Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

John Ruskin

I.
Der Christ und Nationalökonom.

I saw Ruskin the other day, and pitched into, he talked such awful rubbish; but he is a dear old chap, and as soon as he was gone I wrote my sorrows to him.

Dante Gabriele Rossetti.

 

Carlyle schrieb an Ruskin, seine Schriften seien ihm ein heiliger Trost, der ihn fast weinen mache, eine empyräische Weisheit, vom Himmel herabgesprochen, Worte, die wie Blitze einschlagen und die je gehört zu haben, er sich nicht entsinnen könne.

Ruskins überaus zahlreiche (und oft teuere) Schriften haben in England und Amerika eine fast beispiellose Verbreitung gefunden. Ein Jünger Ruskins hat ausgerechnet, dass bis zum Jahr 1892 der Verkauf seiner Werke sich auf rund 300 000 gebundene Bücher belief. Auch in Frankreich, dessen Geistesart der Ruskins ferner steht als unsere, und das sonst fremden Schriftstellern nicht so leicht entgegen kommt, haben sich doch einzelne Kritiker eingehend mit Ruskin beschäftigt. Unter dem Titel La Religion de la Beauté brachte die Revue des deux Mondes von Robert de la Sizeranne eine Serie von Studien, die sich, von 1895 bis 1897, durch drei Jahrgänge hindurchziehen. In Deutschland wurde der ausserordentliche und mächtige Schriftsteller bis vor kurzem fast ignoriert.

Was davon wohl die Ursache sein mag?

Die Frage lösen zu wollen bilde ich mir nicht ein. Nur einige Andeutungen wage ich. Nach England blickten die Vielen in neuerer Zeit fast nur, wenn es sich um politische, soziale und volkswirthschaftliche Probleme handelte, oder auch, wie bei Darwin, um Fragen der exakten Wissenschaften. Die rein geistige Seite der jüngsten englischen Kultur beobachteten wir verhältnismässig weniger. In den Fragen der schönen Kunst und der schönen Litteratur insbesondere kümmerten wir uns, mit Ausnahme einzelner Künstler, kaum um England. Dass die englischen Möbel und die englischen Tapeten bei uns immer mehr Eingang fanden, ändert daran nichts. Unsere künstlerischen und litterarischen Sympathieen gingen nach anderer Richtung hinaus.

In allen Dingen, in denen man sich vom Leben, nämlich vom Alltagsleben, erholen will, wozu besonders Kunst und Litteratur gehören, blickten wir in erster Linie nach Frankreich, kaum nach England. Es konnte scheinen, als ob uns hier etwas gegen den Geschmack ging. Und vielleicht war es das: vielleicht hatten wir an unserem eigenen »germanischen Christentum« gerade genug und brauchten, um es aushalten zu können, wenigstens zum Nachtisch hie und da ein wenig französische Frivolität, oder wie man sonst die Sache nennen mag, im guten und schlimmen Sinn.

Wie dem nun sei, auffallend bleibt es: dass ein Mann wie John Ruskin, der mächtige Förderer des Präraphaelismus, der glänzendste englische Schriftsteller nach Carlyle, in Deutschland kaum Leser gefunden hat, ja kaum dem Namen nach bekannt geworden ist: – der Mann, den Carlyle selber ein wahrhaftiges Genie nennt, und von dem Tolstoi meint, dass er der grösste Moralist des Jahrhunderts genannt werden müsse.

Ob das eine bedauerliche oder vielleicht gar eine erfreuliche Thatsache sei, lasse ich einstweilen dahingestellt.

Sie ist auch heute, dank der begeisterten Bemühungen von Jakob Feis, überhaupt keine Thatsache mehr. Dessen glänzende Uebersetzung und glückliche Auswahl der hervorragendsten Stellen aus Ruskins umfangreichem Werk Heitz und Mündel, Strassburg. haben auch bei uns in Deutschland bereits eine zahlreiche Ruskin-Gemeinde geschaffen, die täglich im Wachsen begriffen ist.

Die ganze geistige Strömung der Gegenwart ist diesem Schriftsteller ja so ausserordentlich günstig!

* * *

John Ruskin ist in der That als Schriftsteller von nicht minder hohem Rang als Carlyle. Seine Beredsamkeit ist eher noch überwältigender, bezaubernder, weil er in seinem ganzen Wesen liebenswürdiger ist.

Und als Moralist – das Wort in seiner weitesten Bedeutung genommen – steht er ganz fraglos über Carlyle. Dieser war ein düsterer Moralprediger, Ruskin ist ein heiterer, lebensfroher. Das bedeutet einen grossen Fortschritt. Es ist derselbe Fortschritt wie von Schopenhauer zu Nietzsche, vom Pessimismus zum Optimismus. Wie Schopenhauer, der grosse Hasser des Christentums, dennoch darin ein Ur- und Erzchrist war, dass er den Wert des Lebens herabsetzte, das Leben fortwährend verleumdete, ewig ungerecht gegen das Leben war, so Carlyle; für Ruskin dagegen ist das Leben wirklich der Güter höchstes, für ihn giebt es »keinen grösseren, keinen andern Reichtum als Leben, Leben, das alle Kräfte einschliesst: Liebe, Freude, Bewunderung«.

Und darum nennt er Sünde und Laster alles, was den Tod begünstigt, was tötet, was das Leben ärmer macht; und Tugend alles, was das Leben begünstigt, was das Leben mehrt, was das Leben reicher, stärker, schöner macht, alles was die Freude am Leben, was die Liebe zum Leben weckt und erhöht.

Dasselbe lehrt Nietzsche über Gut und Schlecht jenseits von Gut und Böse; es ist der moderne Kern in Ruskins Lehre.

Gewiss ist Ruskin noch nie mit Nietzsche verglichen worden, der grosse Moralist mit dem grossen Immoralisten. Aber nicht nur erklärt Ruskin die Tugend als das was die edle Rasse ausmacht; er erklärt auch jeden Staat und jede Institution für unvernünftig, die nicht zum Zweck hat: »Die Vermehrung des auf die höchste Stufe der Vollendung gehobenen Lebens«.

Und nicht einmal die Frage, ob man trachten solle, eine kleine Anzahl zur höchsten Schönheit und Geisteskraft ausgebildeter Menschen (Uebermenschen), oder eine grössere Anzahl abhängiger Menschen heranzubilden, entscheidet Ruskin durch Verneinung des ersten Teils: er glaubt nur, beides zugleich und keines ohne das andere erreichen zu können.

Ruskin möchte eben, aus seinem christlichen Mitgefühl heraus, (was man seine Sentimentalität genannt hat) alle Menschen glücklich wissen. Carlyle hatte an die Möglichkeit menschlichen Glückes kaum geglaubt. Nach Glück auch nur zu trachten, hielt er für eine sündige Anmassung. Er hatte den Glauben seiner puritanischen Vorfahren wohl aus seinem Gehirn hinaus geworfen, aber im Blut lag er ihm noch: der finstere Glaube an den unabänderlichen Fluch der Erbsünde.

Der Puritaner Ruskin dagegen musste ein anderes Blut, irgendwoher, geerbt haben. Er kann sich das Leben nicht denken ohne Schönheit und Glück. Er glaubt an das Glück. Und er möchte es allen Menschen zugänglich machen, allen ohne Ausnahme.

Ruskin leitete seine Lehre von der Tugend nicht sowohl aus der Religion ab, als aus der Aesthetik. Auch sein Postulat des Glückes stellte er als Aesthetiker. Als Christ konnte ers kaum. Wenn er aber überhaupt das Glück forderte für den Menschen, so musste er es, als aufrichtiger Christ, für alle Menschen fordern.

Und als Mann der Pflicht begnügte sich der Puritanersohn auch nicht mit frommen Wünschen und philanthropischen Gefühlsäusserungen, sondern er zog, theoretisch und praktisch, aus seinem ästhetischen Christentum oder aus seiner christlichen Aesthetik die kühnsten Consequenzen. Und diese sollen im folgenden nicht sowohl kritisiert oder anempfohlen als vielmehr rein sachlich dargelegt werden.

Zu widerlegen wären sie ja zum Teil leicht.

Aber es ist, wie mir scheint, an sich ein interessantes Schauspiel: wie ein Maler und Aesthetiker, weil er ein Christ war, ein ganzer und aufrichtiger Christ, zu einem sozialistischen Nationalökonomen werden musste.

* * *

Der Fall war noch nicht oft da.

An Nationalökonomen fehlte es nun eigentlich in England am wenigsten. Aber für Ruskin waren das alles Irrlehrer, von Ricardo bis herunter zu Stuart Mill, und ihre ganze Wissenschaft stellt er nicht höher als Astrologie oder Nekromantie; jeden Augenblick vergleicht er sie damit.

Ruskin bestreitet es der herkömmlichen Nationalökonomie, dass die Befolgung ihrer Lehren zur Hebung des nationalen Wohlstands führe. Er sagt so: Die Nationalökonomie ist die Lehre vom Reichwerden. Aber man kann auf zweierlei Art reich werden: einmal auf Kosten der Andern, dadurch, dass Andere arm werden, und dann zum Gewinn der Andern, so dass Andere mit reich werden. Die Nationalökonomen aber lehrten bloss die erste Methode, und der ganze Handel, wie er heut beschaffen ist, beruhe darauf. Daraus könne unmöglich ein Gewinn für das Ganze erwachsen. Ja, es erwachse daraus nicht nur kein Gewinn sondern ein thatsächlicher Verlust.

Das ist Ruskins oberste Behauptung. Und auf unendlich geistreiche Art, an überraschenden sinnigen Beispielen sucht er sie zu beweisen. Streng verwahrt er sich dagegen, kommunistische Bestrebungen zu begünstigen. Wie jedermann, anerkenne auch er den Satz: dass die Armen kein Recht hätten auf das Geld der Reichen; er wolle nur, woran niemand zu denken scheine, auch einmal den andern Satz betonen: dass auch die Reichen kein Recht hätten auf das Geld der Armen. Er wolle nur die Gewissen schärfen, dass sie wieder fühlten: nicht nur die mittelalterliche Methode, im Strassenraub die Reichen zu berauben, sei eine schimpfliche Sache, sondern viel schimpflicher sei die moderne Methode, die Methode der Nationalökonomen, welche lehrt, im Handel die Armen zu berauben.

Es werde sich darum eine Art Handel entwickeln müssen, »der nicht ganz und gar auf Selbstsucht beruht«. Vielmehr, die Welt werde entdecken, »dass es einen andern Handel niemals gab noch je geben könne und dass, was man bisher Handel nannte, ganz und gar nicht Handel sondern Gaunerei war«.

Ruskin findet, dass in der ganzen Geschichte für den menschlichen Geist nichts so schmachvoll gewesen sei wie die Thatsache, dass dieser Geist »die Lehren der Nationalökonomen als Wissenschaft aufgenommen hat«. Und der Gedanke, »dass man Anleitung geben könne über den Erwerb des Reichtums, ohne dessen moralischen Ursprung zu berücksichtigen, oder dass man zum Gebrauch für die Nation ein allgemein technisches Gesetz in Bezug auf Kauf und Gewinn aufstellen könne«, ist für Ruskin »vielleicht der frechste und leerste von allen denen, durch welche die Menschen auf falsche Bahnen gelenkt wurden«.

Der Grundsatz: Kauft auf dem billigsten Markt und verkauft auf dem teuersten, ist nach ihm eines Tollhäuslers würdig.

Denn Ruskin scheut nicht die kräftigen Worte.

Man kann sich denken, wie solche Ausführungen in dem merkantilen England von Anfang an wirkten. Die Vernünftigsten lachten über Ruskin.

Und doch haben heute die sozialistisch-altruistischen Ideen unter den Vertretern der Wirtschaftslehre zahlreiche Anhänger, und nicht die unbedeutendsten. Im Handelsstand selber giebt es begeisterte Jünger Ruskins. Vor kurzem ist das litterarische Lebenswerk eines Altonaer Kaufmanns erschienen, ein etwas wirres aber höchst merkwürdiges Buch. Und was lehrt dieser Kaufmann? Sein Buch heisst: Der Handel auf altruistischer Grundlage! Von P. Bleicken. Herausgegeben von Max Rieck. Leipzig, Freund und Wittig. Das Werk würde wohl ohne Ruskin nicht existieren; wenn ich den Verfasser recht verstehe, war es ihm vor allem darum zu thun, die Ruskin'schen Ueberzeugungen fachmännisch zu begründen.

* * *

Interessant ist Ruskins Lehre vom Reichtum. Nichts findet er so verwunderlich als folgendes:

Zu allen Zeiten der Weltgeschichte gab es Menschen, die die Armut als solche liebten und hochschätzten. Philosophische und religiöse Verehrer huldigten der zerlumpten Gottheit. Und diese Menschen wurden oft genug von ihren Mitbürgern als vollkommenere, ja als höhere Wesen betrachtet. In Griechenland gab es Leute, die sich mit einem Fass als Wohnung begnügten, und die guten Athener brachten solchen Fassbewohnern kaum weniger Achtung entgegen, »als wir nur den grossen Kapitalisten und Gutsbesitzern zollen«. Im Verhältnis zu dieser Ehrung der Armen steht die Verachtung, womit nicht nur griechische sondern auch römische Schriftsteller vom Reichtum und von den Reichen sprechen.

Und erst das Mittelalter. Hier erwählte Giovanni Bernardone, der reiche Kaufmannssohn von Assisi, die Armut sich zur süssen Braut, und Tausende und aber Tausende liebten die Armut und den Geist der Armut mit der ganzen glühenden Inbrunst des Zeitalters. Alle hervorragenden Schriftsteller behandeln den Reichtum nicht nur als etwas Verächtliches, sondern selbst als etwas Verbrecherisches.

Daneben steht nun unsere Zeit mit ihrer allgemeinen und ausnahmslosen Verachtung der Armut.

Dieses Charakteristikum unseres Jahrhunderts findet Ruskin das merkwürdigste unter vielen andern.

Wie sonderbar! ruft er aus.

Aber auch nur sonderbar. Nicht unvernünftig. Er selber hegt »eine tiefinnige Achtung für den Reichtum«. Er ist eben nicht nur Christ, er ist ein protestantischer Christ. Und er ist natürlich Engländer, trotz allem.

Er betrachtet den Reichtum als »eine der einflussreichsten Mächte, die der Menschenhand anvertraut werden kann«, und die unter unsern heutigen Verhältnissen eine um so grössere Macht geworden ist, »als die Besitztümer eines reichen Mannes nicht nur Goldklumpen oder Koffer voll Juwelen vorstellen, wie dies früher der Fall zu sein pflegte, sondern verschiedenartig beschäftigte Menschenmassen, über deren Körper und Geist der Reichtum einen unberechenbaren Einfluss ausübt«.

Man sieht: der Geist des Giovanni von Assisi, genannt Franziskus, spricht schon nicht aus dem John von London, dem ebenfalls reichen Kaufmannssohn.

Um der Macht willen, den der Reichtum giebt über Menschen, schätzt ihn Ruskin. Aber diese Macht kann den Menschen, die sie erleiden, zum Heile gereichen oder zum Verderben. Der Reichtum kann also, je nachdem er ein »gerechter« oder »ungerechter Mammon ist« ein ebenso verderbliches wie segensreiches Instrument sein.

Leider findet Ruskin den ungerechten Reichtum häufiger als den gerechten. Und in Wahrheit versteht er unter Reichtum, unter Reichtum den er schätzt und als hohes Gut anerkennt, etwas ganz anderes als die Nationalökonomen (wie er sich immer ausdrückt) darunter verstehen.

Er nimmt die Definition des Stuart Mill vor: »Reichtum heisst einen grossen Vorrat nützlicher Dinge haben«. Gut, sagt Ruskin, aber die Leiche, die ein Dutzend kostbarer Ringe an der Hand und auf dem Haupt eine goldene Krone trägt; und der Reisende, der sich bei einem Schiffbruch einen Gurt mit 1000 Guineen um den Leib schnallt, der ihn in die Tiefe zieht: kann man von diesen beiden behaupten, dass sie das Gold im nationalökonomischen Sinn »haben« oder »besitzen«, vorausgesetzt, dass Gold ein nützliches Ding sei? Hatte der Ertrinkende das Gold oder hatte nicht viel mehr das Gold ihn?

Und Ruskin folgert, dass Reichtum als Macht »nicht nur in der Masse und Natur des Gegenstandes besteht, sondern viel mehr in seiner Angemessenheit für den Besitzer und dessen Fähigkeit ihn zu gebrauchen«: dass also Reichtum nicht sowohl von einem »Haben« als von einem »Können« abhängt.

Darum definiert er Reichtum als » Besitz des Wertvollen in den Händen des Würdigen« und fragt, ob die nationalökonomische Lehre irgendwie geeignet sei, uns diesem einzig erstrebenswerten Ziel nahe zu bringen. Er kann die Frage nicht bejahen.

Denn wer wird reich unter den gepriesenen wirtschaftlichen Gesetzen der Ricardo und Collegen, d. h. in einem Gemeinwesen, das unter dem Gesetz von Angebot und Nachfrage steht und aber gegen offene Gewaltthätigkeit geschützt ist?

Reich werden, findet Ruskin, folgende Leute: Die Fleissigen und Entschlossenen, die Stolzen und Habsüchtigen, die Gewandten, Systematischen, Einsichtigen, die Phantasielosen und Gefühllosen, die Unwissenden. Arm aber bleiben die ganz Thörichten und die ganz Weisen, die Trägen und Sorglosen, die Sinnigen und die Blöden, die Phantasievollen und Gefühlvollen, die Kenntnisreichen, die Unbekümmerten, die zeitweilig von Impulsen Beherrschten, der plumpe Spitzbube und der offene Dieb, und vor allem die Barmherzigen, die Gerechten, die Gottesfürchtigen ...

* * *

Reich werden, das heissen die Leute, im Leben voran kommen. Und auf Reichwerden ist deshalb all ihre Thätigkeit gerichtet. Aber der Mensch ist ein Narr, »der, ohne zu wissen was das Leben ist, im Leben vorankommen will; der nur darnach trachtet, mehr Pferde, mehr Lakaien, mehr Vermögen, mehr öffentliche Ehre und – nicht mehr persönliche Seele zu bekommen«. In Wahrheit kommt nur Der vorwärts im Leben, »dessen Herz wohlwollender, dessen Blut reicher, dessen Gehirn regsamer wird, und dessen Geist eintritt in den lebendigen Frieden. Und die Menschen, die beseelt sind von solchem Leben, sind einzig und allein die wahren Herren, die Könige der Erde«. Es giebt keinen andren Reichtum als Leben.

* * *

Ruskin will nicht die Macht tadeln und nicht die Liebe zur Macht (den Willen zur Macht, wie Nietzsche sagt). Die Liebe zur Ohnmacht wäre gewiss nichts Gutes. Und freilich giebt Geld Macht über die Menschen. Aber das Geld selber ist nur der goldene Zügel, um die Menschen zu beherrschen. Höher als der Zügel müssen die Menschen selber geschätzt werden. Und darum muss Zweck und Ziel alles Reichtums (und aller Nationalökonomie) in der Aufgabe liegen, » recht viele breitbrüstige, helläugige und g1ück1iche Menschen aufzubringen«.

Das ist Ruskins Wirtschaftslehre.

Er kam zu ihr durch sein Christentum. Und wenn auch das Christentum oft zu ganz andern Resultaten gelangt ist, hält Ruskin sich doch überzeugt, dass seine Lehre allein mit der christlichen Religion in Einklang gebracht werden kann.

Und er geht weiter in seinen Consequenzen. Das Christentum, in seinem Begriff vom Wert des Menschen, des Menschen als Gefäss und Tempel des Heiligen Geistes, verwirft die Sklaverei, und nichts als krasse Sklaverei sieht Ruskin in der Verwendung der Menschen beim modernen Industriebetrieb.

Zwar ist es schlimm, so folgert Ruskin, dass im Handel die Reichen den Armen ihr Geld unrechtmässiger Weise abnehmen; aber schlimmer, tausendmal schlimmer ist es, dass sie ihnen obendrein ihre Seele nehmen. Die geringen Löhne sind oft ungerecht; aber die Arbeit, die dafür gefordert wird, ist eine Sünde am Arbeiter, die gen Himmel schreit; denn sie macht den Armen nicht nur zum Sklaven, sie macht ihn zur Maschine. Dass das bestritten werden kann, verschlimmert nur das Uebel.

Der Arbeiter selber meint, »dass die Sklaverei nichts schade, wenn man nur gut dafür bezahlt wird«; aber gerade die Thatsache des Bezahltwerdens vervollständigt das Joch. Denn wer von Andern als Sklave verkauft wird, »bei dem ist es möglich, dass er trotzdem nur ein halber Sklave, dass er vielleicht gar kein Sklave sei; der Mensch jedoch, der sich selbst verkauft, ist gerade dazu geschaffen, ein Sklave zu sein«.

Nach Ruskin aber müsste jeder Mensch, auch der einfache Arbeiter, im eigenen Gefühl ein König sein, ein König und ein Künstler, ein Schaffender und Schöpfer, mit einer tiefen beglückenden Freude am Schaffen und am Geschaffenen. Denn wenn »Leben ohne Gewerbefleiss unwürdig und eine Schuld ist, so ist handwerkliche Thätigkeit ohne Kunst eine Verrohung«.

Im Mittelalter war der Arbeiter ein Künstler.

Nicht genug thun kann sich Ruskin in feuriger Beredsamkeit, um die Unwürdigkeit und Unmenschlichkeit der mechanischen Arbeit zu brandmarken.

Der grosse Jammer, »der sich aus all unsern Fabrikstädten erhebt, deutlicher als der Qualm ihrer Hochöfen« kommt, nach Ruskin, nicht sowohl von ungenügender Bezahlung, als daher, dass der Mensch dort nicht als Mensch sondern als Maschine behandelt und taxiert wird.

Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabrizieren, wenn mein eigenes Innere voller Schlacken ist? lässt Goethe seinen Wilhelm Meister ausrufen. »Wir bleichen Baumwolle, ruft Ruskin, wir härten Stahl, raffinieren Zucker, formen Töpferwaaren; aber einen einzigen lebenden Geist aufzuhellen, ihn zu kräftigen, ihn zu läutern, ihn zu bilden – das kommt bei der Berechnung unsers Vorteils nicht in Betracht.«

* * *

Wer denkt bei Ruskins Liebe zur armen Menschheit nicht an Tolstoi? In der That, die Wirksamkeit und die Lehre beider sehen sich oft sehr ähnlich. Aber doch nicht immer. Beide sind Christen, sind es in unendlich konsequenterem Sinn als die Vielen, die sich auch als solche bekennen. Beide stellen in den Dienst des Christentums eine gleiche geniale Kraft, ein gleiches ausserordentliches Talent.

Aber Ruskin ist doch ein Mensch von anderem Schlag als Tolstoi.

Wenn Ruskin von der Liebe zur Macht, vom Willen zur Macht spricht, glaubt man fast Nietzsche zu hören.

Aber erst wie Ruskin sich über den Krieg auslässt! Ein fast dithyrambisches Lob singt er dem heut allgemein geschmähten. Grundfalsch und verlogen findet er das vielgepredigte Wort, dass der Friede und die bürgerlichen Tugenden zusammen blühen. Der Friede und die Laster des bürgerlichen Lebens blühen nach seiner Ueberzeugung zusammen. Er habe der Göttin der Geschichte gelauscht und welche Worte habe sie immer zusammengestellt? Die Worte: Friede und Genusssucht, Friede und Selbstsucht, Friede und Verfall. Und was lehrt ihn die Geschichte aller grossen Nationen? »Dass der Krieg sie unterrichtet, der Friede sie betrogen, dass der Krieg sie geschult, der Friede sie irre geleitet hat; mit einem Wort: dass der Krieg sie geschaffen und der Friede sie getötet hat ...«

Hier klingt doch, scheint mir, auch fast Nietzsche heraus, der grosse Unzeitgemässe. Jedenfalls nicht Tolstoi.

Für Ruskin ist es eine unbestreitbare Wahrheit, »dass, wann immer die Fähigkeiten der Menschen hoch entwickelt sind, sie notwendig, um sich auszudrücken, die Kunst wählen«, und dass eine Nation, der ein solcher Ausdruck fehlt, » vom Niveau der Menschennatur herabgesunken ist«.

Da haben wir also zugleich einen weiteren Gegensatz Ruskins zu Tolstoi, den schreiendsten von allen: seine Kunstbegeisterung, seine absolute Gleichstellung der Kunst mit der Religion, der Schönheit mit der Tugend.

Nicht nur aus seinem Christentum fliessen Ruskins begeisterte Reden zu Gunsten der Armen, die man verkrüppeln, verkümmern, verkommen lässt; sie fliessen ebenso sehr aus seinem starken ästhetischen Bedürfnis, aus seinem Schönheitssinn und Schönheitsdurst.

Der Aesthetiker in Ruskin hat ihm eben so oft die Feder geführt wie der Christ. Aus seiner Aesthetik schöpfte er seine Philosophie von der Arbeit und der Würde des Menschen.

* * *

Ruskin ist oft einseitig und ist oft ungerecht. Vieles, was er für möglich hielt, wird sich auf immer für unmöglich erweisen in dieser mangelhaften Welt. Aber sowohl als Aesthetiker, wie als Sozialreformer hat er unberechenbare Anregungen gegeben. Auf dem Gebiete »der Kunstgeschichte des Quattrocento und des Cinquecento« hat er, gegen die vorigen Jahrhunderte, und zwar für die besten Köpfe, eine Umwertung der Werte bewirkt, die man epochemachend heissen darf, wenn sie auch nicht ewig anhalten sollte.

Und seine heisse Liebe zur Natur, ob er sie nun Natur nennt oder Gottes Werk; seine Liebe zum Leben, das er fürs Höchste erklärt und das er in Schönheit gestaltet sehen möchte; seine Liebe zu den Menschen, die er alle teil nehmen lassen möchte an der Schönheit; seine Liebe zur Freude, seine Definition des Lebens als Lust; – sein heftiges Gefühl für die Not und Hässlichkeit der modernen Grossstädte, für die vielfache Entwürdigung der europäischen Menschheit durch den modernen Industriebetrieb; seine Ideen über Armut und Reichtum: das sind ethische Werte, die in Zukunft vielleicht noch schwer in die Wagschale fallen werden.

II.
John Ruskin als Aesthetiker.

I do not call John Ruskin's work Criticism, but rather brillant poetic rhapsody.

D. G. Rossetti.

 

»Ich selber habe in einem Savoyer Wirtshaus eine hohe Steintreppe, die, seitdem man sie benutzte, nicht gereinigt worden war, mit Kübel und Besen gescheuert, und niemals eine so schöne Skizze wie an diesem Nachmittag gezeichnet.«

Wer am Morgen Treppen scheuert und am Nachmittag Skizzen zeichnet, hat vielleicht einiges Talent zum Aesthetiker. Denn ich nehme als selbstverständlich an, dass er von oben herunter gescheuert hat und nicht wie gewisse Kunstwächter und Kunstwärter von unten nach oben, wobei wenig herauskommt.

Ruskin nennt sich selber, in seiner Sprache, einen Naturalisten. Das Wort hat bei ihm einen tiefen Sinn. Es beleuchtet seine Kunstauffassung von ihrer liebenswürdigsten Seite.

Ruskin definiert die Kunst am liebsten als Ausdruck einer Freude über etwas, als eine Lobeserhebung. All great art is praise. Sobald der Künstler seine Aufgabe vergisst, durch Nachahmung Lob zu spenden, geht seine Kunst verloren ...

Damit sich unsere Arbeit bewähre, und unsere Lebenskräfte gesund bleiben, muss unser Geist vom Grundsatz geleitet werden, dass unsere Kunst etwas lobt, was wir lieben: vielleicht bloss eine Muschel oder einen Stein, vielleicht einen Helden, vielleicht Gott. Die Innigkeit und der weitreichende Flügelschlag unserer Liebe bestimmen die Stellung, die wir in der Welt einnehmen. Mögen wir jedoch klein oder gross sein, das Lebenskräftige, was wir im Bereich der Kunst zu schaffen vermögen, muss der Ausdruck wahrhaftiger Wonne für etwas Wirkliches sein, welches besser ist als die Kunst.

Nur das Bild ist edel, das man aus Liebe zur Wirklichkeit malt.

Das ist Ruskins Naturalismus. Seine Begeisterung für die Kunst ist Begeisterung für die Natur. Seine Liebe zur Kunst ist Liebe zum Leben. »Es gibt keinen anderen Reichtum als Leben; Leben, das alle Kräfte einschliesst: Liebe, Freude, Bewunderung.«

Darum besteht für Ruskin die Bedeutung der Kunst darin, den Wert des Lebens zu erhöhen. Ob sie diese Aufgabe erfüllt, darauf kommt alles an. Sie soll uns das Leben lebenswerter machen. Das thut sie, indem sie es schöner macht, indem sie die Summe der Schönheit vermehrt.

Also das Schöne soll die Kunst schaffen. Aber die Kunst ist an sich nicht ein Zweck, sondern sie ist ein Mittel. Ihr Zweck ist das Leben selber.

Denn leben und das Leben geniessen muss ein und dasselbe sein. Und allein in der Kunst gemessen wir das Leben. Wir können nur leben, wenn wir arbeiten. Aber »Arbeit ohne Kunst ist Vertierung«. Wir wären ja Sträflinge, wenn wir arbeiteten ohne Lust. Wenn uns die Arbeit aber ein Genuss sein soll, muss sie aus innerem Drang hervorgehen, muss sie notwendig die Beteiligung von Geist und Gemüt erfordern, müssen wir Freude damit ausdrücken und Freude damit schaffen. Das ist aber künstlerische Arbeit. Und das ist auch allein eine sittliche Arbeit. Kunst und Sittlichkeit fallen überhaupt nicht auseinander. Kunst ist die höchste Sittlichkeit ...

Hier sind wir an dem Punkt angelangt, wo der Aesthetiker zum Moralisten wird. Ob ers freilich erst wird? Er war ja Puritaner von Haus aus, und so war er wohl, von Haus aus, vor allem Moralist.

Nun waren aber alle Moralisten im innersten Herzen Feinde der Kunst, und die bedeutendsten waren es offen und ehrlich, der grosse Plato in seiner (sozialistischen) Republik ebenso sehr wie der grosse Augustinus in seinem Staat Gottes, der Dichter der Neuen Heloise nicht weniger als der Dichter der Karenina. Doch bei Ruskin stehen wir einem höchst eigenartigen und originellen Schauspiel gegenüber.

Sonst bemühten sich die Moralisten, wenn sie nicht ganz von Gott verlassen waren, von Gott Apollo nämlich und seinen neun Musen, die Aesthetik aus der Ethik zu entwickeln und der Kunst, so gut es gehen wollte, in dem Heilsgebäude ihres Moralsystems irgendwo ein Winkelchen anzuweisen. Ruskin macht Miene, das Umgekehrte zu leisten. Die Forderung, die Nackten zu kleiden, ist für ihn eine ästhetische Forderung. Und bloss kleiden – das wäre wenig. Schön sollen wir sie kleiden. Und eine schöne Wohnung sollen wir ihnen obendrein schaffen. So stempelt er alle Tugenden zu ästhetischen Postulaten: Die Keuschheit, die eheliche Treue, die Gerechtigkeit, die sittliche Entrüstung, den edlen Zorn ...

Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Zorn, um den Moralisten in seiner ganzen Grösse zu zeigen. In der Bibel, die Ruskin nicht aufhört zu zitieren, steht geschrieben: Mein ist die Rache, spricht der Herr. Aber Ruskin will, dass wir jedes Böse auf der Stelle selber rächen, und zwar aus dem Zorn heraus rächen, nicht, wie die modernen Strafrichter pflegen, aus utilitären oder pädagogischen Motiven. Für ihn ist es also in allen Fällen ausgemacht, wer der Sünder ist, und wer der Gerechte, wer strafen darf, und wer gestraft werden muss. Darüber kann für ihn, wie es scheint, nie ein Zweifel bestehen. Wahrhaftig, Ruskin ist kein Skeptiker. Er ist, glaube ich, überhaupt kein wissenschaftlicher Kopf. Er ist kaum ein logischer.

Seine Stärke liegt wo anders. Seine Stärke ist die Begeisterung, die aus dem Glauben und aus der Liebe quillt, aus dem Glauben an das Gute, an die göttliche Seele der Menschheit, aus der Liebe zum Leben, aus der Liebe zur Schönheit, die den Wert des Lebens erhöht.

Ich nenne Ruskins Werk, sagt auch Rossetti, nicht eine Kritik der Kunst, sondern einen poetischen Lobgesang auf die Kunst. Wie Ruskin zu den englischen Präraphaeliten, so verhält sich Wackenroder zu den deutschen Nazarenern. Wackenroder schreibt: Die Weltweisen sind, aus einem an sich löblichen Eifer für die Wahrheit, irre gegangen; sie haben die Geheimnisse des Himmels aufdecken und unter die irdischen Dinge in irdische Beleuchtung stellen wollen, und haben die dunklen Gefühle von denselben aus ihrer Brust verstossen. Und ähnlich Ruskin: Es ist besser, sich den Himmel als blauen Dom, denn als dunklen luftleeren Raum, und sich die Wolken als goldenen Thron vorzustellen, denn als frostigen Dunst.

* * *

Ruskin ist ein Künstler. Warum ist er nun aber nicht bei seiner Kunst geblieben, bei seinem Malerhandwerk, er, der so hoch vom Handwerk denkt, der das Handwerk über alles stellt, der jedem Menschen rät, ein Handwerk zu treiben?

Warum? Ueber Kunst darf man nicht reden, sagt er wiederholt und sagt es mit Betonung. Und dennoch hat er sein Leben lang über Kunst geredet. Ich weiss keine andere Antwort als die: weil er ein Moralist war von Anfang an. Mit Farben konnte er nicht moralisieren, darum griff er zum Wort. Er konnte aber auch den Künstler nicht los werden, und so kleidete er seine Moral in das Gewand der Aesthetik.

Er hat in dieser Rolle Grosses geleistet. Wir müssen ihn oft bewundern. Er ist begeistert und weckt Begeisterung. Er hat aber auch grosse Wirkungen im Speziellen aufzuweisen.

In dem Gedanken, dass alle Kultur und also insbesondere alle Kunst nur die Aufgabe haben könne, einen höheren Typus der Gattung zu züchten, stimmt der Puritaner Ruskin sogar mit dem grossen Immoralisten Nietzsche überein. Ja, er operiert sogar ganz wie Nietzsche mit Ethymologien, indem er darauf aufmerksam macht, dass die Worte generous und gentle ursprünglich nichts heissen als rassig, von reiner Rasse, wie das deutsche edel ursprünglich den Gutsbesitzer bezeichnete, also den Reichen, den Mächtigen, den Herrn, – was alles freilich viel besser in die Philosophie Nietzsches als in die Ruskins passt.

Nein, die Logik ist nicht Ruskins Stärke. Und darum wollen wir neben dem Guten das Bedenkliche nicht vergessen, das Schiefe, das Halbwahre, das ganz Absurde, und besonders das notwendig Einengende, was eine absolut moralisierende Kunstbetrachtung und Aesthetik unumgänglich mit sich führen muss.

Der grosse Naturalist, schreibt Ruskin, nimmt den Menschen ganz wie er ist, sowohl seine körperliche als seine geistige Kraft. Fähig, sich in die ganze Stufenleiter menschlicher Leidenschaften zu vertiefen und liebend sich in sie zu versenken, entlockt er ihnen majestätische Harmonie; er stellt das Thun und Trachten, Jagen und Grollen, die Gier des Menschen, den Stolz und die Kraft seiner Seele und die Macht seines Glaubens furchtlos dar, und verleiht ihm in allem Würde; er reisst das Gewand von seinem Leibe und erschaut sein Geheimstes, wie ein Engel auf niedrigere Wesen herabsieht. Nichts, von dem er sich abwendete, nichts, was er zu gestehen sich schämte; mit Allem was lebt, was siegt, was fällt oder was duldet, fühlt er sich verbrüdert.

Welche wahrhaft schöne Stelle!

Den grossen Künstler nennt Ruskin Naturalisten. Sich selber nennt er so. Die Liebe zur Natur nennt er das Herz und die Seele der Kunst. Alles was nicht nach der Natur riecht als dem Nährboden seiner Wurzel, ist ihm verdächtig. Aus der Luft gegriffene Phantasiegebilde fürchtet er wie Gespenster, und wenn es sich auch nur um dekorative Linien handelt. Es giebt heute in München Leute, die dann die höchste Schönheit erreicht zu haben vorgeben, wenn ihr Gebilde nicht mehr eine Spur an die Natur erinnert – was sie wirklich manchmal fertig bringen. Solche Menschen würde Ruskin als gemeingefährliche Narren behandelt haben. Nicht einmal von einer gewissen Symbolik will er etwas wissen in der bildenden Kunst. Noch weniger von Mystik. Natur und wieder Natur. Fassen Sie die Hand Gottes, ruft er in seiner poetischen Sprache; schauen Sie in das Antlitz Seiner Schöpfung und es giebt nichts, was zu erreichen Er Sie nicht in den Stand setzt.

So der Künstler. Aber nun kommt der Moralist. Das Element des Moralisten ist die Unterscheidung von Gut und Böse. Sie trägt er überall hin, auch in die Natur, die er Gottes Werk nennt. Da ist dann der Fuchs ein böses Tier und das Schaf ein gutes, und Ruskin findet es unmoralisch, wenn einer lieber einen Fuchs malt als ein Schaf. Sogar in naturgeschichtlichen Werken findet er es unmoralisch. Es klingt unglaublich.

Greift nur hinein ins volle Menschenleben, hörten wir Ruskin – mit ein bischen andern Worten – oben ausrufen. Nun wäre nichts dagegen zu sagen, wenn Ruskin trotzdem auch die vollendetsten Meisterwerke des Teniers und des Jan Steen nicht als Werke hoher Kunst anerkennen wollte. Das thun wir auch nicht. Aber da er einmal Kunst und Sittlichkeit identifiziert, müssen das notwendig unsittliche Werke sein, und nur ein unsittlicher Mensch kann dauernd Geschmack an ihnen finden. Denn »der Geschmack an solchen Werken ist ein richtiger Teufelsgeschmack«.

In Wahrheit sind alle hierhergehörigen Werke der Holländer in gewissem Sinne viel reinere Werke einer künstlerischen Kunst als selbst die Disputa oder die Schule von Athen. Aber eben: um künstlerische Kunst ist es Ruskin nicht zu thun, sondern um sittliche Kunst, um die Kunst, deren Zweck ist, wie auch Carlyle sich ausdrückt, »to make Eternity look through Time, to render the Godlike visible«. Das ist natürlich Ruskins Recht. Ich konstatiere nur.

* * *

Jede Nation nahm schliesslich vom Christentum und bewahrte es am treuesten, was ihrer Natur am wenigsten widersprach: Die Italiener sehr wenig, die Nordgermanen sehr viel; die Spanier den Heroismus und die Todesmutigkeit des Glaubens, die Russen die Friedensbotschaft; die Franzosen die Caritas und die Engländer die – Castitas, oder etwas, das ihr ähnlich sieht und das man, wenn man es nicht loben will, Prüderie nennt.

Ruskin verleugnet seine Rasse nicht. Er ist, seinem Naturalismus zum Trotz, ein abgesagter Feind des Nackten. Er hasst es. Er empfindet in diesem Punkt ganz wie ein mittelalterlicher Mönch, aus allem Nackten sieht ihn der Teufel an. Er behauptet, dass Griechenland hauptsächlich zu Grunde gegangen ist durch seine Liebe zur nackten Gestalt. Er misshandelt Dürer, einmal weil derselbe nicht, wie Holbein, für England gearbeitet hat, und dann aber ganz besonders, weil er Adam und Eva nackt dargestellt und weil er anatomische Studien getrieben hat. Mit einer geradezu verächtlichen Gehässigkeit spricht Ruskin von Dürer. Und nicht viel besser kommt Lionardo weg. Ruskin meint, was unter der Haut steckt, ginge den Maler und Bildhauer nichts an, und die Impressionisten meinen es auch. Goethe freilich war anderer Meinung: »Nichts ist in der Haut, was nicht im Knochen ist«.

Im Ganzen kann man Ruskin nur beistimmen, wenn er von dem Einfluss der Wissenschaft auf die Kunst keine allzu günstige Meinung hegt.

Ruskin hat selber Kunstwerke ersten Ranges geschaffen. Das sind seine »Ansichten der Natur«, um mit Humboldt zu reden, seine landschaftlichen Schilderungen in Modern Painters. Zwar moralisieren sie auch in jeder Zeile. Da giebt es kein noch so lebloses Ding, dem nicht moralische Eigenschaften zugesprochen werden, Stolz oder Demut, Anmassung oder Bescheidenheit, Wahrhaftigkeit oder Verlogenheit.

Aber wie Ruskin die Natur sieht und empfindet, ist deswegen nicht weniger genial. Die Fülle seiner eigenartigen Beobachtungen ist erstaunlich, sie ist gross wie seine Liebe – seine ächteste Liebe, seine Liebe zur Landschaft. Nicht umsonst ist Turner für ihn der grösste Maler aller Zeiten!

Er ist jedenfalls der erste grosse Landschaftsmaler des Jahrhunderts.

Die Landschaft ist überhaupt die Stärke der Engländer. Den Italienern war sie wenig. Botticelli sprach verächtlich von Bildern, die man schon zu Wege bringen könne, indem man einen feuchtfarbigen Schwamm an die Wand wirft. Diesen Italienern war die menschliche Gestalt, die nackte, das A und O aller Kunst. Die Gegenden des menschlichen Körpers, das waren die Landschaften, die sie nicht müde wurden zu studieren. Daraus erwuchs ihr grosser Stil. Aber die Engländer, mit ihrer puritanischen Prüderie, mit ihrer geradezu mönchisch-mittelalterlichen Scheu vor ihrer eigenen Körperlichkeit, brauchten einen Ersatz; sie fanden ihn in der Landschaft. Ihre Liebe zur Landschaft ist die Kehrseite einer lächerlichen Schwäche. Wie inkonsequent sie hierin sind, ahnen diese Sportsmenschen gar nicht. Konsequent war jener Dominikaner-Prior, der dem Pater Hyazinth Seife und Zahnbürste verbot.

* * *

Selbstverständlich mag Ruskin die Renaissance nicht leiden und zwar, er lässt darüber keinen Zweifel, weil sie unchristlich war.

Der Gelehrte des XVI. Jahrhunderts, wenn er den Blitz von Osten und Westen zucken sah, dachte sofort an Jupiter, nicht an das Kommen des Menschensohnes.

Das hält Ruskin für ein grosses Unglück. Schmerzlich bedauert er diese Renaissance-Menschen, die zwei Götter hatten, wovon sie den einen mit dem Mund bekannten und den andern sich im Herzen dachten, um zuletzt keinen von beiden zu fürchten.

Nein, wahrlich, sie haben sich vor keinem Gott gefürchtet und vor keiner Sünde. Solche Menschen kann Ruskin gar nicht begreifen. Und dennoch ist er ehrlich genug, einzugestehen, dass es bei ihm zu Hause genau dasselbe ist, dass man da auch Jahr aus Jahr ein den Christengott im Munde führt aber dienend einer ganz anderen Gottheit Knecht ist. Britania Agoraia nennt Ruskin sie, oder auch »Göttin des Vorwärtskommens«.

Also welchen Sinn hat sein Schlechtmachen der Renaissance, wenn er doch zugleich zugiebt, dass selbst die christlichsten aller Christen, dass selbst seine Angelsachsen eben auch nur Christen sind mit dem Munde? Aber vielleicht verzeiht er diesen ihre »Göttin des Reichwerdens«, weil sie sich wenigstens, wenn nicht vor Gott, so doch vor dem Teufel fürchten, nämlich vor der Nacktheit. Diese Tugend mag Vieles aufwiegen.

Sogar das Prädikat »tot« gibt Ruskin der Renaissance. »Die tote Renaissance beschränkte sich auf das Irdische, wies alles ab, was warm und himmlisch war, beschränkte sich auf ihren Stolz; wies alles ab, was schlicht und innig war, beschränkte sich auf ihre vornehme Standesherrlichkeit; wies alles ab, was aus dem Herzen quoll, was ehrfurchtsvoll und lebensfroh war. Hingegen gab sie sich dem Luxus des Körpers hin; schuf die terrassenförmigen, duftigen Gärten mit ihren Grotten, Springbrunnen und schläfrigen Schattengängen; schuf die geräumigen Hallen und langgezogenen Säulenreihen gegen die Sommerhitze, die festgeschlossenen Fenster und vollendeten Einrichtungen und Hausgerätschaften, um die Kälte abzuwehren, sowie die weichen Bilder auf Wand und Decke, übervoll der letzten Ueppigkeiten des Heidentums.«

Solche Stellen sind höchst nützlich zu lesen. In Deutschland sind die Prediger des konsequenten Christentums heute meist Geister untergeordneten Ranges. Hier aber sehen wir, wie dieses konsequente Christentum wertet, selbst wenn es aus dem Munde eines schönheitstrunkenen und lebenstrunkenen Künstlers spricht.

Mir fällt da unser Jakob Burkhard ein. Der war eigentlich auch ein Puritanersohn. Und ein klein wenig falsches Licht hat auch er in seine Darstellung des Cinquecento hineingebracht, nur gerade in entgegengesetztem Sinne wie Ruskin. Vielleicht in Opposition zu der herkömmlich deutsch-antikatholischen Auffassung vindiziert er seinen geliebten Renaissancemenschen eine christliche Religiosität, die sie kaum hatten, und huldigt damit unvermerkt auch dem Grundsatz: dass nichts gross sein kann, was nicht christlich ist.

Ich habe gesagt, die präraphaelitische Bewegung in England sei eine rein ästhetische gewesen. Sie war es gewiss für Brown und Rossetti. Aber für Ruskin? darüber werden dem Leser unterdessen einige gelinde Zweifel gekommen sein.

Zum Schluss noch ein Wort über Ruskins Auffassung der Poesie. Sie ist der weitaus engherzigste Teil seiner Aesthetik. Hier hört sein »Naturalismus« ganz auf. Hier fordert er, wie es scheint, überhaupt keine Natur mehr, die er doch für die bildende Kunst als unerlässlich erklärt. Dichtung ist ihm »etwas Erfundenes, Erdachtes, Künstlerisches, Uebernatürliches, aus dem eigenen Kopfe Zusammengeschweisstes«.

Also etwas Uebernatürliches sogar. Dichtung, die Unschönes zur Darstellung bringt, nennt er ein Majestätsverbrechen an der Madonna und der Weiblichkeit. Denn eine jede schöne Dichtung, verlangter, muss Madonnendichtung sein.

Auf Goethes Iphigenie mag das vielleicht passen, aber auf Shakespeare, auf Shakespeare ... Ich fürchte, was Ruskin befürwortet, wird meistens Backfisch-Dichtung sein.

* * *

Wenn ich mich nun in der Ausführung des Negativen etwas weit eingelassen habe, so geschah das nicht, um dem edlen Ruskin, den ich lieben gelernt habe, am Zeug zu flicken. Es geschah, um zu zeigen, wie gewisse Vererbungen (die ich nicht mehr näher zu benennen brauche) auf einen sonst herrlichen Geist einwirkten und ihn eng machten, der von Natur bestimmt gewesen wäre, weit zu sein.

Die Welt kennt ja in Leo Tolstoi, um auf den Anfang zurückzukommen, ein noch viel abschreckenderes Beispiel. Wie dieser grosse Dichter mit der Kunst und der Dichtung sich selber verleugnet, wenn das die christliche Selbstverleugnung ist, ist sie eine zweifelhafte Tugend.

Mit Tolstoi sprach jüngst ein Maler über Kunst. Aber wenn Sie recht hätten, rief Tolstoi zuletzt, dann wären Tapeten auch Kunstwerke. Er glaubte den Maler ad absurdum geführt zu haben. Der Künstler lachte.

Zu solchen fatalen Konsequenzen kam Ruskin zum Glück nicht. Sein treuester Freund und Schüler, William Morris, bekannte sich nicht nur zur Sozialdemokratie, (was jeder völlig konsequente Christ müsste), er wurde auch Tapetenzeichner und Tapetenfabrikant, und ihm verdanken wir es, wenn heut in einfachen Bürgershäusern an den Wänden eine Schönheit erblüht, wie sonst kaum in Königspalästen.


 << zurück weiter >>