Joseph Roth
Die Rebellion
Joseph Roth

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XII

Der Arrest für leichte Fälle schien sehr tief zu liegen. Andreas fiel ins Halbdunkel. Er blieb an der Tür stehen. Er hörte den knarrenden Schlüssel. Er war wie tot. Ausgelöscht war die Sonne. Endgültig verronnen waren die Tage, unauffindbar verschüttet wie große verlorene, auseinandergerollte Perlen. Das Leben kehrte nicht mehr wieder. Es war vertan. Nichts blieb übrig. Tot war das Auge. Über alles, was es gesehen und jemals gespiegelt, breitete sich der Vorhang. Hinter dem verblaßten die Bilder der Dinge, der Tiere, der Menschen. Gestorben ist Muli, der kleine Esel, an der Straßenecke, hinter der er verschwand. Ein rosiger, rundlicher Tod hatte das Tier gekauft und mit einem kurzen fetten Arm erstickt. Gestorben ist Katharina, Kathi, die breithüftige, hochbusige Frau. Gestorben ist Anna, das kleine Mädchen mit den dünnen Zöpfen. Die große, weiße, breitflügelige Schleife war ein Vampir auf dem Kopf des Kindes. Ausgelöscht, wie mit einem großen Schwamm, als wäre sie nur eine Kreidezeichnung auf matter Tafel gewesen, sind das Spital, der Krieg, die Lizenz, die Kameraden, der Ingenieur Lang, Willi, seine Braut, der Leierkasten, die Straßenbahn. Nur in zarten, erlöschenden Umrissen wehten sie durch die Erinnerung.

Der Lagerplatz stieg auf aus dem Halbdunkel der Zelle, wie von einem Schnellmaler mit rasendem Pinselstrich an eine Leinwand gefegt. Da ist Kastor, der zottelige Hund mit den grün schillernden Augen, die in der Nacht phosphoreszierten, seine ernste Schweifquaste, die immer zu mahnen schien, weil sie die Bewegung eines väterlichen Zeigefingers nachahmte, sein tappender Schritt, der war wie ein Gang auf Teppichen der Finsternis. Dort der Zaun, braunlackiert und nach Ölfarbe riechend, mit dem dreifach gewundenen Draht auf dem oberen Rande, mit kleinen Zinken und Zacken, wie einer eisernen Zahnreihe. Der Mond geht auf hinter geschichteten Brettern und klettert an vorragenden Latten empor, um sich über den Platz zu ergießen, das Sägemehl zu versilbern, das weich auf dem Boden liegt. Und Andreas schreitet, klirrend mit Waffen und Schlüsseln, den Hund hinter sich, neben sich, vor sich, rund um den Zaun. Wenn er müde ist, streckt er sich aus, den Rücken lehnt er gegen den Zaun, und seine müden Augen gleiten über seinen Bauch, seine Knie, seine Stiefelkappen.

Hört er ein Geräusch, knurrt der Hund, steht er behutsam auf, Schlüssel und Waffen an sich drückend, und setzt, wie ein Tier auf Pfaden der Beute, ein Bein vor das andere, ein Bein vors andere, und die Stiefel unterdrücken das gewohnte Knarren, weil der Fuß sie dazu zwingt.

Er war ein guter Nachtwächter, Andreas Pum, er hätte es bleiben sollen.

Er wurde aber einbeinig.

Er verlor ein Stück von sich und lebte weiter.

Man kann ein gewichtiges, wertvolles, unbedingt notwendiges Stück seiner selbst verlieren und dennoch weiterleben.

Man geht auf zwei Beinen, verliert unterwegs ein halbes aus dem losen Kniegelenk, wie ein Federmesser aus der Tasche, und geht weiter. Es tut nicht weh, das Blut ist nicht sichtbar, es war kein Fleisch, kein Knochen, keine Ader. War's Holz? Eine Krücke? Eine natürliche Krücke? Besser geleimt als die künstliche, geräuschlos wie Gummi und stark wie Stahl?

Man konnte unhörbar gehen und konnte laut schreiten. Man konnte mit beiden Füßen aufstampfen. Man konnte hüpfen. Man konnte einen Fuß in der Hand halten. Man konnte mit beiden laufen. Man konnte Kniebeugen machen, einfache und tiefe. Man konnte exerzieren.

Das alles und noch manches andere können wir nicht mehr.

Wie lange ist es her, daß wir nicht geräuschlos einen Fuß vor den anderen setzen konnten? Jeder unserer Schritte verursachte Hall und Widerhall. Wir kommen mit Geräusch und gehen mit Gepolter. Wir machen einen ständigen Lärm um uns. Die Krücke stößt Löcher in unsere Gedanken. Menschen auf zwei Beinen holen uns ein.

Die Zweibeinigen sind unsere Feinde. Zweibeinig ist der schiefnasige Herr auf der Plattform. Zweibeinig ist der polternde Schaffner. Zweibeinig ist der respektlose Polizist. Zweibeinig ist der Kommissär mit dem spitzen Kinn. Zweibeinig ist Katharina. Zweibeinig ist der rotwangige Tod, der Muli geholt hat. Die Zweibeinigen sind »Heiden«.

Ein Heide ist jetzt Andreas selbst. Er ist verhaftet worden. Man hat ihm die Lizenz genommen. Er ist, ohne Schuld, ein Heide geworden. Würde er sonst im Arrest sitzen?

Es sitzen noch andere in dieser geräumigen Zelle. Gewiß sind es Raubmörder, Gottlose, Halunken.

Aber sie sind auch Heiden, wie Andreas. Er ist ihnen nicht böse.

Zwar hat er nicht geraubt, aber er hat Gott verloren.

Man kann Gott verlieren. Gott fällt aus dem Kniegelenk.

»Was stehst du?« fragte ein Mann, der auf einem Kistenboden saß. »Platz genug für bessere Menschen!«

Andreas setzte sich.

»Du bist Invalide?« fragte der Mann.

»Ja!«

»Wozu trägst du das Blech da an der Brust?«

»Ich weiß nicht.«

Sie schweigen. Aus der Tiefe der Zelle sagte eine heisere Trinkerstimme durch die Luft: »Hast du Zigaretten?«

»Ja!«

Eine Gestalt tauchte aus dem Dunkel auf und schwamm näher, die Finsternis zerteilend.

Es waren drei Männer. Andreas hatte fünf Zigaretten. Sie beschlossen, Ketten zu rauchen.

»Du bist ein Neuer!« sagte der Mann mit der heiseren Stimme.

»Gib das Blech herunter!« schrie einer.

Der dritte trat zu Andreas, riß das Kreuz von seiner Brust und betrachtete es, indem er es ganz nahe vor die Augen führte.

»Haben dir ein Pflaster gegeben!« sagte der eine.

»Welcher Paragraph?« fragte der Heisere.

Der Heisere war ein »Jurist«.

Jemand übersetzte: »Was du ausgefressen hast, will er wissen!«

Andreas sagte: »Ich weiß nicht. Ich bin ja gar nicht hier zuständig. Ich habe eine Vorladung für heute!« Und er zeigte seine Vorladung.

Der »Jurist« las. Er entzündete ein Streichholz, das er lose in der Tasche hatte, an seiner Hose und las. »Du mußt schnell machen, Mensch! Wieviel Uhr ist es?«

»Es ist ja zu spät«, sagte Andreas.

»Na, dann haben Sie dich ja verknackt!«

»Wieso?«

»Weil du nicht da warst. Das Gericht weiß nichts von der Polizei. Und die Polizei weiß nichts vom Gericht. Bist du nicht bei deiner Verhandlung und du bist Angeklagter, dann hast du morgen die Aufforderung, die Strafe anzutreten. Was hast du denn getan?«

Andreas schilderte den Vorfall auf der Straßenbahn.

»Ja«, sprach der Heisere, »das kann körperliche Bedrohung eines Beamten sein. Amtsehrenbeleidigung auf jeden Fall! Es kann tätlicher Widerstand gegen die Staatsgewalt sein. Wenn die Beamten aussagen, daß du sie geschlagen hast, so entscheidet das Gericht: Ein rabiater Kerl! Sechs Wochen! Wärst doch hingegangen?!«

»Sie haben mich ja hierher geholt!«

»Du kehrst einfach nicht zurück. Dann brauchst du auch nicht zu sitzen. Sechs Wochen sind für mich eine Kleinigkeit. Aber für dich nicht. Wovon lebst du eigentlich?«

»Ich habe eine Lizenz! Zum Spielen!«

»Verkauf mir deine Drehorgel!«

»Da muß ich sie aber zu Hause holen!«

»Ich hol sie dir. Wo wohnst du? Gib mir ein Zeichen für deine Alte, daß sie mich erkennt.«

»Reden wir morgen darüber«, sagte Andreas.

»Du bist sehr dumm«, sagte der Heisere. »Du hast alles ganz falsch gemacht. Ich hätte den Herrn verklagt. Man muß sich nur auskennen. Ich hätte ihn verprügelt und verklagt. Wie hat er denn ausgesehen? Vielleicht trifft man mit ihm zusammen. Denn die Welt ist klein und rund.«

Aber Andreas wußte keine genaue Auskunft.

Die anderen schliefen ein. Einer nach dem anderen begann zu schnarchen.

Andreas wollte gern sechs Wochen und noch länger sitzen. Er will lebenslänglich eingesperrt sein.

Man ist auch so ein Gefangener, Andreas Pum! Wie Fangeisen liegen die Gesetze auf den Wegen, die wir Armen gehen. Und wenn wir auch eine Lizenz haben, so lauern doch die Polizisten in den Winkeln. Wir sind immer gefangen und in der Gewalt des Staates, der Zweibeinigen, der Polizei, der Herren auf den Plattformen der Straßenbahn, der Frauen und der Eselskäufer.


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