Joseph Roth
Panoptikum
Joseph Roth

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Der Koch in der Küche

Von ungewöhnlicher Bedeutung, aber den meisten unbekannt, ja unsichtbar lebt in der Unterwelt des Hotels der Koch. Den größten Teil des Tages sitzt er in der Mitte der großen Küche, in einem Pavillon mit gläsernen Wänden, in einem Häuschen also, das ganz ein Fenster ist, von allen Seiten sichtbar, nach allen Seiten sehend. Aus drei Elementen besteht die Unterwelt des Hotels: aus Glas, aus Kacheln und aus weißem, silbrigem, mattem Metall. Das vierte, flüssige Element, nämlich Wasser, rieselt unaufhörlich, still, melodisch, in ewiger Wachheit und dennoch einschläfernd über die weißen Kachelwände, ein zarter, glitzernder Schleier, in bräutlich-hygienischer Unschuld, kostbar, verschwenderisch und an manchen Stellen, auf die das Licht fällt, regenbogenfarbig.

Acht erwachsene Köche und vier halbwüchsige Kochjungen stehen und wandeln, schneeweiß angezogen, schneeweiße Matrosenmützen auf den Köpfen, lange, hölzerne Löffel in den Händen, zwischen acht metallenen Kesseln, aus denen in unregelmäßigen Zeitabständen ein silbriger Rauch aufsteigt und in deren Unterleibern ein rötliches, unwirkliches, theatralisches Feuer glimmt. Eine unendliche, weiße Stille, vergleichbar etwa der Stille weiter russischer Schneefelder, entweht den Kacheln, dem Metall, dem Glas und den Köchen, deren Bewegungen unhörbar sind, als wären sie weiße Schatten, und deren Schritte wahrscheinlich vom Geräusch des rieselnden Wassers verschlungen werden. Dieses, das einzige Geräusch im Raum, unterbricht nicht etwa die Stille, sondern begleitet sie, scheint die hörbar gewordene absolute Melodie des Schweigens selbst zu sein, der Gesang der Stummheit. Sehr selten nur entschlüpft dem Ventil eines Kessels ein unterdrücktes Zischen, das sofort erstirbt, beschämt und erschrocken und in der Stille bald vergessen, wie etwa der halbe Schrei eines Raben in der weißen, winterlichen, lautlosen Weite.

So wie diese Küche könnte der Maschinenraum eines modernen Gespensterschiffes aussehen. Der Koch könnte der Kapitän sein. Die Köche Matrosen. Die Gehilfen Schiffsjungen. Das Ziel unbekannt und übrigens unerreichbar.

Aber so traumhaft auch die Stille ist, so wirklich, so taghell, so lebendig, so festlicher, fröhlicher, stofflicher, greifbarer Optimismus ist der Koch. Es genügt, einen Blick auf ihn zu werfen, um jede Vorstellung von düsteren Sagen zu verlieren und sie einzutauschen gegen heitere Erinnerungen an Märchen von Schlaraffenländern zum Beispiel, an satte und bunte Illustrationen auf Glanzpapier in Kinderbüchern. Das ist der Schöpfer der gebratenen und dennoch fliegenden Tauben. Sein weißer, randloser Zylinder aus gesteifter Leinwand, der gleichzeitig an einen Turban erinnert, an eine Schlafmütze und an das Unterfutter einer Königskrone, hebt und verstärkt das bräunliche Rot seiner Wangen, das metallen schimmernde Schwarz seiner dichten, buschigen Brauen und das goldene Braun seiner kleinen und flinken Augen, die wie im Spiel über weichen und bequemen Wülsten hin und her eilen, die Köche beaufsichtigen, die Kessel kontrollieren, die Bewegungen der langen Löffel verfolgen. Die weiße Mütze berührt in schiefem Übermut sein rechtes, rotes, blutdurchpulstes Ohr, das seinen eigenen gesunden Optimismus zu manifestieren scheint. Die roten Lippen lächeln unermüdlich. Das weiche, breite Kinn lagert eingebettet in einem bequemen Doppelkinn. Die breiten Nüstern atmen die Gerüche der Speisen und die Nuancen dieser Gerüche. Und unter der weißen Schürze wölbt sich sanft und gütig ein Bauch, in dem ein zweites, ein besonderes Herz eingebaut sein dürfte.

Das nenn' ich einen Koch! Er kommt aus den Träumen meiner Kindheit und in Wirklichkeit – wie ich es schon einmal angedeutet habe – aus der Tschechoslowakei. Von den vier Völkern, die diesen Staat bewohnen: den Tschechen, den Deutschen, den Slowaken und den Juden, vereinigt er alle positiven traditionellen Eigenschaften: er ist fleißig wie ein Tscheche, gründlich wie ein Deutscher, phantasievoll wie ein Slowake und schlau wie ein Jude. Diese glückliche Mischung ergibt einen zufriedenen, wohlwollenden, mit dem Schicksal wie mit den Menschen einträchtig lebenden Mann, der sogar imstande ist, jahrzehntelang eine harmonische Einehe zu führen. Absurd geradezu wäre etwa die Vorstellung, daß dieser Mann in Zorn geraten könnte! Wo sollte der Zorn Platz finden in dem mit Ruhe, Behaglichkeit und großartiger Gleichgültigkeit ausgefüllten Innern? Und was müßte sich ereignen, um diesen Menschen auch nur aus seinem Gleichgewicht zu bringen? Auf dem kleinen Tischchen, an dem er gewöhnlich sitzt, ein großes aufgeschlagenes Diarium vor sich, in das er gelegentlich eine kurze Notiz hin einschreibt, befindet sich auch ein Telephon, das in mancher Stunde zwanzigmal klingelt. Und immer wieder hebt der Koch das Hörrohr mit der gleichen Gelassenheit ab, er hebt es noch im Klingeln ab, legt es sorgfältig auf den Tisch, läßt es noch eine Weile schnarren, und erst dann, wenn es ganz still geworden ist, führt er es mit einem halben nachlässigen Arm – nicht zum Ohr, sondern nur in die Gegend des Ohres. Es sieht aus, als bändigte er zuerst ein ungebärdiges, lärmendes Wesen, ehe er geruht, sich damit zu befassen. Er spricht nicht wie alle Welt gerade in die Muschel hinein, sondern nur so in ihrer Nähe herum, und er hebt auch nicht um die kleinste Tönung seine Stimme, viel eher senkt er sie noch, und es sind dann lauter samtene Wörtchen, die er zum Telephon sagt. Jede Viertelstunde kommt einer von den vier Kochjungen in den gläsernen Pavillon, eine winzige Speiseprobe, einem der Kessel entnommen, auf einer winzigen Schale. Manchmal begnügt sich der Koch damit, auf das Pröbchen einen seiner hurtigen, goldenen Blicke zu werfen (als hätte sein Auge Geschmacksnerven) und die Speise durch ein sanftes Kopfnicken zu approbieren. Sehr oft aber führt der Koch die Schale an die Lippen, leckt flüchtig an ihr mit der Zunge und schickt den Jungen mit einem leisen Wort zurück. Weshalb er hier nur blickt und dort auch kostet, ist ein ewiges Geheimnis. Ich stelle mir vor, daß er die Launen der Kessel genau kennt und die Fähigkeiten der Küche, aber auch, daß seine Zunge Schaden leiden könnte, wenn er sie allzu oft kontrollieren ließe. Es ist eine kostbare Zungenspitze, sie hat die Erfahrungen eines ganzen ungeheuerlich verwöhnten Gaumens und außerdem die Fähigkeit, den Magen zu sättigen. Denn der Koch ißt den ganzen Tag gar nichts, sondern erst am späten Abend, ohne eine Spur Hunger zu fühlen. Er speist nie in der Küche. Er legt nur seine weiße Schale ab, eine geräumige, weiße Schale – und schon steht er da im schwarzen Anzug. Er nimmt seine Mütze vom Kopf – und er hat dichtes und leicht gekräuseltes Haar, eine weiße, glatte Stirn. Über einer Hemdbrust aus Popeline sitzt, den Kragen verhüllend, ein kleiner Schmetterling aus grauer, schwarzgetupfter Seide. Seine zarten und koketten Flügel mildern den Ernst der ganzen Erscheinung und geben dem Wesen des Kochs etwas Unternehmungslustiges, Wagemutiges und Jungenhaftes. So geht er in den Speisesaal. Ein Tisch in der Ecke neben der Säule ist für ihn reserviert. Er wird lautlos und glatt bedient, er braucht nicht einmal zu bestellen. Die Küche weiß genau, was sie ihrem Gebieter zu entsenden hat. Er bekommt sehr winzige Portionen, die preziös wie Edelsteine auf dem Teller liegen. Große Stücke Fleisch würden den Koch beleidigen. Er ißt leicht und frei und braucht niemals die Serviette zum Mund zu führen. Nach dem Kaffee trinkt er noch einen Cognac. Der Kellner zeigt ihm die Flasche, ehe er einschenkt. Es kommt vor, daß der Koch die Flasche wortlos dem Kellner aus der Hand nimmt und sie stehen läßt. So winzig auch die Gläschen sein mögen, er trinkt immer nur in kleinen Tropfen. Dann erhebt er sich, leicht und frei, nicht wie einer, der lange gesessen und getrunken hat, sondern als wäre er am Morgen am Waldesrand gesessen und ginge nun fröhlich der aufsteigenden Sonne entgegen. Aus einer schmalen Zigarette bläst er blaue, duftende Wölkchen ...

Er geht nach Hause. Er hat ein angenehmes Haus, drei Kinder, eine junge, hübsche Frau, deren Porträt in der Schublade des Tisches im gläsernen Pavillon liegt, neben dem zugeklappten Diarium. Er zeigte sie mir einmal. Gewiß zieht er das Porträt sonst niemals aus der Lade, und nur, wenn er sie auf- und zuschiebt, wirft er einen Blick hinein, eine flüchtige Liebkosung. Er hat nie eine andere Frau geliebt, und er ist auch nicht gesonnen, sich jemals einer überraschenden Leidenschaft auszuliefern. (Sein Gehalt ist größer als das des Direktors.) Er hat schon vor dem Kriege in allen großen Städten der Welt gearbeitet. Immer zwischen weißen Kacheln, Glas, Wasser und silbrigem Metall. Er ging in den Krieg, im Jahre 1914, getrost, ohne Patriotismus und auch ohne Furcht, denn er wußte, daß seine seltene Begabung auf die Offiziere eines Generalstabs nicht ohne Wirkung bleiben werde. Vier Jahre lang saß er zwanzig Kilometer hinter der Front, in idyllischen Dörfern, an warmen Kesseln und Herden, vor guten und reichen Vorräten. Von dieser schönen Zeit erzählt er manchmal. Er vergißt niemals hinzuzufügen: »Die Herren von meinem Stab haben besser gegessen, als sie gekämpft haben.« Es ist das einzige Aperçu, das ihm jemals eingefallen ist, es reicht ihm bis ans Ende seiner Tage, und es ist als ein Lob, nicht als ein Tadel gemeint. Ich fragte ihn einmal, ob er schon sein neues, restauriertes Vaterland besucht habe. »Nein«, sagte er, »es ist nicht nötig. Ich zahle hier Steuern!« Ich fragte ihn ferner, ob er die Absicht habe, seinen Buben Koch werden zu lassen. »Vielleicht!« erwiderte der Koch, »vielleicht hat er genug Begabung!« Aber es war ein Zweifel in seiner sanften Stimme. Vielleicht glaubt er auch, wie viele, daß die Söhne genialer Männer wenig taugen. –


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