Joseph Roth
Die Rebellion
Joseph Roth

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VI

Was war er doch für ein Glückspilz! Dergleichen Dinge geschahen nicht alle Tage, es waren keine gewöhnlichen Dinge, es waren Wunder. Wie viele seinesgleichen erwarteten jetzt zitternd den Winter, wie einsame, schwache Gesträuche, wissend, daß sie preisgegeben und zum Tode verurteilt, und dennoch ohne Kraft, dem langsam vernichtenden Schicksal durch einen schnellen Selbstmord zuvorzukommen. Ihn aber, Andreas Pum, unter tausend Invaliden, hatte die Witwe Katharina Blumich erwählt, die er langsam und wie um sich vorzubereiten »Kathi« zu nennen begann. Sein war nun das erträumte Weib, das starkbusige, breithüftige, warme; brünstige Weichheit entströmte ihrem Körper, ein verlangender und betäubender Dunst, der langentbehrte Duft des Weibes, der selbst schon schwellend ist, wie das Fleisch wogend, wie ein Busen, der Duft, in den man sich betten kann wie auf einen Leib.

Reich an Vorzügen war Katharina Blumich. Aber nicht viel ärmer erschien in manchen Stunden Andreas sich selbst. Er war ein Mann von seltenen Gaben des Gemüts. Fromm, sanft, ordnungsliebend und in vollendeter Harmonie mit den göttlichen und den irdischen Gesetzen. Ein Mensch, der den Priestern ebenso nahestand wie den Beamten, von der Regierung beachtet, man konnte sagen: ausgezeichnet, niemals vorbestraft, ein tapferer Soldat, kein Revolutionär, ein Hasser und Verächter der Heiden, der Trinker, der Diebe und der Einbrecher. Welch ein Unterschied zwischen ihm und Willi zum Beispiel! Zwischen ihm und den vielen anderen, Unkontrollierbaren, die in den Höfen spielten und sangen, und all das ohne Lizenz! Der fernhallende Schritt des Polizisten erschreckte sie, stets konnte sie die Anzeige des bösen Nachbars erreichen, die geringen Einnahmen verloren sie am Schanktisch, Zuhälter, Verbrecher, die sie waren! Wieviel Beispiele konnte Andreas aus seiner Spitalzeit nur anführen, wie wimmelte es unter den Kranken von Heiden! Wie viele hatten häßliche, entstellende und ansteckende Krankheiten! Die armen Weiber! Sie wußten ja gar nicht, wem sie sich auslieferten! Aber Andreas war rein an Körper und Seele, wie geimpft gegen Sünden und Leiden durch das Leben gegangen, ein gehorsamer Sohn seines Vaters und später ein gern gehorchender Untergebener seiner Vorgesetzten. Er schielte nicht nach den Gütern der Reichen. Er kroch nicht durch die Fenster in ihre Villen. Er überfiel niemanden in den dunklen Alleen des Parks. Dafür belohnte ihn das Schicksal mit einem musterhaften Weibe. Jeder ist seines Glückes Schmied. Er verdiente das Gute. Nichts fällt einem so in den Schoß. Rebellen denken so. Sie täuschen sich. Sie fallen immer herein.

Plötzlich unterbrach ein Schrecken Andreas' fröhlichen Gedankenflug. Der Schmied Bossi fiel ihm ein und sein eigenes Zittern vor der Kommission, dem er die Lizenz zu verdanken hatte. Wie, wenn sich dergleichen wiederholte? Wer konnte wissen, ob nicht in seine Glieder, in seinen Körper, in sein Blut der Keim des Zitterns gelegt war, ob er nicht zur unrechten Zeit sprießen und stark würde, den armen Andreas überwältigend und ihn vernichtend? Wie kam er eigentlich dazu, vom Schicksal vor allen anderen ausgezeichnet, eine Lizenz zu besitzen, ohne dauernd zu zittern? Würde das Geschick sich nicht plötzlich einmal seinen Lohn holen? Er wollte Sicherheit haben, zum Doktor gehen.

Zum Doktor? Wir haben ein berechtigtes Mißtrauen gegen die Doktoren. In ihren Wartezimmern wird man krank. Während sie mit ihren Händen, ihren Instrumenten, ihrem Verstand nach unserer Krankheit forschen, überfällt sie uns, an der wir niemals gelitten. Die Brille des Doktors, sein weißes Gewand, der Duft, den er ausströmt, die mörderische Sauberkeit seiner Gläser und Pinzetten liefern uns dem Tod aus. Noch hat ein Gott, der über allen Doktoren ist, über unsere Gesundheit zu entscheiden; und da er sich bis jetzt so freundlich erwiesen, ermutigt er uns geradezu selbst, auf ihn zu bauen.

Andreas' Nächte gebaren diese Gedanken und Befürchtungen, fruchtbar und beständig, bald grausam und bald freundlich. Ach! Das alles war wohl nur die Sehnsucht nach Katharina Blumich. Die Tage aber, die erfüllt sind von der Geschäftigkeit der anderen und unserm eigenen Tun, die hellen Straßen und ihre eilenden Menschen, die Kinder in den Höfen und die Dienstmädchen an den Fenstern geben uns, obwohl sie nichts gemein haben mit dem Ziele unseres Herzens, dennoch die tröstliche Gewißheit, daß wir es erreichen. Vor allem klang jeder Tag in einen Nachmittag im Hause der Frau Blumich aus, der Kathi, in einen Kaffee und in ein geflüstertes Liebesgespräch. Dieses bestand keineswegs aus eitlen oder verlegenen, heißen und gestammelten Liebesschwüren, sondern verfolgte praktische Zwecke und erwies die großen Vorteile der weiblichen Klugheit, die niemals ohne Anmut ist.

»Wir werden das Geschäft ausbauen«, sagte Katharina. »Wir werden einen kleinen Esel kaufen und deinen Kasten auf einen Handwagen stellen, dann brauchst du ihn nicht zu schleppen!«

Welch ein leuchtender Kopf! Welch ein liebreicher Einfall: einen Esel zu kaufen!

Ein Esel ist ein dummes, aber geduldiges Tier! dachte Andreas. So oft hatte er davon gehört. Esel halten viel aus. Dieses Tier war wie geschaffen für unsere Zwecke. Es übt in den Höfen und in den Straßen entschieden eine Anziehungskraft aus.

»Wie wollen wir den Esel nennen?« fragte Katharina.

Wirklich! An alles dachte sie. Wie konnte man einen Esel nennen? »Lux« war ein Hundename.

»Muli«, schlug Katharina vor, »Muli« war großartig.

Täglich, ehe die Dämmerung kam, fragte Kathi: »Wirst du Anni lieben?«

Darauf hätte Andreas, wenn er ehrlich sein wollte, keine Antwort geben können. Aber er nahm die kleine Anni, die nicht mehr so sauber war wie am ersten Besuchstag, bei der Hand und glaubte wirklich, eine unbekannte, väterliche Liebe für das Kind zu empfinden. Es war still und schien klug. Stille Kinder kommen uns immer wie wissende Beobachter vor, und es schmeichelt uns, wenn wir ihnen gefallen.

Die warme Lebendigkeit der kleinen Kinderhand nahm Andreas, ohne es zu wissen, auf den einsamen und langen Heimweg mit. Manchmal dachte er an Anni mit einer freudigen Hoffnung, daß sie bald ganz sein eigenes Kind würde. Stundenlang fühlte er in seiner gehöhlten Hand ihre kleine weiche Faust, wie einen Vogel. Wieso kam es, daß man andere Dinge vergaß, die man berührt hatte, und Annis Faust nicht? Es war vielleicht so, daß die Hände ihr eigenes Gedächtnis hatten! Tirili! Ihr eigenes Gedächtnis! Sonderliche Gedanken denkt man, wenn man glücklich ist.

Zwei Wochen waren vergangen, seitdem Andreas seine Braut kennengelernt hatte. Und er hätte wohl noch zwei weitere warten müssen bis zum Anbruch eines neuen gemeinsamen Lebens, wenn ihm nicht die Natur zu Hilfe gekommen wäre.

Denn eines Nachmittags, während Kathi Kaffee kochte, erhob sich ein Sturm, und die offenen Fensterscheiben klirrten. Auf einmal wurde es dunkel. Es begann zu regnen. Und sei es, daß Katharina schon ohnehin längst gehofft hatte, ein unerwartetes Naturereignis würde ihrer bereits vorhandenen Neigung, ihre und Andreas' Wartezeit abzukürzen, zu Hilfe kommen, sei es, daß die Plötzlichkeit des Unwetters eine ebensolche der Entschlußkraft hervorgerufen hatte: Katharina besann sich nicht und sagte unvermittelt:

»Du kannst heute schon hierbleiben. In diesem Wetter jagt man keinen Hund auf die Straße.«

Am nächsten Morgen übersiedelte Andreas. Er nahm Abschied von Willi und ließ einen Gruß für Klara zurück. Willi begleitete ihn, trug ihm den Koffer bis zur Straßenbahn und pfiff unterwegs ein herausfordernd keckes Lied. Er verbarg beide Hände in den Hosentaschen und ging mit breiten Schritten und auseinandergespreizten Beinen gemächlich neben dem hinkenden Andreas. Den kleinen, aber schweren Holzkoffer hatte er mit einem Riemen um den Arm geschlungen, wie eine Einkaufstasche oder einen leeren Marktkorb. Es bedeutete eine stille Ehrenbezeugung für den scheidenden Andreas, daß Willi so seine Riesenkräfte demonstrierte. Auch das ausgelassen muntere Lied pfiff er aus Wehmut. Und an der Haltestelle sagte er zwischen den Zähnen: »Viel Glück auch, Andreas!« – und machte kehrt und schlenderte gemächlich den Weg zurück und warf noch einen langen Blick in die Seitengasse, in der die Würste vor dem Delikatessenladen hingen, prall und feist, wie dicke Gehenkte.

Es ließ sich nicht vermeiden, daß Andreas einige Tage später den Unterinspektor der Polizei kennenlernte und dessen Glückwunsch entgegennahm. Diese Begegnung verlief in Anwesenheit der Frau Katharina, die nicht merken konnte, welchen Schmerz Vinzenz Topp hinter seiner fröhlichen Formgewandtheit verbarg. Daß man einen Krüppel ihm vorgezogen, dem bestgewachsenen Mann der ganzen Umgebung, daß man seinen Rang nicht beachtet hatte, seine Uniform und seine Klugheit, daß seine Frauenkenntnis wirkungslos, seine Andeutungen vergeblich geblieben waren – das alles verletzte Vinzenz Topp. Er beschloß, dem neuen Mann der Katharina Blumich – es war ein Mißgriff dieser sonst klugen Frau – keine Sympathie entgegenzubringen. Er grüßte kaum, wenn er und Andreas sich im Hause trafen.

Aber Andreas merkte nichts, denn er lebte in der neuen und betäubenden Glückseligkeit, die uns wie ein Panzer gefühllos gegen die Schlechtigkeit und die Kränkungen der Welt macht und wie ein gütiger Schleier die Bosheit der Menschen verhüllt.

Ja, Andreas war glücklich. Ein göttliches Weib wärmte sein Lager und wandelte es in ein Paradies. Kein Schmerz gemahnte an das fehlende Bein. In der neu gefütterten Krücke lag der Stumpf warm gebettet wie in der Höhlung einer liebenden Frauenhand. Den Morgen leitete die dampfende Kaffeetasse ein. Den Tag beschloß ein warmes Essen. Butterbrote lagen in seinen Taschen, begleiteten ihn auf seinen Wegen wie Grüße seiner Frau. In den Stunden der Dämmerung saß Anni, das blasse, großäugige Kind, auf seinem gesunden Knie. Andreas erklärte ihr den wunderbaren Sinn der Bilder auf dem Leierkasten.

»Du bist ein liebes, kleines Mädchen«, sagte er oft und sinnlos, denn er plagte sich vergeblich, um ein schöneres Wort für Anni zu finden.

Langsam und wie eine große, gute, heilende Wärme breitete sich in ihm die Liebe aus.

An einem der ersten Novembertage heirateten sie. Zum letztenmal in diesem Herbst schien die Sonne so warm, daß man ganz leicht und frei, wie im Frühling, vor der Kirche stehen konnte (vor der Kirche aus gelben Ziegelsteinen, die von einem leise bereiften Rasen umgeben war) und daß die kleine Anni nicht fror, obwohl sie ein dünnes, weißes Musselinkleidchen trug, ohne Mantel. Sie sah aus wie eine kleine Braut.

Dann kamen die trüben, die regnerischen, die kalten Tage. Nur am Vormittag geht Andreas in die Höfe spielen. Ihn friert nicht. Ihn durchnäßt der zudringliche Regen nicht. Er trauert nicht um die wolkenverhangene Sonne. Dank seiner neuen, unten kantig gehobelten Krücke gleitet er niemals auf schlüpfrigem Pflaster. Hart an den Borden der Bürgersteige geht er, und vor ihm führt Muli, der kleine Esel, den Kasten auf einem Handwagen. Alles ist Andreas' eigenes Gut. Nun denkt er schon an einen Papagei mit grünen und roten Losen für den Frühling. Kinder und Erwachsene sehen ihm nach. Trotz der Kälte regnet es Geld aus allen Fenstern, in allen Höfen. Trotz der Kälte greifen Passanten in die verborgenen Taschen. Alle – nicht alle, aber viele kennen ihn. Was fehlt Andreas Pum?

Er liebte alles in der Welt und besonders zwei – sind es Dinge oder Menschen? – Sie gehören zusammen und sind nicht von einer Gattung. Andreas liebte Anni und Muli, das Kind und den Esel.

Dem Esel hatte er einen kleinen Stall im Hof gebaut. In der Nacht denkt er manchmal daran, daß Muli friert. Am nächsten Tag will er mehr Stroh in den Stall tun.

Plakate sind an den Litfaßsäulen zu sehen. Die Invaliden sind wieder einmal unzufrieden. Heiden, die sie sind! »Kameraden!« schreien die Plakate. Die Regierung! Die Regierung!

Sie wollen die Regierung abschaffen! Ihn, Andreas Pum, konnte man nicht für derlei Dinge haben. Er machte keinen Radau, er war ein ruhiger Mensch, er verachtete Kartenspieler, Trinker und Rebellen.

Mit dieser Verachtung im Herzen hätte Andreas Pum alle die langen oder kurzen Jahre leben können, die ihm vom Schicksal zugedacht waren, mit dieser Verachtung im Herzen, in dieser warmen, guten Behaglichkeit, in dieser vollendeten Harmonie mit den irdischen und göttlichen Gesetzen, den Priestern ebenso nahe wie den Beamten der Regierung – – wenn nicht ein ganz fremder Mann in Andreas Pums Leben getreten wäre, um es zu vernichten, nicht mit dem Willen zum Bösesein, sondern von der Blindheit des Zufalls dazu gezwungen, ein unwissendes Mittel in der Hand des Teufels, der manchmal die göttliche Regierung unterbricht, ohne daß wir es ahnen; so daß wir noch in der tröstlichen Gewißheit, daß ein Gott über uns wacht, unsere stummen Gebete zu ihm hinaufsenden – und uns wundern, wenn sie nicht erhört werden. Der Mann, dem Andreas sein Unglück zu verdanken hatte, war der Posamenteriehändler Arnold von der Firma Arnold & Hahn.


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