Joseph Roth
Panoptikum
Joseph Roth

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Der alte Kellner

Dieser Kellner ist so alt, daß man ihn im ganzen Hause nur »den Alten« ruft, die Angestellten wie die Gäste von ihm als »dem Alten« sprechen und daß er selbst wahrscheinlich sich nur gelegentlich erinnert, wie sein Name lautet, den er seit so vielen Jahren nicht mehr brauchte. Ja, es ist so, als hätte er gar keinen mehr, weil er, ähnlich einer mythologischen Halbgottheit, in die Kategorie der Wesen eingegangen ist, deren Namen gar keine Rolle spielt, weil sie ein bestimmtes Phänomen repräsentieren. Dieser Kellner repräsentiert in diesem Hotel das Alter – und erst in zweiter Linie das Kellnertum. Er war mehr als vierzig Jahre Kellner, nun ist er schon mehr als zehn Jahre »alt«. Und der Frack, den er jeden Nachmittag anzieht, ist bereits aus einem beruflichen Gewand ein symbolisches geworden – und sieht man den Kellner im Frack, so ist es, als wäre dieses Kleidungsstück eine passende Uniform des Greisenalters überhaupt.

Ich muß erwähnen, daß diesem Alten die gewohnten Zeichen des Greises vollkommen fehlen. Er ist glattrasiert, sein Schädel ist ganz kahl, und selbst seine Augenbrauen sind dank einer merkwürdigen Laune der Natur hellblond geblieben. Das ehrwürdige Silber des Alters scheint er abgelehnt zu haben. Oder er ist bereits so alt, daß er auch die Periode des weißen Haares hinter sich hat und daß er auf dem Wege ist, zu versteinern, eine Art menschliches Mineral zu werden, vielleicht zurückzukehren zu dem Ur-Ur-Anfang der Welt, der Regungslosigkeit des sogenannten Unorganischen. Wenn man ihn manchmal eine Stunde lang an einer der dicken Säulen in der Hotelhalle lehnen sieht, eine kleine, erloschene Tonpfeife im linken Mundwinkel, die Unterlippe vorgeschoben, die etwas hängenden Wangen vom wächsernen, schimmernden Rot bestimmter Tiroler Äpfel, die kleinen Augen aus glänzendem, tiefem Kobalt-Blau blicklos in unbekannte Welten gerichtet, die steife Hemdbrust von einem reinen, fast unirdischen Weiß-Lack, das tiefe Schwarz des tadellos passenden Fracks ohne Stäubchen und ohne Falte, in den blitzenden Schuhen die unveränderlichen Reflexe der Lampen und Lichter – so könnte man glauben, der Kellner wäre ein Standbild, ein Hausgott des Hotels und des Fremdenverkehrs, und man könnte ohne eine kleine Verbeugung keineswegs an ihm vorbeigehn. Auf einmal aber – und gerade, wenn man es am wenigsten erwartet, setzt er sich in Bewegung – und dieser Anblick ist so unwahrscheinlich, daß man auch der Säule nicht mehr traut, daß sie stehenbleiben wird. Wohin geht der Alte? – Ins Restaurant. Er geht nur von den Knien abwärts, seine Füße machen winzige Schritte, wenn ihm jemand in den Weg kommt, bleibt er stehen, irgendein Mechanismus stockt, und man glaubt gehört zu haben, wie ein Rädchen, unter den Frackschößen verborgen, plötzlich stehengeblieben ist. Dann rührt es sich wieder. Eine Viertelstunde später ist der Alte im Restaurant.

Er setzt sich, obwohl man es nicht immer sofort erkennen kann, niemals ohne eine Absicht in Bewegung. Es sind Gäste gekommen, die er schon vor zwanzig oder dreißig Jahren bedient hat und die er kommen sah, während er an der Säule lehnte und seine Augen auf irgendein Jenseits gerichtet zu sein schienen. Seine Aufmerksamkeit ist noch die alte, nur seine Gliedmaßen sind langsamer geworden. Genauso beobachtete er die Ankunft der Menschen schon vor vierzig Jahren. Nur lief er damals schneller, im Nu stand er vor ihnen, rannte er zur Küche, kam er wieder zurück. Ganz unmerklich, aber unaufhaltsam wurden im Laufe der Jahre und Jahrzehnte seine Füße schwächer, seine Hände zittriger, seine Bewegungen langsamer – unmerklich wie der Weg des Stundenzeigers auf den Uhren ist, aber ebenso sicher wie dieser, war der Weg der Schwäche und des Alters im Körper des Kellners. Jeden Tag wurde sein Lauf ein winziges bißchen schwerer – bis es endlich nach vierzig Jahren ein schleppender Gang war.

Nun steht er vor seinen Stammgästen, verbeugen kann er sich immer noch. Ein anderer, ein junger und flinker Kellner kommt an die Seite des Alten, den Block in der Hand, um »aufzunehmen«. Es ist, als sprächen die Stammgäste eine Sprache, die dem jungen Kellner nicht verständlich sein kann, eine Sprache einer verschwundenen Generation, einer verschwundenen Welt vielleicht. Denn der Alte wiederholt dem Jungen wortwörtlich alles, was ihm die Gäste gesagt haben – aber es sieht aus, als übersetzte er. Es ist, als würden die bestellten Speisen erst von dem alten Kellner zu eßbaren Speisen ernannt, zu Gerichten erhoben, zu Leckerbissen geadelt. Würde der Junge sie direkt aufnehmen, sie wären vielleicht ungenießbar. Obwohl die Gäste leise sprechen (der Tisch, an dem sie sitzen, eine Stille in den von Tellergeklapper, Gesprächen, Gläserklang erfüllten Raum ausströmt), hört der Alte genau, was sie sagen – der Junge könnte es wahrscheinlich nicht. Denn jener hat die Gabe der Ahnungen; er errät, was seine Stammgäste wollen – und im übrigen kann er unter Umständen ihre Bestellung auch verändern – wenn er mag. Denn es kann vorkommen, daß sie ein Gericht bestellen, dessen Qualität der Alte an diesem Tage nicht verantworten will. Dann tut er so, als wäre ein anderes bestellt worden. Und deshalb warten die Gäste, bis er sich ihnen so langsam genähert hat. Es besteht eine uralte Beziehung zwischen ihnen und ihm, sie und er stammen aus einer ganz bestimmten Zeit, wie man aus einer Heimat stammt, sie und er sind gewissermaßen Patrioten jener Zeit, die wichtiger und teurer sein kann als ein Vaterland, weil die Zeiten schnell verschwinden und die Vaterländer gewöhnlich bleiben, weil man diese wechseln und verlieren kann und jene uns festhalten. Die Gäste und der Alte: sie sprechen alle die Muttersprache ihrer vergangenen Epoche. Deshalb verstehen sie einander, deshalb warten sie aufeinander.

Es kommt manchmal vor, daß eine uralte Dame, mit dem kalten, abweisenden Blick, der die Folge eines langen, reichen und sorgenlosen Lebens ist, mit einem Stock, auf den sie sich stützt, in einem ernsten Abendkleid aus dunkelgrauer Seide, ein leuchtendes Perlenkollier (auf das die Erben schon warten) um den vielgefalteten Hals – daß diese furchtsam oder ehrfürchtig behandelte Frau geradewegs auf den alten Kellner zugeht und ihm die Hand reicht, ohne ihm ein Wort zu sagen. Dann verneigt er sich tief und lächelt ein wenig. Die alte und allem Anschein nach nicht gutherzige Dame und der Kellner kennen einander schon seit Jahrzehnten – und gewiß hat sie ihm nicht immer die Hand geboten. Als sie beide noch jung waren, standen die unerbittlichen Unterschiede des Standes zwischen ihnen. Nun, da sie alt geworden sind, fängt schon langsam die Annäherung an, die schließlich in der Gleichheit des Todes münden wird. Schon bereiten sich beide auf das Grab vor, auf die gleiche Erde, den gleichen Staub, die gleichen Würmer – und vielleicht, wenn ein so langes Leben nicht wieder ungläubig macht – auf dasselbe Jenseits.

Eine Stunde nach Mitternacht besteigt der Alte den Fahrstuhl – den für Gäste – und läßt sich in den höchsten Stock hinauffahren. Dort bewohnt er ein kleines Zimmer, ein Ehrenzimmer. Er hat nie eine Frau gehabt, keine Kinder, keine Geschwister. Er war immer allein, ein Kellner in diesem Hotel, ein Kind dieses Hotels. Nichts mehr als ein Kellner. Seit zehn Jahren wohnt er in diesem Zimmer. Er wollte sich nicht pensionieren lassen. Er konnte nicht mehr in der Nacht auf die Straße und in seine Wohnung. Also blieb er im Hotel, wie eine alte Wanduhr. Eines Tages wird er in seinem Ehrenzimmer sterben. Kein Zweifel. Seine Leiche wird man durch den rückwärtigen Ausgang des Hotels tragen und in ein schwarzes Auto verladen, in dem es keine Fenster geben wird. Denn durch den Haupteingang eines Hotels kann unmöglich eine Leiche getragen werden. –


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