Peter Rosegger
Die Schriften des Waldschulmeisters
Peter Rosegger

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Waldlilie im See

Maria Himmelfahrt 1835

Jählings ist was Unvorhergesehenes gekommen.

Vor mehreren Tagen erhalte ich ein Schreiben von meinem einstigen Schüler, unserm jetzigen Herrn.

Hermann schreibt mir, daß er jene Kräuter, die ich ihm von einem Holzer gesandt, richtig verwendet habe und seither eine Linderung in seinem kränklichen Zustande empfinde. Dieser Umstand habe ihn auf den Gedanken gebracht, das Gebirge, welches er bisher ohnehin noch nicht kenne, zu besuchen und in der milden Frühherbstzeit einige Tage daselbst zuzubringen. Er beabsichtige, ganz allein zu reisen, denn die Menschen, namentlich die Städter, seien ihm unsäglich zuwider; das sei wohl eine Eigenheit seines abgespannten Zustandes, aber er könne sich derselben nicht entschlagen. An der Welt habe er sich krank genossen; in der Ursprünglichkeit der Alpen, in ihren Wildnissen wolle er Heilung suchen. – Er erinnere sich noch an mich, seinen ehemaligen Lehrer; er erinnere sich auch meiner Verdienste um die Winkelwäldler, und er bitte mich nun, ihm im Gebirge ein Führer zu sein und mich an dem bestimmten Tage in der Ortschaft Grabenegg einzufinden.

Grabenegg, eine gute Tagereise von hier entfernt, ist keine Ortschaft; es sind nur einige Steinschlagerhütten, die an der Zillerstraße stehen und von einem dort auslaufenden Berggraben den Namen haben.

Ich habe mich denn an dem bestimmten Tag in Grabenegg eingefunden, habe dort den Waldherrn erwartet, der in einem gemieteten Wagen auch richtig angekommen. Dann bin ich mit ihm weiter gegen das Hochgebirge gefahren.

Der Herr hat mich völlig erschreckt; ich habe ihn schier nicht mehr erkannt, aber er hat mich auf den ersten Blick als den Andreas begrüßt. Sein Gruß ist höflich gewesen, und der arme Mann ist lebenssatt.

Bis zum ersten Felsentore führt der Fahrweg. Hier hat der Herr das Fuhrwerk zurückgeschickt, und wir sind auf rauhen Steigen, wie sie das Hochwild getreten, in die Wildnis hineingegangen, auf deren Höhen die Eisfelder liegen. Der Herr ist vorangeschritten, fast finster und trotzig, zuweilen mit der Begier des Jägers, der dem Hirsch auf der Fährte ist. Ich habe nicht gewußt, wohin und was der Mann will; er auch nicht. Ich habe gewaltige Angst gehabt, daß wir für die Nacht kein Obdach finden könnten, habe dem Herrn dieses Bedenken mitgeteilt, er hat darüber eine Lache geschlagen und ist weitergestürmt.

Da ist mir jählings der Gedanke beigefallen: Andreas, du wanderst mit einem Irren! – Wäre der graue Zahn vor mir niedergestürzt, so sehr hätte mein Herz nicht erschrecken können wie vor diesem Gedanken.

Ich habe gefleht und gewarnt, ich habe ihn nicht zu halten vermocht; nur an Hängen ist er stehengeblieben, hat einen Blick in den Abgrund getan, um sofort wieder weiterzueilen. Alle Glieder haben ihm gezittert, große Tropfen sind ihm auf der Stirne gestanden, als er in der Abenddämmerung an einer Felsenquelle zusammengebrochen ist.

Ich habe in derselben Stunde meinem lieben Gott alles, alles versprochen, wenn er uns ein Obdach finden ließe. Er hat mich erhört. Unweit der Quelle habe ich in der Kluft zweier Wände eine Klause entdeckt, wie solche gerne von Gemsjägern aufgerichtet und zum Schutze benützt werden.

Und unter diesem Dache, mitten in den Schauern der Wildnis, ist ein Feuer angemacht und dem Freiherrn aus Moos und Strauchwerk eine Ruhestätte bereitet worden.

Wir verzehren, was wir bei uns haben, und trinken Wasser. Als das Mahl vorüber ist, lehnt sich der Herr aufatmend an die Mooswand und haucht: »Das ist gut! Das ist gut!«

Und nach einer Weile richtet er sein Auge auf mich und sagt: »Freund, ich danke Ihnen, daß Sie bei mir sind. Ich bin krank. Aber hier werde ich genesen. Das ist ja das Wasser, von dem der angeschossene Hirsch trinkt? Ich hab' es toll getrieben, toll! Ist kein Spielzeug, der Mensch. Schließlich bin ich zum Glücke den Ärzten entkommen. Ich mag in keinem Metallsarg liegen, er riecht nach Prunk, nach erkünstelten Tränen, pfui!«

Zu meinem Troste ist er bald eingeschlummert. Ich habe die ganze Nacht gewacht und auf Mittel gesonnen, den armen, kranken Mann unter Menschen zu bringen. Wir sind weit ab; wollen wir nach Winkelsteg, so müssen wir über das Gebirge.

Am andern Morgen, als ich bereits ein neues Feuer angemacht habe und als schon die Sonnenstrahlen durch die Fugen blicken, erwacht der Mann, übersieht anfangs wie staunend seine Lage und sagt: »Guten Morgen, Andreas!«

Hierauf hebt er sogleich an, sich reisefertig zu machen.

»Ich will auf den hohen Berg steigen, den sie den grauen Zahn heißen«, sagte er, »ich will diese Welt einmal von oben ansehen. Begleiten Sie mich und machen Sie, daß wir noch einen oder zwei Männer mitbekommen. Haben Sie keine Sorge meinetwegen. Gestern ist ein böser Tag gewesen. Wie gehetzt bin ich durch die wüsten Gegenden gezogen, ohne Ziel. Mir selber hätte ich entrinnen mögen, wie ich denen da draußen entronnen bin. Der ganze Jammer meines Elends war über mich gekommen. Aber diese Luft heilt mich – oh, diese reine heilige Luft!«

Als wir aus der Klause treten, müssen wir die flachen Hände über die Augen halten. Es ist ein mächtiges Leuchten. Die Äste des Tanns allein verschleiern noch das Licht, in den Schatten des Geflechtbodens zittern Tautropfen. Viele davon trinken schon von den glühenden Quellen der durch das Geäste rieselnden Sonne. Auf den Wipfeln jauchzen die Vogelscharen. Eichhörnchen hüpfen herum und lugen nach Morgenbrot und Gespielen.

Da lächelt Hermann.

Wir schreiten weiter. Wie lichtes Nebelgrau schimmert es uns zwischen den Stämmen entgegen. Ein fast lauer Lufthauch zieht. Da lichtet sich jählings der Wald, und jeder Baum am Rande streckt seine Arme aus – weist, lautlos vor Ehrfurcht, ein wunderbares Bild.

Ein stiller See liegt da, weit hingedehnt, blau, grün, schwarz – wer kennt die Farbe? An den Ufern der Morgenseite erhebt sich über graues Gestein der dunkle Bergwald, mild umschleiert von den Lichtfäden der Sonne. An dem gegenüberliegenden Strande baut sich eine ungeheure Felswand, hinter der sich Höhen und Höhen, Hänge und Hänge schichten, bis hinan zu den höchsten Riffen und Zinnen und Zacken am Saume des blauen Himmels. Mannigfaltig und herrlich über alle Beschreibung zieht sich das Hochgebirge hin in einem Halbrund. Hier unten noch Lehnen, Rasen und samtgrüne Filze der Wacholdersträucher. Dann die milchweißen Fäden der niederstürzenden Wasserfälle, deren Tosen, von keinem Ohr vernommen, in den Räumen der Lüfte verhallt. Dann die Geröllfelder, die Schuttriesen, jedes Steinchen klar gezeichnet in der reinen Luft; dann Klüfte mit Schatten, mit Schrunden, mit Schnee; dann verwitterte Felsgestalten, wild und hochragend, dämonenhaft in ihrer Ungeheuerlichkeit und ewigen Ruhe.

Ein Steinadler schwingt sich im Blau; jetzt wie ein schwarzer Punkt, jetzt wie ein silbernes Blättchen umkreist er eine Felsenspitze. Und in den hintersten Höhen aufgerichtet, sanft lehnend, lichte Gletscher und rötlich leuchtende Tafeln der Wände, in welchen der Griffel der Zeit stetig meißelt, um einzugraben in den Bau der Alpen die ewige Geschichte und die ehernen Gesetze der Natur ...

Ich sehe es noch, sehe alles noch vor meinen Augen – es ist der See im Gesenke mit dem Bergstocke des grauen Zahn.

Ich habe Ähnliches schon geschaut, und dennoch hat mich die Herrlichkeit fast erschreckt. Der Freiherr aber steht da wie ein Stein. Seine Augen haben sich verloren in dem unendlichen Bilde; seine Lippen saugen bebend die Seeluft ein.

Danach sind wir hinabgestiegen zu den Ufern des Sees. Hier plätschert das Wasser an den stumpfkantigen Steinen.

»Der See kann auch wild sein«, hat hier der Herr bemerkt, »sehen Sie, wie weit den Hang hinan die Steine glattgeschwemmt sind?«

Aus diesen Worten habe ich ersehen, daß Hermann ein verständiges Auge für die Natur besitzt. – Freilich, freilich kann dieser See ein wüster Geselle werden, so mild und lieblich er heute ruht. – – – Und jetzt kommt jählings das Wundersame. Dort unten, wo das Gebüsche der Wilderlen in den See taucht – dort guckt ein Menschenhaupt aus dem Wasser hervor! Es hebt sich das Haupt, und von den braunen, langen Locken und von dem blühenden Antlitz rieseln die Tropfen der Flut. Hals und Nacken sind ein wenig sonnengebräunt, aber die sanft gebauten, wiegenden Achseln schimmern durch das Wasser wie schneeweißer Marmor. Ein junges, schönes Weib, eine Wasserjungfrau! Weiß Gott, ein Dichter könnt' einer werden! So was Schönes! – Und es hat sich noch mehr zugetragen.

Der Waldherr ist kurzsichtiger als ich und hat sich dem Bilde genähert; in demselben Augenblick ist die Gestalt untergesunken, und nur die Erlen haben gefächelt über dem Wasser, und sonst haben wir nichts mehr gesehen.

Hermann starrt mich an. Ich starre in den See. Der wirft im Lufthauche leicht wuppende Reifen, ist hier spiegelglatt, dort zitternd. Und das Haupt taucht nicht mehr hervor.

Minuten vergehen. Ich spähe mit Herzklopfen nach dem badenden Wesen, wer weiß, ob es schwimmen kann? Mir fährt es durch den Kopf: Wie, wenn sich das Mädchen aus Schamgefühl im Wasser vergräbt?

Nach einer Weile der Angst und Not habe ich das atemlose Kind aus den Wellen hervorgezogen. – Mit der wenigen Erfahrung, die uns zu Gebote steht, haben wir sein Leben wieder erweckt, sein siebzehnjähriges Leben. Und siehe, das wildscheue Wesen! Kaum erwacht und von unseren Händen bekleidet, hat ihm die Angst Kraft geliehen, ist es aufgesprungen und hingeflohen am Waldhange.

Der Herr hält sich den Kopf mit beiden Händen. »Andreas!« ruft er, »mein Übel kehrt wieder; ich habe Erscheinungen, eine Fee habe ich gesehen!«

»Das ist keine Fee«, gebe ich ihm zur Antwort, »das ist die Tochter jenes Holzers, der dem gnädigen Herrn die Kräuter geschickt hat.«

Die Waldlilie ist es gewesen.
 

Einige Tage später   

Heute ist der Herr mit dem Schimmel des Grassteigers davongefahren.

Aus der Besteigung des Zahns ist nichts geworden. Als uns am See die Waldlilie entschwunden gewesen, hat Hermann gesagt: »Mein Schicksal ist gekommen; ich steige nicht auf den Berg. Führen Sie mich in Ihr Winkelsteg, Andreas.«

Und in Winkelsteg ist er drei Tage verblieben, hat unsere Einrichtungen betrachtet und zum Teile belobt, hat viel von unserem Wasser getrunken. Die Leute haben es nicht glauben wollen, daß das der Waldherr sei; ein Weiblein hat gemeint, der Waldherr müsse einen goldenen Rock tragen, und dieser Mann hat einen aus braunem Tuche. Sein Gesicht ist wie mit Asche bestreut, aber unter der Asche merke ich Funken. Vor wenigen Tagen habe ich gesagt, er sei lebenssatt; heute meine ich schier, er sei lebenshungrig. Es ist recht seltsam. Gestern hat er den Berthold zu sich gerufen, daß er ihm das Heilkraut bezahle.

Der alte Rotbart ist längst im Ruhestand, so ist der Berthold Förster in den Winkelwäldern geworden und wohnt nun mit den Seinen im Winkelhüterhause. In wenigen Tagen wird die kirchliche Trauung des Försters mit dem Weibe Aga still vollzogen werden. So hat es der Herr angeordnet. Zu tausendmal freut es mich: Hermann hat eine kerngesunde Seele; ein Kranker kann so rasch und sicher nicht handeln. Aber ein absonderlicher Mensch ist er doch. Ehe er davonfährt, kommt er zu mir in das Schulhaus, zieht mich zu sich auf eine Bank nieder und sagt: »Schulmeister! Sie hat ihr Magdtum höher gehalten als ihr Leben; hätte ich denn geglaubt, daß es ein solches Weib gibt auf Erden? Sie, Erdmann, haben voreinst die Welt von unten herauf kennengelernt. Ich habe die Welt von oben hinab durchschaut. Wir sind ihrer beide satt. Mir ist nichts Außerordentliches widerfahren, Erdmann, ich habe nur gelebt – bis an die Grenzen des Wahnsinns. Ich gehöre auch herein in diesen Wald – Andreas – ich gehöre auch herein! Aber ich muß wieder zu meinem alten Vater. Gott bewahre, daß ich sie mit mir nehme! Glückselig, daß sie die Welt nicht kennt! Ihnen vertrau' ich sie, Schulmeister. Hat sie das Bedürfnis, einiges zu lernen, so lehren Sie sie; hat sie das Bedürfnis nicht, so ehren und bewachen Sie sie wie eine wilde Lilie im Wald. – Und bewahren Sie das Geheimnis, Schulmeister. Wenn ich genesen kann, so werde ich wiederum kommen.«

Und nachdem er mit seinen mächtigen Worten die großen Änderungen vollzogen hat, ist er mit dem Knecht und dem Schimmel des Grassteigers gegen Holdenschlag gefahren.
 

Andere hat das Leben, wie es unser junger Herr geführt, zugrunde gerichtet; ihn hat es zum Sonderling gemacht. Sein tief angelegtes Wesen ist zwar erschüttert, aber nicht gestürzt worden.

An demselben Tage, als des Morgens Hermann von hier abgereist ist, sind drei Steckbriefe angekommen. – Der junge, gnädige Herr von Schrankenheim, seit längerer Zeit schon an Schwermut leidend, sei in Verlust geraten. Aller Wahrscheinlichkeit nach sei er in das Gebirge gezogen, denn er habe sich mit Kleidern versehen, wie sie Bergreisende tragen. – Und nun sind die Kleider, ist mein ganzer lieber Zögling Hermann beschrieben gewesen, so genau wie ein entsprungener Sträfling.

Gut, er wird ja zurückkehren. Er hat seine Waldbesitzungen bereist, was weiter?

Sollt' er denn just in der Weise der Reichen reisen? Sollte ein Schrankenheim denn niemals aus seinen Schranken treten dürfen?

Das ist einmal ein Herr für Winkelsteg, Gott sei Dank!

Und mir ist Heil widerfahren, ist ja doch der Berthold und seine Familie gerettet. Ich habe die Leute so schwer auf meinem Gewissen getragen.

Die unklaren Worte unseres Waldherrn, die er mir bei seinem Abschiede gesagt, sind zum Teil klar geworden. Die Waldlilie besucht das Schulhaus, und wir üben uns im Lesen und Schreiben und allem, was daranhängt, soweit ich selber Bescheid weiß. Sie ist gar fleißig und gelehrig, kann selbständig denken und wird von Tag zu Tag noch schöner.

Fürs erste ist sie in ihren Namen hineingewachsen und hat etwas von einer Lilie an sich; so schlank und weiß und mild, und doch verspürt man auf ihren runden Wangen den Kuß der Sonne. Fürs zweite ist ihr von den Rehen jener Winternacht was geblieben, die anmutige Behendigkeit und das Auge ...

Du, Andreas! Siehst du jeden deiner Schüler so genau an?

Ja, sie gefällt aber allen.

Sie gefällt den Armen, denen sie beizustehen weiß. Manchen Traurigen hat sie schon getröstet durch ihre warmherzigen Worte; manchen Verzagten hat sie erheitert durch ihren liebholden Gesang. Und es ist zu herzig: alle Kinder von Winkelsteg kennen die Waldlilie und hängen ihr an. Tät' nur der Pfarrer noch leben, der hat an solchen Leuten seine Freude gehabt.

Und ritterlich ist das Mädchen; trutz wilder Tiere und böser Leute steigt sie im Gebirge umher, um Früchte und Pflanzen zu sammeln. Es steht ja geschrieben auf ihrer Stirne: »Machtlos ist vor dir alles Böse!«

Letztlich bringt sie mir eine blaue Enziane mit hochroten Streifen, wie solche nur drüben im Gesenke wachsen.

»Bist du wieder am See gewesen, Lilie?« frage ich. Da wird sie rot wie die Enzianstreifen und läuft davon.

Etwan hat sie es gar nicht gewußt, daß ich einer jener Männer bin, von denen sie in ihrem Wildbade überrascht worden, vor denen sie sich in ihrer Not in die Tiefe des Sees geflüchtet, und von denen sie der eine ans trockene Land gezogen?

Der Vorfall muß ihr wie ein Traumbild sein, er möge nie mehr erwähnt werden.

Aber von dem Waldherrn, der ihre Familie aus Not und Armut gezogen, spricht sie mit Freude und Begeisterung.
 

Zur Auswärtszeit 1835   

Es hat sich erfüllt. Die Anzeichen sind in der Luft gelegen seit jenem Tage im Vorsommer, an welchem Hermann, wie neu erwacht zum gesunden Manne, in Winkelsteg wieder angekommen ist und als sein erstes mich nach der Waldlilie gefragt hat.

Er findet keinen Gefallen mehr an den lauten, schwelgenden Kreisen, von so vielen die »Welt« genannt, aber nichts weniger als die Welt bedeutend. Den Wendepunkt hat er überstanden. Er ist eingetreten in das gereifte Leben, in welchem man nach der Schönheit der Schöpfung und nach dem inneren Werte des Menschen fragt. – Die Waldlilie ist eine wundersam schöne Jungfrau geworden, und meine Mühe um die Ausbildung ihrer Seelenanlagen ist herrlich belohnt.

So hat es sich erfüllt. Der Schrankenheimer hat seine Schranken durchbrochen. Vor zwei Tagen, am Feste der Himmelfahrt des Herrn, ist in unserer Kirche der Waldherr mit der Waldlilie getraut worden.

Hermann hat drüben am See im Gesenke ein Sommerhaus bauen lassen wollen, um mit seiner Gattin alljährlich einige Frühherbstwochen daselbst zu wohnen. Aber die Waldlilie hat ihn gebeten, das zu unterlassen. Sie liebe jene Gegend, aber sie könne den See nicht besuchen.

Sie haben uns verlassen und sind davongezogen in die schöne Stadt Salzburg.
 

Im Winter 1842   

In Einöde und Einförmigkeit vergehen die Jahre; warum nennt mich niemand den Einspanig?

Die junge Frau hat sich seither doch besonnen, am See im Gesenke steht das Sommerhaus. Da geht es in den Wochen des Frühherbstes gar lebendig zu, und die Bergwände bewachen das Familienglück unseres Herrn.

Der Förster, Vater Berthold, mit seinem Weib wohnt jahraus, jahrein in dem Hause am See, und die Geschwister der Frau von Schrankenheim dürfen auf ein besseres Los hoffen als jenes, von dem ihnen an der Wiege ist gesungen worden.

Der alte Herr von Schrankenheim hat noch zwei Enkel gesehen, ehe er zu Salzburg im Winter des Jahres 1840 verstorben ist.

Winkelsteg hat durch das Haus im Gesenke nichts gewonnen. Dorthin ist eine gute Straße gebaut worden, von dort aus werden die Wälder bewacht und die Arbeiten geleitet. Dorthin kommen die Besuche fremder Herrschaften, dort werden die großen Jagden angestellt. Das Haus in dem voreh so öden und verrufenen Gesenke ist das Herrenhaus; und Winkelsteg bleibt die arme Bauern- und Holzschlägergemeinde, und die Zustände zu Winkelsteg werden nicht besser, und der Schulmeister zu Winkelsteg...

Laß das gut sein, Schulmeister.

Vor einiger Zeit habe ich mir aus vielen Papierbogen ein Schreibebuch zusammengeheftet und es zum Schutz mit Deckeln aus weißem Lindenholze versehen. In demselben führe ich nun ein heimliches Leben, von dem niemand was weißDieses Schreibebuch ist in den Schriften nicht vorgefunden worden (Der Herausgeber).

l. August 1843   

Heute nacht ist dem Reiterbauer in den Karwässern ein Knäblein geboren worden. Sie haben es zur Taufe gebracht. Da der Pfarrer auf einige Tage verreist und das Kind schwächlich ist, so habe ich ihm die Nottaufe gegeben. Auf den Wunsch des Vaters bin ich gleich auch der Pate gewesen. Die drei lieben Herrgottsgroschen, meine Erbschaft von der Muhme, vormaleinst auch mein Patengeschenk, jetzund soll sie der kleine Peter haben.
 

Im Sommer 1847   

Als ich in den Wald gekommen bin, habe ich die Menschen zerstreut, verkommen, ungezählt gefunden. Heute sehe ich ein neues Geschlecht.

Um die Kirche steht ein Dorf. Um das Dorf stehen Apfel- und Birnbäume und tragen Früchte; in allen Winkeln ist versucht worden, aus Wildlingen Edelbäume zu ziehen; großenteils ist es gelungen.

Zum Sonntag kommen schmucke Menschen aus allen Gräben. Die Männer tragen in ihrer Eigenart schwarze Knielederhosen und grüne Strümpfe; die Weiber bauschige Samtspenzer und wunderspaßhafte Drahthauben mit Vergoldung und Bänderwerk. Das ist keine Kleidung mehr, wie sie im Walde wächst. Sonst haben sie die Leinwand von ihren Flachsäckern, den Loden von ihren Schafen, das Schuhleder von ihren Rindern, die Felle und Pelze von ihrem Wildstande getragen; heute streichen Hausierer in den Winkelwäldern um, schleppen wertvolle Rohstoffe fort und lassen Prunk und Flitter dafür da. Zum Probieren, »aus Spaß« haben die Leute anfangs die neuen unzweckmäßigen Dinge genommen, heute haben sie sich hineingelebt, und der Spaß ist Ernst geworden.

Die Jungen sind wohl weit vielseitiger als die Alten, aber auch weit anspruchsvoller; auch haben sie mir zu wenig Sinn und Ehrfurcht für das Alte, aus dem sie hervorgegangen sind. Nur den Tabak rauchen sie und den Branntwein trinken sie noch, wie es die Alten haben getan.

Was kann der alte Schulmeister allein machen? Ach, lebte mein Pfarrer noch!
 

Der kleine Reiter Peter, mein Patenkind, ist ein ganz netter Junge; aber es ist ein Unglück mit ihm geschehen, er hat durch einen Fall aus dem Bette die Stimme verloren.

Gerne wollte ich ihm die meine überlassen, für mich hat sie keinen Anwert mehr. Des alten Schulmeisters Stimme ist heiser geworden, da wird nicht auf sie geachtet.
 

Im Frühjahr 1848   

Ich weiß nicht, wie das für mich nun werden wird. Ob es nicht am besten wäre, ich nähme auf einige Wochen Urlaub und ginge davon.

Draußen zieht das Kriegsvolk, in den Städten verrammeln sie die Gassen und die Straßen und reißen die Paläste ein. Eben deswegen kommt sie ja. Die Frau des Feldherrn kommt, Hermanns schöne Schwester, die mich so hat närrisch gemacht.

Im Hause am See ist kein Platz mehr, so flüchtet sie sich mit ihren Kindern zu uns.

Das Winkelhüterhaus wird für sie eingerichtet. Wie danke ich Gott, daß unser Winkelsteg ihr eine Zuflucht bieten kann in dieser Zeit!

Ich will denn doch nicht weggehen. Will bleiben und sehr stark sein und mich nicht verraten. Ich will ihr einmal recht ins Auge schauen, ehe ich sterbe.

Ich sehe es wohl, Gott meint es gut mit mir. Ihr Auge wird die dunkelnden Waldberge lichten, ihr Atemhauch wird die Alpenluft mildern und weihen. Und zieht sie auch wieder davon, Winkelsteg, wo sie geweilt, wird meine Heimat sein.

Vor den Eingang des Hauses bauen wir einen schönen, hohen Bogen aus Tanngezweige, und wir bekränzen den Altar in der Kirche.

Alles wird fein bereitet, aber kein Mensch denkt daran, daß die Steine aus dem Wege geschafft werden müssen. Solche Frauen haben zartere Füße als unsereiner im Gebirge.

Jetzund klaube ich schon einen Tag und zwei Nächte an den Steinen des Weges. Die Leute laß ich lachen, und es ist nur gut, daß der Mond scheint.
 

Einige Tage später   

Jetzt sind sie da. Sie und die zwei Kinder und die Dienerschaft. Da hätte ich freilich die Steine nicht wegzuräumen gebraucht; sie sind mit Roß und Wagen gekommen.

Bei der Ankunft sind schier alle Winkelsteger auf dem Platze versammelt gewesen. Der Pfarrer hat eine Begrüßung gehalten; ich habe mich in das Schulhaus verkrochen. Aber ich bin im Herzen erschrocken; just vor meinem Fenster sind sie ausgestiegen, und da hab' ich gemeint, sie wollten zu mir herein.

Ich habe sie sehr gut gesehen; sie ist ja noch jünger geworden. Kaum aus dem Wagen gehoben, läuft sie einem Falter nach. Das ist aber ihre jüngste Tochter gewesen. Sie selber... Bei meiner Treu, ich hätt' sie nicht mehr erkannt.

Sie hat alte Spiegel mit goldenen Rahmen, aber so treu ist keiner, daß er, wie mein Herz, ihr herrliches Bild so bewahrt hätte bis auf den heutigen Tag.

Das Bild ist jetzt verloschen und meine Jugend wie Nebel zergangen.
 

Brachmonat 1848   

Gestern bin ich den ganzen Tag im Gebirge herumgestiegen, bin gar auf dem Zahn gewesen. Unterwegs hab' ich mich zehnmal gefragt: Warum steigst du hinauf, du altes Kind? – Oben wird die Antwort sein, hab' ich gedacht. Ich habe die Alpenkrone gesehen, ich habe in die blauende Tiefe des Gesenkes geblickt, wo an der schwarzen Tafel des Sees das Herrenhaus liegt, ich habe gegen Mittag hin mein Aug' angestrengt, mein schon recht schwaches Aug', aber – es ist gar umsonst. Sooft ich hinauf mag klettern, das Meer hab' ich noch immer und immer nicht geschaut.

Man soll es sehen können, heißt es, aber an einem klaren Wintertag. – Jetzund hab' ich sonst nichts mehr zu wünschen, so will ich das eine noch.

Bei meinem Herabsteigen habe ich, einen Strauß von Alpenrosen, Edelweiß, Kohlröslein, Speik, Arnika und anderen Blumen und Pflanzen gesammelt, hab' ihn vornehm auf meinen Hut gesteckt, wie ein tollverliebter Bursch. Für wen trägst du den Buschen heim? – Ich? Für Weib und Kind. – Hei, du verrückter Alter, du!

Aber, wenn ich weg von ihr bin, wie da oben auf der Alm, so sehe ich doch wieder, daß sie hold ist. – Einen Alpenblumenstrauß wird sie von mir nehmen, ich will ja recht artig und nicht zudringlich sein. – Hätt' ich nur eine einzige Ader von dem alten Rüpel, wie wollt' ich ein Lied hersagen, das sich zum Strauß tät' schicken! – So meine Gedanken; es ist schrecklich, wie ich noch übermütig bin.

Wie ich herabkomme zur Lauterhöhe, wo der Schirmtanner ein Kreuz hat setzen lassen und wo heute auf dem Waldanger des Holzmeisters Rinder grasen und lustig dabei schellen, setz' ich mich zur Rast unter einen Baum. Ich gucke auf einen arg verwüsteten Ameisenhaufen hin. Nur wenige der Tiere kriechen ratlos über die Trümmerstätte ihres Fleißes.

Ich merke es, ein Ameisengräber ist dagewesen, hat den herrlich eingerichteten Staat zerstört und beraubt. Mit den geraubten Eiern füttert er gefangene Vögel, die frei sein sollten im Himmelslichte, die aber in der Gefangenschaft schmachten ihr Lebtag lang, weil sie das Unglück haben, die Lieblinge der Menschen zu sein. Es ist die Sage, daß über den Grabhügel eines Ameisengräbers keine Ameise geht.

Aus dergleichen Gedanken weckt mich ein Zupfen an meinem Hut; ich wende mich, um zu sehen, wer mich neckt. – Eine braune Kuh steht da und zerkaut meinen Alpenstrauß.

Bin aufgefahren, hab' das vorwitzige Rind mit meinem Stab wollen züchtigen, da fällt es mir ein: Gutes Tier, etwan machen meine Blumen dir mehr Vergnügen als ihr; so gesegne dir sie Gott! Sie trinkt dafür deine gute Milch.

Als ich zum späten Abend in das Dorf herabkomme, sind ihre Fenster hell erleuchtet.
 

Einen Spaß muß man auch haben.

Einer von den Bedienten der Frau, der Jakob, ist ein Kreuzköpfel. Können tut er alles; er kann musizieren, kann schneidern und schustern und kann zeichnen; gar Komödie spielen kann er. Die Frau muß aber solche Dinge nicht recht leiden mögen, denn der Jakob kommt allerweg zu mir in das Schulhaus her, wenn er seine Künste üben will. Da hab' ich meine Kurzweil und muß oft närrisch lachen.

Ich habe dem Jakob einen Pfeifenkopf geschnitzt, dafür schenkt er mir allfort den besten Tabak. So schnitzen, sagt er, das könne er nicht. Die Höflichkeit hat mir noch kein Mensch gesagt wie der Jakob. Auch macht er mir allerhand Schwanke vor; auf dem Kopf kann er stehen, bauchreden kann er, wahrsagen kann er und Karten aufschlagen. Meiner Tag' hab' ich keinen so geschickten Menschen gesehen. Aber eines habe ich ihn gebeten, in Gegenwart der Schulkinder möge er nicht allzuviel so Künste treiben; 's ist mir lieber.

Letztlich hat mich der Jakob gar gezeichnet. Auf Ehre, ich hab' nicht sitzen wollen, aber er hat mich herumgekriegt, bis ich all meinen Staat um mich getan und dort auf dem Holzblock Platz gefaßt habe. Er hat mich gezeichnet und mit Farben bemalt, daß es eine Herrlichkeit ist. Das rote Halstuch ist gar zum Sprechen getroffen.

Das Bild hat er mir geschenkt. Ich guck' es heimlich an; aber die Schulkinder dürfen mir's nicht sehen!

Will's wohl fleißig verstecken.
 

Hab' gemeint, ich werd' mich recht an ihre Kinder machen. Aber sie sprechen eine welsche Sprache, und die versteh' ich nicht. Der junge Herr ist fortweg bei Pferden und Hunden; das Mädchen möchte sich auf den Wiesen umhertreiben bei den Blumen und Käfern. Aber das wird ihr verwiesen. Sie ist schon völlig zu groß, um glückselig sein zu dürfen.

Dieser Tage ist Hermann – verzeih' mir' Gott, daß ich ihn allfort noch so nenne – vom Gesenke herübergekommen, um seine Schwester zu besuchen. Die Frau hat sich krank gemeldet. Der Jakob sagt, die beiden hätten kein rechtes Zusammensehen. Die Gnädigste erkenne keine Schwägerin an, die nach Tannenpech rieche.

Heute hat die Frau eine Tafel gegeben und dazu den Pfarrer und den Grassteiger eingeladen. Mir ist ein Stück Braten und ein Glas Wein ins Haus geschickt worden. Zum Glück geht ein Bettelmann vorbei, daß mir die Speisen nicht verdorben sind.

So sind heute zwei Bettelmänner abgespeist worden.

Bei der Tafel sei von mir gesprochen worden, sagt der Jakob. Die Frau habe erzählt, ich hätte als armer Student in dem Hause ihres Vaters eine Weile das Gnadenbrot genossen, dann sei ich aus der Schule davongegangen und als Vagabund zurückgekehrt; dann habe mich ihr Vater um Gottes willen in den Wald getan und mir das Brot gegeben.

So weißt du's nun, Andreas Erdmann; aber kein graues Haar desweg, es täte die weißen entstellen.
 

August 1848   

Nun sind sie wieder fort. Jakob hat mir ein schwarzes Beinkleid und einen weißen Handschuh dagelassen.
 

Juli 1852   

Die Grundablösungen sind bewilligt worden. Die meisten Bauern von Winkelsteg sind nun ihre eigenen Herren, 's ist ihnen vom Herzen zu gönnen. Aber ihre Augen sind schlechter geworden; jeder sieht mich nicht, wenn ich des Weges an ihm vorüberkomme.

In diesem Sommer bin ich wieder auf dem Berg gewesen. Hab' schon gemeint, ich sehe es gegen Mittag hin. Ist aber nur ein Nebelstreifen gelegen.

Ich habe mir bei dieser Bergfahrt, ich weiß nicht, durch das grelle Licht der Weiten oder durch einen scharfen Wärmewechsel, wieder das böse Augenleiden zugezogen, das viele Wochen gewährt und mich an meinem Berufe gehindert hat.

Ich denke, den stummen Peter Reiter sollte man ein wenig Musik lehren. Er muß doch was haben, um sein Herz auszulegen. Es ist unglaublich, wie das weh tut, wenn man alles in sich verschließen muß.
 

1853   

Der Peter hat Schick; er spielt schon auf der Zither und auf der Geige. Später muß er mir an die Orgel. Die Winkelsteger werden auch in Zukunft noch ihr Meßlied haben wollen. Ich werde nicht immer sein.

Der Grassteiger oder, wie sie ihn jetzt heißen, der Winkelwirt ist mir gut, und er ist gegen jeden gut; ganz Winkelsteg hat an ihm einen Freund. Aber seine alte Krankheit will sich wiederum melden. Wenn ihn zuweilen etwas erregt, so muß er gar sehr mit sich kämpfen. Ich hab' gesagt, er sollt' wieder anheben mit den Rosenkranzkügelchen; täten aber vielleicht nicht mehr viel helfen; es ist Gefahr vorhanden, daß er ins Trinken kommt. Der ginge zugrund', wenn er nicht eine so brave Frau hätt'. Die Juliana weiß mit ihm umzugehen, ihr zulieb' leidet er den bittersten Durst.
 

Der Branntweiner Schorschl – der Hannes ist schon tot – wirft mir dann und wann die Fenster ein. Er hält mich für seinen größten Feind, weil ich die Kinder vor dem Branntwein warne.

Die Fenster verklebe ich mit Papier. Die Kinder warne ich vor Schädlichem, solang ich lebe.
 

1855   

Der Pfarrer ist uns ausgetauscht worden gegen einen blutjungen. Der Blutjunge sagt, die Seelsorge sei arg vernachlässigt, und will das Krumme auf einmal gerade machen. Er ordnet Betstunden, Buß- und Bittgänge an. Seine Predigten sind scharf wie Lauge. Für manche mag's taugen. Aber – es gibt so viele wunde Herzen.

Seit der neue Pfarrer da ist, bin ich in der Schule schier überflüssig geworden. Er füllt die Stunden mit Glaubensunterricht aus.

Die Kinder haben mehr Fähigkeiten, als ich je erfahren – den ganzen Katechismus kennen sie auswendig.

Der Kaiser und der Papst sollen miteinander ein eigenes Gesetz für das Seligwerden herausgegeben haben, und seit ewigen Zeiten ist zu Winkelsteg nicht so viel vom Teufel gesprochen worden wie jetzt.
 

24. August 1856   

Heute ist öffentliche Schulprüfung gewesen. Der Dechant von der Kreisstadt ist da. In Glaubenssachen ist er sehr zufrieden. Was das übrige anbelangt, hat er den Kopf geschüttelt. Beim Kommen hat er mich artig gegrüßt, beim Fortgehen hat er mich nicht gesehen.

Oft sitze ich eine lange Weil' da oben im Schachen unter den alten Bäumen. Dieser Schachen ist noch übriggeblieben von den großen Wäldern, über deren Gründe sich die Gemeinde breitet, als ein in die Kette der Menschheit eingereihtes Glied.

Ich mag unter dem Schachen sitzen, solange ich will, kein Mensch ruft mich.

Wenn die Toten nur nicht gar so fest schliefen!

Ich bin ein alter Späher. Meine Augen sind krank und müd' und gucken doch zuweilen was aus.

Durch den Bretterzaun habe ich es gesehen, wie der Reiter-Peter das Schirmtannermädchen an der Hand gefaßt und nicht mehr lassen hat wollen. Durch tausend Gebärden hat er ihr was erzählt, das Blut ist ihm in die Wangen gestiegen, aber das Mädchen hat fortweg gesagt: »Nein, Peter, nein.«

Da hat der Junge jählings die Geige bei der Hand und spielt der Rosa ein Stück vor, das ich ihn nicht gelehrt hab'. Wundersam ist es gewesen, wie ich es meiner Tag nimmer hätt' gemeint, daß der Peter spielen könnt'.

Ja, und so lange hat er's getrieben, bis ihm die Rosa ist an den Hals gefallen: »Hör auf, mir tut's zu weh! Peter, ich hab' dich ja gern.«

's ist ein Gescher' mit den jungen Leuten. Hat so ein Bursch keine Stimm' zum Schwätzen, so hebt er seine Liebschaften gar mit der Geige an.
 

Zur Winterszeit 1857   

So ein Tagebuch ist doch ein treuer Freund. Was man ihm auch anvertrauen mag, es vergißt nichts und plaudert nichts aus. Wenn ich diese Schriften durchsehe, so kann ich es gar nicht glauben, daß ich das alles miterlebt und geschrieben habe. Es sind wunderliche Geschichten.

Ich bin doch einmal wer gewesen! Aus einem alten Mann bin ich ein junger geworden; aus einem jungen wieder ein alter, halbblinder, dem bei dem Meßliede schon die Noten tanzen auf dem Blatt.

Die Leut' haben mich beiseite geschoben.

Mein Gott, anderen geht es auch nicht besser. Ich verlang' ja nichts; ich hab' mein Teil getan und bin's zufrieden.
 

1864   

Und seit fünfzig Jahren bin ich nicht mehr aus diesen Wäldern gekommen.

Und die Waldleute entstehen, leben und vergehen dahier und steigen in ihrem ganzen Lebenslauf nicht ein einzigesmal auf den Berg, wo man die Herrlichkeit kann sehen und am hellen Wintertag das Meer.

Das Meer ! Wie wird es da leicht und weit im Herzen! Dort zieht ein Kahn, steht ein Jüngling darin, der winkt –

Heinrich? Was ist das? –

Der Narr! Versitzt seine Lebenszeit im Winkel und hätt' ein Schiffer werden sollen!
 

Heiliger Abend 1864   

Die Laufbahn ist kurz. Vom Winkelhüterhause bis hinab zu der Kirchhofsmauer rutschen sie auf ihren Brettchen und Schlittchen dahin über den gefrorenen Schnee. Und wie sie dabei lärmen und die Sache beeifern! – Ich warte auf den Reiter-Peter, er kommt mit seiner Geige, daß wir zusammen das neue Krippenlied versuchen. Einstweilen gucke ich den lustigen Kindern zu und schreibe.

Pelzhauben haben sie auf, die Kleinen, und eine ganze Weile haben sie zu trippeln und zu schnaufen, bis sie mit ihrem Fahrzeug oben ankommen – und unten sind sie in zehn Augenblicken. Lange Müh' und kurze Freud'!

Der Peter kommt mit der Weihnachtsprobe. »Schlaf süß, schlaf in heiliger Ruh'!« Das Lied soll morgen –


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