Joseph Roth
Radetzkymarsch
Joseph Roth

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Zweiter Teil

IX

Die Strahlen der habsburgischen Sonne reichten nach dem Osten bis zur Grenze des russischen Zaren. Es war die gleiche Sonne, unter der das Geschlecht der Trottas zu Adel und Ansehn herangewachsen war. Die Dankbarkeit Franz Josephs hatte ein langes Gedächtnis, und seine Gnade hatte einen langen Arm. Wenn eines seiner bevorzugten Kinder im Begriffe war, eine Torheit zu begehn, griffen die Minister und Diener des Kaisers rechtzeitig ein und zwangen den Törichten zu Vorsicht und Vernunft. Es wäre kaum schicklich gewesen, den einzigen Nachkommen des neugeadelten Geschlechts derer von Trotta und Sipolje in jener Provinz dienen zu lassen, welcher der Held von Solferino entstammte, der Enkel analphabetischer slowenischer Bauern, der Sohn eines Wachtmeisters der Gendarmerie. Mochte es dem Nachfahren immer noch gefallen, den Dienst bei den Ulanen mit dem bescheidenen bei den Fußtruppen zu vertauschen: Er blieb also treu dem Gedächtnis des Großvaters, der als einfacher Leutnant der Infanterie dem Kaiser das Leben gerettet hatte. Aber die Umsicht des kaiser- und königlichen Kriegsministeriums vermied es, den Träger eines Adelsprädikats, das genauso hieß wie das slowenische Dorf, dem der Begründer des Geschlechtes entstammte, in die Nähe dieses Dorfes zu schicken. Ebenso wie die Behörden dachte auch der Bezirkshauptmann, der Sohn des Helden von Solferino. Zwar gestattete er – und gewiß nicht leichten Herzens – seinem Sohn die Transferierung zur Infanterie. Aber mit dem Verlangen Carl Josephs, in die slowenische Provinz zu kommen, war er keineswegs einverstanden. Er selbst, der Bezirkshauptmann, hatte niemals den Wunsch gespürt, die Heimat seiner Väter zu sehn. Er war ein Österreicher, Diener und Beamter der Habsburger, und seine Heimat war die Kaiserliche Burg zu Wien. Wenn er politische Vorstellungen von einer nützlichen Umgestaltung des großen und vielfältigen Reiches gehabt hätte, so wäre es ihm genehm gewesen, in allen Kronländern lediglich große und bunte Vorhöfe der Kaiserlichen Hofburg zu sehn und in allen Völkern der Monarchie Diener der Habsburger. Er war ein Bezirkshauptmann. In seinem Bezirk vertrat er die Apostolische Majestät. Er trug den goldenen Kragen, den Krappenhut und den Degen. Er wünschte sich nicht, den Pflug über die gesegnete slowenische Erde zu führen. In dem entscheidenden Brief an seinen Sohn stand der Satz: »Das Schicksal hat aus unserm Geschlecht von Grenzbauern Österreicher gemacht. Wir wollen es bleiben.«

Also kam es, daß dem Sohn Carl Joseph, Freiherr von Trotta und Sipolje, die südliche Grenze verschlossen blieb und er lediglich die Wahl hatte, im Innern des Reiches zu dienen oder an dessen östlicher Grenze. Er entschied sich für das Jägerbataillon, das nicht weiter als zwei Meilen von der russischen Grenze stationiert war. In der Nähe lag das Dorf Burdlaki, die Heimat Onufrijs. Dieses Land war die verwandte Heimat der ukrainischen Bauern, ihrer wehmütigen Ziehharmonikas und ihrer unvergeßlichen Lieder: Es war die nördliche Schwester Sloweniens.

Siebzehn Stunden saß Leutnant Trotta im Zug. In der achtzehnten tauchte die letzte östliche Bahnstation der Monarchie auf. Hier stieg er aus. Sein Bursche Onufrij begleitete ihn. Die Jägerkaserne lag in der Mitte des Städtchens. Bevor sie in den Hof der Kaserne traten, bekreuzigte sich Onufrij dreimal. Es war Morgen. Der Frühling, lange schon heimisch im Innern des Reiches, war erst vor kurzem hierhergelangt. Schon leuchtete der Goldregen an den Hängen des Eisenbahndamms. Schon blühten die Veilchen in den feuchten Wäldern. Schon quakten die Frösche in den unendlichen Sümpfen. Schon kreisten die Störche über den niederen Strohdächern der dörflichen Hütten, die alten Räder zu suchen, die Fundamente ihrer sommerlichen Behausung.

Die Grenze zwischen Österreich und Rußland, im Nordosten der Monarchie, war um jene Zeit eines der merkwürdigsten Gebiete. Das Jägerbataillon Carl Josephs lag in einem Ort von zehntausend Einwohnern. Er hatte einen geräumigen Ringplatz, in dessen Mittelpunkt sich seine zwei großen Straßen kreuzten. Die eine führte von Osten nach Westen, die andere von Norden nach Süden. Die eine führte vom Bahnhof zum Friedhof. Die andere von der Schloßruine zur Dampfmühle. Von den zehntausend Einwohnern der Stadt ernährte sich ungefähr ein Drittel von Handwerk aller Art. Ein zweites Drittel lebte kümmerlich von seinem kargen Grundbesitz. Und der Rest beschäftigte sich mit einer Art von Handel.

Wir sagen: eine Art von Handel: Denn weder die Ware noch die geschäftlichen Bräuche entsprachen den Vorstellungen, die man sich in der zivilisierten Welt vom Handel gemacht hat. Die Händler jener Gegend lebten viel eher von Zufällen als von Aussichten, viel mehr von der unberechenbaren Vorsehung als von geschäftlichen Überlegungen, und jeder Händler war jederzeit bereit, die Ware zu ergreifen, die ihm das Schicksal jeweilig auslieferte, und auch eine Ware zu erfinden, wenn ihm Gott keine beschert hatte. In der Tat, das Leben dieser Händler war ein Rätsel. Sie hatten keine Läden. Sie hatten keinen Namen. Sie hatten keinen Kredit. Aber sie besaßen einen scharfgeschliffenen Wundersinn für alle geheimen und geheimnisvollen Quellen des Geldes. Sie lebten von fremder Arbeit; aber sie schufen Arbeit für Fremde. Sie waren bescheiden. Sie lebten so kümmerlich, als erhielten sie sich von der Arbeit ihrer Hände. Aber es war die Arbeit anderer. Stets in Bewegung, immer unterwegs, mit geläufiger Zunge und hellem Gehirn, wären sie geeignet gewesen, eine halbe Welt zu erobern, wenn sie gewußt hätten, was die Welt bedeutet. Aber sie wußten es nicht. Denn sie lebten fern von ihr, zwischen dem Osten und dem Westen, eingeklemmt zwischen Nacht und Tag, sie selbst eine Art lebendiger Gespenster, welche die Nacht geboren hat und die am Tage umgehn.

Sagten wir: Sie hätten »eingeklemmt« gelebt? Die Natur ihrer Heimat ließ es sie nicht fühlen. Die Natur schmiedete einen unendlichen Horizont um die Menschen an der Grenze und umgab sie mit einem edlen Ring aus grünen Wäldern und blauen Hügeln. Und gingen sie durch das Dunkel der Tannen, so konnten sie sogar glauben, von Gott bevorzugt zu sein; wenn sie die tägliche Sorge um das Brot für Weib und Kinder die Güte Gottes hätte erkennen lassen. Sie aber gingen durch die Tannenwälder, um Holz für die städtischen Käufer einzuhandeln, sobald der Winter herannahte. Denn sie handelten auch mit Holz. Sie handelten übrigens mit Korallen für die Bäuerinnen der umliegenden Dörfer und auch für die Bäuerinnen, die jenseits der Grenze, im russischen Lande, lebten. Sie handelten mit Bettfedern, mit Roßhaaren, mit Tabak, mit Silberstangen, mit Juwelen, mit chinesischem Tee, mit südländischen Früchten, mit Pferden und Vieh, mit Geflügel und Eiern, mit Fischen und Gemüse, mit Jute und Wolle, mit Butter und Käse, mit Wäldern und Grundbesitz, mit Marmor aus Italien und Menschenhaaren aus China zur Herstellung von Perücken, mit Seidenraupen und mit fertiger Seide, mit Stoffen aus Manchester, mit Brüsseler Spitzen und mit Moskauer Galoschen, mit Leinen aus Wien und Blei aus Böhmen. Keine von den wunderbaren und keine von den billigen Waren, an denen die Welt so reich ist, blieb den Händlern und Maklern dieser Gegend fremd. Was sie nach den bestehenden Gesetzen nicht bekommen oder verkaufen konnten, verschafften sie sich und verkauften sie gegen jedes Gesetz, flink und geheim, mit Berechnung und List, verschlagen und kühn. Ja, manche unter ihnen handelten mit Menschen, mit lebendigen Menschen. Sie verschickten Deserteure der russischen Armee nach den Vereinigten Staaten und junge Bauernmädchen nach Brasilien und Argentinien. Sie hatten Schiffsagenturen und Vertretungen fremdländischer Bordelle. Und dennoch waren ihre Gewinste kümmerlich, und sie hatten keine Ahnung von dem breiten und prächtigen Überfluß, in dem ein Mann leben kann. Ihre Sinne, so geschliffen und geübt, Geld zu finden, ihre Hände, die Gold aus Schottersteinen schlagen konnten, wie man Funken aus Steinen schlägt, waren nicht fähig, den Herzen Genuß zu verschaffen und den Leibern Gesundheit. Sumpfgeborene waren die Menschen dieser Gegend. Denn die Sümpfe lagen unheimlich ausgebreitet über der ganzen Fläche des Landes, zu beiden Seiten der Landstraße, mit Fröschen, Fieberbazillen und tückischem Gras, das den ahnungslosen, des Landes unkundigen Wanderern eine furchtbare Lockung in einen furchtbaren Tod bedeutete. Viele kamen um, und ihre letzten Hilferufe hatte keiner gehört. Alle aber, die dort geboren waren, kannten die Tücke des Sumpfes und besaßen selbst etwas von seiner Tücke. Im Frühling und im Sommer war die Luft erfüllt von einem unaufhörlichen, satten Quaken der Frösche. Unter den Himmeln jubelte ein ebenso sattes Trillern der Lerchen. Und es war eine unermüdliche Zwiesprach' des Himmels mit dem Sumpf.

Unter den Händlern, von denen wir gesprochen haben, waren viele Juden. Eine Laune der Natur, vielleicht das geheimnisvolle Gesetz einer unbekannten Abstammung von dem legendären Volk der Chasaren machte, daß viele unter den Grenzjuden rothaarig waren. Auf ihren Köpfen loderte das Haar. Ihre Bärte waren wie Brände. Auf den Rücken ihrer hurtigen Hände starrten rote und harte Borsten wie winzige Spieße. Und in ihren Ohren wucherte rötliche, zarte Wolle wie der Dunst von den roten Feuern, die im Innern ihrer Köpfe glühen mochten.

Wer immer von Fremden in diese Gegend geriet, mußte allmählich verlorengehn. Keiner war so kräftig wie der Sumpf. Niemand konnte der Grenze standhalten. Um jene Zeit begannen die hohen Herren in Wien und Petersburg bereits, den großen Krieg vorzubereiten. Die Menschen an der Grenze fühlten ihn früher kommen als die andern; nicht nur, weil sie gewohnt waren, kommende Dinge zu erahnen, sondern auch, weil sie jeden Tag die Vorzeichen des Untergangs mit eigenen Augen sehen konnten. Auch von diesen Vorbereitungen noch zogen sie Gewinn. So mancher lebte von Spionage und Gegenspionage, bekam österreichische Gulden von der österreichischen Polizei und russische Rubel von der russischen. Und in der weltfernen, sumpfigen Öde der Garnison verfiel der und jener Offizier der Verzweiflung, dem Hasardspiel, den Schulden und finsteren Menschen. Die Friedhöfe der Grenzgarnisonen bargen viele junge Leiber schwacher Männer.

Aber auch hier exerzierten die Soldaten wie in allen andern Garnisonen des Reiches. Jeden Tag rückte das Jägerbataillon, vom Frühlingskot bespritzt, grauen Schlamm an den Stiefeln, in die Kaserne ein. Major Zoglauer ritt voran. Den zweiten Zug der ersten Kompanie führte Leutnant Trotta. Den Takt, in dem die Jäger marschierten, gab ein breites, biederes Signal des Hornisten an, nicht der hochmütige Fanfarenruf, der bei den Ulanen das Hufgetrappel der Rösser ordnete, unterbrach und umschmetterte. Zu Fuß ging Carl Joseph, und er bildete sich ein, daß ihm wohler war. Rings um ihn knirschten die genagelten Stiefel der Jäger über den kantigen Schottersteinchen, die immer wieder, jede Woche im Frühling, auf das Verlangen der Militärbehörde dem Sumpf der Wege geopfert wurden. Alle Steine, Millionen von Steinen, verschluckte der unersättliche Grund der Straße. Und immer neue, siegreiche, silbergraue, schimmernde Schichten von Schlamm quollen aus den Tiefen empor, fraßen den Stein und den Mörtel und schlugen klatschend über den stampfenden Stiefeln der Soldaten zusammen.

Die Kaserne lag hinter dem Stadtpark. Links neben der Kaserne war das Bezirksgericht, ihr gegenüber die Bezirkshauptmannschaft, hinter deren festlichem und baufälligem Gemäuer lagen zwei Kirchen, eine römische, eine griechische, und rechts ab von der Kaserne erhob sich das Gymnasium. Die Stadt war so winzig, daß man sie in zwanzig Minuten durchmessen konnte. Ihre wichtigen Gebäude drängten sich aneinander in lästiger Nachbarschaft. Wie Gefangene in einem Kerkerhof kreisten die Spaziergänger am Abend um das regelmäßige Rund des Parkes. Eine gute halbe Stunde Marsch brauchte man bis zum Bahnhof. Die Messe der Jägeroffiziere war in zwei kleinen Stuben eines Privathauses untergebracht. Die meisten Kameraden aßen im Bahnhofsrestaurant. Carl Joseph auch. Er marschierte gern durch den klatschenden Kot, nur um einen Bahnhof zu sehen. Es war der letzte aller Bahnhöfe der Monarchie, aber immerhin: Auch dieser Bahnhof zeigte zwei Paar glitzernder Schienenbänder, die sich ununterbrochen bis in das Innere des Reiches erstreckten. Auch dieser Bahnhof hatte helle, gläserne und fröhliche Signale, in denen ein zartes Echo von heimatlichen Rufen klirrte, und einen unaufhörlich tickenden Morseapparat, auf dem die schönen, verworrenen Stimmen einer weiten, verlorenen Welt fleißig abgehämmert wurden, gesteppt wie von einer emsigen Nähmaschine. Auch dieser Bahnhof hatte einen Portier, und dieser Portier schwang eine dröhnende Glocke, und die Glocke bedeutete Abfahrt, Einsteigen! Einmal täglich, just um die Mittagszeit, schwang der Portier seine Glocke zu dem Zug, der in die westliche Richtung abging, nach Krakau, Oderberg, Wien. Ein guter, lieber Zug! Er hielt beinahe so lange, wie das Essen dauerte, vor den Fenstern des Speisesaals erster Klasse, in dem die Offiziere saßen. Erst wenn der Kaffee kam, pfiff die Lokomotive. Der graue Dampf schlug an die Fenster. Sobald er anfing, in feuchten Perlen und Streifen die Scheiben hinunterzurinnen, war der Zug bereits fort. Man trank den Kaffee und kehrte in langsamem, trostlosem Rudel zurück durch den silbergrauen Schlamm. Selbst die inspizierenden Generäle hüteten sich hierherzukommen. Sie kamen nicht, niemand kam. In dem einzigen Hotel des Städtchens, in dem die meisten Jägeroffiziere als Dauermieter wohnten, stiegen nur zweimal im Jahr die reichen Hopfenhändler ab, aus Nürnberg und Prag und Saaz. Wenn ihre unbegreiflichen Geschäfte gelungen waren, ließen sie Musik kommen und spielten Karten im einzigen Kaffeehaus, das zum Hotel gehörte.

Das ganze Städtchen übersah Carl Joseph vom zweiten Stock des Hotels Brodnitzer. Er sah den Giebel des Bezirksgerichts, das weiße Türmchen der Bezirkshauptmannschaft, die schwarzgelbe Fahne über der Kaserne, das doppelte Kreuz der griechischen Kirche, den Wetterhahn über dem Magistrat und alle dunkelgrauen Schindeldächer der kleinen Parterrehäuser. Das Hotel Brodnitzer war das höchste Haus im Ort. Es gab eine Richtung an wie die Kirche, der Magistrat und die öffentlichen Gebäude überhaupt. Die Gassen hatten keine Namen und die Häuschen keine Nummern, und wer hierorts nach einem bestimmten Ziel fragte, richtete sich nach dem Ungefähr, das man ihm bezeichnet hatte. Der wohnte hinter der Kirche, jener gegenüber dem städtischen Gefängnis, der dritte rechter Hand vom Bezirksgericht. Man lebte wie im Dorf. Und die Geheimnisse der Menschen in den niederen Häusern, unter den dunkelgrauen Schindeldächern, hinter den kleinen, quadratischen Fensterscheiben und den hölzernen Türen quollen durch Ritzen und Sparren in die kotigen Gassen und selbst in den ewig geschlossenen, großen Hof der Kaserne. Den hatte die Frau betrogen, und jener hatte seine Tochter dem russischen Kapitän verkauft; hier handelte einer mit faulen Eiern, und dort lebte ein anderer von regelmäßigem Schmuggel; dieser hat im Gefängnis gesessen, und jener ist dem Kerker entgangen; der borgte den Offizieren Geld, und sein Nachbar trieb ein Drittel der Gage ein. Die Kameraden, Bürgerliche zumeist und deutscher Abstammung, lebten seit vielen Jahren in dieser Garnison, waren heimisch in ihr geworden und ihr anheimgefallen. Losgelöst von ihren heimischen Sitten, ihrer deutschen Muttersprache, die hier eine Dienstsprache geworden war, ausgeliefert der unendlichen Trostlosigkeit der Sümpfe, verfielen sie dem Hasardspiel und dem scharfen Schnaps, den man in dieser Gegend herstellte und der unter dem Namen »Neunziggrädiger« gehandelt wurde. Aus der harmlosen Durchschnittlichkeit, zu der sie Kadettenschule und überlieferter Drill herangezogen hatten, glitten sie in die Verderbnis dieses Landes, über das bereits der große Atem des großen feindlichen Zarenreiches strich. Kaum vierzehn Kilometer waren sie von Rußland entfernt. Die russischen Offiziere vom Grenzregiment kamen nicht selten herüber, in ihren langen sandgelben und taubengrauen Mänteln, die schweren silbernen und goldenen Epauletten auf den breiten Schultern und spiegelnde Galoschen an den spiegelblanken Schaftstiefeln, bei jedem Wetter. Die Garnisonen unterhielten sogar einen gewissen kameradschaftlichen Verkehr. Manchmal fuhr man auf kleinen, zeltüberspannten Bagagewagen über die Grenze, den Reiterkunststücken der Kosaken zuzusehn und den russischen Schnaps zu trinken. Drüben in der russischen Garnison standen die Schnapsfässer an den Rändern der hölzernen Bürgersteige, von Mannschaften mit Gewehr und aufgepflanzten langen, dreikantigen Bajonetten bewacht. Wenn der Abend einbrach, rollten die Fäßchen polternd durch die holprigen Straßen, angetrieben von den Stiefeln der Kosaken, gegen das russische Kasino, und ein leises Plätschern und Glucksen verriet der Bevölkerung den Inhalt der Fässer. Die Offiziere des Zaren zeigten den Offizieren Seiner Apostolischen Majestät, was russische Gastfreundschaft hieß. Und keiner von den Offizieren des Zaren und keiner von den Offizieren der Apostolischen Majestät wußte um jene Zeit, daß über den gläsernen Kelchen, aus denen sie tranken, der Tod schon seine hageren, unsichtbaren Hände kreuzte.

In der weiten Ebene zwischen den beiden Grenzwäldern, dem österreichischen und dem russischen, jagten die Sotnien der Grenzkosaken einher, uniformierte Winde in militärischer Ordnung, auf den kleinen, huschgeschwinden Pferdchen ihrer heimatlichen Steppen, die Lanzen schwenkend über den hohen Pelzmützen wie Blitze an langen, hölzernen Stielen, kokette Blitze mit niedlichen Fahnenschürzchen. Auf dem weichen, federnden Sumpfboden war das Getrappel kaum zu vernehmen. Nur mit einem leisen, feuchten Seufzen antwortete die nasse Erde auf den fliegenden Anschlag der Hufe. Kaum daß sich die tiefgrünen Gräschen niederlegten. Es war, als schwebten die Kosaken über das Gefilde. Und wenn sie über die gelbe, sandige Landstraße setzten, erhob sich eine große, helle, goldige, feinkörnige Staubsäule, flimmernd in der Sonne, breit zerflatternd, aufgelöst wieder niedersinkend in tausend kleinen Wölkchen. Die geladenen Gäste saßen auf rohgezimmerten, hölzernen Tribünen. Die Bewegungen der Reiter waren fast schneller als die Blicke der Zuschauer. Mit den starken, gelben Pferdezähnen hoben die Kosaken vom Sattel aus ihre roten und blauen Taschentücher vom Boden, mitten im Galopp, die Leiber senkten sich, jäh gefällt, unter die Bäuche der Rösser, und die Beine in den spiegelnden Stiefeln preßten gleichzeitig noch die Flanken der Tiere. Andere warfen die Lanzen weit von sich in die Luft, die Waffen wirbelten und fielen dann dem Reiter gehorsam wieder in die erhobene Faust; wie lebendige Jagdfalken kehrten sie zurück in die Hand ihrer Herren. Andere wieder sprangen geduckt, den Oberkörper waagerecht über dem Leib des Pferdes, den Mund brüderlich an das Maul des Tieres gepreßt, durch das erstaunlich kleine Rund eiserner Reifen, die etwa ein mäßiges Faß hätten umgürten können. Die Rösser streckten alle viere von sich. Ihre Mähnen erhoben sich wie Schwingen, ihre Schweife standen waagerecht wie Steuer, ihre schmalen Köpfe glichen dem schlanken Bug eines dahinschießenden Kahns. Wieder andere sprengten über zwanzig Bierfässer, die, Boden an Boden, hintereinanderlagen. Hier wieherten die Rösser, bevor sie zum Sprung ansetzten. Der Reiter kam aus unendlicher Ferne dahergesprengt, ein grauer, winziger Punkt war er zuerst, wuchs in rasender Geschwindigkeit zu einem Strich, einem Körper, einem Reiter, ward ein riesengroßer, sagenhafter Vogel aus Mensch und Pferdeleib, geflügelter Zyklop, um dann, wenn der Sprung geglückt war, ehern stehenzubleiben, hundert Schritte vor den Fässern, ein Standbild, ein Denkmal aus leblosem Stoff. Wieder andere schossen, während sie pfeilschnell dahinflogen (und sie selbst, die Schützen, sahen aus wie Geschosse), nach fliegenden Zielen, die seitwärts von ihnen dahinjagende Reiter auf großen, runden, weißen Scheiben hielten: Die Schützen galoppierten, schossen und trafen. So mancher sank vom Pferd. Die Kameraden, die ihm folgten, huschten über seinen Leib, kein Huf traf ihn. Es gab Reiter, die ein Pferd neben sich dahergaloppieren ließen und im Galopp aus einem Sattel in den andern sprangen, in den ersten zurückkehrten, plötzlich wieder auf das begleitende Roß fielen und schließlich, beide Hände auf je einen Sattel gestützt, die Beine schlenkernd zwischen den Leibern der Tiere, mit einem Ruck am angegebenen Ziel stehenblieben, beide Rösser haltend, daß sie reglos dastanden wie Pferde aus Bronze.

Diese Reiterfeste der Kosaken waren nicht die einzigen in dem Grenzgebiet zwischen der Monarchie und Rußland. In der Garnison stationierte noch ein Dragonerregiment. Zwischen den Offizieren des Jägerbataillons, denen des Dragonerregiments und den Herren der russischen Grenzregimenter stellte der Graf Chojnicki die innigsten Beziehungen her, einer der reichsten polnischen Grundbesitzer der Gegend. Graf Wojciech Chojnicki, verwandt mit den Ledochowskis und den Potockis, verschwägert mit den Sternbergs, befreundet mit den Thuns, Kenner der Welt, vierzig Jahre alt, aber ohne erkennbares Alter, Rittmeister der Reserve, Junggeselle, leichtlebig und schwermütig zu gleicher Zeit, liebte die Pferde, den Alkohol, die Gesellschaft, den Leichtsinn und auch den Ernst. Den Winter verbrachte er in großen Städten und in den Spielsälen der Riviera. Wie ein Zugvogel pflegte er, wenn der Goldregen an den Dämmen der Eisenbahn zu blühen begann, in die Heimat seiner Ahnen zurückzukehren. Er brachte mit sich einen leicht parfümierten Hauch der großen Welt und galante und abenteuerliche Geschichten. Er gehörte zu den Leuten, die keine Feinde haben können, aber auch keine Freunde, lediglich Gefährten, Genossen und Gleichgültige. Mit seinen hellen, klugen, ein wenig hervorquellenden Augen, seiner spiegelnden, kugelblanken Glatze, seinem kleinen, blonden Schnurrbärtchen, den schmalen Schultern, den übermäßig langen Beinen gewann Chojnicki die Zuneigung aller Menschen, denen er zufällig oder absichtlich in den Weg kam.

Er bewohnte abwechselnd zwei Häuser, die als »altes« und als »neues Schloß« bei der Bevölkerung bekannt und respektiert waren. Das sogenannte »alte Schloß« war ein größerer, baufälliger Jagdpavillon, den der Graf aus unerforschlichen Gründen nicht instand setzen wollte. Das »neue Schloß« war eine geräumige, einstöckige Villa, deren oberes Geschoß jederzeit von merkwürdigen und manchmal auch von unheimlichen Fremden bewohnt wurde. Es waren die »armen Verwandten« des Grafen. Ihm wäre es, selbst beim eifrigsten Studium seiner Familiengeschichte, nicht möglich gewesen, den Grad der Verwandtschaft seiner Gäste zu kennen. Es war allmählich Sitte geworden, als Familienangehöriger Chojnickis auf das »neue Schloß« zu kommen und hier den Sommer zu verbringen. Gesättigt, erholt und manchmal vom Ortsschneider des Grafen auch mit neuen Kleidern versehen, kehrten die Besucher, sobald die ersten Züge der Stare in den Nächten hörbar wurden und die Zeit der Kukuruzkolben vorbei war, in die unbekannten Gegenden zurück, in denen sie heimisch sein mochten. Der Hausherr merkte weder die Ankunft noch den Aufenthalt, noch die Abreise seiner Gäste. Ein für allemal hatte er verfügt, daß sein jüdischer Gutsverwalter die Familienbeziehungen der Ankömmlinge zu prüfen hatte, ihren Verbrauch zu regeln, ihre Abreise vor Einbruch des Winters festzusetzen. Das Haus hatte zwei Eingänge. Während der Graf und die nicht zur Familie zählenden Gäste den vorderen Eingang benutzten, mußten seine Angehörigen den großen Umweg durch den Obstgarten machen und durch eine kleine Pforte in der Gartenmauer ein- und ausgehn. Sonst durften die Ungebetenen machen, was ihnen gefiel.

Zweimal in der Woche, und zwar Montag und Donnerstag, fanden die sogenannten »kleinen Abende« beim Grafen Chojnicki statt und einmal im Monat das sogenannte »Fest«. An den »kleinen Abenden« waren nur sechs Zimmer erleuchtet und für den Aufenthalt der Gäste bestimmt, an den »Festen« aber zwölf. An den »kleinen Abenden« bediente das Personal ohne Handschuhe und in dunkelgelber Livree; an den »Festen« trugen die Lakaien weiße Handschuhe und ziegelbraune Röcke mit schwarzsamtenen Kragen und silbernen Knöpfen. Man begann immer mit Wermut und herben spanischen Weinen. Man ging über zu Burgunder und Bordeaux. Hierauf kam der Champagner. Ihm folgte der Cognac. Und man schloß, um der Heimat den gehörigen Tribut zu zollen, mit dem Gewächs des Bodens, dem Neunziggrädigen.

Die Offiziere des außerordentlichen feudalen Dragonerregiments und die meist bürgerlichen Offiziere des Jägerbataillons schlossen beim Grafen Chojnicki rührselige Bündnisse fürs Leben. Die anbrechenden Sommermorgen sahen durch die breiten und gewölbten Fenster des Schlosses auf ein buntes Durcheinander von Infanterie- und Kavallerieuniformen. Die Schläfer schnarchten der goldenen Sonne entgegen. Gegen fünf Uhr morgens rannte eine Schar verzweifelter Offiziersburschen zum Schloß, die Herren zu wecken. Denn um sechs Uhr begannen die Regimenter zu exerzieren. Längst war der Hausherr, den der Alkohol nicht müde machte, in seinem kleinen Jagdpavillon. Er hantierte dort mit sonderbaren Glasröhren, Flämmchen, Apparaten. In der Gegend lief das Gerücht um, daß der Graf Gold machen wolle. In der Tat schien er sich mit törichten alchimistischen Versuchen abzugeben. Wenn es ihm auch nicht gelang, Gold herzustellen, so wußte er doch, es im Roulettespiel zu gewinnen. Er ließ manchmal durchblicken, daß er von einem geheimnisvollen, längst verstorbenen Spieler ein zuverlässiges »System« geerbt hatte.

Seit Jahren war er Reichsratsabgeordneter, regelmäßig wiedergewählt von seinem Bezirk, alle Gegenkandidaten schlagend mit Geld, Gewalt und Überrumpelung, Günstling der Regierung und Verächter der parlamentarischen Körperschaft, der er angehörte. Er hatte nie eine Rede gehalten und nie einen Zwischenruf getan. Ungläubig, spöttisch, furchtlos und ohne Bedenken pflegte Chojnicki zu sagen, der Kaiser sei ein gedankenloser Greis, die Regierung eine Bande von Trotteln, der Reichsrat eine Versammlung gutgläubiger und pathetischer Idioten, die staatlichen Behörden bestechlich, feige und faul. Die deutschen Österreicher waren Walzertänzer und Heurigensänger, die Ungarn stanken, die Tschechen waren geborene Stiefelputzer, die Ruthenen verkappte und verräterische Russen, die Kroaten und Slowenen, die er »Krowoten und Schlawiner« nannte, Bürstenbinder und Maronibrater, und die Polen, denen er ja selbst angehörte, Courmacher, Friseure und Modephotographen. Nach jeder Rückkehr aus Wien und den andern Teilen der großen Welt, in der er sich heimisch tummelte, pflegte er einen düsteren Vortrag zu halten, der etwa so lautete: »Dieses Reich muß untergehn. Sobald unser Kaiser die Augen schließt, zerfallen wir in hundert Stücke. Der Balkan wird mächtiger sein als wir. Alle Völker werden ihre dreckigen, kleinen Staaten errichten, und sogar die Juden werden einen König in Palästina ausrufen. In Wien stinkt schon der Schweiß der Demokraten, ich kann's auf der Ringstraße nicht mehr aushalten. Die Arbeiter haben rote Fahnen und wollen nicht mehr arbeiten. Der Bürgermeister von Wien ist ein frommer Hausmeister. Die Pfaffen gehn schon mit dem Volk, man predigt tschechisch in den Kirchen. Im Burgtheater spielt man jüdische Saustücke, und jede Woche wird ein ungarischer Klosettfabrikant Baron. Ich sag' euch, meine Herren, wenn jetzt nicht geschossen wird, ist's aus. Wir werden's noch erleben!«

Die Zuhörer des Grafen lachten und tranken noch eins. Sie verstanden ihn nicht. Man schoß gelegentlich, besonders bei den Wahlen, um dem Grafen Chojnicki zum Beispiel das Mandat zu sichern, und zeigte also, daß die Welt nicht ohne weiteres untergehn konnte. Der Kaiser lebte noch. Nach ihm kam der Thronfolger. Die Armee exerzierte und leuchtete in allen vorschriftsmäßigen Farben. Die Völker liebten die Dynastie und huldigten ihr in den verschiedensten Nationaltrachten. Chojnicki war ein Witzbold.

Der Leutnant Trotta aber, empfindlicher als seine Kameraden, trauriger als sie und in der Seele das ständige Echo der rauschenden, dunklen Fittiche des Todes, dem er schon zweimal begegnet war: Der Leutnant spürte zuweilen das finstere Gewicht der Prophezeiungen.


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