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Der Philosoph an der Straße,
und was dem Musikus Otmar Zeisig bei demselben begegnet ist.

Ich habe einmal in meinem Leben Glück gehabt, vor nun bald dreißig Jahren, als mir die folgende Geschichte passiert ist und dasselbe hat so ziemlich bis heute ausgedauert, was eigentlich noch einmal ein Glück war, denn nachher ist mir keines mehr begegnet.

Ich stand damals in meinem einundzwanzigsten oder zweiundzwanzigsten Lebensjahr, war aber schon mein selbständiger Herr und besaß meine Dachkammer und meine Geige für mich.

Das war zu Frankfurt am Main.

Mein Vater, der Schulmeister Franz Ägidi Zeisig von Afra im Odenwald, hatte mir zwei schöne Dinge mit in die Welt gegeben, meinen romantischen Namen Otmar Zeisig, der mir immer sehr gut gefallen hat, und mein Geigenspiel.

Also ausgerüstet, sagte ich eines Tages meinem Herrn Vater und meiner Frau Mutter, ebenso meinen lieben Brüdern und Schwestern, die zusammen die schöne, von einem Schulmeister absonderlich geliebte Zahl Zehn ausmachten, Valet und fing an, mich durch die Welt, wenn nicht zu schlagen, so doch zu fechten und hier und da zu geigen.

Zu Frankfurt blieb ich nach einigen Jahren hängen. Ich geigte im Theater und in Konzerten mit, wenn ich auch nicht gerade die erste Violine spielte, und gab auch einigen Schulbuben Unterricht im Geigenspiel, wobei ich, nebenbei bemerkt, mehr Geigenbögen auf ihren harten Schädeln zusammenschlug, wenn der Zorn mich packte, als ich mit der ganzen Plackerei verdiente.

Aber alles zusammengenommen gewann ich doch so viel, daß ich nicht nur mein Brot hatte und zwar besser als zu Hause, was freilich nicht viel besagen will, sondern auch noch ein paar Kreuzer erübrigte, wofür ich mir bald einen blühenden Nelkenstock vor mein vorhangloses Dachfenster, bald ein schönes, neues Büchlein kaufte, Gedichte von Heinrich Heine, von Uhland, von Eichendorff, schauerliche Geschichten von Clemens Brentano, von Achim von Arnim, von Hoffmann, und wie sonsten die wunderlichen Autoren hießen; denn ich war damals ein romantischer Erzschwerenöter, und seit mir ein Student und Zimmernachbar einige von diesen Sachen geliehen und mir den Geschmack dafür erweckt hatte, war ich ebenso heißhungrig dahinter her wie als Knabe hinter dem »Heinrich von Eichenfels«, der »Rosa von Tannenburg«, der »Fingalshöhle« und den andern Geschichten vom »Verfasser der Ostereier«.

Ja, wenn ich nicht geigte oder komponierte, machte ich sogar selber Verse, und je weniger ich in der Welt vorstellte, je schäbiger ich nach außen aussah, welche Ausdrucksweise, wie ich eben merke, ein Pleonasmus ist, desto höher dachte ich im Innern voll mir selber, glaubte mich ein großes Genie, das in Ton oder Wort (denn ich schwankte noch zwischen beiden, wie Goethe zwischen Malerei und Dichtung) es zu etwas Großem bringen müsse, und träumte jede Nacht und meistens auch am Tage von Ruhm und Unsterblichkeit.

Mit einem Wort, ich war ein romantischer Schwerenöter in meiner Dachkammer; auch hat, wie ich irgend wo einmal gelesen habe, in Deutschland jeder, der in einer Dachkammer wohnt, das Recht, dies zu sein und sich ein Genie zu dünken.

Ich befand mich also in dem Eingangs erwähnten Lebensalter und der eben geschilderten Seelenverfassung. So schaute ich eines Tages sinnend zu meinem Dachfenster hinaus.

Vorher hatte ich aus der »Wanderschaft eines Schneidergesellen«, oder wie es sonst heißen mag, von einem Dichter Namens Gaudy gelesen und dann ungefähr eine Stunde lang vor mich hingegeigt, was mir eben gerade durch den Kopf ging, indem ich dabei an das Gelesene zurückdachte und mich noch einmal recht hineinträumte.

Nun wollte ich meine Crocus und Hyacinthen begießen, die ich mir in einer alten Kiste vor meinem Fenster aus Zwiebeln gezogen hatte, und welche gerade zart aufzublühen begannen in weißen, roten, gelben und blauen Farben, daß es ein Staat war. Trotz der frühen Jahreszeit fiel schon eine recht warme Nachmittagssonne schräg über die spitzigen, braunen Ziegeldächer auf meine geliebten Blumen herunter.

Aber diese Blumen, deretwegen ich allein ans Fenster getreten war, sah ich heute zum erstenmal nicht lange an, ja fast gar nicht; denn am Dachfenster gegenüber erblickten meine erschrockenen Augen eine andere Blume, eine Wunderblume aus alten Märchen, wie der Heinrich Heine sich ausdrücken würde, eine Blume von solcher Schönheit und so süßem Zauber, daß ich wie verrückt und verzückt zu ihr hinübersah.

Meine Crocus und Hyacinthen standen da auf einmal recht klein und armselig in ihrer alten Kiste neben mir.

Nun wird männiglich bereits gemerkt haben, daß ich wie ein rechter Poet, wenn ich auch gar keiner bin, in Bildern hier rede und von keinen eigentlichen Blumen oder Topfpflanzen sprechen will, sondern ein blumenhaft holdes Menschenwesen im Sinne habe, ein Kind, ein Mädchen, eine Jungfrau, oder wie ich sagen will, denn diejenige, welche drüben unter dem Fenster saß, an einem schneeweißen Linnen nähend, war alles das in einem zusammen.

Als sie nach einer Weile sich erhob und, wie es schien, ohne mich zu beachten, ihr mit weißen Vorhängen dicht verhängtes Fenster schloß, blieb ich noch lange wie ein Verzückter bewegungslos stehen; ihr Bild stand schon so lebendig klar vor meinem geistigen Auge, daß ich sie nicht leibhaftig vor meinen leiblichen zu haben brauchte, um sie zu betrachten und mich in ihrem Anschauen zu verlieren. Auch als ich meine Fenster ebenfalls schloß und, ohne Licht zu machen, den Kopf in die Hände gestützt, vor meinem wurmstichigen Tisch auf meinem Strohstuhl saß, dauerte dieses süße Schauen noch immer fort, und später, nach dem Einschlafen in meinen Träumen, fing es von vornen an.

Natürlich lief ich am andern Morgen, kaum dem Bett entsprungen, zu allererst ans Fenster, um hinüber nach dem ihrigen zu schielen.

Ich übergehe, wie ich nun die ersten Nachforschungen anstellte, ihren Namen »Genovefa«, der mich entzückte, und noch einiges erfuhr; wie mir das Stundengeben noch unerträglicher und widerwärtiger wurde, weil ich den ganzen Tag nur die tausend jauchzenden und seufzenden Narrheiten meines verrückt gewordenen Herzens auf meiner alten Geige austoben wollte, damit sie sich drüben in das andere Herz senken und dort auch ihr Unheil anstellen möchten. Ich übergehe auch, wie nun ein Lächeln, ein Nicken und Winken erst nur hinüber, bald aber auch herüber ging, wie ich ihr meine Verse in die Hände zu spielen wußte, wie meine Crocus bald drüben au ihrem Fenster blühten, statt an meinem, wodurch ich den Vorteil gewann, daß ich die armen Blumen auch wieder sehen konnte: das alles ist ja eine alte Geschichte, wie der Heine sagt.

Keinen Tag unterließ ich, mich in meiner Kammer umzusehen, mein Bett zu mustern, meinen Nassauer gußeisernen Ofen mit dem Amor auf der Vorderplatte zu betrachten und zu erwägen, was sich darauf und darin von einem geschickten Frauchen alles sieden und braten lasse. Ich machte einen Überschlag meines Verdienstes und fand, daß wir recht wohl damit leben könnten, wie ich mir das Leben dachte, zumal ich ja viel mehr Unterrichtstunden haben konnte, wenn ich wollte, da ich solche seither nur aus Hang zu einem romantischen Schlaraffenleben vermieden. Wenn Genovefa durch ihr Nähen auch noch etwas verdiente, war das nach meiner Berechnung schon zum Überfluß.

Manchmal dachte ich auch, wir könnten die Kammer nebenan, da sie gerade leer stand, noch dazumieten, meinte aber wieder, daß wir das gar nicht brauchten, und daß eine Stube genug sei.

So plante ich – und ich glaube nicht, daß man mein süßes Träumen mit »Luftschlösserbauen« bezeichnen konnte, denn das wären doch allzu bescheidene Schlösser gewesen.

Dann, kühn wie ich war, zog ich eines Tages meinen grünen Frack an und stieg einige Minuten später die alten dunklen Stiegen drüben herzhaft hinauf.

Genovefa wohnte bei ihrer verheirateten Schwester Angeline, und diese war, als ich eintrat, mit dein Waschen ihres Jüngsten beschäftigt, der dazu schrie wie ein Ketzer und Mordbrenner. Genovefa nähte.

Sie schaute nicht von ihrer Arbeit auf, aber es schien mir, als ob sie bei meinem Eintreten angenehm erschrocken wäre, wenn man so sagen kann.

Da ich von der sieghaften Wirkung meines Antrags fest überzeugt war, sprach ich mit viel Selbstvertrauen, mit beredsamer Begeisterung, mit überfließendem, überquellendem Herzen. Während ich redete, verfärbte sich Genovefa und wurde weiß wie die Wand.

Die Schwester Angeline dagegen sah mich sehr überlegen an und hatte von Zeit zu Zeit ein impertinentes Lächeln auf den Lippen, das mich ein wenig befangen machte.

Als ich fertig war, that sie hundert Fragen und schien von dem, was ich ihr darauf antwortete, nicht immer sehr befriedigt. »Aber wo bleibt Platz, ich bitte, für die künftige Kinderschar?« erwiderte sie, mein Schillercitat vom Raum in der kleinsten Hütte parodierend.

Es war ein gemeiner Handlungsdiener-Witz und schon damals nicht neu. O großer Schiller, dachte ich in meinem empörten Innern, du hast es voraus gesehen, du hast es gesagt: »Krieg führt der Witz auf ewig mit dem Schönen«, nur hättest du statt Witz auch Dummheit sagen können.

Bei Angelines letzten Worten, gegen welche ich diese innerliche Erwiderung hatte, äußerlich aber vor Scham und Ärger nichts herausbrachte, stand Genovefa, hochrot im Gesicht, plötzlich von ihrem Platze auf und sagte zu ihrer Schwester, sie solle diese Reden lassen, es sei ihr nicht zuständig, mit dem Herrn Musikus eine derartige Sprache zu führen. Ich wußte nicht, ob ich ihre Worte zu meinen Gunsten deuten durfte.

Ohne gerade abgewiesen zu sein, ging ich, tief verletzt und von der heitern Höhe meiner Vorstellungen und Träume mit unsanftem Fall in die harte Wirklichkeit des Lebens heruntergestürzt. In meiner Verdrossenheit war ich froh, am Abend in einem öffentlichen Garten spielen zu müssen.

Nach dem Konzert setzten wir uns zu einem Trunk zusammen. Da rückte der Kollege Winzig vom Contrabaß an meine Seite, und nach einigen Artigkeiten über mein heutiges Solo, drei Takte waren es gewesen, sprach er von meinem Talent im allgemeinen, meinte, es könnte aus mir noch etwas Rechtes werden, ein Virtuos, ein Komponist, eine Berühmtheit; aber ich müsse von Frankfurt und aus meiner jetzigen Stellung fort, er rate mir Dresden an, da könne gegenwärtig ein junger Mann viel lernen und es weit bringen.

Meine Ohren waren von jeher kitzlig gegen ähnliche Reden gewesen, dennoch entgegnete ich dem Kollegen, daß ich in meinem Leben wohl noch etwas zu lernen vorhätte, sei es in dieser oder jener Richtung, aber von Frankfurt wolle und könne ich jetzt nicht fort, denn ich dächte mich zu verheiraten.

Bei dem letzten Worte fuhr der Brummbaßstreicher wie erschrocken vor mir zurück.

Ich sei ja ein Tollhäusler und was mir denn einfalle, ich heiraten, bei meiner Jugend, ein Kerl, um den alle schönen Mädchen sich die Köpfe verdrehten, heiraten mit meinen Talenten, Hoffnungen und Aussichten – ich würde ja auf alles verzichten, auf Lebensgenuß, Freiheit, Glück, Kunst, Ruhm, Unsterblichkeit. Heiraten und wen? Eine schwindsüchtige Nähterin, ein Ding ohne Heimat und Familie ...

Zu meiner größten Verwunderung kannte Winzig Genovefa, und er hegte keine hohe Meinung von ihr, wenn er auch nichts gegen ihre Ehre sagen konnte; aber er hatte einmal ihren Vater, der zu Besuch in Frankfurt war, im Stadtgarten mit ihr gesehen. Das sei ein bäuerischer Hanswurst und ein Lump dazu, der mir sicher die Genovefa verleiden würde, wenn sie selber auch ganz recht wäre. Kurz, der krummbeinige, bucklige Winzig bekam mich herum; Ehrgeiz, Stolz, Eitelkeit, Entmutigung siegten über die Liebe.

Da wir beide meiner Festigkeit mißtrauten und möglichen Rückfall befürchteten, wurde beschlossen, daß ich Genovefa nicht mehr sähe, noch in der Nacht mein Bündel packte und mit dem frühen Morgen davonzöge.

Mit meinen Plänen und Träumen von künftiger Ehewirtschaft hatte ich nun selber Mitleid, fand sie kindisch, dumm, lächerlich und wurde rot, wenn ich daran dachte.

Warum aber auch daran denken? Mit dieser Enge und Beschränktheit hatte ich ein für allemal gebrochen und that am besten, jeden Gedanken daran abzuschütteln.

 

Es, es, es und es,
Es ist ein harter Schluß,
Weil, weil, weil und weil,
Weil ich aus Frankfurt muß.

Dieses alte Handwerksburschenlied stimmte ich an, als ich durchs Sachsenhäuser Thor zur Stadt hinauszog; ich sang es mit lustigem Übermut, nicht um seinem Inhalt recht zu geben, sondern ihn zu verhöhnen, ich sang wie einer, dem die Welt gehört oder der sie kaufen kann. Meine gestrigen Heiratspläne dünkten mich immer unkluger und närrischer, dagegen fand ich gar nichts Absonderliches daran, daß ich, fast ohne Geld, mit armseligem Ränzlein auf dem Rücken, nach Dresden reisen und dort ein großer, berühmter, vielleicht sogar ein reicher Mann werden wollte.

Seitdem waren Wochen vergangen. In Darmstadt hatte ich eine Zeitlang gegeigt und einen kleinen Reisepfennig zusammengebracht, dann war ich weiter gezogen, den Main, Spessart, Odenwald entlang. Mein Ränzchen war noch ebenso leicht wie am ersten Tage; von meinem Herzen und Gemüt könnt' ich das nämliche nicht sagen.

Ich sang nicht mehr, die Lerchen am Himmel, die Finken und Drosseln im Walde forderten mich umsonst dazu auf. Ich wurde, je länger je stiller, und es kann jeder leicht erraten, was für Gedanken mir durch den Kopf gingen und was für eine Melodie mir im Ohr und in der Seele summte, nämlich die von dem »Märchen aus uralten Zeiten«, das so traurig macht und nicht aus dem Sinn will.

Ich kam mir vor, wie jener junge Königssohn, der in einem alten Schloßgemäuer oder in spinnwebigter Dachkammer ein verwunschenes und in eine Schneidermamsell verwandeltes Königstöchterlein gefunden, dessen schmerzlich süßer Zauberblick ihn in die Seele traf, daß er von Stund an krank war und nur wieder gesunden konnte, wenn er durch einen herzhaften Entschluß die sprachlose Märchenblume mit dem flehentlichen, sanften Blick, will sagen das verwunschene Königstöchterlein, aus seiner bösen Verzauberung erlöste und dadurch ihm und sich selber ein ungekanntes, unendliches Glück gewann. Aber durch einen feueräugigen, schwarzen Pudel oder garstigen Lindwurm oder koboldartigen, krumm-buckligen Brummbaßstreicher abgeschreckt, versäumt er den rechten Augenblick zu entschlossenem, kühnem Handeln, und damit für alle Zeit und Ewigkeit sein und des Königstöchterleins Glück.

Und nun, da es fast zu spät ist, und er auch den Mut nicht hat, umzukehren, weil es doch nichts mehr nützen möchte, da beweint er bitter seine elende, dumme Feigheit, die ihn um seine Seligkeit gebracht; je mehr er darüber nachdenkt, desto verachtungswürdiger kommt er sich vor, daß er bald vor unsäglicher Traurigkeit seiner jungen Seele sterben, bald gegen sich selber rasen und sich die Haare ausraufen möchte.

So war mir zu Mute, als ich an einem Frühsommermorgen im Odenwald auf einsamem Weg durch einen viele Stunden langen Wald sehr unlustig dahinzog. Da hörte ich plötzlich in der Ferne singen. Noch war es gedämpft durch den dicken Wald, wie auch durch die Echos, die es weckte; aber soviel erkannte ich, daß es eine kräftige Männerstimme sein mußte. Das Vogelgezwitscher um mich herum war mir in meinem Gram fast zuwider gewesen, bei den neuen Melodien, dem waldeinsamen, mächtigen Singen horchte ich unwillkürlich auf.

Aus dem Wald in ein Wiesenthal hinaustretend, gewahrte ich auch den Sänger. Er saß vor einem großen Haufen Steine am Weg und war für meinen zweiundzwanzigjährigen Blick und Geschmack keine gerade poetische Erscheinung. Er trug auf seinem Kopf einen Filzhut, der dem Bruder Straubinger schon gehört haben konnte, und hatte einen blauen, bäuerlichen Drillichkittel, desgleichen Hosen an, die sich beide mit vielen Flecken, von gleichem, aber ungefärbtem Stoffe geflickt zeigten und so ziemlich scheckig aussahen, die Füße waren bloß. Der Mann hatte ein kräftiges Aussehen, ein rundes, rötliches, durchaus nicht ungesundes, oder von Mangel, Elend oder niedrigen Leidenschaften redendes Gesicht; man begriff, wenn man hineinschaute, daß sein Besitzer so singen konnte. Aber auch die Umgebung schien geeignet, dazu aufzufordern.

Es war ein enges Thal, rings von hohem Wald eingeschlossen, in der Mitte von einem mit blühendem Buschwerk besetzten Bach in tausend Krümmungen durchschlängelt. Über den farbenleuchtenden Blumen der Wiesen lag und zitterte die goldene Mittagssonne, kein Hauch der Luft bewegte sich, nur der Bach murmelte zwischen den Weiden, und aus der Tiefe des Waldes klang von Zeit zu Zeit das Pochen des Buntspechtes. Mitten in dieser Einsamkeit zwischen all dem Zauber von Waldduft und Waldesrauschen, Sonnen- und Blumenherrlichkeit, Faltergegaukel und Käfergeschwirr sang der Steinklopfer mit lauter Stimme, und tausend Echos rundum antworteten ihm.

Als ich an ihm vorüber wollte, ruhte er mit Singen und sah zu mir auf.

»Ihr seid gar wohlgemut bei eurer harten Arbeit,« sagte ich grüßend.

»Warum sollte ich nicht, Herr, als ein guter Christ und ehrlicher Mensch.« Er sagte das mit von Kultur unberührtem Dialekt, welcher an denjenigen meiner eigenen Heimat erinnerte und mich sehr anheimelte.

Ich war außerdem müde, und kurz besonnen, legte ich mich neben ihn ins Gras.

»Ihr liebt wohl recht sehr den Gesang,« fing ich an.

»Freilich, Herr,« antwortete er, »denn seht, wenn ich hier einsam sitze und die Vögel rings um mich all' ihre Lieder anstimmen, da kann ich mir halt nicht helfen, da muß ich mitsingen und so laut, als es nur aus meiner Kehle will, und wenn der Hannpeter Folk einmal nicht mehr singt, dann ist wohl der Grund davon der, daß sie ihn in den Grund gescharrt haben im Kirchhof.

»Ja, junger Herr, im letzten Sommer, da hab ich's gemerkt, da hab ich an der gleichen Stelle Steine geklopft und jeden Tag gesungen wie die Engel im Himmel, bis da mal eines Tages der Waldhüter, ein krummer, hinkender Waldteufel, zu mir herkommt, und mir sagt: ›Hannpeter, wißt Ihr auch, was der Förster gesagt hat? Er hat gesagt, daß Ihr ihm all' sein Wild vertreibt mit Eurem ketzerlichen Geplärr da im Wald, und wenn Ihr's von heute an nicht bleiben laßt, wird er gar kein Federlesens machen und Euch von Eurem Steinhaufen runterschießen wie einen tollen Hund.‹ Da hab' ich den krummen Mathis, so heißt der Waldhüter, angeguckt; daß der Förster kein Bester ist, hab' ich wohl gewußt, und hab' dann gedacht, du thust am End' doch Unrecht, Hannpeter Folk, wenn du dem Förster sein Wild verjagst, und kannst dein Singen auch bleiben lassen.

»Und das hab' ich mir darauf auch vorgenommen, hab's auch vierzehn Tage lang gehalten, hab' aber gemerkt, daß mir kein Essen mehr schmeckte, da ich doch in meinem Leben kein Kostverächter war, und das wurd' immer schlimmer. Da ging denn eines Tages unser Herr Pfarrer hier vorbei, der ein braver und lieber Herr ist, was man nicht von allen sagen kann, und mußte mir anmerken, daß etwas nicht recht sei, fragte mich auch nach der Ursach' meiner Traurigkeit, und sag' ihm da alles haarklein, wie mir's passiert ist. Macht da unser Herr ein ernst und streng Gesicht, und, ›Folk.‹ sagte er, ›das ist nichts mit dem Schießen; wenn er's auch gesagt hat und wenn er auch der Feinste nicht ist, hat er doch nur Spaß gemacht und wird Euch Euer Lebtag nicht schießen, denn er kann Euch das Singen nicht verbieten, und kein Mensch auf der Welt kann's Euch verbieten.‹

»Und seht, Herr, da hab' ich halt wieder angefangen zu singen, und Essen und Trinken haben mir wieder geschmeckt, und ist alles wieder gut gegangen.«

»Bei dieser Methode, scheint es, seid Ihr in Eurem Leben immer glücklich gewesen,« bemerkte ich.

»Wenigstens,« entgegnete der Alte, »war ich immer zufrieden, Herr, und Zufriedenheit ist Glück, immer war ich froh und vergnügt, was ich auch allerhand im Leben durchgemacht hab, denn ich war nicht mein ganzes Leben lang Steinklopfer, wär' mir auf die Länge auch zu langweilig geworden.«

»Man sieht es Euch an, daß Ihr bessere Tage gesehen habt,« versetzte ich teilnahmevoll. »Weiß Gott,« sagte der Mann lakonisch, diesmal wehmütig-traurigen Tones und feuchten Auges, dann schaute er mich prüfend an, und ich mochte ihm gefallen.

»Wenn Ihr den Weg drüben durch den nächsten Wald weiter geht,« begann er nach kurzem Zögern, »kommt Ihr bald auf eine freie Höhe, da seht Ihr grad vor Euch das Dorf und rechts einen großen einzelnliegenden Hof, 's ist der Schollenhof und hat einmal mir gehört. Aber er hat mir wohl nicht sein sollen, hatt' auch von vornherein nicht daraus gezählt; denn ich war der zweite Sohn, und bei uns kann nur der älteste Bub den Hof erben. Doch hatte mein Vater es gut mit mir vor, er that mich in lateinische Schulen und wollt' einen Pfarrer aus mir machen, was aber auch nicht sein sollt', da es Gott in seiner Güte noch besser mit mir gemeint hat.

»Ich bin sehr spät ins Studieren gekommen, und da ich noch dazu sehr dick war, ein widerspenstiges Haar und das ganze Gesicht voller Rostflecken hatte, nahm ich mich komisch aus zwischen den weißstrümpfigen, kurzhosigen Stadtbübchen, die alle viel jünger waren als ich, wurde deshalb von ihnen in einem fort geneckt und bekam hundert Spitznamen. In den Spielstunden war ich von ihnen umringt wie eine Ulmer Dogge von einem Rudel Spitzer, Affenpinscher und sonstiger seidenhaariger Schoßhündchen, auch war ich sehr geduldig und gutmütig und ließ mir alles gefallen; denn ich hatte Angst, ein solches Bürschchen zu zerdrücken, wenn ich es nur anrührte, oder ihm wenigstens einen Arm abzubrechen oder ein Schulterblatt auszurenken, wie es mir einmal wirklich vorgekommen ist.«

Ich mußte lachen.

»Gelt, Herr, das ist spaßig,« sagte der Steinklopfer; »aber so geht's, wenn der Mensch nicht an seinem Platz ist, da kann nichts Gut's daraus werden. Mit den Herren Professoren kam ich auch nicht aus, ich sah wohl, daß die auch über mich lachten, wenn sie es auch zu verbeißen suchten. Das ärgerte mich, daß ich mehr als einmal nicht fein antwortete; denn ich war wohl so stark oder stärker wie so ein Brillenmann und fürchtete mich nicht. Das schlimmste aber waren die Bänke, sie waren so eng und so niedrig, daß ich nie wußte, wo ich meine groben Bauernknochen unterbringen sollte, die mir darüber einschliefen und immer steifer und krämpfiger wurden. Dann kam gar dazu, daß ich früh gescheit wurde, d. h. daß ich merkte, wo der Bartel den Most holt, und daß an den Stand, den man für mich erwählt hatte, Bedingungen geknüpft seien, für die meine Natur mir nicht gemacht schien, also daß ich dachte, unser Herrgott wollte mich nicht zum Pfarrer haben, und darum heimging, um bei meinem Bruder auf dem Schollhof als Knecht zu dienen.

»Nun war ich in meinem Leben zum erstenmal recht froh. Das Latein, das mich ein wenig verduckmäusert hatte, war bald herausgeschwitzt, und war bald der lustigste Bursch auf zehn Stunden Wegs, und hatte mich alles gern, die jungen Mädchen nicht zum wenigsten, besonders eine, die heute meine Frau ist. Damals aber war's ein junges Ding, des Fuhrmanns Franzkarl sein Kind und hieß Vefele, eigentlich Genovefa, ein sanftes, treues Blut, das bald nicht mehr von mir lassen konnte, und ich nicht mehr von ihm.

»Nun durften wir uns aber nicht heiraten, denn keins hatte Haus noch Hütte, und staken doch immer beisammen, Tag und Nacht, weil wir uns gern hatten, und es nicht unsere Schuld war, daß wir uns nicht heiraten sollten, was auch vor Gott nicht recht sein kann, oder meint Ihr nicht, Herr?« Der Steinklopfer hielt einen Augenblick inne und sah mich fragend an.

Ich konnte aber nicht antworten vor Reue und Scham, wenn ich diesen Mann reden hörte, wie er von der Liebe dachte, während ich, durch häßlichen Egoismus bewogen, die meinige weggeworfen. Ich fühlte, wie viel besser dieser Steinklopfer war als ich; aber ich faßte nun auch den festen Entschluß, stante pede nach Frankfurt zurückzukehren und mein Vefele zu heiraten, wenn es anders noch möglich sei. Die Geschichte des Steinklopfers und das Zusammentreffen der Namen war mir ein mahnender Wink des Himmels.

»Denkt davon, was Ihr wollt, Herr,« fuhr der Steinklopfer fort, als ich keine Antwort gab, »das kann ich Euch versichern und schwören, daß, als damals durch meine Schuld über das Vefele Schimpf und Schande kam, es auch aus dem Jungfernstuhl gewiesen wurde, und in dem hintersten Bänklein in der Kirche stehen mußte, das versichere ich Euch, daß mir solches ärger war und näher ging, als wenn man mir Nase und Ohren abgeschnitten hätte. Und nun könnt Ihr Euch denken, was es für mich war, als das Jahr darauf mein Bruder starb und mir der Hof gesetzlich zufiel.

»Da war es aus mit den Thränen meines Vefele und gab eine Hochzeit, wie es so lustig seither keine mehr gegeben, und mein Vefele kam vom Schandbänkchen in den Ehrenstuhl der ersten Bäuerinnen, daß ich mich vor lauter Lustigkeit nicht zu fassen wußte und auf dem Schollhof die Hochzeit gar nicht mehr aufhörte.

»Ja doch, nach acht Jahren hörte sie auf. Schulden waren schon vorher viele auf dem Hof gewesen, das Wirtschaften war weder meine noch Vefeles größte Tugend, wir hatten es nicht gelernt vermöge unserer Vergangenheit, waren zu unverhofft zu Reichtum gekommen.

»Da ward uns der Hof verkauft, und mit unsern sieben unerzogenen Kindern wurden wir an die Luft gesetzt.

»Das war bitter, besonders wenn ich das Vefele und die Kinder ansah, die armen Würmer, und verlor dennoch den Mut nicht, sondern tagelöhnerte, ernährte meine sieben Kinder und zog sie alle groß. Sind lauter prächtige Mädels worden, und jetzt haben alle brave Männer und wieder Kinder, die Brot essen, besser als ich mein ganzes Leben.

»Was ich aber noch sagen wollt', ja, als mir damals, und es war noch dazu in einem großen Hungerjahr, Haus und Hof verkauft wurde und mir außer den paar steinigten Äckerlein meiner Frau und dem wackligen Fuhrmannshäuschen im Kleindörfle, wie die Armengasse bei uns heißt, nichts blieb, da hat mich dies alles nicht so gekränkt, und hat mir nicht so weh gethan, als etwas anderes, das ich Euch erzählen muß.

»Weil im Dorf, ohne mich zu rühmen, niemand so gut singen kann wie ich, mußt' ich seit meiner Verheiratung jedes Jahr um den Flur singen und ich that's gern. Aber das versteht Ihr nicht, gelt Herr? 's ist nämlich bei uns alljährlich Brauch, daß die Gemeine in der Bittwoche, d. h. in der Woche nach Christi Himmelfahrt in Prozession mit Kreuz und Fahne um die Gemarkungsflur wallt, was man den Flurgang heißt. Und weil da der Schulmeister die Orgel nicht mitnehmen kann, müssen die Bauern dabei ohne Orgel singen, welches nicht leicht geht, besonders wenn's keiner mit mutiger Stimme vorsingt, daß sie alsdann nur der Spur nachzusingen brauchen.

»Dem Schulmeister wurde dabei immer schwach, und so stellten sie mich zum Vorsingen an. Ich thu aber nichts lieber als singen, besonders wenn es das »Großer Gott, wir loben dich« gilt, was bei dem Flurgang viermal gesungen wird, bei jeder Station einmal.

»Da hatt' ich denn an meinem Amt eine rechte Freud' und ließ mir's auch anno dazumal im Jahr meiner großen Trübsal nicht nehmen. Und seht, Herr, das haben mir die Bauern, die – ich will nicht fluchen, Herr, das haben sie mir übel genommen.

»Der hat das auch notwendig in seinem Elend, haben sie gesagt, und was solche hämische und mißgünstige Reden mehr sind, und hat mir doch im Dorfe keiner je ein Stück trocken Brot gegeben und meinen Kindern auch nicht; da hab ich denn gewußt, was ich von dem bigottischen Geschmeiß beieinander zu halten hab, und daß ihre ganze Religion keinen Boscher wert ist, keine schimmliche Bohne nämlich. Statt unserem Herrgott zu danken, wenn er einem Menschen ein offen, heiter Gemüt gab, als bestes Himmelsgeschenk, daß dieser Mensch auch noch in seiner ärgsten, irdischen Betrübnis Gott mit Psalmen Preisen und ihm Lob singen kann, knurren und murren sie darüber wie die Hunde, die nicht leiden können, daß am Himmel der helle Mond scheinen will.

»Gottlob hab ich von den Sakra ... ich will sagen von denen elenden Hundsknochen und ihren unsaubern Weibern noch kein Almosen gebraucht und werde auch keines brauchen, Amen.«

»Wenn Eure Kinder,« sagte ich, »so gut versorgt sind, wie Ihr mir erzählt, so werden sie Euch keinen Mangel leiden lassen.«

»Bei Gott nicht, Herr, sie schicken mehr als ich will und verlange, sie sind alle brav, das können sich die Kaffern im Dorf drin nicht denken, wo die Kinder den Eltern und die Eltern den Kindern das Brot im Mund mißgönnen.

»Da heißt es verächtlich der ›Steinklopfer da, der Bettelmann‹, und dieser Steinklopfer und Bettelmann, der aber noch keinen Menschen angebettelt hat, ißt mehr Fleisch an gewöhnlichen Sonntagen und Werkeltagen, wenn er mag, als diese Schmutzfinken auf der Kirmeß, braucht's ihnen aber nicht auf die Nase zu hängen.

»Und weil der Mensch etwas treiben muß, so klopf' ich meine Steine, denn Müßiggang ist aller Laster Anfang, wie meines Großvaters Bruder, der alte Klingensteffe, tröst' ihn der liebe Gott, zu sagen pflegte. Das Steinklopfen aber ist das schlimmste noch lang nicht. Ich könnt' zu einer meiner Töchter in die Stadt gehen, da wär's aber mit dein Singen den lieben, langen Tag vorbei, drum bleib ich lieber bei meinem Steinhaufen, auf dem mir's vielleicht wohler ist, als dem König auf seinem Königsthron.

»Meine Frau sagt gleich, wenn sie ein Floh beißt, ›wenn ich nur im Himmel wär,‹ das ist so ein Spruch von ihr, hat's heut morgen wieder gesagt.

»›Geh! sei still, Frau‹ sagt' ich, ›hast ein Wesen und Wirtschaften mit deinem Himmel, wirst noch 'nein kommen, brauchst dich auch wohl gar nicht zu bücken dabei, denn für die Hühner und Gänse wird er nicht gemacht sein, mir pressiert das nicht so.‹ Wenn unser Herrgott heut käm und zu mir sagt', ich sollt' gleich in den Himmel kommen, wenn ich wollt', ich würde sagen: ›Ei, lieber Herrgott, wenn's dir recht ist, möcht' ich gern noch erst den Haufen Steine vorher klopfen und den weiter hinten im Wald auch, denn ich hör' deine Vögel gar zu gern singen und weiß nichts liebers, als wenn mir deine liebe Sonne so warm auf den Buckel scheint.‹«

»Aber wenn Ihr doch des Himmels so sicher seid,« wendete ich lachend ein, »schöner als beim Steinklopfen muß es drinnen wohl sein.«

»Es hat ihn eben auch noch keiner gesehen,« antwortete der Mann und lachte, »und beim Steinklopfen und auf dieser Erdenwelt gefällt mir's, das weiß ich; wie mir's im Himmel gefallen wird, das weiß ich nicht, und im gemeinen Sprichwort heißt's: ›Ein Spatz in der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dache.‹«

Wenn die seitherigen Reden des merkwürdigen Mannes mich aus mir selber und meinen Gram- und Reuegedanken herausgerissen hatten, weil die kuriosen, religiösen Offenbarungen, die ich da zu hören bekam, dieser seltsame Mischmasch von Glauben, Un- und Aberglauben mir sehr possierlich und interessant erschien, brachten seine letzten Worte mich wieder auf mich selbst zurück.

Ich war nicht so gescheit, wie dieser einfältige Mann, ich hatte einen gegenwärtigen, nicht etwa Steinhaufen, sondern wahrhaftigen, in meiner Gewalt stehenden Himmel voller Seligkeiten aufgegeben, um einem Etwas nachzujagen, was mir lange nicht so sicher winkte, wie der christliche Himmel diesen: christlichen Philosophen und Steinklopfer trotz seiner komischen Zweifel. Und ich hatte nicht etwa einen Spatzen in Händen gehabt und fahren lassen, sondern die Taube selber, die schönste, sanfteste und süßeste Taube von der Welt, und was wollte ich dafür? den romantischen Märchenvogel Phönix etwa? doch wo ihn suchen und greifen? Mit einem Wort, ich fühlte meine Eselhaftigkeit lebhafter und schmerzlicher als je.

Der Steinklopfer hatte unterdessen geschwiegen, auch er schien nachdenklich geworden zu sein; ja, als ich zu ihm hinschaute, sah ich ihn weinen, daß ich fast darüber erschrocken bin.

Doch als er wieder zu reden anfing, unter fortwährendem, rührendem Weinen, ich könnte fast sagen Heulen, machte er auf mich fast einen komischen Eindruck, umsomehr, als ich lange nicht merkte, wo er hinaus wollte.

Endlich begriff ich, daß er einen heftigen Kummer um eines seiner Kinder hatte, des jüngsten von allen, des achten, welches, gleichfalls ein Mädchen, den andern Sieben erst nach langer Unterbrechung nachgefolgt, und das nun sein Herzblättchen war, dessen Bravheit, Frömmigkeit und Geschicklichkeit jeder Art er nicht genug rühmen konnte.

»Sie heißt Vefele, wie ihre Mutter,« fuhr er fort ... Mir ging ein Stich durchs Herz.

»Und denkt Euch, guter Herr, wie ich erschrocken bin, als der Frankfurter Fuhrmann vor acht Tagen durch unser Dorf kam und auf einmal mein Vefele vom Wagen steigt und bleich und weinend auf uns zu kommt, um uns schluchzend um den Hals zu fallen. Ich hätte keinen Tropfen Blut gelassen, wenn man mich gestochen hätt', so saß mir der Schreck in allen Gliedern. Und was denn ums Himmelswillen vorgefallen sei, und was es daheim wolle, ob es krank sei, und warum es weine? Aber ich hatte gut fragen. ›Nichts sei, gar nichts, es habe nur uns einmal Wiedersehen wollen.‹ ›Aber Kind,‹ sagt' ich, ›du siehst uns nun ja, so sei auch lustig und froh, und iß und trink!‹ Aber alles umsonst, das ließ das bleiche Köpfchen hängen und redete nicht und deutete nicht, und acht Tage dauert es schon fort und will mir das Herz schier abdrücken. Es ist ein Verbrechen, daß ich noch singen kann, ich denk' aber, das mit dem Vefele sei vielleicht eine Liebschaft und keine Krankheit, und die Zeit werde das Übel vielleicht heilen.«

Ich konnte nicht mehr zweifeln, es war mein, mein Vefele aus der Schneckengasse zu Frankfurt, und sah nun erst recht, wie sehr von ganzem Herzen mich das gute Ding liebte; aber auch wie sehr ich sie liebte, könnt' ich an meinem Zittern und der gewaltigen Aufregung, in die ich geraten, wohl verspüren.

Als der Mann noch immer weiter sprach und nicht ahnte, wie jedes seiner Worte gleich einem Dolch in mein Herz drang, that er plötzlich einen Schrei und fuhr, den Hammer wegwerfend, wie ein Pfeil in die Höhe.

»Mein Kind, mein Vefele!« rief er.

Vom Walde her kam ein Mädchen, ich erkannte sie sofort, sie trug das gleiche Kleid, in dem ich sie zu Frankfurt am Fenster gesehen. Als sie mich bei dem Steinhaufen ihres Vaters liegen sah, ohne mich zu erkennen, blieb sie schüchtern stehen.

Der Vater redet ihr zu, näher zu kommen, ich sei ein guter Mensch, den es gewiß auch lieb gewinnen werde, wie er.

Nun kam es näher, das ahnungslose Ding, dann erkannte es mich.

Die Überraschung, den Freudenschreck, unsere gegenseitige Seligkeit und das Erstaunen und laute Verwundern des Vaters zu beschreiben, will ich nicht versuchen.

Über den farbenleuchtenden Blumen auf den Wiesen lag und zitterte goldene Mittagssonne, der Bach murmelte träumerisch zwischen den Weiden, aus der Tiefe des Waldes klang das Pochen des Buntspechts, und mitten in dieser Einsamkeit, zwischen all dem Zauber von Waldesduft und Waldesrauschen, Sonnen- und Blumenherrlichkeit, Faltergegaukel und Käfergeschwirr, fielen wir uns um den Hals und küßten uns und feierten unsere Verlobung. Der Steinklopfer stand daneben, hob pathetisch die Hände zum Himmel, betete wie ein Hohepriester und weinte dazu wie ein Schloßhund.

Drei Wochen darauf, nachdem ich unterdessen meine Eltern aufgesucht, aber außer ihrem gern gegebenen Segen wenig von ihnen hatte holen können, feierten wir im Dorf die Hochzeit, und es war sicher die traurigste nicht, die in Krähfelden, so heißt der Ort, gefeiert worden.

Mit dem Frachtfuhrmann fuhren wir andern Tags gen Frankfurt, es war die schönste Fahrt, die ich je in meinem Leben gemacht.

Als wir zu Krähfelden hinauskutschierten, spielte ich ein lustiges Stücklein auf meiner Geige, darüber ärgerten sich die Bauern noch einmal, die Kinder sangen:

Widele, wedele,
Hinterem Städtele,
Hat der Bettelmann Hochzeit,
Pfeift ihm 's Läusle,
Tanzt ein Mäusle,
's Jegele schlägt die Trommen,
Alle die Tiere, die Wedele haben,
Sollen zur Hochzeit kommen.

Darüber wurden wir noch lustiger – wenn dies überhaupt möglich war.

Unterwegs, wenn ich gerade mein Vefele nicht küßte, denn wir saßen allein unter dem weißen Regentuch aus den Warenballen des Frachtwagens, malte ich mir aus, was der bucklige Brummbaßstreicher Winzig für ein Gesicht machen würde, wenn wir eines Tages in Frankfurt miteinander ungefähren kämen.

Was nicht im Holz liegt, giebt keine Pfeifen; ich besaß zu einem reichen und berühmten Manne wohl nicht das Zeug, mein Vefele hat mich dafür entschädigt.


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