Joseph Roth
Radetzkymarsch
Joseph Roth

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XX

Eine Woche später verließ Carl Joseph seinen Vater. Sie umarmten sich im Hausflur, bevor sie den Fiaker bestiegen. Nach der Meinung des alten Herrn von Trotta durften Zärtlichkeiten nicht auf dem Perron, vor zufälligen Zeugen, stattfinden. Die Umarmung war flüchtig wie immer, umweht vom feuchten Schatten des Flurs und vom kühlen Atem der steinernen Fliesen. Fräulein Hirschwitz wartete schon auf dem Balkon, gefaßt wie ein Mann. Vergeblich hatte Herr von Trotta ihr zu erklären versucht, daß es überflüssig sei zu winken. Sie mochte es für eine Pflicht halten. Obwohl es nicht regnete, spannte Herr von Trotta den Regenschirm auf. Leichte Bewölkung des Himmels schien ihm ein hinreichender Grund dazu. Unter dem Schutz des Regenschirms stieg er in den Fiaker. Also konnte ihn Fräulein Hirschwitz vom Balkon aus nicht sehen. Er sprach kein Wort. Erst als der Sohn schon im Zug stand, hob der Alte die Hand, mit ausgestrecktem Zeigefinger: »Es wäre günstig«, sagte er, »wenn du krankheitshalber abgehn könntest. Man verläßt die Armee nicht ohne wichtige Ursache! ...«

»Jawohl, Papa!« sagte der Leutnant.

Knapp vor der Abfahrt des Zuges verließ der Bezirkshauptmann den Perron. Carl Joseph sah ihn dahingehen, mit straffem Rücken und den zusammengerollten Regenschirm mit aufwärtsgerichteter Spitze wie einen gezogenen Säbel im Arm. Er wandte sich nicht mehr um, der alte Herr von Trotta.

Carl Joseph bekam seinen Abschied. »Was willst denn jetzt machen?« fragten die Kameraden. »Ich hab' einen Posten!« sagte Trotta, und sie fragten nicht mehr.

Er erkundigte sich nach Onufrij. Man sagte ihm in der Regimentskanzlei, daß der Bursche Kolohin desertiert sei.

Der Leutnant Trotta ging ins Hotel. Er kleidete sich langsam um. Zuerst schnallte er den Säbel ab, die Waffe und das Abzeichen seiner Ehre. Vor diesem Augenblick hatte er Angst gehabt. Er wunderte sich, es ging ohne Wehmut. Eine Flasche Neunziggrädiger stand auf seinem Tisch, er mußte nicht einmal trinken. Chojnicki kam, um ihn abzuholen, schon knallte unten seine Peitsche; jetzt war er im Zimmer. Er setzte sich und sah zu. Es war Nachmittag, drei Uhr schlug es vom Turm. Alle satten Stimmen des Sommers strömten zum offenen Fenster herein. Der Sommer selbst rief den Leutnant Trotta. Chojnicki, in hellgrauem Anzug mit gelben Stiefeln, das gelbe Peitschenrohr in der Hand, war ein Abgesandter des Sommers. Der Leutnant fuhr mit dem Ärmel über die matte Scheide des Säbels, zog die Klinge, hauchte sie an, wischte mit dem Taschentuch über den Stahl und bettete die Waffe in ein Futteral. Es war, als putzte er eine Leiche vor der Bestattung. Bevor er das Futteral an den Koffer schnallte, wog er es noch einmal in der flachen Hand. Dann bettete er den Säbel Max Demants dazu. Er las noch die eingeritzte Inschrift unter dem Griff. »Verlaß diese Armee!« hatte Demant gesagt. Nun verließ man diese Armee...

Die Frösche quakten, die Grillen zirpten, unten vor dem Fenster wieherten die Braunen Chojnickis, zogen ein bißchen am leichten Wägelchen, die Achsen der Räder stöhnten. Der Leutnant stand da, im aufgeknöpften Rock, das schwarze Halsband aus Kautschuk zwischen den offenen, grünen Aufschlägen der Bluse. Er wandte sich um und sagte: »Das Ende einer Karriere!«

»Die Karriere ist zu Ende!« bemerkte Chojnicki. »Die Karriere selbst ist am Ende angelangt!«

Jetzt legte Trotta den Rock ab, den Rock des Kaisers. Er spannte die Bluse über den Tisch, so wie man es in der Kadettenschule gelernt hatte. Er stülpte zuerst den steifen Kragen um, faltete hierauf die Ärmel und bettete sie in das Tuch. Dann schlug er die untere Hälfte der Bluse auf, schon war sie ein kleines Päckchen, das graue Moireeunterfutter schillerte. Dann kam die Hose darüber, zweimal geknickt. Jetzt zog Trotta den grauen Zivilanzug an, den Riemen behielt er, letztes Andenken an seine Karriere (den Umgang mit Hosenträgern hatte er niemals verstanden). »Mein Großvater«, sagte er, »dürfte auch eines Tages seine militärische Persönlichkeit so ähnlich eingepackt haben!«

»Wahrscheinlich!« bestätigte Chojnicki.

Der Koffer stand noch offen, die militärische Persönlichkeit Trottas lag drinnen, eine vorschriftsmäßig zusammengefaltete Leiche. Es war Zeit, den Koffer zu schließen. Nun ergriff der Schmerz plötzlich den Leutnant, die Tränen stiegen ihm in den Hals, er wandte sich Chojnicki zu und wollte etwas sagen. Mit sieben Jahren war er Stift geworden, mit zehn Kadettenschüler. Er war sein Leben lang Soldat gewesen. Man mußte den Soldaten Trotta begraben und beweinen. Man senkte nicht eine Leiche ins Grab, ohne zu weinen. Es war gut, daß Chojnicki danebensaß.

»Trinken wir«, sagte Chojnicki. »Sie werden wehmütig!«

Sie tranken. Dann stand Chojnicki auf und schloß den Koffer des Leutnants.

Brodnitzer selbst trug den Koffer zum Wagen. »Sie waren ein lieber Mieter, Herr Baron!« sagte Brodnitzer. Er stand, den Hut in der Hand, neben dem Wagen. Chojnicki hielt schon die Zügel. Trotta fühlte eine plötzliche Zärtlichkeit für Brodnitzer – Leben Sie wohl! wollte er sagen. Aber Chojnicki schnalzte mit der Zunge, und die Pferde zogen an, sie hoben die Köpfe und die Schwänze gleichzeitig, und die leichten, hohen Räder des Wägelchens rollten knirschend durch den Sand der Straße wie durch ein weiches Bett.

Sie fuhren zwischen den Sümpfen dahin, die vom Lärm der Frösche widerhallten.

»Hier werden Sie wohnen!« sagte Chojnicki.

Es war ein kleines Haus, am Rande des Wäldchens, mit grünen Jalousien, wie sie vor dem Fenster der Bezirkshauptmannschaft angebracht waren. Jan Stepaniuk hauste hier, ein Unterförster, ein alter Mann mit herabhängendem, langem Schnauzbart aus oxydiertem Silber. Er hatte zwölf Jahre beim Militär gedient. Er sagte »Herr Leutnant« zu Trotta, heimgekehrt zur militärischen Muttersprache. Er trug ein grobgewebtes Leinenhemd mit schmalem, blau-rot besticktem Kragen. Der Wind blähte die breiten Ärmel des Hemdes, es sah aus, als wären seine Arme Flügel.

Hier blieb der Leutnant Trotta.

Er war entschlossen, niemanden von seinen Kameraden wiederzusehen.

Beim Schein der flackernden Kerze, in seiner hölzernen Stube, schrieb er dem Vater, auf gelblichem, fasrigem Kanzleipapier, die Anrede vier Finger Abstand vom oberen Rand, den Text zwei Finger Abstand vom seitlichen. Alle Briefe glichen einander wie Dienstzettel.

Er hatte wenig Arbeit. Er trug die Namen der Lohnarbeiter in große, schwarz-grün gebundene Bücher ein, die Löhne, den Bedarf der Gäste, die bei Chojnicki wohnten. Er addierte die Zahlen, guten Willens, aber falsch, berichtete vom Stand des Geflügels, von den Schweinen, von dem Obst, das man verkaufte oder behielt, von dem kleinen Gelände, in dem der gelbe Hopfen wuchs, und von der Darre, die jedes Jahr an einen Kommissionär vermietet wurde.

Er kannte nun die Sprache des Landes. Er verstand einigermaßen, was die Bauern sagten. Er handelte mit den rothaarigen Juden, die schon Holz für den Winter einzukaufen begannen. Er lernte die Unterschiede zwischen dem Wert der Birken, der Fichten, der Tannen, der Eichen, der Linden und des Ahorns kennen. Er knauserte. Genauso wie sein Großvater, der Held von Solferino, der Ritter der Wahrheit, zählte er mit hageren, harten Fingern harte Silbermünzen, wenn er in die Stadt kam, am Donnerstag, zum Schweinemarkt, um Sattel, Kummet, Joch und Sensen einzukaufen, Schleifsteine, Sicheln, Harken und Samen. Wenn er zufällig einen Offizier vorbeigehen sah, senkte er den Kopf. Es war eine überflüssige Vorsicht. Sein Schnurrbart wuchs und wucherte, seine Bartstoppeln starrten hart, schwarz und dicht an seinen Wangen, man konnte ihn kaum erkennen. Schon bereitete man sich allenthalben für die Ernte vor, die Bauern standen vor den Hütten und schliffen die Sensen an den runden, ziegelroten Steinen. Überall im Land sirrte der Stahl an den Steinen und übertönte den Gesang der Grillen. In der Nacht hörte der Leutnant manchmal Musik und Lärm aus dem »neuen Schloß« Chojnickis. Er nahm diese Stimmen in seinen Schlaf hinüber wie das nächtliche Krähen der Hähne und das Gebell der Hunde bei Vollmond. Er war endlich zufrieden, einsam und still. Es war, als hätte er niemals ein anderes Leben geführt. Wenn er nicht schlafen konnte, erhob er sich, ergriff den Stock, ging durch die Felder, mitten durch den vielstimmigen Chor der Nacht, erwartete den Morgen, begrüßte die rote Sonne, atmete den Tau und den sachten Gesang des Windes, der den Tag verkündet. Er war frisch wie nach durchschlafenen Nächten.

Jeden Nachmittag ging er durch die angrenzenden Dörfer. »Gelobt sei Jesus Christus!« sagten die Bauern. »In Ewigkeit. Amen!« erwiderte Trotta. Er ging wie sie, die Knie geknickt. So waren die Bauern von Sipolje gegangen.

Eines Tages kam er durch das Dorf Burdlaki. Der winzige Kirchturm stand, ein Finger des Dorfes, gegen den blauen Himmel. Es war ein stiller Nachmittag. Die Hähne krähten schläfrig. Die Mücken tänzelten und summten die ganze Dorfstraße entlang. Plötzlich trat ein vollbärtiger, schwarzer Bauer aus seiner Hütte, stellte sich mitten in den Weg und grüßte: »Gelobt sei Jesus Christus!«

»In Ewigkeit. Amen!« sagte Trotta und wollte weitergehen.

»Herr Leutnant, hier ist Onufrij!« sagte der bärtige Bauer. Der Bart umhüllte sein Angesicht, ein gespreizter, schwarzer, dichtgefiederter Fächer. »Warum bist du desertiert?« sagte Trotta. »Bin nur nach Hause gegangen!« sagte Onufrij. Es hatte keinen Sinn, so törichte Fragen zu stellen. Man verstand Onufrij gut. Er hatte dem Leutnant gedient wie der Leutnant dem Kaiser. Es gab kein Vaterland mehr. Es zerbrach, es zersplitterte. »Hast du keine Angst?« fragte Trotta. Onufrij hatte keine Angst. Er wohnte bei seiner Schwester. Die Gendarmen gingen jede Woche durchs Dorf, ohne sich umzusehen. Es waren übrigens Ukrainer, Bauern wie Onufrij selbst. Wenn man beim Wachtmeister keine schriftliche Anzeige erstattete, brauchte er sich um nichts zu kümmern. In Burdlaki erstattete man keine Anzeigen.

»Leb wohl, Onufrij!« sagte Trotta. Er ging die gebogene Straße hinauf, die unversehens in die weiten Felder mündete. Bis zur Biegung folgte ihm Onufrij. Er hörte den Schritt der genagelten Soldatenstiefel auf dem Schotter des Weges. Die ärarischen Stiefel hatte Onufrij mitgenommen. Man ging zum Juden Abramtschik in die Dorfschenke. Man bekam dort Kernseife, Schnaps, Zigaretten, Knaster und Briefmarken. Der Jude hatte einen feuerroten Bart. Er saß vor dem gewölbten Tor seiner Schenke und leuchtete weithin, über zwei Kilometer der Landstraße. Wenn er einmal alt wird, dachte der Leutnant, ist er ein weißbärtiger Jude wie der Großvater Max Demants.

Trotta trank einen Schnaps, kaufte Tabak und Briefmarken und ging. Von Burdlaki führte der Weg an Oleksk vorbei, zum Dorfe Sosnow, dann zu Bytók, Leschnitz und Dombrowa. Jeden Tag ging er diesen Weg. Zweimal passierte er die Bahnstrecke, zwei schwarz-gelbe, verwaschene Bahnschranken und die gläsernen, unaufhörlich klingenden Signale in den Wächterhäuschen. Das waren die fröhlichen Stimmen der großen Welt, die den Baron Trotta nicht mehr kümmerten. Ausgelöscht war die große Welt. Ausgelöscht waren die Jahre beim Militär, als wäre man immer schon über Felder und Landstraßen gegangen, den Stock in der Hand, niemals den Säbel an der Hüfte. Man lebte wie der Großvater, der Held von Solferino, und wie der Urgroßvater, der Invalide im Schloßpark von Laxenburg, und vielleicht wie die namenlosen, unbekannten Ahnen, die Bauern von Sipolje. Immer den gleichen Weg, an Oleksk vorbei, nach Sosnow, nach Bytók, nach Leschnitz und Dombrowa. Diese Dörfer lagen im Kreis um Chojnickis Schloß, alle gehörten ihm. Von Dombrowa führte ein weidenbestandener Pfad zu Chojnicki. Es war noch früh. Schritt man stärker aus, so erreichte man ihn noch vor sechs Uhr und traf keinen der früheren Kameraden. Trotta verlängerte die Schritte. Jetzt stand er unter den Fenstern. Er pfiff. Chojnicki erschien am Fenster, nickte und kam heraus.

»Es ist endlich soweit!« sagte Chojnicki. »Der Krieg ist da. Wir haben ihn lang erwartet. Dennoch wird er uns überraschen. Es ist, scheint es, einem Trotta nicht beschieden, lange in Freiheit zu leben. Meine Uniform ist bereit. In einer Woche, denke ich, oder in zwei werden wir einrücken.«

Es schien Trotta, als wäre die Natur niemals so friedlich gewesen wie in dieser Stunde. Man konnte schon mit freiem Aug' in die Sonne blicken, sie sank, in sichtbarer Schnelligkeit, dem Westen entgegen. Sie zu empfangen, kam ein heftiger Wind, kräuselte die weißen Wölkchen am Himmel, wellte die Weizen- und Kornähren auf der Erde und streichelte die roten Gesichter des Mohns. Ein blauer Schatten schwebte über die grünen Wiesen. Im Osten versank das Wäldchen in schwärzlichem Violett. Das kleine, weiße Haus Stepaniuks, in dem Trotta wohnte, leuchtete am Rande des Wäldchens, in den Fenstern brannte das schmelzende Licht der Sonne. Die Grillen zirpten heftiger auf. Dann trug der Wind ihre Stimmen in die Ferne, es wurde einen Augenblick still, man vernahm den Atem der Erde. Plötzlich hörte man von oben, unter dem Himmel, ein schwaches, heiseres Kreischen. Chojnicki erhob die Hand. »Wissen Sie, was es ist? Wilde Gänse! Sie verlassen uns früh. Es ist noch mitten im Sommer. Sie hören schon die Schüsse. Sie wissen, was sie tun!«

Es war Donnerstag heute, der Tag der »kleinen Feste«. Chojnicki kehrte um. Trotta ging langsam den glitzernden Fenstern seines Häuschens zu.

In dieser Nacht schlief er nicht. Er hörte um Mitternacht den heiseren Schrei der wilden Gänse. Er kleidete sich an. Er trat vor die Tür. Stepaniuk lag im Hemd vor der Schwelle, seine Pfeife glomm rötlich. Er lag flach auf der Erde und sagte, ohne sich zu rühren: »Man kann heute nicht schlafen!«

»Die Gänse!« sagte Trotta.

»So ist es, die Gänse!« bestätigte Stepaniuk. »Seitdem ich lebe, habe ich sie noch nicht so früh im Jahr gehört. Hören Sie, hören Sie! ...«

Trotta sah den Himmel an. Die Sterne blinzelten wie immer. Es war nichts anderes am Himmel zu sehen. Dennoch schrie es unaufhörlich heiser unter den Sternen. »Sie üben«, sagte Stepaniuk. »Ich liege schon lange hier. Manchmal kann ich sie sehen. Es ist nur ein grauer Schatten. Schaun Sie!« Stepaniuk streckte den glimmenden Pfeifenkopf gegen den Himmel. Man sah in diesem Augenblick den winzigen, weißen Schatten der wilden Gänse unter dem kobaltenen Blau. Zwischen den Sternen wehten sie dahin, ein kleiner, heller Schleier. »Das ist noch nicht alles!« sagte Stepaniuk. »Heute morgen habe ich viele Hunderte Raben gesehen wie noch nie. Fremde Raben, sie kommen aus fremden Gegenden. Sie kommen, glaub' ich, aus Rußland. Man sagt bei uns, daß die Raben die Propheten unter den Vögeln sind.«

Am nordöstlichen Horizont lag ein breiter, silberner Streifen. Er wurde zusehends heller. Ein Wind erhob sich. Er brachte ein paar verworrene Klänge aus dem Schloß Chojnickis herüber. Trotta legte sich neben Stepaniuk auf den Boden. Er sah schläfrig die Sterne an, lauschte auf das Geschrei der Gänse und schlief ein.

Er erwachte beim Aufgang der Sonne. Es war, als hätte er eine halbe Stunde geschlafen, aber es mußten mindestens vier vergangen sein. Statt der gewohnten zwitschernden Vogelstimmen, die ihn jeden Morgen begrüßt hatten, erscholl heute das schwarze Krächzen viel Hunderter Raben. An der Seite Trottas erhob sich Stepaniuk. Er nahm die Pfeife aus dem Mund (sie war kalt geworden, während er geschlafen hatte) und deutete mit dem Pfeifenstiel auf die Bäume ringsum. Die großen schwarzen Vögel saßen starr auf den Zweigen, unheimliche Früchte, aus den Lüften herabgefallen. Sie saßen unbeweglich, die schwarzen Vögel, und krächzten nur. Stepaniuk warf Steine gegen sie. Aber die Raben schlugen nur ein paarmal mit den Flügeln. Sie hockten wie angewachsene Früchte auf den Zweigen. »Ich werde schießen«, sagte Stepaniuk. Er ging ins Haus, er holte die Flinte, er schoß. Ein paar Vögel fielen nieder, der Rest schien den Knall nicht gehört zu haben. Alle blieben auf den Zweigen hocken. Stepaniuk las die schwarzen Leichen auf, er hatte ein gutes Dutzend geschossen, er trug seine Beute in beiden Händen zum Haus, das Blut tropfte auf das Gras. »Merkwürdige Raben«, sagte er, »sie rühren sich nicht. Es sind die Propheten unter den Vögeln.«

Es war Freitag. Am Nachmittag ging Carl Joseph wie gewöhnlich durch die Dörfer. Die Grillen zirpten nicht, die Frösche quakten nicht, nur die Raben schrien. Überall saßen sie, auf den Linden, auf den Eichen, auf den Birken, auf den Weiden. Vielleicht kommen sie jedes Jahr vor der Ernte, dachte Trotta. Sie hören, wie die Bauern die Sensen schleifen, dann versammeln sie sich eben. – Er ging durch das Dorf Burdlaki, er hoffte im stillen, daß Onufrij wieder kommen würde.

Onufrij kam nicht. Vor den Hütten standen die Bauern und schliffen den Stahl an den rötlichen Steinen. Manchmal sahen sie auf, das Krächzen der Raben störte sie, und schossen schwarze Flüche gegen die schwarzen Vögel ab.

Trotta kam an der Schenke Abramtschiks vorbei, der rothaarige Jude saß vor dem Tor, sein Bart leuchtete. Abramtschik erhob sich. Er lüftete das schwarze Samtkäppchen, deutete in die Luft und sagte: »Raben sind gekommen! Sie schreien den ganzen Tag! Kluge Vögel! Man muß achtgeben!«

»Vielleicht, ja, vielleicht haben Sie recht!« sagte Trotta und ging weiter, den gewohnten, weidenbestandenen Pfad, zu Chojnicki. Jetzt stand er unter den Fenstern. Er pfiff. Niemand kam.

Chojnicki war sicherlich in der Stadt. Trotta ging den Weg zur Stadt, zwischen den Sümpfen, um niemandem zu begegnen. Nur die Bauern benutzten diesen Weg. Einige kamen ihm entgegen. Der Pfad war so schmal, daß man einander nicht ausweichen konnte. Einer mußte stehenbleiben und den andern vorbeilassen. Alle, die Trotta heute entgegenkamen, schienen hastiger dahinzugehen als sonst. Sie grüßten flüchtiger als sonst. Sie machten größere Schritte. Sie gingen mit gesenkten Köpfen wie Menschen, die von einem wichtigen Gedanken erfüllt sind. Und auf einmal, Trotta sah schon den Zollschranken, hinter dem das Stadtgebiet begann, vermehrten sich die Wanderer, es war eine Gruppe von zwanzig und mehr Menschen, die jetzt einzeln abfielen und hintereinander den Pfad betraten. Trotta blieb stehen. Er merkte, daß es Arbeiter sein mußten, Borstenarbeiter, die in die Dörfer heimkehrten. Vielleicht befanden sich unter ihnen Menschen, auf die er geschossen hatte. Er blieb stehen, um sie vorbeizulassen. Sie hasteten stumm dahin, einer hinter dem andern, jeder mit einem Päckchen am geschulterten Stock. Der Abend schien schneller einzubrechen, als verstärkten die dahineilenden Menschen seine Dunkelheit. Der Himmel war leicht bewölkt, rot und klein ging die Sonne unter, der silbergraue Nebel erhob sich über den Sümpfen, der irdische Bruder der Wolken, der seinen Schwestern entgegenstrebte. Plötzlich begannen alle Glocken des Städtchens zu läuten. Die Wanderer hielten einen Augenblick ein, lauschten und gingen weiter. Trotta hielt einen der letzten an und fragte, warum die Glocken läuteten. »Es ist wegen des Krieges«, antwortete der Mann, ohne den Kopf zu heben.

»Wegen des Krieges«, wiederholte Trotta. Selbstverständlich gab es Krieg. Es war, als hätte er es seit heute morgen, seit gestern abend, seit vorgestern, seit Wochen gewußt, seit dem Abschied und dem unseligen Fest der Dragoner. Das war der Krieg, auf den er sich schon als Siebenjähriger vorbereitet hatte. Es war sein Krieg, der Krieg des Enkels. Die Tage und die Helden von Solferino kehrten wieder. Die Glocken dröhnten ohne Unterlaß. Jetzt kam der Zollschranken. Der Wächter mit dem Holzbein stand vor seinem Häuschen, von Menschen umringt, an der Tür hing ein leuchtendes, schwarz-gelbes Plakat. Die ersten Worte, schwarz auf gelbem Grund, konnte man auch aus der Ferne lesen. Wie schwere Balken ragten sie über die Köpfe der angesammelten Menschen: »An meine Völker!«

Bauern in kurzen und stark riechenden Schafspelzen, Juden in flatternden, schwarz-grünen Kaftans, schwäbische Landwirte aus den deutschen Kolonien in grünem Loden, polnische Bürger, Kaufleute, Handwerker und Beamte umringten das Häuschen des Zollwächters. An jeder der vier freistehenden Wände klebten die großen Plakate, jedes in einer anderen Landessprache, jedes beginnend mit der Anrede des Kaisers: »An meine Völker!« Die des Lesens kundig waren, lasen laut die Plakate vor. Ihre Stimmen vermischten sich mit dem dröhnenden Gesang der Glocken. Manche gingen von einer Wand zur anderen und lasen den Text in jeder Sprache. Wenn eine der Glocken verhallt war, begann sofort eine neue zu dröhnen. Aus dem Städtchen strömten die Menschen herbei, in die breite Straße, die zum Bahnhof führte. Trotta ging ihnen entgegen in die Stadt. Es war Abend geworden, und da es ein Freitagabend war, brannten die Kerzen in den kleinen Häuschen der Juden und erleuchteten die Bürgersteige. Jedes Häuschen war wie eine kleine Gruft. Der Tod selbst hatte die Kerzen angezündet. Lauter als an den andern Feiertagen der Juden scholl ihr Gesang aus den Häusern, in denen sie beteten. Sie grüßten einen außerordentlichen, einen blutigen Sabbat. Sie stürzten in schwarzen, hastigen Rudeln aus den Häusern, sammelten sich an den Kreuzungen, und bald erhob sich ihr Wehklagen um jene unter ihnen, die Soldaten waren und morgen schon einrücken mußten. Sie gaben sich die Hände, sie küßten sich auf die Backen, und wo zwei sich umarmten, vereinigten sich ihre roten Bärte wie zu einem besonderen Abschied, und die Männer mußten mit den Händen die Bärte voneinander trennen. Über den Köpfen schlugen die Glocken. Zwischen ihren Gesang und die Rufe der Juden fielen die schneidenden Stimmen der Trompeten aus den Kasernen. Man blies den Zapfenstreich, den letzten Zapfenstreich. Schon war die Nacht gekommen. Man sah keinen Stern. Trüb, niedrig und flach hing der Himmel über dem Städtchen!

Trotta kehrte um. Er suchte nach einem Wagen, es gab keinen. Er ging mit schnellen, großen Schritten zu Chojnicki. Das Tor stand offen, alle Zimmer waren erleuchtet wie bei den »großen Festen«. Chojnicki kam ihm im Vorraum entgegen, in Uniform, mit Helm und Patronentäschchen. Er ließ einspannen. Er hatte drei Meilen bis zu seiner Garnison, er wollte in der Nacht fort. »Wart einen Augenblick!« sagte er. Er sagte zum erstenmal du zu Trotta, vielleicht aus Unachtsamkeit, vielleicht, weil er schon in Uniform war. »Ich fahr' dich noch vorbei und dann in die Stadt.«

Sie fuhren vor Stepaniuks Häuschen. Chojnicki setzt sich. Er sieht zu, wie Trotta sein Zivil ablegt und die Uniform anzieht. Stück für Stück. So hat er vor einigen Wochen erst – aber lang ist es her! – in Brodnitzers Hotel zugesehen, wie Trotta seine Uniform ausgezogen hatte. Trotta kehrte in seine Montur zurück, in seine Heimat. Er zieht den Säbel aus dem Futteral. Er schnallt die Feldbinde um, die riesigen, schwarz-gelben Quasten streicheln zärtlich das schimmernde Metall des Säbels. Jetzt schließt Trotta den Koffer.

Sie haben nur wenig Zeit, Abschied zu nehmen. Sie halten vor der Kaserne der Jäger. »Adieu!« sagt Trotta. Sie drücken sich die Hand sehr lange, die Zeit vergeht fast hörbar hinter dem breiten, unbeweglichen Rücken des Kutschers. Es ist, als wäre es nicht genug, die Hände zu drücken. Sie fühlen, daß man mehr tun müßte. »Bei uns küßt man sich«, sagt Chojnicki. Sie umarmen sich also und küssen sich schnell. Trotta steigt ab. Der Posten vor der Kaserne salutiert. Die Pferde ziehen an. Hinter Trotta fällt das Tor der Kaserne zu. Er steht noch einen Augenblick und hört den Wagen Chojnickis wegfahren.


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