Joseph Roth
Radetzkymarsch
Joseph Roth

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XI

Der Bezirkshauptmann beschloß, seinen Sohn in der fernen Grenzgarnison zu besuchen. Für einen Mann von der Art Herrn von Trottas war es kein leichtes Unternehmen. Er hatte ungewöhnliche Vorstellungen von der östlichen Grenze der Monarchie. Zwei seiner Schulkollegen waren wegen peinlicher Verfehlungen im Amt in jenes ferne Kronland versetzt worden, an dessen Rändern man wahrscheinlich schon den sibirischen Wind heulen hörte. Bären und Wölfe und noch schlimmere Ungeheuer wie Läuse und Wanzen bedrohten dort den zivilisierten Österreicher. Die ruthenischen Bauern opferten heidnischen Göttern, und grausam wüteten gegen fremdes Hab und Gut die Juden. Herr von Trotta nahm seinen alten Trommelrevolver mit. Die Abenteuer schreckten ihn keineswegs; vielmehr erlebte er jenes berauschende Gefühl aus längst verschütteter Knabenzeit wieder, das ihn und seinen alten Freund Moser in die geheimnisvollen Waldgründe auf dem väterlichen Gut getrieben hatte, zur Jagd und in mitternächtlicher Stunde auf den Friedhof. Von Fräulein Hirschwitz nahm er wohlgemut kurzen Abschied mit der unbestimmten und kühnen Hoffnung, sie nie mehr wiederzusehen. Allein fuhr er zur Bahn. Der Kassierer hinter dem Schalter sagte: »Oh, endlich eine weite Reise. Glückliche Fahrt!« Der Stationschef eilte auf den Perron. »Sie reisen dienstlich?« fragte er. Und der Bezirkshauptmann, in jener aufgeräumten Stimmung, in der man gelegentlich gerne rätselhaft erscheinen mag, antwortete: »Sozusagen, Herr Stationschef! Man kann schon ›dienstlich‹ sagen!« »Für längere Zeit?« »Noch unbestimmt.« »Werden wahrscheinlich auch Ihren Sohn besuchen?« »Wenn es sich machen läßt!« – Der Bezirkshauptmann stand am Fenster und winkte mit der Hand. Er nahm heitern Abschied von seinem Bezirk. Er dachte nicht an die Rückkehr. Er las im Kursbuch noch einmal alle Stationen. »In Oderberg umsteigen!« wiederholte er für sich. Er verglich die angegebenen mit den wirklichen Ankunfts- und Abfahrtszeiten und seine Taschenuhr mit allen Bahnhofsuhren, an denen der Zug vorüberfuhr. Merkwürdigerweise erfreute, ja erfrischte jede Unregelmäßigkeit sein Herz. In Oderberg ließ er einen Zug aus. Neugierig, nach allen Seiten Umschau haltend, ging er über die Bahnsteige, durch die Wartesäle und ein bißchen auch auf dem langen Weg zur Stadt. In den Bahnhof zurückgekehrt, tat er, als hätte er sich wider Willen verspätet, und sagte ausdrücklich dem Portier: »Ich habe meinen Zug versäumt!« Es enttäuschte ihn, daß sich der Portier nicht wunderte. Er mußte in Krakau noch einmal umsteigen. Das war ihm willkommen. Wenn er Carl Joseph nicht die Ankunft angegeben hätte und wenn in jenem »gefährlichen Nest« zwei Züge täglich angekommen wären, hätte er gerne noch eine Rast gemacht, um die Welt zu betrachten. Immerhin, auch durch das Fenster ließ sie sich in Augenschein nehmen. Der Frühling grüßte ihn die ganze Fahrt entlang. Am Nachmittag kam er an. In munterer Gelassenheit stieg er vom Trittbrett mit jenem »elastischen Schritt«, den die Zeitungen dem alten Kaiser nachzurühmen pflegten und den allmählich viele ältliche Staatsbeamte gelernt hatten. Denn es gab um jene Zeit in der Monarchie eine ganz besondere, seither völlig vergessene Art, Eisenbahnen und Gefährte zu verlassen, Gaststätten, Perrons und Häuser zu betreten, sich Angehörigen und Freunden zu nähern; eine Art des Schreitens, die vielleicht auch von den schmalen Hosen der älteren Herren bestimmt wurde und von den Gummistegen, die viele von ihnen noch um die Zugstiefel zu schnallen liebten. Mit diesem besonderen Schritt verließ also Herr von Trotta den Waggon. Er umarmte seinen Sohn, der sich vor dem Trittbrett aufgestellt hatte. Herr von Trotta war der einzige Fremde, der heute den Waggon erster und zweiter Klasse verließ. Ein paar Urlauber und Eisenbahner und Juden in langen, schwarzen, flatternden Gewändern kamen aus der dritten. Alle sahen auf den Vater und den Sohn. Der Bezirkshauptmann beeilte sich, in den Wartesaal zu gelangen. Hier küßte er Carl Joseph auf die Stirn. Am Büfett bestellte er zwei Cognacs. An der Wand, hinter den Regalen mit den Flaschen, hing der Spiegel. Während sie tranken, betrachteten Vater und Sohn ihre Gesichter. »Ist der Spiegel so miserabel«, fragte Herr von Trotta, »oder siehst du wirklich so schlecht aus?« Bist du wirklich so grau geworden? hätte Carl Joseph gerne gefragt. Denn er sah viel Silber im dunklen Backenbart und an den Schläfen des Vaters schimmern. »Laß dich anschaun!« fuhr der Bezirkshauptmann fort. »Das ist allerdings nicht der Spiegel! Das ist der Dienst hier, vielleicht?! Geht's schlimm?!« Der Bezirkshauptmann stellte fest, daß sein Sohn nicht so aussah, wie ein junger Leutnant auszusehen hatte. Krank ist er vielleicht, dachte der Vater. Es gab außer den Krankheiten, an denen man starb, nur noch jene schrecklichen Krankheiten, von denen Offiziere dem Vernehmen nach nicht selten befallen wurden. »Darfst auch Cognac trinken?« fragte er, um auf Umwegen den Sachverhalt aufzuklären. »Ja, gewiß, Papa«, sagte der Leutnant. Diese Stimme, die ihn vor Jahren geprüft hatte, an den stillen Sonntagvormittagen, sie lag ihm noch in den Ohren, diese nasale Stimme des Staatsbeamten, die strenge, immer ein wenig verwunderte und forschende Stimme, vor der jede Lüge noch auf der Zunge erstarb. »Gefällt's dir bei der Infanterie?« »Sehr gut, Papa!« »Und dein Pferd?« »Hab' ich mitgenommen, Papa!« »Reitest oft?« »Selten, Papa!« »Magst nicht?« »Nein, ich hab's nie gemocht, Papa!« »Hör auf mit dem ›Papa‹«, sagte plötzlich Herr von Trotta. »Bist schon groß genug! Und ich hab' Ferien!«

Sie fuhren in die Stadt. »Na, gar so wild ist es hier nicht!« sagte der Bezirkshauptmann. »Amüsiert man sich hier?«

»Sehr viel!« sagte Carl Joseph. »Beim Grafen Chojnicki. Da kommt alle Welt zusammen. Du wirst ihn sehen. Ich hab' ihn sehr gern.«

»Das war' also der erste Freund, den du je gehabt hast?«

»Der Regimentsarzt Max Demant war's auch«, erwiderte Carl Joseph.

»Hier ist dein Zimmer, Papa!« sagte der Leutnant. »Die Kameraden wohnen hier und machen manchmal Lärm in der Nacht. Aber es gibt kein anderes Hotel. Sie werden sich auch zusammennehmen, solang du da bist!«

»Macht nix, macht nix!« sagte der Bezirkshauptmann.

Er packte aus dem Koffer eine runde Blechdose, öffnete den Deckel und zeigte sie Carl Joseph. »Da ist so eine Wurzel – soll gegen Sumpffieber gut sein. Jacques schickt sie dir!«

»Was macht er?«

»Er ist schon drüben!« Der Bezirkshauptmann zeigte auf die Decke.

»Er ist drüben!« wiederholte der Leutnant. Dem Bezirkshauptmann war es, als spräche ein alter Mann. Der Sohn mochte viele Geheimnisse haben. Der Vater kannte sie nicht. Man sagte: Vater und Sohn, aber zwischen beiden lagen viele Jahre, große Berge! Man wußte nicht viel mehr von Carl Joseph als von einem andern Leutnant. Er war zur Kavallerie eingerückt und hatte sich dann zur Infanterie transferieren lassen. Die grünen Aufschläge der Jäger trug er statt der roten der Dragoner. Nun ja! Mehr wußte man nicht! Man wurde offenbar alt. Man wurde alt. Man gehörte nicht ganz dem Dienst mehr und nicht den Pflichten! Man gehörte zu Jacques und zu Carl Joseph. Man brachte die steinharte, verwitterte Wurzel von einem zum andern.

Der Bezirkshauptmann öffnete den Mund, immer noch gebeugt über den Koffer. Er sprach in den Koffer hinein wie in ein offenes Grab. Aber er sagte nicht, wie er gewollt hatte: Ich hab' dich lieb, mein Sohn!, sondern: »Er ist sehr leicht gestorben! Es war ein echter Maiabend, und alle Vögel haben gepfiffen. Erinnerst dich an den Kanarienvogel? Der hat am lautesten gezwitschert. Jacques hat alle Stiefel geputzt. Dann erst ist er gestorben, im Hof, auf der Bank! Der Slama ist auch dabeigewesen. Am Vormittag nur hat er Fieber gehabt. Ich soll dich schön grüßen!«

Dann blickte der Bezirkshauptmann vom Koffer auf und sah seinem Sohn ins Gesicht:

»Genauso möcht' ich auch einmal sterben!«

Der Leutnant ging in sein Zimmer, öffnete den Schrank und legte in die oberste Lade das Stückchen Wurzel gegen Fieber, neben die Briefe Katharinas und den Säbel Max Demants. Er zog die Taschenuhr des Doktors. Er glaubte, den dünnen Sekundenzeiger hurtiger als je einen andern über das winzige Rund kreisen zu sehn und heftiger das klingende Ticken zu vernehmen. Die Zeiger hatten kein Ziel, das Ticken hatte keinen Sinn. Bald werde ich auch Papas Taschenuhr ticken hören, er wird sie mir vermachen. In meiner Stube wird das Porträt des Helden von Solferino hängen und der Säbel Max Demants und ein Erbstück von Papa. Mit mir wird alles begraben. Ich bin der letzte Trotta!

Er war jung genug, um süße Wollust aus seiner Trauer zu schöpfen und aus der Sicherheit, der Letzte zu sein, eine schmerzliche Würde. Von den nahen Sümpfen kam das breite und schmetternde Quaken der Frösche. Die untergehende Sonne rötete Möbel und Wände des Zimmers. Man hörte einen leichten Wagen heranrollen, das weiche Getrapp der Hufe auf der staubigen Straße. Der Wagen hielt, eine strohgelbe Britschka, das sommerliche Vehikel des Grafen Chojnicki. Dreimal unterbrach seine knallende Peitsche den Gesang der Frösche.

Er war neugierig, der Graf Chojnicki. Keine andere Leidenschaft als die Neugierde schickte ihn auf Reisen in die weite Welt, fesselte ihn an die Tische der großen Spielsäle, schloß ihn hinter die Türen seines alten Jagdpavillons, setzte ihn auf die Bank der Parlamentarier, gebot ihm jeden Frühling die Heimkehr, ließ ihn seine gewohnten Feste feiern und verstellte ihm den Weg zum Selbstmord. Lediglich die Neugierde erhielt ihn am Leben. Er war unersättlich neugierig. Der Leutnant Trotta hatte ihm erzählt, daß er seinen Vater, den Bezirkshauptmann, erwarte; und obwohl Graf Chojnicki ein gutes Dutzend österreichischer Bezirkshauptleute kannte und zahllose Väter von Leutnants, war er dennoch begierig, den Bezirkshauptmann Trotta kennenzulernen. »Ich bin der Freund Ihres Sohnes«, sagte Chojnicki. »Sie sind mein Gast. Ihr Sohn wird es Ihnen gesagt haben! Ich habe Sie übrigens schon irgendwo gesehn. Sind Sie nicht mit dem Doktor Swoboda im Handelsministerium bekannt?« »Wir sind Schulkollegen!« »Na also!« rief Chojnicki. »Das ist mein guter Freund, der Swoboda. Etwas verteppert mit der Zeit! Aber ein feiner Mann! Gestatten Sie mir, ganz aufrichtig zu sein? – Sie erinnern mich an Franz Joseph.«

Es wurde einen Augenblick still. Der Bezirkshauptmann hatte niemals den Namen des Kaisers ausgesprochen. Bei feierlichen Anlässen sagte man: Seine Majestät. Im gewöhnlichen Leben sagte man: der Kaiser. Dieser Chojnicki aber sagte: Franz Joseph, wie er soeben Swoboda gesagt hatte. »Ja, Sie erinnern mich an Franz Joseph«, wiederholte Chojnicki.

Sie fuhren. Zu beiden Seiten lärmten die unendlichen Chöre der Frösche, dehnten sich die unendlichen, blaugrünen Sümpfe. Der Abend schwamm ihnen entgegen, violett und golden. Sie hörten das weiche Rollen der Räder im weichen Sande des Feldwegs und das helle Knirschen der Achsen. Chojnicki hielt vor dem kleinen Jagdpavillon.

Die rückwärtige Wand lehnte sich an den dunklen Rand des Tannenwaldes. Von der schmalen Straße war er durch einen kleinen Garten und ein steinernes Gitter getrennt. Die Hecken, die an beiden Seiten den kurzen Weg vom Gartengitter zum Hauseingang säumten, waren seit langer Zeit nicht beschnitten worden; so wucherten sie in wilder Willkür hier und da über den Weg, bogen ihre Zweige einander entgegen und erlaubten zwei Menschen nicht gleichzeitig den Durchgang. Also gingen die drei Männer hintereinander, ihnen folgte das Pferd gehorsam, zog das Wägelchen nach, schien mit diesem Pfad vertraut zu sein und wie ein Mensch im Pavillon zu wohnen. Hinter den Hecken dehnten sich weite Flächen, von Distelblüten bewachsen, von den breiten, dunkelgrünen Gesichtern des Huflattichs überwacht. Rechts erhob sich ein abgebrochener steinerner Pfeiler, Überrest eines Turms vielleicht. Wie ein mächtiger, abgebrochener Zahn wuchs der Stein aus dem Schoß des Vorgartens gegen den Himmel, mit vielen dunkelgrünen Moosflecken und schwarzen, zarten Rissen. Das schwere hölzerne Tor zeigte das Wappen der Chojnickis, ein dreifach geteiltes, blaues Schild mit drei goldenen Hirschböcken, deren Geweihe unentwirrbar ineinander verwachsen waren. Chojnicki zündete Licht an. Sie standen in einem weiten, niedrigen Raum. Noch fiel der letzte Dämmer des Tages durch die schmalen Ritzen der grünen Jalousien. Der gedeckte Tisch unter der Lampe trug Teller, Flaschen, Krüge, silbernes Besteck und Terrinen. »Ich hab' mir erlaubt, Ihnen einen kleinen Imbiß vorzubereiten!« sagte Chojnicki. Er schüttete den wasserklaren Neunziggrädigen in drei kleine Gläschen, reichte zwei den Gästen und erhob selbst das dritte. Alle tranken. Der Bezirkshauptmann war etwas verwirrt, als er das Gläschen wieder auf den Tisch stellte. Immerhin widersprach die Wirklichkeit der Speisen dem geheimnisvollen Wesen des Pavillons, und der Appetit des Bezirkshauptmanns war größer als seine Verwirrung. Die braune Leberpastete, von pechschwarzen Trüffeln durchsetzt, stand in einem glitzernden Kranz aus frischen Eiskristallen. Die zarte Fasanenbrust ragte einsam im schneeigen Teller, umgeben von einem bunten Gefolge aus grünen, roten, weißen und gelben Gemüsen, jedes in einer blaugoldgeränderten und wappenverzierten Schüssel. In einer geräumigen kristallenen Vase wimmelten Millionen schwarzgrauer Kaviarperlchen, umrandet von goldenen Zitronenscheiben. Und die runden, rosafarbenen Schinkenräder, von einer großen, silbernen, dreizackigen Gabel bewacht, reihten sich gehorsam aneinander auf länglicher Schüssel, begleitet von rotbäckigen Radieschen, die an kleine, knusprige Dorfmädchen erinnerten. Gekocht, gebraten und mit süß-säuerlichen Zwiebeln mariniert, lagen die fetten, breiten Karpfenstücke und die schmalen, schlüpfrigen Hechte auf Glas, Silber und Porzellan. Runde Brote, schwarz, braun und weiß, ruhten in einfachen, ländlich geflochtenen Strohkörbchen wie Kinder in Wiegen, kaum sichtbar zerschnitten, und die Scheiben so kunstvoll wieder aneinandergefügt, daß die Brote heil und ungeteilt aussahen. Zwischen den Speisen standen fette, bauchige Flaschen und schmale, hochgewachsene, vier- und sechskantige Kristallkaraffen und glatte, runde; solche mit langen und andere mit kurzen Hälsen; mit und ohne Etiketten; und alle gefolgt von einem Regiment vielgestaltiger Gläser und Gläschen.

Sie begannen zu essen.

Dem Bezirkshauptmann war diese ungewöhnliche Art, zu einer ungewöhnlichen Stunde einen »Imbiß« einzunehmen, ein äußerst angenehmes Anzeichen für die außergewöhnlichen Sitten der Grenze. In der alten kaiser- und königlichen Monarchie waren selbst spartanische Naturen wie Herr von Trotta beachtenswerte Liebhaber von Genüssen. Es war schon eine geraume Zeit seit dem Tage verflossen, an dem der Bezirkshauptmann außergewöhnlich gegessen hatte. Der Anlaß war damals das Abschiedsfest des Statthalters, des Fürsten M., gewesen, der mit einem ehrenvollen Auftrag in die frisch okkupierten Gebiete von Bosnien und Herzegowina abgegangen war, dank seinen berühmt gewordenen Sprachkenntnissen und seiner angeblichen Kunst, »wilde Völker zu zähmen«. Ja, damals hatte der Bezirkshauptmann ungewöhnlich gegessen und getrunken! Und dieser Tag, neben andern Trink- und Gelagetagen, hatte sich in seiner Erinnerung ebenso stark erhalten wie die besonderen Tage, an denen er eine Belobung der Statthalterei bekommen hatte, wie die Tage, an denen er zum Bezirksoberkommissär und später zum Bezirkshauptmann ernannt worden war. Die Vorzüglichkeit der Nahrung schmeckte er mit den Augen wie andere mit dem Gaumen. Sein Blick schweifte ein paarmal über den reichen Tisch und genoß und verweilte hier und dort im Genießen. Er hatte die geheimnisvolle, ja etwas unheimliche Umgebung beinahe vergessen. Man aß. Man trank aus den verschiedenen Flaschen. Und der Bezirkshauptmann lobte alles, indem er, sooft er von einer Speise zur andern überging, »delikat« und »ausgezeichnet« sagte. Sein Angesicht rötete sich langsam. Und die Flügel seines Backenbartes bewegten sich fortwährend.

»Ich habe die Herren hierher eingeladen«, sagte Chojnicki, »weil wir im ›neuen Schloß‹ nicht ungestört gewesen wären. Dort ist meine Tür sozusagen immer offen, und alle meine Freunde können kommen, wann sie wollen. Sonst pflege ich hier nur zu arbeiten.«

»Sie arbeiten?« fragte der Bezirkshauptmann. »Ja«, sagte Chojnicki, »ich arbeite. Ich arbeite sozusagen zum Spaß. Ich setze nur die Tradition meiner Vorfahren fort, ich meine es, offen gestanden, gar nicht immer so ernst, wie es noch mein Großvater gemeint hat. Die Bauern dieser Gegend haben ihn für einen mächtigen Zauberer gehalten, und vielleicht ist er auch einer gewesen. Mich selbst halten sie auch für einen, ich bin es nicht. Es ist mir bis jetzt noch nicht gelungen, auch nur ein Stäubchen herzustellen!«

»Ein Stäubchen?« fragte der Bezirkshauptmann, »wovon ein Stäubchen?« »Von Gold natürlich!« sagte Chojnicki, als handele es sich um die selbstverständlichste Sache von der Welt.

»Ich verstehe was von Chemie«, fuhr er fort, »es ist ein altes Talent in unserer Familie. Ich habe hier an den Wänden, wie Sie sehen, die ältesten und die modernsten Apparate.« Er zeigte auf die Wände. Der Bezirkshauptmann sah sechs Reihen hölzerner Regale an jeder Wand. Auf den Regalen standen Mörser, kleine und große Papiersäckchen, gläserne Behälter wie in altertümlichen Apotheken, merkwürdige Kugeln aus Glas, gefüllt mit bunten Flüssigkeiten, Lämpchen, Gasbrenner und Röhren.

»Sehr seltsam, seltsam, seltsam!« sagte Herr von Trotta.

»Und ich kann selber nicht genau sagen«, fuhr Chojnicki fort, »ob ich es ernst meine oder nicht. Ja, manchmal ergreift mich die Leidenschaft, wenn ich am Morgen hierherkomme, und ich lese in den Rezepten meines Großvaters und gehe hin und probiere und lache mich selber aus und gehe fort. Und komme immer wieder her und probiere immer wieder.«

»Seltsam, seltsam!« wiederholte der Bezirkshauptmann.

»Nicht seltsamer«, sagte der Graf, »als alles andere, was ich sonst machen könnte. Soll ich Kultus- und Unterrichtsminister werden? Man hat's mir nahegelegt. Soll ich Sektionschef im Ministerium des Innern werden? Man hat's mir ebenfalls nahegelegt. Soll ich an den Hof, ins Obersthofmeisteramt? Auch das kann ich, Franz Joseph kennt mich – – –«

Der Bezirkshauptmann rückte seinen Stuhl um zwei Zoll zurück. Wenn Chojnicki den Kaiser so vertraulich beim Namen nannte, als wäre er einer jener lächerlichen Abgeordneten, die seit der Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts im Parlament saßen, oder als wäre er, im besten Falle, schon tot und eine Figur der vaterländischen Geschichte, gab es dem Bezirkshauptmann einen Stich ins Herz. Chojnicki verbesserte:

»Seine Majestät kennt mich!«

Der Bezirkshauptmann rückte wieder näher an den Tisch und fragte: »Und warum – Pardon! – wäre es genauso überflüssig, dem Vaterland zu dienen, wie Gold zu machen?«

»Weil das Vaterland nicht mehr da ist.«

»Ich verstehe nicht!« sagte Herr von Trotta.

»Ich hab' mir's gedacht, daß Sie mich nicht verstehen!« sagte Chojnicki. »Wir alle leben nicht mehr!«

Es war sehr still. Der letzte Dämmer des Tages war längst erloschen. Man hätte durch die schmalen Sparren der grünen Jalousien schon ein paar Sterne am Himmel sehen können. Den breiten und schmetternden Gesang der Frösche hatte der leise, metallische der nächtlichen Feldgrillen abgelöst. Von Zeit zu Zeit hörte man den harten Ruf des Kuckucks. Der Bezirkshauptmann, vom Alkohol, von der sonderlichen Umgebung und von den ungewöhnlichen Reden des Grafen in einen nie gekannten, beinahe verzauberten Zustand versetzt, blickte verstohlen auf seinen Sohn, lediglich, um einen vertrauten und nahen Menschen zu sehn. Aber auch Carl Joseph schien ihm gar nicht mehr vertraut und nahe! Vielleicht hatte Chojnicki richtig gesprochen, und sie waren in der Tat alle nicht mehr da: das Vaterland nicht und nicht der Bezirkshauptmann und nicht der Sohn! Mit großer Anstrengung brachte Herr von Trotta noch die Frage zustande: »Ich verstehe nicht! Wie sollte die Monarchie nicht mehr dasein?«

»Natürlich!« erwiderte Chojnicki, »wörtlich genommen, besteht sie noch. Wir haben noch eine Armee« – der Graf wies auf den Leutnant – »und Beamte« – der Graf zeigte auf den Bezirkshauptmann. »Aber sie zerfällt bei lebendigem Leibe. Sie zerfällt, sie ist schon verfallen! Ein Greis, dem Tode geweiht, von jedem Schnupfen gefährdet, hält den alten Thron, einfach durch das Wunder, daß er auf ihm noch sitzen kann. Wie lange noch, wie lange noch? Die Zeit will uns nicht mehr! Diese Zeit will sich erst selbständige Nationalstaaten schaffen! Man glaubt nicht mehr an Gott. Die neue Religion ist der Nationalismus. Die Völker gehn nicht mehr in die Kirchen. Sie gehn in nationale Vereine. Die Monarchie, unsere Monarchie, ist gegründet auf der Frömmigkeit: auf dem Glauben, daß Gott die Habsburger erwählt hat, über soundso viel christliche Völker zu regieren. Unser Kaiser ist ein weltlicher Bruder des Papstes, es ist Seine K. u. K. Apostolische Majestät, keine andere wie er apostolisch, keine andere Majestät in Europa so abhängig von der Gnade Gottes und vom Glauben der Völker an die Gnade Gottes. Der deutsche Kaiser regiert, wenn Gott ihn verläßt, immer noch; eventuell von der Gnade der Nation. Der Kaiser von Österreich-Ungarn darf nicht von Gott verlassen werden. Nun aber hat ihn Gott verlassen!«

Der Bezirkshauptmann erhob sich. Niemals hätte er geglaubt, daß es einen Menschen in der Welt gebe, der sagen könnte, Gott habe den Kaiser verlassen. Dennoch schien ihm, der zeit seines Lebens die Angelegenheiten des Himmels den Theologen überlassen und im übrigen die Kirche, die Messe, die Zeremonie am Fronleichnamstag, den Klerus und den lieben Gott für Einrichtungen der Monarchie gehalten hatte, auf einmal der Satz des Grafen alle Wirrnis zu erklären, die er in den letzten Wochen und besonders seit dem Tode des alten Jacques gefühlt hatte. Gewiß, Gott hatte den alten Kaiser verlassen! Der Bezirkshauptmann machte ein paar Schritte, unter seinen Füßen knarrten die alten Dielen. Er trat zum Fenster und sah durch die Ritzen der Jalousien die schmalen Streifen der dunkelblauen Nacht. Alle Vorgänge der Natur und alle Ereignisse des täglichen Lebens erhielten auf einmal einen bedrohlichen und unverständlichen Sinn. Unverständlich war der wispernde Chor der Grillen, unverständlich das Flimmern der Sterne, unverständlich das samtene Blau der Nacht, unverständlich war dem Bezirkshauptmann seine Reise an die Grenze und sein Aufenthalt bei diesem Grafen. Er kehrte an den Tisch zurück, mit der Hand strich er einen Flügel seines Backenbartes, wie er es zu tun pflegte, wenn er ein wenig ratlos war. Ein wenig ratlos! So ratlos wie jetzt war er nie gewesen!

Vor ihm stand noch ein volles Glas. Er trank es schnell. »Also«, sagte er, »glauben Sie, glauben Sie, daß wir – –«

»verloren sind«, ergänzte Chojnicki. »Verloren sind wir, Sie und Ihr Sohn und ich. Wir sind, sage ich, die Letzten einer Welt, in der Gott noch die Majestäten begnadet und Verrückte wie ich Gold machen. Hören Sie! Sehen Sie!« Und Chojnicki erhob sich, ging an die Tür, drehte einen Schalter, und an dem großen Lüster erstrahlten die Lampen. »Sehen Sie!« sagte Chojnicki, »dies ist die Zeit der Elektrizität, nicht der Alchimie. Der Chemie auch, verstehen Sie! Wissen Sie, wie das Ding heißt? Nitroglyzerin«, der Graf sprach jede einzelne Silbe getrennt aus. »Nitroglyzerin!« wiederholte er. »Nicht mehr Gold! Im Schloß Franz Josephs brennt man oft noch Kerzen! Begreifen Sie? Durch Nitroglyzerin und Elektrizität werden wir zugrunde gehn! Es dauert gar nicht mehr lang, gar nicht mehr lang!«

Der Glanz, den die elektrischen Lampen verbreiteten, weckte an den Wänden auf den Regalen grüne, rote und blaue, schmale und breite zitternde Reflexe in den Glasröhren. Still und blaß saß Carl Joseph da. Er hatte die ganze Zeit getrunken. Der Bezirkshauptmann sah zum Leutnant hin. Er dachte an seinen Freund, den Maler Moser. Und da er selbst schon getrunken hatte, der alte Herr von Trotta, erblickte er, wie in einem sehr entfernten Spiegel, das blasse Abbild seines betrunkenen Sohnes unter den grünen Bäumen des Volksgartens, mit einem Schlapphut am Kopfe, einer großen Mappe unter dem Arm, und es war, als hätte sich die prophetische Gabe des Grafen, die geschichtliche Zukunft zu sehen, auch auf den Bezirkshauptmann übertragen und ihn fähig gemacht, die Zukunft seines Nachkommen zu erkennen. Halb geleert und traurig waren Teller, Terrinen, Flaschen und Gläser. Zauberhaft leuchteten die Lichter in den Röhren ringsum an den Wänden. Zwei alte, backenbärtige Diener, beide dem Kaiser Franz Joseph und dem Bezirkshauptmann ähnlich wie Brüder, begannen, den Tisch abzuräumen. Von Zeit zu Zeit fiel der harte Ruf des Kuckucks wie ein Hammer auf das Zirpen der Grillen. Chojnicki hob eine Flasche hoch. »Den heimischen« – so nannte er den Schnaps – »müssen Sie noch trinken. Es ist nur noch ein Rest!« Und sie tranken den letzten Rest des »Heimischen«.

Der Bezirkshauptmann zog seine Uhr, konnte aber den Stand der Zeiger nicht genau erkennen. Es war, als rotierten sie so schnell über den weißen Kreis des Zifferblattes, daß es hundert Zeiger gab statt der regelrechten zwei. Und statt der zwölf Ziffern gab es zwölfmal zwölf! Denn die Ziffern drängten sich aneinander wie sonst nur die Striche der Minuten. Es konnte neun Uhr abends sein oder schon Mitternacht. »Zehn Uhr!« sagte Chojnicki.

Die backenbärtigen Diener faßten die Gäste sachte bei den Armen und führten sie hinaus. Die große Kalesche Chojnickis wartete. Der Himmel war sehr nahe, eine gute, vertraute, irdische Schale aus einem vertrauten blauen Glas, lag er, mit der Hand zu greifen, über der Erde. Der steinerne Pfeiler rechts vom Pavillon schien ihn zu berühren. Die Sterne waren von irdischen Händen in den nahen Himmel mit Stecknadeln gespießt wie Fähnchen in eine Landkarte. Manchmal drehte sich die ganze blaue Nacht um den Bezirkshauptmann, schaukelte sachte und hielt wieder still. Die Frösche quakten in den unendlichen Sümpfen. Es roch feucht nach Regen und Gras. Die gespenstisch weißen Pferde vor dem schwarzen Wagen überragte der Kutscher im schwarzen Mantel. Die Schimmel wieherten, und weich wie Katzenpfoten scharrten ihre Hufe den feuchten, sandigen Boden.

Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, und sie fuhren.

Sie fuhren den Weg zurück, den sie gekommen waren, bogen in die breite, geschotterte Birkenallee und erreichten die Laternen, die das »neue Schloß« ankündigten. Die silbernen Birkenstämme schimmerten noch heller als die Laternen. Die starken Gummiräder der Kalesche rollten glatt und mit einem dumpfen Murmeln über den Schotter, man hörte nur den harten Aufschlag der geschwinden Schimmelhufe. Die Kalesche war breit und bequem. Man lehnte in ihr wie in einem Ruhebett. Leutnant Trotta schlief. Er saß neben seinem Vater. Sein blasses Angesicht lag fast waagerecht auf der Polsterlehne, durch das offene Fenster strich der Wind darüber. Von Zeit zu Zeit beleuchtete es eine Laterne. Dann sah Chojnicki, der seinen Gästen gegenübersaß, die blutlosen, halboffenen Lippen des Leutnants und seine harte, vorspringende, knöcherne Nase. »Er schläft gut!« sagte er zum Bezirkshauptmann. Beide kamen sich vor wie zwei Väter des Leutnants. Den Bezirkshauptmann ernüchterte der Nachtwind, aber eine unbestimmte Furcht nistete noch in seinem Herzen. Er sah die Welt untergehn, und es war seine Welt. Lebendig saß ihm gegenüber Chojnicki, allem Anschein nach ein lebendiger Mensch, dessen Knie sogar manchmal an das Schienbein Herrn von Trottas stießen, und dennoch unheimlich. Der alte Trommelrevolver, den Herr von Trotta mitgenommen hatte, drückte in der rückwärtigen Hosentasche. Was sollte da ein Revolver! Man sah keine Bären und keine Wölfe an der Grenze! Man sah nur den Untergang der Welt!

Der Wagen hielt vor dem gewölbten, hölzernen Tor. Der Kutscher knallte mit der Peitsche. Die zwei Flügel des Tores gingen auf, und gemessen schritten die Schimmel die sachte Steigung hinan. Aus der ganzen Fensterfront fiel gelbes Licht auf den Kies und auf die Grasflächen zu beiden Seiten des Weges. Man hörte Stimmen und Klavierspiel. Es war ohne Zweifel ein »großes Fest«.

Man hatte bereits gegessen. Die Lakaien liefen mit großen, buntfarbigen Schnäpsen umher. Die Gäste tanzten, spielten Tarock und Whist, tranken, dort hielt einer eine Rede vor Menschen, die ihm nicht zuhörten. Einige torkelten durch die Säle, andere schliefen in den Ecken. Es tanzten nur Männer miteinander. Die schwarzen Salonblusen der Dragoner preßten sich an die blauen der Jäger. In den Zimmern des »neuen Schlosses« ließ Chojnicki Kerzen brennen. Aus mächtigen, silbernen Leuchtern, die auf steinernen Wandbrettern und Vorsprüngen aufgestellt waren, oder von Lakaien, die jede halbe Stunde abwechselten, gehalten wurden, wuchsen die schneeweißen und wachsgelben dicken Kerzen. Ihre Flämmchen zitterten manchmal im nächtlichen Wind, der durch die offenen Fenster daherzog. Wenn für ein paar Augenblicke das Klavier schwieg, hörte man die Nachtigallen schlagen und die Grillen wispern und von Zeit zu Zeit die Wachstränen mit sachten Schlägen auf das Silber tropfen.

Der Bezirkshauptmann suchte seinen Sohn. Eine namenlose Angst trieb den Alten durch die Zimmer. Sein Sohn – wo war er? Weder unter den Tänzern noch unter den betrunken Dahertorkelnden, noch unter den Spielern, noch unter den älteren, gesitteten Männern, die da und dort in den Winkeln miteinander sprachen. Allein saß der Leutnant in einem abgelegenen Zimmer. Die große, bauchige Flasche stand zu seinen Füßen, treu und halb geleert. Sie sah neben dem schmalen und zusammengesunkenen Trinker allzu mächtig aus, beinahe, als könnte sie den Trinker verschlingen. Der Bezirkshauptmann stellte sich vor dem Leutnant auf, die Spitzen seiner schmalen Stiefel berührten die Flasche. Der Sohn bemerkte zwei und mehr Väter, sie vermehrten sich mit jeder Sekunde. Er fühlte sich von ihnen bedrängt, es hatte keinen Sinn, so vielen von ihnen den Respekt zu erweisen, der nur dem einen gebührte, und vor ihnen allen aufzustehn. Es hatte keinen Sinn, der Leutnant blieb in seiner merkwürdigen Stellung, das heißt: Er saß, lag und kauerte zu gleicher Zeit. Der Bezirkshauptmann regte sich nicht. Sein Gehirn arbeitete sehr geschwind, es gebar tausend Erinnerungen auf einmal. Er sah zum Beispiel den Kadetten Carl Joseph an den sommerlichen Sonntagen, an denen er im Arbeitszimmer gesessen hatte, die schneeweißen Handschuhe und die schwarze Kadettenmütze auf den Knien, mit klingender Stimme und gehorsamen, kindlichen Augen jede Frage beantwortend. Der Bezirkshauptmann sah den frisch ernannten Leutnant der Kavallerie in das gleiche Zimmer treten, blau, golden und blutrot. Dieser junge Mann aber war von dem alten Herrn von Trotta jetzt ganz weit entfernt. Warum tat es ihm so weh, einen fremden, betrunkenen Jägerleutnant zu sehn? Warum tat es ihm so weh?

Der Leutnant Trotta rührte sich nicht. Zwar vermochte er sich zu erinnern, daß sein Vater vor kurzem angekommen war, und noch zur Kenntnis zu nehmen, daß nicht dieser eine, sondern daß mehrere Väter vor ihm standen. Aber weder gelang es ihm, zu begreifen, warum sein Vater gerade heute gekommen war, noch, warum er sich so heftig vermehrte, noch, warum er selbst, der Leutnant, nicht imstande war, sich zu erheben.

Seit mehreren Wochen hatte sich der Leutnant Trotta an den Neunziggrädigen gewöhnt. Der ging nicht in den Kopf, er ging, wie die Kenner zu sagen liebten, »nur in die Füße«. Zuerst erzeugte er eine angenehme Wärme in der Brust. Das Blut begann, schneller durch die Adern zu rollen, der Appetit löste die Übelkeit ab und die Lust zu erbrechen. Dann trank man noch einen Neunziggrädigen. Mochte der Morgen kühl und trübe sein, man schritt mutig und in der allerbesten Laune in ihn hinein wie in einen ganz sonnigen, glücklichen Morgen. Während der Rast aß man in der Grenzschenke, in der Nähe des Grenzwaldes, wo die Jäger exerzierten, in Gesellschaft der Kameraden eine Kleinigkeit und trank wieder einen Neunziggrädigen. Er rann durch die Kehle wie ein geschwinder Brand, der sich selber auslöscht. Man fühlte kaum, daß man gegessen hatte. Man kehrte in die Kaserne zurück, zog sich um und ging zum Bahnhof, Mittag essen. Obwohl man einen weiten Weg zurückgelegt hatte, war man gar nicht hungrig. Und man trank infolgedessen noch einen Neunziggrädigen. Man aß und war sofort schläfrig. Man nahm also einen Schwarzen und hierauf wieder einen Neunziggrädigen. Und kurz und gut: Es gab niemals im Lauf des langweiligen Tages eine Gelegenheit, keinen Schnaps zu trinken. Es gab im Gegenteil manche Nachmittage und manche Abende, an denen es geboten war, Schnaps zu trinken.

Denn das Leben wurde leicht, sobald man getrunken hatte! Oh, Wunder dieser Grenze! Sie machte einem Nüchternen das Leben schwer; aber wen ließ sie nüchtern bleiben?! Der Leutnant Trotta sah, wenn er getrunken hatte, in allen Kameraden, Vorgesetzten und Untergebenen alte und gute Freunde. Das Städtchen war ihm vertraut, als wäre er darin geboren und aufgewachsen. Er konnte in die winzigen Kramläden gehn, die schmal, dunkel, gewunden und von allerlei Waren vollgestopft wie Hamsterlöcher in die dicken Mauern des Basars eingegraben waren, und unbrauchbare Dinge einhandeln: falsche Korallen, billige Spiegelchen, eine miserable Seife, Kämme aus Espenholz und geflochtene Hundeleinen; lediglich, weil er den Rufen der rothaarigen Händler freudig folgte. Er lächelte allen Menschen zu, den Bäuerinnen mit den bunten Kopftüchern und den großen Bastkörben unter dem Arm, den geputzten Töchtern der Juden, den Beamten der Bezirkshauptmannschaft und den Lehrern des Gymnasiums. Ein breiter Strom von Freundlichkeit und Güte rann durch diese kleine Welt. Aus allen Menschen grüßte es dem Leutnant heiter entgegen. Es gab auch nichts Peinliches mehr. Nichts Peinliches im Dienst und außerhalb des Dienstes! Alles erledigte man glatt und geschwind. Onufrijs Sprache verstand man. Man kam gelegentlich in eines der umliegenden Dörfer, fragte die Bauern nach dem Weg, sie antworteten in einer fremden Sprache. Man verstand sie. Man ritt nicht. Man lieh das Pferd dem und jenem der Kameraden: guten Reitern, die ein Roß schätzen konnten. Mit einem Wort: Man war zufrieden. Leutnant Trotta wußte nur nicht, daß sein Gang unsicher wurde, seine Bluse Flecken hatte, seine Hose keine Bügelfalte, daß an seinen Hemden Knöpfe fehlten, seine Hautfarbe gelb am Abend und aschgrau am Morgen war und sein Blick ohne Ziel. Er spielte nicht – das allein beruhigte den Major Zoglauer. Es gab im Leben eines jeden Menschen Zeiten, in denen er trinken mußte. Macht nichts, es ging vorüber! – Der Schnaps war billig. Die meisten gingen nur an den Schulden zugrunde. Der Trotta machte seinen Dienst nicht nachlässiger als die andern. Er machte keinen Skandal wie mancher andere. Er wurde im Gegenteil immer sanfter, je mehr er trank. Einmal wird er heiraten und nüchtern werden! dachte der Major. Er ist ein Günstling oberster Stellen. Er wird eine schnelle Karriere machen. Er wird in den Generalstab kommen, wenn er nur will.

Herr von Trotta setzte sich vorsichtig an den Rand des Sofas neben seinen Sohn und suchte nach einem passenden Wort. Er war nicht gewohnt, zu Betrunkenen zu sprechen. »Du sollst dich« – sagte er nach längerer Überlegung – »denn doch vor dem Schnaps in acht nehmen! Ich zum Beispiel, ich habe nie über den Durst getrunken.« Der Leutnant machte eine ungeheure Anstrengung, um aus seiner respektlosen, kauernden Stellung in eine sitzende zu gelangen. Seine Mühe war vergeblich. Er betrachtete den Alten, jetzt war es Gott sei Dank nur einer, der sich mit dem schmalen Sitzrand begnügen und mit den Händen auf den Knien stützen mußte, und fragte: »Was hast du eben gesagt, Papa?« »Du sollst dich vor dem Schnaps in acht nehmen!« wiederholte der Bezirkshauptmann. »Wozu?« fragte der Leutnant. »Was fragst du?« sagte Herr von Trotta, ein wenig getröstet, weil ihm sein Sohn wenigstens klar genug erschien, das Gesagte zu begreifen. »Der Schnaps wird dich zu Grund richten, erinnerst dich an den Moser?« »Der Moser, der Moser«, sagte Carl Joseph. »Freilich! Er hat aber ganz recht! Ich erinnere mich an ihn. Er hat das Bild von Großvater gemalt!« »Du hast es vergessen?« sagte Herr von Trotta ganz leise. »Ich hab' ihn nicht vergessen«, antwortete der Leutnant, »an das Bild hab' ich immer gedacht. Ich bin nicht stark genug für dieses Bild. Die Toten! Ich kann die Toten nicht vergessen! Vater, ich kann gar nichts vergessen! Vater!«

Herr von Trotta saß ratlos neben seinem Sohn, er verstand nicht genau, was Carl Joseph sagte, aber er ahnte auch, daß nicht die Trunkenheit allein aus dem Jungen sprach. Er fühlte, daß es um Hilfe aus dem Leutnant rief, und er konnte nicht helfen! Er war an die Grenze gekommen, um selbst ein bißchen Hilfe zu finden. Denn er war ganz allein in dieser Welt! Und auch diese Welt ging unter! Jacques lag unter der Erde, man war allein, man wollte den Sohn noch einmal sehn, und der Sohn war ebenfalls allein und vielleicht, weil er jünger war, dem Untergang der Welt näher. Wie einfach hat die Welt immer ausgesehn! dachte der Bezirkshauptmann. Für jede Lage gab es eine bestimmte Haltung. Wenn der Sohn zu den Ferien kam, prüfte man ihn. Als er Leutnant wurde, beglückwünschte man ihn. Wenn er seine gehorsamen Briefe schrieb, in denen sowenig stand, erwiderte man mit ein paar gemessenen Zeilen. Wie aber sollte man sich benehmen, wenn der Sohn betrunken war? wenn er »Vater« rief? wenn es aus ihm »Vater!« rief?

Er sah Chojnicki eintreten und stand heftiger auf, als es seine Art war. »Es ist ein Telegramm für Sie gekommen!« sagte Chojnicki. »Der Hoteldiener hat's gebracht.« Es war ein Diensttelegramm. Es berief Herrn von Trotta wieder nach Hause. »Man ruft Sie leider schon zurück!« sagte Chojnicki. »Es wird mit den Sokoln zusammenhängen.« »Ja, das ist es wahrscheinlich«, sagte Herr von Trotta. »Es wird Unruhen geben!« Er wußte jetzt, daß er zu schwach war, etwas gegen Unruhen zu unternehmen. Er war sehr müde. Ein paar Jahre blieben noch bis zur Pensionierung! Aber in diesem Augenblick hatte er den schnellen Einfall, sich bald pensionieren zu lassen. Er konnte sich um Carl Joseph kümmern; eine passende Aufgabe für einen alten Vater.

Chojnicki sagte: »Es ist nicht leicht, wenn man die Hände gebunden hat, wie in dieser verflixten Monarchie, etwas gegen Unruhen zu unternehmen. Lassen Sie nur ein paar Rädelsführer verhaften, und die Freimaurer, die Abgeordneten, die Volksführer, die Zeitungen fallen über Sie her, und alle werden wieder freigelassen. Lassen Sie den Sokolverein auflösen – und Sie bekommen eine Rüge von der Statthalterei. Autonomie! Ja, wartet nur! Hier, in meinem Bezirk, endet jede Unruhe mit Schießen. Ja, solange ich hier lebe, bin ich Regierungskandidat und werde gewählt. Dieses Land ist glücklicherweise weit genug entfernt von allen modernen Ideen, die sie in ihren dreckigen Redaktionen aushecken!«

Er trat zu Carl Joseph und sagte mit der Betonung und der Sachkenntnis eines Mannes, der an den Umgang mit Betrunkenen gewohnt ist: »Ihr Herr Papa muß abreisen!« Carl Joseph verstand auch sofort. Er konnte sich sogar erheben. Mit verglasten Blicken suchte er den Vater. »Es tut mir leid, Vater!«

»Ich habe einigermaßen Sorge um ihn!« sagte der Bezirkshauptmann zu Chojnicki.

»Mit Recht!« antwortete Chojnicki. »Er muß aus dieser Gegend weg. Wenn er Urlaub hat, werde ich versuchen, ihm ein wenig von der Welt zu zeigen. Er wird dann keine Lust mehr haben zurückzukommen. Vielleicht verliebt er sich auch –«

»Ich verlieb' mich nicht«, sagte Carl Joseph sehr langsam.

Sie fuhren ins Hotel zurück.

Es fiel während des ganzen Weges nur ein Wort, ein einziges Wort: »Vater!« sagte Carl Joseph und gar nichts mehr.

Der Bezirkshauptmann erwachte am nächsten Tag sehr spät, man hörte schon die Trompeten des heimkehrenden Bataillons. In zwei Stunden ging der Zug. Carl Joseph kam. Schon knallte unten das Peitschensignal Chojnickis. Der Bezirkshauptmann aß am Tisch der Jägeroffiziere im Bahnhofsrestaurant.

Seit der Abreise aus seinem Bezirk W. war eine ungeheuer lange Zeit verstrichen. Er erinnerte sich mühsam, daß er erst vor zwei Tagen in den Zug gestiegen war. Er saß, außer dem Grafen Chojnicki der einzige Zivilist, am langen, hufeisenförmigen Tisch der bunten Offiziere, dunkel und hager, unter dem Wandbildnis Franz Josephs des Ersten, dem bekannten, allseits verbreiteten Porträt des Allerhöchsten Kriegsherrn im blütenweißen Feldmarschallsrock mit blutroter Schärpe. Just unter des Kaisers weißem Backenbart und fast parallel zu ihm ragten einen halben Meter tiefer die schwarzen, leicht angesilberten Flügel des Trottaschen Backenbartes. Die jüngsten Offiziere, die an den Enden des Hufeisens untergebracht waren, konnten die Ähnlichkeit zwischen Seiner Apostolischen Majestät und deren Diener sehn. Auch der Leutnant Trotta konnte von seinem Platz aus das Angesicht des Kaisers mit dem seines Vaters vergleichen. Und ein paar Sekunden lang schien es dem Leutnant, daß oben an der Wand das Porträt seines gealterten Vaters hänge und unten am Tisch lebendig und ein wenig verjüngt der Kaiser in Zivil sitze. Und fern und fremd wurden ihm sein Kaiser wie sein Vater.

Der Bezirkshauptmann schickte indessen einen hoffnungslosen, prüfenden Blick rings um den Tisch, über die flaumigen und fast bartlosen Gesichter der jungen Offiziere und die schnurrbärtigen der älteren. Neben ihm saß Major Zoglauer. Ach, mit ihm hätte Herr von Trotta noch gerne ein besorgtes Wort über Carl Joseph gewechselt! Es war keine Zeit mehr. Draußen vor dem Fenster rangierte man schon den Zug.

Ganz verzagt war der Herr Bezirkshauptmann. Von allen Seiten trank man auf sein Wohl, seine glückliche Reise und das gute Gelingen seiner beruflichen Aufgaben. Er lächelte nach allen Seiten hin, erhob sich, stieß da und dort an, und sein Kopf war schwer von Sorgen und sein Herz bedrängt von düsteren Ahnungen. War doch schon eine ungeheuer lange Zeit verstrichen seit seiner Abreise aus seinem Bezirk W.! Ja, der Bezirkshauptmann war heiter und übermütig in eine abenteuerliche Gegend und zu seinem vertrauten Sohn gefahren. Nun kehrte er zurück, einsam, von einem einsamen Sohn und von dieser Grenze, wo der Untergang der Welt bereits so deutlich zu sehen war, wie man ein Gewitter sieht am Rande einer Stadt, deren Straßen noch ahnungslos und glückselig unter blauem Himmel liegen. Schon läutete die fröhliche Glocke des Portiers. Schon pfiff die Lokomotive. Schon schlug der nasse Dampf des Zuges in grauen, feinen Perlen an die Fenster des Speisesaals. Schon war die Mahlzeit beendet, und alle erhoben sich. Das »ganze Bataillon« begleitete Herrn von Trotta auf den Perron. Herr von Trotta hatte den Wunsch, noch etwas Besonderes zu sagen, aber es fiel ihm gar nichts Passendes ein. Er schickte noch einen zärtlichen Blick zu seinem Sohn. Gleich darauf aber hatte er Angst, man würde diesen Blick bemerken, und er senkte die Augen. Er drückte dem Major Zoglauer die Hand. Er dankte Chojnicki. Er lüftete den würdigen, grauen Halbzylinder, den er auf Reisen zu tragen pflegte. Er hielt den Hut in der Linken und schlug die Rechte um den Rücken Carl Josephs. Er küßte den Sohn auf die Wangen. Und obwohl er sagen wollte: Mach mir keinen Kummer! Ich liebe dich, mein Sohn!, sagte er lediglich: »Halt dich gut!« – Denn die Trottas waren schüchterne Menschen.

Schon stieg er ein, der Bezirkshauptmann. Schon stand er am Fenster. Seine Hand im dunkelgrauen Glacéhandschuh lag am offenen Fenster. Sein kahler Schädel glänzte. Noch einmal suchte sein bekümmertes Auge das Angesicht Carl Josephs. »Wenn Sie nächstens wiederkommen, Herr Bezirkshauptmann«, sagte der allzeit gutgelaunte Hauptmann Wagner, »finden Sie schon ein kleines Monte Carlo vor!« »Wieso?« fragte der Bezirkshauptmann. »Hier wird ein Spielsaal gegründet!« erwiderte Wagner. Und ehe noch Herr von Trotta seinen Sohn heranrufen konnte, um ihn vor dem angekündigten »Monte Carlo« herzlichst zu warnen, pfiff die Lokomotive, die Puffer schlugen dröhnend aneinander, und der Zug glitt davon. Der Bezirkshauptmann winkte mit dem grauen Handschuh. Und alle Offiziere salutierten. Carl Joseph rührte sich nicht.

Er ging auf dem Rückweg neben dem Hauptmann Wagner. »Ein famoser Spielsaal wird's!« sagte der Hauptmann. »Ein wirklicher Spielsaal! Ach Gott! Wie lange hab' ich schon kein Roulette gesehn! Weißt, wie sie rollt, das hab' ich so gern und dieses Geräusch! Ich freu' mich außerordentlich!«

Es war nicht nur der Hauptmann Wagner, der die Eröffnung des neuen Spielsaals erwartete. Alle warteten. Seit Jahren wartete die Grenzgarnison auf den Spielsaal, den Kapturak eröffnen sollte. Eine Woche nach der Abreise des Bezirkshauptmanns kam Kapturak. Und wahrscheinlich hätte er ein weit größeres Aufsehen erregt, wenn nicht gleichzeitig mit ihm, dank einem merkwürdigen Zufall, jene Dame gekommen wäre, der sich die Aufmerksamkeit aller Menschen zuwandte.


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