein.«

»Wir haben nicht blos Seelen, wir haben auch Sünden,« entgegnete Tante Dorothea. »Und ich dächte, es wäre genug an der Sünde, wenn man ihre Last fühlt, um die süßeste Musik zum Schweigen zu bringen.«

»Wir haben ja das Evangelium und den Heiland,« erwiderte Tante Gretchen, »Verkündigung großer Freude für alles Volk.«

»So sage sie nur dem Volke,« versetzte Tante Dorothea. »Bewege einen gottseligen Geistlichen, zu kommen und sie den armen Sündern im Dorfe zu predigen; das wird besser sein, als Maibäume aufzupflanzen und Bierfässer anzuzapfen.«

»Ich spreche mit ihnen davon, so oft und so gut ich kann, Schwester Dorothea,« sagte Tante Gretchen sanft. »Aber die Frömmsten sogar können nicht beständig Predigten anhören.«

»Wir könnten viel länger aufmerken, wenn wir es nur versuchen wollten,« sagte Tante Dorothea, auf einen andern Gegenstand übergehend. »Ich habe gehört, daß der sonntägliche Gottesdienst in Schottland zwölf Stunden dauert.«

Tante Gretchen seufzte; ob aus Mitleid mit den schottischen Gemeinden oder aus Kummer über ihre eigenen Versäumnisse, ließ sich nicht bestimmen.

»Aber,« fing sie von Neuem an, »mir scheint, wenn der liebe Gott keine Lustigkeit auf der Welt hätte haben wollen, so würde Er die Einrichtung getroffen haben, daß alle Menschen erwachsen auf die Welt kämen.«

»Das wäre auch wahrscheinlich besser gewesen, wenn man es so hätte einrichten können,« erwiderte Tante Dorothea. »Allein, dies war, vermuthe ich, unmöglich. Wie dem nun sein mag, so wird es jedenfalls das Beste sein, wenn wir die Leute so schnell als möglich gesetzt machen, und nicht sie mit Maienfesten und Schmausereien und Sträußewinden kindisch erhalten.«

»Aber,« sagte Tante Gretchen schüchtern, »die Bibel gibt uns gar keine bestimmten Regeln, nach welchen wir andere Leute in dieser Hinsicht richten könnten.«

»Ich gestehe,« versetzte Tante Dorothea, »wenn die Bibel etwas zu wünschen übrig ließe (mit Ehrfurcht sei es gesagt), so wären es einige deutliche Regeln. St. Paulus kam diesem Punkt sehr nahe, indem er von den schwachen Brüdern bei den Götzenfesten sprach; allein ich gestehe, mir däucht, es wäre gut gewesen, wenn er noch ein bischen näher darauf eingegangen wäre, da er einmal davon angefangen hatte. Dann hätten doch die Leute sich nicht anstellen können, als ob sie nicht verständen, wie er es meinte. Ich denke, es wäre ein Trost gewesen, wenn das Neue Testament auch ein Gesetzbuch enthalten hätte.«

»Aber Dein John Milton;« sagte Tante Gretchen, »führt in seiner neuen Maske des Comus, die Dein Bruder so schön findet, auch Musik und Tanz ein.«

»Herr Milton ist ein frommer Mann,« erwiderte Tante Dorothea; »aber der arme Mensch ist ein Poet. Von den Dichtern kann man nicht erwarten, daß sie, wie vernünftige Leute, immer auf dem geraden Wege bleiben.«

»Aber Dr. Martin Luther selbst liebte die Musik sehr,« sagte Tante Gretchen, zu ihrem obersten Appellationsgericht getrieben, »und er gestattete sogar das Tanzen in christlicher Weise und ohne Ausschweifung und Trunkenheit.«

»Das nimmt mich von Dr. Luther gar nicht Wunder,« versetzte Tante Dorothea, »glaubte er doch an die Consubstantiation (Vereinigung des Leibes Christi und des Brodes im Abendmahle) und verwarf die Epistel des heiligen Jakobus. Ueberdies ist er nun hoffentlich fast hundert Jahre im Himmel gewesen und weiß es jetzt ohne Zweifel besser.«

Nun ward Tante Gretchen warm.

»Schwester Dorothea,« sagte sie, » Dr. Luther bedarf meiner Vertheidigung nicht. Allein ich denke oft, wenn er heutzutage nach England käme, würde er finden, daß manche unter Euch wieder im Begriffe sind, jenes schreckliche Bild von Gott zu malen, das die Kleinen von ihm zurückscheuchte, anstatt sie zu Ihm hin zu ziehen, um bei Ihm Schutz zu suchen, und ein Bild, dessen Zerstörung Dr. Luther so große Mühe gekostet hat.«

Mit diesen Worten floh sie nach der Küche, mit noch rötheren Wangen als zuvor, aber mit Thränen im Auge anstatt des Lächelns.

»Wenn die Leute harmlos fröhlich sein könnten, ohne Ausschweifung und Schwelgerei,« sagte Tante Dorothea halb nachgebend, »so wäre weniger dagegen zu sagen.«

»Was ist denn Ausschweifung, Tante Dorothea?« fragte Placidia von ihrem Spinnrade aus.

»Müssiggang und Schäckern und gar Vieles, was nicht taugt.«

»Ich fragte, Tante Dorothea,« sagte Placidia feierlich, »weil ich sah, wie Richard die Margot, die Tochter unserer Tib hinter der Thüre küssen wollte; und sie ließ es nicht zu. Allein sie lachte und schien gar nicht böse darüber. Heißt das Ausschweifung?«

»Richard kann Margot küssen, so oft er will, ohne daß es Dich oder sonst Jemand etwas angeht,« versetzte die Tante ein wenig unvorsichtig. »Margot ist ein braves anständiges Mädchen, das schon selbst auf sich Acht geben kann. Und Du hast kein Recht zu belauschen, was hinter den Thüren vorgeht. Du wenigstens sollst heute nicht zu dem Maibaume gehen, Placidia, sondern bei mir bleiben und das dreizehnte Kapitel im ersten Korintherbriefe lernen.«

»Ich habe auch gar keine Lust zu Ausschweifungen oder Maispielen zu gehen,« erwiderte Placidia. »Mir ist mein Spinnrad und mein Buch weit lieber. Gott sei Dank, ich habe mir nie viel aus Tanz und Spiel und solchen Narrenpossen gemacht.«

»Sei kein Pharisäer, Placidia,« sagte Tante Dorothea sich heftig gegen ihre unwillkommene Bundesgenossin wendend; »besser spielen und tanzen wie der größte Ausbund von Leichtsinn, als andere Leute hinter den Thüren belauschen und den Verkläger machen.«

Ich ließ Beide ihren Streit allein ausfechten, und begab mich zu Tante Gretchen, welche in Vaters Stube damit beschäftigt war, den Festlichkeiten zu Ehren meinen Anzug so gut zu schmücken als unsere puritanische Garderobe es nur immer gestattete. Es war ein wichtiger Tag für mich, vorzüglich weil ich Lady Lucia und Lätitia die liebliche Jungfrau zu treffen hoffte.

Voller Freude machte ich mich auf den Weg, als der Anblick von Tante Dorothea, welche ich im Vorbeigehen mit Placidia in der Halle schweigend an ihrem Spinnrade sitzen sah, einen Schatten über meine Heiterkeit warf. Tante Dorothea repräsentirte für mich so vollständig die Majestät des Gesetzes, und im Grunde unserer Herzen fühlten Roger und ich solches Vertrauen und solche Ehrfurcht für sie, daß ungeachtet der Einwilligung meines Vaters der Anblick ihres ernsten Gesichts mich mit Zweifeln erfüllte. Ich fühlte mich plötzlich angetrieben zurückzukehren, und sagte, vor ihr stehen bleibend:

»Tante Dorothea, Du bist doch nicht böse auf mich? Ich will nicht tanzen, sondern nur zuschauen. Auch werde ich bald wieder nach Hause kommen, und Alles wird wieder im gewohnten Geleise gehen.«

Sie schüttelte mehr kummervoll als unwillig mit dem Kopfe.

»Eva sah nur hin,« erwiderte sie, »aber nichts geht seitdem mehr im Geleise.«

In diesem Augenblicke kam mein Vater um mich zu suchen, und da er Tantens letzte Worte vernahm, sagte er liebevoll, aber ernst. »Laß uns des Kindes Gewissen nicht mit unsern Skrupeln beunruhigen. Es ist äußerst gefährlich, Andern unsere Skrupel aufzudrängen. Wenn erst die Erfahrung ihrer eigenen Schwachheiten und Versuchungen sie dazu geführt hat, über manche Dinge Bedenken zu tragen, dann ist es etwas Anderes. Aber zu Gottes Gesetzen noch etwas hinzuzufügen ist fast ein eben so schrecklicher Irrthum, als etwas davon wegzuthun. Ueberdies führen unsere Zusätze am Ende immer zu Abzügen an einer andern Seite. Gleichgültige Dinge mit schuldbewußter Seele vollbracht, führen am Ende dazu, böse Thaten mit Gleichgültigkeit zu verüben. Indem man eingebildete Sünden erfindet, schafft man wirkliche Sünder.«

»Nun wohl, Bruder, wie es Dir gefällt,« sagte Tante Dorothea, »allein ich hätte gedacht, der Umstand, daß unser neuer Pfarrer auf der Kanzel aus dem gotteslästerlichen ›Buch der Spiele‹ vorgelesen und die Leute ermuntert hat, am Sonntag Nachmittag um die Maibäume zu tanzen, sollte jedem ernsten Menschen einen Widerwillen dagegen einflößen.«

»Nein, das ist im Gegentheil einer der wichtigsten Gründe, warum ich heute hingehe,« erwiderte Vater. »Ich will zeigen, daß ich gegen die Maibäume keine Bedenken trage, sondern gegen die grausame Beraubung der Armen durch die Entheiligung des Tages, welchen Gott ihnen zu höhern Zwecken gegeben hat.«

Hiemit führte er mich weg. Aber meine arglose, unschuldige Fröhlichkeit war dahin.

Das Gewissen mit seinen Fragen, seinen Beobachtungen und Unterscheidungen hatte sich eingestellt. Ich war nicht sicher, ob Gott mit mir oder mit irgend einem von uns zufrieden sei. Sogar während ich den bekränzten Maibaum betrachtete, dachte ich an den alten Baum in Eden, den ich einst gestickt hatte, mit seiner schönen Frucht, um den eine Schlange sich wand, welche ihre gespaltene Zunge gegen Eva ausstreckte. Ich dachte darüber nach, ob ich wohl, wenn meine Augen geöffnet wären, sie sehen würde, um die Kränze von Weißdorn sich ringelnd, oder giftige Worte in Margots Ohr zischend, während dieselbe auf ihrem mit Blumen geschmückten Throne von grünen Zweigen saß oder sich unter die Tanzenden mischte, welche sich Hand in Hand singend um den Maibaum bewegten, die lange Kette bald flechtend, bald wieder auflösend und sich im Vorbeigehen tief vor ihrer erröthenden Königin verneigend. Ich sann darüber nach, ob wohl das Ganze einen geheimnißvollen Zusammenhang mit dem Götzendienste habe, und ob der Himmel uns am Ende doch wie Tante Dorothea mit Unwillen und Betrübniß beobachte, und in's Geheim feurige Schlangen bereit halte, oder einen Feuer- und Schwefelregen oder ein schreckliches Gewitter, oder was es sonst in unsern Tagen, da keine Wunder mehr geschehen, geben kann.

Sobald jedoch die Familie aus dem Schlosse erschien, waren alle diese Gedanken vergessen. Lady Lucia wurde von zwei Männern in einer Sänfte getragen, die sie von London mitgebracht hatte, einem Ding, das mir völlig neu war. Ich hatte bisher Lady Lucia noch nie gesehen. Die Familie war viel am Hofe gewesen, und wenn sie je einmal auf kurze Zeit nach ihrem Schlosse gekommen waren, hatte Lady Lucia's schwache Gesundheit ihr nicht erlaubt, mit den übrigen Gliedern der Familie die Dorfkirche zu besuchen. Von dem Augenblicke an, als Sir Walter ihr aus der Sänfte half und sie zu dem Polster führte, das für sie bereit lag, konnte ich meine Augen nicht mehr von ihr abwenden, selbst nicht um nach Lätitia zu sehen, so königlich erschien sie mir, ein solches Urbild von Liebreiz, Würde und Schönheit. Ihre Gesichtsfarbe war so weiß wie die ihrer Tochter, aber außerordentlich zart und blaß wie eine Muschel und ihr noch immer braunes, reiches Haar umgab in zahllosen Löckchen ihr Antlitz. Um ihren Hals und Stirne verbreitete sich ein Glanz, der natürlich von Juwelen herrührte, und in ihrem schimmernden Gewand schienen prachtvolle Farben zart in einander verschmolzen, und ich vermuthe daher, daß sie in Sammt, Brocat und köstliche Spitzen gekleidet war.

Allein damals schien sie in meinen Augen von einer übernatürlichen Glorie umgeben. Ich dachte so wenig daran, das Gewebe irdischer Maschinen darin zu erkennen, als wenn sie eine Lilie oder ein Stern gewesen wäre. Alles um sie her schien zu ihr zu gehören, wie die Mondstrahlen zum Monde und die Blätter zu einer Blume, nicht ihr Kleid allein, selbst das grüne Laub, das sich liebend zu ihr herabbog, und der blumige Rasen, der ihre Füße zu küssen schien. Wenn ich an eine Vergleichung dachte, so war es Tante Gretchens Feenmärchen von der Prinzessin mit den drei Zauberkleidern, gleich Sonne, Mond und Sternen, die in einer Nußschale eingeschlossen waren.

Selbst auf den dicken, kraftvollen, lärmenden und materiellen Sir Walter schien ihre Glorie einen Widerschein zu werfen, während sie mit ihm sprach. Und ihre sieben Söhne umringten sie wie die Planeten die Sonne oder wie die sieben Churfürsten, von welchen Tante Gretchen uns erzählt hat, den Kaiser.

Als jedoch ihr Blick auf mich fiel, flüsterte sie Sir Walter ein Paar Worte zu, worauf dieser zu uns herüber kam, seinen Federhut vor Vater abnahm und mich zu ihr hinüber führte. Sie schaute mir lange in's Gesicht, dann wendete sie sich zu meinem Vater und sagte: »Die Aehnlichkeit ist vollkommen.« Nun küßte sie mich und ließ mich neben sie auf das Kissen sitzen, indem sie meine Hand in der ihren hielt. Ihre Stimme kam mir vor wie die eines Engels, und bei ihrer sanften Berührung fühlte ich mich so wohlgeborgen wie ein Vögelein unter den Fittigen seiner Mutter. Das stille Lächeln ihrer sanften Augen unter ihrer breiten, glatten, ungefurchten Stirne, während sie sich von Zeit zu Zeit zu mir hin wandte und mich anblickte, ging mir zu Herzen wie ein Kuß. Ich dachte nicht mehr an Eva und die Schlange, noch an Tante Dorothea oder sonst etwas, bis sie sich erhob, um wegzugehen. Dann küßte sie mich noch einmal. Allein ich wünschte kaum von ihr geküßt zu werden. Schon ihre Gegenwart war eine Umarmung, ihr Lächeln ein Kuß, jeder Laut ihrer Stimme eine Liebkosung. Ich fühlte mich wie von zarten Mutterarmen umfangen, indem ich neben ihr saß. Beim Weggehen sagte sie zu mir:

»Du mußt mich besuchen, liebe kleine Olivia! Deine Mutter und ich wir haben uns innig geliebt.« Dann reichte sie meinem Vater die Hand indem sie fortfuhr:

»Politische Ansichten und die Gränzen unserer Ländereien sollen uns nicht länger von einander fern halten.«

Er verbeugte sich und sie sprachen noch eine Weile mit einander. Allein das Einzige, was ich von ihrer Unterredung verstand, war das Versprechen meines Vaters, daß ich sie im Schlosse besuchen werde.

Ich glaube, Jedes fühlte etwas von dem sanften Zauber, der ihr eigen war. Denn so ruhig und zurückhaltend sie auch war, so schien doch Licht und Fröhlichkeit mit ihr zu verschwinden. Es währte nicht lange, so hatte das Tanzen und Singen ein Ende; Tische wurden auf dem Rasen gedeckt, die Schmauserei begann und wir kehrten nach Hause zurück.

»Ach, Roger,« sagte ich, als wir am Abend allein beisammen waren, »Niemand in der ganzen Welt kann ihr gleichen.«

»Das versteht sich,« sagte Roger mit Bestimmtheit. »Habe ich Dir es denn nicht immer gesagt?«

»Du hattest sie ja noch nie zuvor gesehen.«

»Nie gesehen, Olivia? Wie wäre es möglich, sie nicht jeden Sonntag zu sehen, da sie am Ende ihres Kirchenstuhls gerade mir gegenüber sitzt?«

»Sie ist noch nie in die Kirche gekommen, Roger.«

»Nie in die Kirche gekommen? Wen meinst Du denn?«

»Wen ich meine? Natürlich Lady Lucia.«

»Ach!« versetzte Roger, »ich dachte, Du sprächest von Fräulein Lätitia.«

Als wir jedoch nach Netherby zurückkamen war etwas in Tante Dorotheens Wesen, das mein von der neuen Liebe ganz erfülltes Herz erstarren machte und mich wieder an Eva und den Apfel erinnerte. Doch sprach sie freundlich:

»Du scheinst ernst, Olivia. Vielleicht hast Du gefunden, daß es doch kein solches Paradies war, wie Du erwartet hattest. Armes Kind! die Schale der Welt ist seicht und je eher wir sie leeren, desto besser. Ich halte Dich für zu gut, als daß Du lange an Maispielen und Eitelkeit ein Vergnügen fändest. Komm zum Abendessen.«

Meine Aufrichtigkeit zwang mich jedoch zu reden. Tante Dorothea sollte nicht besser von mir denken, als ich es verdiente.

»Es war in der That fast wie ein Paradies, Tante Dorothea,« sagte ich.

»Ein Paradies um einen Maibaum?« wiederholte sie mitleidig. »Armes Kind, armes Kind!«

»Nicht der Maibaum war's,« sagte ich, erglühend den verborgenen Schatz meiner neuen Liebe offenbaren zu müssen; »nicht der Maibaum, sondern Lady Lucia!«

»Lady Lucia«, fiel mein Vater ein, »hat das Kind sehr lieb gewonnen, Schwester, und sie in's Schloß eingeladen.« Und mit leiserer Stimme setzte er hinzu: »Sie findet, daß Olivia große Aehnlichkeit mit Magdalenen hat.«

Fast noch nie hatte ich ihn den Taufnamen meiner Mutter aussprechen hören, und nun klang er mir von seinen Lippen beinahe wie ein Segensspruch.

Tante Dorotheens Stirne umwölkte sich.

»Du wirst doch das Kind nie dorthin lassen, Bruder?«

Er antwortete nicht sogleich.

»Gerade in den Rachen von Babylon, Bruder? Lady Lucia soll der Liebling der papistischen Königin sein.«

»Sehr wohl möglich,« versetzte mein Vater trocken. »Wie könnte auch die Königin oder sonst Jemand Lady Lucia nicht verehren und begünstigen?«

Mein Herz klopfte ihm Beifall.

»Man sagt, sie habe eine Kapelle im Schlosse ganz nach dem Muster des Erzbischofs Laud eingerichtet, und Priester in, man weiß nicht wie viel, farbigen Gewändern, und gemalte Glasfenster und Weihrauch. Du wirst doch das arme arglose Lämmchen nicht in die Höhle des Thieres gehen lassen?«

»In manchem Staubhaufen finden sich Juwelen, Schwester Dorothea, und Lady Lucia ist ein solcher,« sagte mein Vater ein wenig ungeduldig; denn Tante Dorothea verstand es, den verborgenen Eigenwillen des sanftesten der Männer zu reizen. »Laß uns nicht weiter darüber sprechen. Mein Entschluß steht fest.«

Hätte er geahnt, wie tief der Zauber mir in's Herz gedrungen war, so würde er sich vielleicht eines Andern besonnen haben. Denn ich undankbares Kind, nachdem ich mein Herz an diese schöne fremde Dame verloren hatte, ärgerte mich über Tante Dorotheas blinde Ungerechtigkeit, und meine innere Empörung drohte sich über Alles auszudehnen, was Tante Dorothea glaubte und verlangte. Alle treue Sorge und Liebe ihres ganzen Lebens, all ihre geduldige (oder ungeduldige) Arbeit und Mühe für mich und die Meinen war ausgelöscht durch ihre blinde Ungerechtigkeit, wie ich es im Stillen nannte, gegen den Gegenstand meiner abgöttischen Verehrung, Lady Lucia, die mich zweimal geküßt, mir zugelächelt, ein halbes Dutzend freundliche Worte gesagt und mein ganzes kindisches Herz gewonnen hatte.

Und doch, selbst wenn ich jetzt in diesen nüchternen Stunden darauf zurückblicke, fühle ich, daß es nicht bloße Verblendung war. Solch wahre, innere Mütterlichkeit, wie sie Lady Lucia eigen war, scheint mir die größte Macht, womit eine Frau ausgestattet sein kann.

Gewiß ist, daß nicht alle Mütter dieselbe besitzen. Bei manchen ist die mütterliche Liebe, welche leidenschaftlich die eigenen Kinder umschließt, zu sehr einer stolzen Festung von Eifersucht und Ausschließlichkeit gegen andere, ähnlich. Oder vielmehr (daß ich nicht das Heiligste in der Natur entweihe) sollte ich sagen, die Mutterliebe, welche von oben stammt, wird durch die Selbstsucht, die von unten ist, zu einer Leidenschaft herabgewürdigt. Auch manche unverheirathete Frauenzimmer besitzen diese Mütterlichkeit, ja es gibt selbst kleine Mädchen, welche von Kindheit auf durch eine sanfte, unwiderstehliche Anziehungskraft die Kleinen an sich fesseln und dieselben gleichsam unter sanfte, taubenartige Fittige versammeln. Ohne mit dieser Eigenschaft wenigstens in einem gewissen Grade begabt zu sein, sind die Frauen keine rechten Frauen mehr, sondern nur schwächere, gellendere, kleinere Männer. Wo aber, wie bei Lady Lucia, das ganze Wesen davon durchdrungen ist, scheint es mir die süßeste, stärkste, unwiderstehlichste Macht auf Erden, um zu beherrschen, zu segnen, zu reinigen und zu erheben, und der wahrste Abstrahl, die wahrste Verkörperung des Göttlichen.

 

Allein nachdem ich an jenem Abend in Tante Gretchens schützender Nähe, von süßen Erinnerungen an Lady Lucia gewiegt, eingeschlummert war, wurde ich von einem gewaltig rollenden Donnerschlag aufgeschreckt, der gar kein Ende nehmen zu wollen schien.

Anfangs suchte ich mich unter der Bettdecke vor den Blitzen und dem furchtbaren Getöse zu verstecken. Allein es half nichts. Endlich rannte ich sprachlos aus meinem Bette zu Tante Gretchen hinüber. Sie nahm mich zu sich in das ihre. Und hier endlich, mein Haupt an ihre Schulter geschmiegt, kam mir die Sprache wieder und ich flüsterte (denn mir war zu Muthe wie in der Kirche):

»Tante Gretchen, wird so die letzte Posaune tönen?«

»Ich weiß nicht, Olivia,« sagte sie ruhig. »Schrecklicher wohl, sollte ich meinen, aber auch deutlicher, denn wir werden sie Alle verstehen, selbst die in den Gräbern ruhen, und sie wird uns heimrufen.«

»Ach, Tante Gretchen!« sagte ich endlich, »ist es wohl wegen des Maibaums?«

»Was, Herzchen! der Donner?«

»Ist er nicht Gottes Stimme? Steht nicht so in der Bibel geschrieben? Und die Stimme klingt zornig,« flüsterte ich, denn die Fenster klirrten und das Haus bebte unter den wiederholten Schlägen wie unter dem Griff eines schrecklichen Riesen.

»Es gibt in der That Vieles, mein Lämmchen, was den lieben Gott noch weit mehr erzürnen kann als die Maibäume.«

»Ja,« sagte ich, »daß man die drei Herren in den Stock gethan hat. Das war freilich noch viel ärger. Aber glaubst Du, daß Gott über mich erzürnt sein kann, Tante?«

»Weßhalb, mein Herzchen?«

»Weil ich Lady Lucia lieb habe. Sie ist so schön und hold.«

»Gott zürnt Niemanden, weil er liebt,« sagte Tante Gretchen, »sondern er zürnt nur, wenn man nicht liebt. Aber es gibt noch eine deutlichere Stimme Gottes als den Donner, Olivia,« setzte sie hinzu. »Eine Stimme, welche nicht brüllt, sondern redet, mein Herzchen. Hast Du diese nie vernommen?«

Ich schwieg, denn ich errieth beinahe was sie meinte.

» Ich bin es, fürchtet Euch nicht,« sagte sie in ihrem gewohnten klaren Tone, der einen scharfen Gegensatz bildete zu meinem furchtsamen Flüstern. »Wenn Du die Stimme, welche donnert, nicht verstehen kannst, mein Herzenskind, so gehe zu der Stimme, die redet, zurück, und diese wird Dir dann sagen, was die Donnerstimme bedeutet.«

»Tante Gretchen,« sagte ich nach einer kleinen Pause, »mir schien es, als ob Lady Lucia wie einige Worte unseres Heilandes wäre, als ob alles an ihr mit süßer Taubenstimme spräche: »Lasset die Kindlein zu mir kommen!« War dieser Gedanke Sünde? Mir war, als ob ich bei meiner Mutter säße, und da fielen mir jene Worte ein. War das Unrecht?«

»Nein, mein armes, mutterloses Lämmchen,« sagte sie, »das war gewiß nicht Unrecht. Merke Dir, Olivia, daß vom Paradiese an bis auf unsere Zeit Verleumdung der Liebe Gottes, Mißtrauen in Seine Liebe und Verachtung der ernsten Warnungen Seiner Liebe vor der Sünde stets die schlimmste Ketzerei war. Wenn wir die Süßigkeit menschlicher Liebe empfinden, so sollte uns sein, als ob Gott dadurch Seine Arme nach uns ausstreckte und zu uns spräche: »Dies ist ein kleiner Vorschmack meiner Liebe. Aber nur ein ganz kleiner!«

Indessen rollte der Donner noch immer fort, und in dieser Nacht spaltete der Blitz die große Ulme vor dem Thore, so daß sie am folgenden Morgen nur noch als ein geschwärzter, versengter Stumpf dastand.

Und Tante Dorothea erklärte es für eine furchtbare Warnung. Allein für mich war es auch ein Gleichniß der Barmherzigkeit. Zwar wäre ich nicht im Stande gewesen, deutlich zu erklären, warum, aber ich glaubte die sanfte redende Stimme habe mir die Donnerstimme verständlich gemacht.

Ich dachte daran, wie Er für uns geschlagen und gemartert worden ist.

Und ich bat meinen Vater inständig, den alten versengten Baum nicht umhauen zu lassen. Denn seine großen nackten, geschwärzten Aeste schienen das Haus zu beschützen, wie jenes Holz des Fluches, das an einem Charfreitag Nachts vor Jerusalem seine nackten Arme ausbreitete, und das nicht um Rache, sondern um Vergebung und Gnade schrie.


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