Joseph Roth
Die Rebellion
Joseph Roth

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XV

Das kränkte Andreas Pum. Andreas empfand die Beschämung zurückgesetzter Menschen, die sich auf eine Karriere vorbereitet hatten. Daß man gerade ihn eingesperrt hatte, daß man gerade ihn zum Heidentum zwang, war eine Ungerechtigkeit, grausam, unentschuldbar und verbrecherisch. Wie lange war es denn überhaupt her, daß er, fast mit der Würde eines Beamten, jedenfalls aber mit dem gottesfürchtigen Sinn eines Priesters, die Lizenz in der Tasche, an einer belebten Straßenecke die Nationalhymne spielte und die Leute zur Vaterlandsliebe fast ebensosehr anspornte wie zur Wohltätigkeit? Daß ein Schutzmann auf ihn zuschritt und sich, respektvoll grüßend, wieder entfernte, weil er die Berechtigung Andreas Pums, die Nationalhymne zu spielen, anerkennen mußte?

Was war denn eigentlich geschehen? Wie konnte sich die Welt so schnell geändert haben?

Ach! sie hatte sich gar nicht geändert! Immer war sie so gewesen! Nur, wenn wir ganz besonderes Glück haben, werden wir nicht eingesperrt. Aber unser Schicksal ist es, Anstoß zu erregen und im Gestrüpp der willkürlich wuchernden Gesetze zu stolpern. Wie Spinnen sitzen die Behörden, lauernd in den feinmaschigen Geweben der Verordnungen, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir ihnen anheimfallen. Und es ist nicht genug daran, daß wir einmal ein Bein verloren haben. Wir müssen unser Leben verlieren. Die Regierung, wie wir sie jetzt erkannt haben, ist nicht mehr etwas Fernes, hoch über uns Befindliches. Sie hat alle irdischen Schwächen und keinen Kontakt mit Gott. Wir haben vor allem gesehen, daß sie durchaus nicht eine einheitliche Macht ist. Sie gliedert sich in Polizei und Gericht und wer weiß noch wie viele Ministerien. Der Kriegsminister mag jemandem eine Auszeichnung verleihen, und die Polizei sperrt ihn dennoch ein. Das Gericht mag ihn vorladen, und der Herr Kommissär tut es auch. So wurde mancher gottlos, ein Heide und ein Anarchist.

Manchmal dachte Andreas, daß es notwendig wäre, sich wieder vernehmen zu lassen. Und einmal, als der Direktor der Strafanstalt, wie er es jede Woche seiner Vorschrift gemäß tat, die Zelle inspizierte, erzählte ihm Andreas seine Geschichte. Der Direktor war ein sehr strenger Mann, aber er glaubte, daß der Bestand des Staates von dem Ausmaß der Gerechtigkeit abhänge, die in seinen Grenzen zur Anwendung gebracht werde. Er ließ ein Protokoll mit Andreas Pum aufnehmen und versprach, »die Sache in die Wege zu leiten«.

Von diesem Tage an erfüllte Andreas Pums Brust eine neue kleine Hoffnung. Zwar wußte er nicht, zu wem er zurückkehren sollte. Zwar hatte er das Wichtigste verloren, das ein Mensch in Freiheit nötig hat, um mit frohem Sinn und Erfolg verheißender Kraft ein neues Leben zu beginnen: den Glauben nämlich, die Heimat der Seele. Und auch sein Körper hatte keine Heimat mehr. Von Katharina wollte er sich scheiden lassen. Wahrscheinlich hatte sie selbst schon die Scheidungsklage eingereicht. Sollte er zu Willi zurückkehren? Ein Straßenbettler werden? Würde er auch die Lizenz wiederkriegen? War es nicht überhaupt besser, er blieb in dieser Zelle, freiwillig, ein Leben lang?

Eines Tages erwachte er sehr früh. Er wußte nicht, wie spät es war, es konnte jedenfalls noch nicht sechs sein. Denn um sechs wurden die Sträflinge geweckt. An der Stelle, an der sein Bein abgesägt war, spürte er Schmerzen. Es mußte sich irgendeine bedeutsame Änderung des Wetters zugetragen haben. Plötzlich wurden leise plinkende Tropfen vernehmbar. Es regnete offenbar.

Andreas stand auf. Er schnallte seine Krücke an und stellte sich unter das Fenster. Jetzt hörte er den Regen ganz deutlich. Wäre das Fenster nicht in so tiefer Mauerbuchtung eingefaßt gewesen, so hätte der Regen sogar an die Scheiben getrommelt. So klatschte nur von Zeit zu Zeit ein einzelner Tropfen gegen eine Gitterstange. Jedenfalls aber stand fest: es regnete.

Auf einmal erwuchs aus verschütteten Jahren ein Tag aus Andreas' Jugend. So war er mitten in der Nacht aufgestanden, von Erwartung und Unruhe getrieben, und hatte festgestellt, daß die Macht des langen Winters gebrochen war. Damals hatte er den Morgen gar nicht erwarten können, und auch jetzt konnte er es kaum. Was erschütterte ihn denn eigentlich so? Jahr um Jahr war er gewohnt, den regelmäßigen Wechsel der Jahreszeiten zu erleben, und seit mehr als dreißig Jahren hatte auf ihn der erste Regen keinen Eindruck gemacht. Er mußte weit zurückgreifen in die verschollene Jugend.

Und er sah die enge Gasse der ganz kleinen Stadt, in der er geboren war, und wie sie den einziehenden Frühling begrüßte, ihm spielende Kinder entgegenschickte und große Wasserbottiche, in denen sich das Regenwasser fangen sollte; wie sie ihre Kanalgitter öffnete, weil sie verstopft waren, und wie der Regen ungehemmt und in rastlos stürzenden, schäumenden, gurgelnden Fluten in die Untergründe der Gasse drang, wie er die schmutzigen winterlichen Schneereste an den Rändern des Bürgersteigs mit vernichtender Wut verschwinden, zerrinnen, Nichts werden ließ.

Ach, es wurde Frühling, und er sah es nicht! Die Welt änderte sich, und er war gefangen.

Jetzt klopfte der Wärter, und Andreas rief »Hier!« so schnell, daß der vorsichtige Beamte die Tür aufschloß und den angekleideten Andreas mit verwundertem Mißtrauen betrachtete. »Schon auf?« fragte der Wärter.

»Mein Knie schmerzt so!« antwortete Andreas.

»Heut ist kein Ausgang!« sagte der Wärter und schloß die Tür.

Oh, warum war heut kein Ausgang?

Die Finsternis lichtete sich, löste sich langsam in das gewohnte Dunkelgrau auf. Es wurde Tag. Der Regen wurde stiller. Auf einmal begann ein Vogel zu zwitschern. Eine ganze Vogelgruppe zwitscherte. Einige Spatzen drängten sich gegen das Gitter. Sie schrien und schlugen mit den Flügeln.

Andreas betrachtete die Vögel und lächelte. Er lächelte mild wie ein Großvater, der seinen spielenden Enkeln zusieht. Niemals hatte er sich um Spatzen sonderlich bekümmert. Jetzt schien es ihm, als hätte er eine alte Schuld an sie abzutragen. Er hätte sie gerne mit Brotkrumen gefüttert.

Er nahm sich vor, den Wärter darum zu bitten.

Als man ihm das Frühstück brachte, bat er den Wärter, einen Augenblick zu bleiben.

»Hören Sie«, sagte er, »bringen Sie eine Leiter! Ich möchte den armen Spatzen ein paar Brotkrumen streuen.«

Wenn Andreas dem Wärter zugemutet hätte, ihm die Schlüssel zu allen Zellen herauszugeben, die Überraschung wäre nicht größer gewesen. Der Beamte versah hier seit sechsundzwanzig Jahren seinen Dienst. Von all den Tausenden Häftlingen, die seiner strengen Obhut anvertraut gewesen, hatte noch keiner einen solch verrückten Wunsch geäußert. Der Wärter dachte, von seinem beruflichen Argwohn gefaßt, der seine zweite Natur geworden war, zuerst an eine List des Häftlings. Er beleuchtete mit seiner Taschenlampe Andreas, um dessen Gesicht zu erforschen.

»Wie kommen Sie darauf?« sagte der Wärter.

»Sie tun mir sehr leid, die armen Vögelchen!« sagte Andreas mit einer solch erschütterten Stimme, daß der Wärter zu glauben anfing, Andreas sei verrückt.

»Lassen Sie sich nicht auslachen!« sagte er. »Der Herr sorgt für die Vögel. Essen Sie lieber das teure Brot allein!«

»Meinen Sie?« sagte Andreas. »Ist es so sicher, daß Gott für die Vögel sorgt?«

»Das ist nicht Ihre Sache!« erwiderte der Beamte. »Und meine auch nicht. Wozu hat man denn die Gesetze? Ich kenne meine Vorschriften. Es ist verboten, Leitern in die Zellen zu bringen. Wenn Sie krank im Gehirn sind, müssen Sie sich beim Herrn Doktor melden! Ich kann Sie ja aufschreiben, dann kommen Sie zur Marodenvisite. Wenn Ihnen der Herr Direktor es erlaubt, dann können Sie ja auch die Vögel füttern. Aber ein Gesuch müssen Sie machen.«

»Ich will ein Gesuch machen!« sagte Andreas.

Der Beamte notierte den Wunsch in sein Dienstbuch. Nach einer Stunde brachte er Papier, Tinte und ein Pult. »Schreiben Sie Ihr Gesuch«, sagte er, »der Herr Direktor hat es erlaubt.«

Andreas bat den Beamten um Hilfe. Dieser entzündete eine Kerze und zog seine Brille an. Dann diktierte er:

»An die hochwohllöbliche Direktion!

Endesgefertigter ersucht um die Bewilligung, einmal täglich den Spatzen sowie Vögeln anderer Art an den Fenstern seiner Zelle Brot und Speisereste auslegen zu dürfen.

Unterschrift: Andreas Pum, derzeit Häftling.«

Dieses Gesuch steckte der Beamte ein.

Am Nachmittag kam der Doktor. Er hegte Zweifel an der geistigen Gesundheit Andreas Pums. Er begann, sich mit dem Häftling zu unterhalten. Andreas ergriff die Gelegenheit, auch dem Arzt seine Geschichte zu erzählen.

Der Doktor tröstete. Der Direktor, sagte er, würde schon die Sache in die Wege leiten. Andreas möge nur Vertrauen haben.

»Aber die Spatzen zu füttern, wird man Ihnen nicht erlauben! Es ist so was einfach zu umständlich. Man kann Ihnen doch nicht eine Leiter in die Zelle bringen!«

»Wozu hab ich dann ein Gesuch geschrieben?«

»Das ist Vorschrift. Wenn Sie einen Wunsch haben, müssen Sie ihn schriftlich äußern. Aber erfüllt wird er Ihnen nicht.« Der Doktor lächelte. Er war ein alter, beleibter Herr mit grauen Stoppeln auf Wangen und Doppelkinn. Er trug eine unmoderne, goldgeränderte Brille. »Überlassen Sie doch dem lieben Gott die Sorge um seine Vögel!«

»Ach, Herr Doktor!« sagte Andreas traurig. »Manche sagen: Überlassen wir Gott die Sorge um diesen Menschen! Dann sorgt Gott nicht!«

Der Doktor lächelte wieder: »Es ist nicht gesund, ein Philosoph zu sein. Dazu reicht Ihre Kraft nicht. Man muß glauben, lieber Freund!« Der Doktor wußte bereits, daß er es mit einem Narren zu tun hatte; aber auch, daß dieser Narr ungefährlich war. Im übrigen hatte er noch im ganzen drei Wochen abzubüßen. Also beschloß er, Andreas sich selbst und seinen philosophischen Gedanken zu überlassen. Außerdem erwartete der Doktor heute seine Nichte. Er mußte zur Bahn und vorher noch einmal nach Hause. Und da er ein Menschenfreund war, reichte er Andreas die Hand.

Spät am Tage, es mochte vor Anbruch der Dämmerung sein, sah Andreas, wie draußen der Himmel sich lichtete. Ein Stückchen strahlenden Blaus war sogar durch die schmutzige kleine Scheibe zu sehen. Und wieder lärmten die Spatzen.

Dann vernahm er den leichten Trab eines Wägelchens, das regelmäßig jeden Tag hörbar wurde.

Obwohl es erst Februar war, nahm er an, daß die Knospen an den Weiden und Kastanien schon ziemlich groß sein müßten. Er dachte an sie mit derselben Zärtlichkeit, die er für die Vögel übrig hatte. Er nahm sich vor, einen weiten Spaziergang zu unternehmen, wenn man ihn freiließe.

In dieser Nacht schlief er spät ein. Er hatte Schmerzen im Knie. Der Wind wütete draußen und in den langen Gängen der Anstalt.

Am nächsten Tage war wieder Inspektion. Der Direktor sagte, die Sache laufe gut. In zwei Wochen könnte sie erledigt sein. Andreas würde also eine Woche früher freikommen. Man würde ein neues Verfahren einleiten. Dann könnte Andreas sich vor Gericht beschweren. Dann würde man ja das Unrecht einsehen und Andreas freisprechen. Er, der Direktor, wolle jedenfalls ein hervorragendes Zeugnis schreiben. So ein Zeugnis hätte er noch niemandem geschrieben. Und was die Fütterung der Spatzen anbelange, so sei dergleichen nicht üblich. Die Anstalt sei schließlich kein Tierschutzverein.

In diesem Augenblick entdeckte der Herr Direktor, daß der Kübel, in dem Andreas seine Bedürfnisse zu verrichten hatte, nicht neben dem Fenster, sondern in der Nähe der Bank stand, und weil der Herr Direktor die Ordnung fast genauso liebte wie die Menschlichkeit, sagte er streng: »Ihre Pflichten aber dürfen Sie nicht vernachlässigen!« Und genauso wie Willi fügte er hinzu: »Ordnung muß sein!«

Er ging, und hinter ihm klirrte der Säbel des Wärters.


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