Joseph Roth
Panoptikum
Joseph Roth

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Der Kongreß

Der Morgen versprach nichts Böses. Gegen acht Uhr begann das gewöhnliche Lied des nachbarlichen Kanarienvogels, gegen halb neun Uhr der lamentierende Gesang der Straßenhändler und Ausrufer, der das Aufstehen erleichtert und auch an kalten Tagen die Vorstellung von der Ankunft des Frühlings erzeugt. Dann wurde es still. Der Tag schöpfte Atem, eh' er begann. Eine kurze Viertelstunde war es wieder so still wie in der Nacht zwischen drei und vier, wenn die Laternen erlöschen und die Automobile vergessen sind, als wären sie niemals erfunden worden. In allen Zimmern begannen diskrete Wasserleitungen zu summen, und in der Zentralheizung klirrte es hell und auch ein wenig geheimnisvoll (die einzige Minute im Tag, in der man sich vorstellen könnte, daß Geister einheizen). Ein Tag sollte beginnen, ein gesunder, normaler Tag mit einem schwarzen Kaffee in weißer Schale auf einem dunkelbraunen Tablett, mit blanken Schuhen vor der Tür, mit einem weißen Brief im Postfach und einem leisen Geruch von Menthol und Mundwasser, den erst die warmen Strahlen der Mittagssonne auflösen.

Auf einmal, es mochte gegen halb zehn Uhr sein, begann der Kongreß. Seine Mitglieder stürzten frisch von der Eisenbahn ins Haus, als hätten sie vom Bahnhof hierher kaum einen Schritt gehabt, als wäre in ihren Körpern die Triebkraft der Lokomotive geblieben, als hielten sie aus einer Gewohnheit, die zwölf Stunden alt sein mochte, das stehende Haus für einen beweglichen Zug, den man versäumen könnte. Die Ankunft der Kongreßteilnehmer war hastig wie eine Abfahrt. Sie stürzten sich in die Zimmer wie in Kupees. Der Vormittag erschien ihnen, da sie schon so lange wach gewesen waren, alt wie ein Nachmittag. Sie überhörten die Stille dieser Stunde. Sie waren zahlreich, aber sie hatten das Bedürfnis, noch zahlreicher zu sein. Es war ihnen unmöglich, einander zu verlassen, als ob der nächtliche Aufenthalt in einem gemeinsam benützten Waggon sie für alle Ewigkeit zusammengetan hätte. Sie hielten die Türen der Zimmer offen, um einander nicht aus den Augen zu verlieren. Jeden Augenblick verließ einer von ihnen sein Zimmer, weil er die Einsamkeit nicht ertrug. Sie hatten ein bestimmtes Programm. Um elf Uhr sollten sie schon vor einem Hauptportal 5 versammelt sein, durch das man wahrscheinlich direkt in den Kongreß gelangte. Aber obwohl sie sich eilten, verloren sie die kostbarsten Minuten. Immer wieder ging einer zum andern, der zweite begab sich zum dritten, vier gingen zusammen in den Korridor, während in den leeren und offenen Zimmern die Kleider wartend über den Stühlen hingen und das Wasser nutzlos in die Muscheln rann und der Schaum der Rasierseife langsam verdunstete. Die Kongreßteilnehmer standen mit baumelnden Hosenträgern, lachenden Augen, unaufhaltsam arbeitenden Zungen, mit offenen Hemden und aufgekrempelten Ärmeln im Korridor. Und fand sich ein Gewissenhafter unter ihnen, der ihnen den Rücken wandte, so hielt man ihn zurück, denn auch nicht einen einzigen konnte man entbehren.

Das dauerte so lange, bis aus einem der oberen Stockwerke eine unerwartet helle, geschliffene Frauenstimme den Befehl gab – und es war wie der Schnitt eines Rasiermessers: »Um halb elf alle in der Halle versammelt!« Die Kongreßteilnehmer gingen auseinander. Sie verschwanden in ihren Zimmern. Aber sie unterhielten sich weiter, indem sie an die Wände klopften wie Gefangene. Wenn zwei die Verbindung hergestellt hatten, so erklang unweigerlich die Frage: »Willy, willst du etwas Kölnisch Wasser, um dich zu erfrischen?« Oder: »Brauchst du die Bürste für den Rock?« Und an diesen harmlosen Fragen war nichts so empörend wie die Überflüssigkeit der Nebensätze und die ausdrückliche Betonung des Nutzens, den man vom Kölnischen Wasser und einer Bürste erwartete. Es war, als könnten die Kongreßteilnehmer keinen Gegenstand nennen, ohne seinen Zweck zu erklären, und als wären sie sonst, in ihrem gewöhnlichen Leben zu Hause unaufhörlich nicht mit den Gegenständen beschäftigt, sondern mit den Ideen der Gegenstände. Als existierten Bürsten, Wasser, Seife, Nagelfeilen als abstrakte Vorstellungen, die vielleicht den Inhalt der Kongresse ausmachten, und als wäre jetzt Gefahr, ein Kongreßteilnehmer könnte glauben, man böte ihm Kölnisch Wasser nicht zur Erfrischung an, sondern zu einer Dissertation.

Schließlich begannen sie, die Stiegen hinunterzugleiten, um sich laut Befehl in der Halle zu versammeln. Es waren lauter junger Leute, Lehrer in der Blüte ihrer Jugend und Studenten mit der höchsten Zahl von Semestern. Sie hatten eine derbe Gesundheit, aber keine ländliche, die ihnen wohlgetan hätte, sondern eine, die man an den Rändern der Städte findet, wo der Asphalt in Schotter überzugehen beginnt. Es war eine gewisse Unbekümmertheit der Stadtgrenzen, die man auf Fahrrädern erreicht, eine Frische, die man einmal wöchentlich durch Ausflüge in Gemeinschaft mit Gesinnungsgenossen erhält und durch eine entfernte Verwandtschaft mit Förstern und Bauern, zu denen man keine menschliche Beziehung mehr findet. Es war der Übergang von Land zu Stadt. Joppen und Rucksäcke wären stilvoll gewesen. Aber diese braven Leute hielten sich für vollendete Großstädter, und sie trugen infolgedessen Mäntel mit Gürteltaille und, um anzudeuten, daß sie sich auf Reisen befinden, dunkelblaue Baskenmützen, deren Randlosigkeit mageren Gesichtern von scharfem Schnitt günstiger ist als vollen Wangen. Die Frauen, die zuletzt kamen, wurden mit lärmenden Schmeicheleien empfangen. Man schrie ihnen entgegen, daß sie sich »schön gemacht hätten«, ein Kompliment, das eigentlich verriet, daß sie nicht schön von Natur waren. Es waren fünf Damen. Und auf Verabredung trugen sie alle Hüte von gleichen Formen, aber verschiedenen Farben, und sie erinnerten so weniger an Kongreß- als an Turnierteilnehmerinnen ...

Alle verließen zusammen das Hotel, überschritten in einem Knäuel den Fahrdamm und verwickelten sich auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig. Als der Autobus kam, konnten sie sich nicht auseinanderknüpfen, man hätte sie zerhauen müssen. Sie entschlossen sich, zu Fuß weiterzugehn. Statt sich in der Ferne zu verlieren, schwollen sie zu einer immer kompakteren Masse an. Aus andern Hotels, die in derselben Straße lagen, strömte ihnen Verstärkung zu. Schließlich war der ganze Kongreß unterwegs.

Sie kamen am Nachmittag zurück, entkleideten sich zum Schlummer, konnten sich aber wieder nicht trennen und standen gähnend im Korridor. Ich hatte inzwischen in der Zeitung gelesen, daß dieser Kongreß von einiger Wichtigkeit sei, für die Verständigung der Völker und überhaupt. Ich überlegte sogar, ob es nicht angemessen wäre, diesen Kongreß zu besuchen. Er scheint wirklich wichtig zu sein. Es ist gewissenlos, über einen Kongreß zu berichten, ohne dem Leser mitzuteilen, worum es sich eigentlich handelt. Aber schließlich begann der Kongreß in dem Maße an mir teilzunehmen, daß ich keine Kraft mehr fand, mich zu revanchieren. Ich kann nur hoffen, daß er befriedigende Resultate zeitigen wird.


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