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Erster Akt

Wuchtiger Tisch, Nußbaumbett. Nackte Mauern. Durch die dichten Vorhänge der verhängten Scheiben spähen angstvoll aneinander gepreßt ein Dutzend Frauen. Debora Erasmus de Wit ist von ihren Mägden umgeben, eine trägt den kleinen David. Die alte Noëmi sitzt mit dem Rücken gegen das Fenster und hält die Bibel geöffnet auf dem Schoße. Sie sprechen alle leise mit plötzlichen Ausbrüchen, aus denen man ihren Schrecken, ihre Wut, ihre fanatische Überreiztheit fühlt. Draußen spielen Trommeln und Pfeifen einer Militärmusik.

Die Frauen: Sanherib, seht! ... die Heiden, Babylons Rotte! ... hört ihre Teufelsmusik ... Gott hat uns verlassen! Der Herr hat uns preisgegeben!

Debora: Nein! Eure Prüfung ist dies. Der Herr der Heerscharen fährt hin durch unsere Stadt in Donner und Erdbeben. Aber der Feinde Scharen werden zerstäuben wie ein Nachtgesicht.

Eine Frau: Gott hat seine Pfeile gen uns gerichtet. Ich fürchte seinen Zorn.

Die alte Noëmi: »Fürchte dich nicht, Jakob, mein Knecht und schauere nicht Israel, denn ich bin mit dir.« Das Wunder wird geschehen.

Ein Augenblick des Schweigens.

Die Frauen (hinausstarrend): Seht diese Eroberer! Wie Bettler taumeln sie hin, matt und zerfetzt. Kaum halten sie sich noch aufrecht ... Den Gelben dort sieh, feist und zitternd, wie Agag, König von Amalek. Er stützt sich auf sein Gewehr. Das Fieber schüttelt ihn ... Wieder einer, der seine Heimat nicht mehr sehen wird ... Krepier, Hund, die Pest möge dich verzehren!

David: Ich will auch sehen!

Debora (das Kind aus dem Arm der Magd reißend und sein Gesicht an die Scheibe pressend): Sieh sie nur, sieh sie dir an, die deinen Vater gemordet haben! Sag: sie sollen sterben!

David: Sterben!

Die alte Noëmi: »Sie werden von den Würmern zerfressen werden wie ein Kleid und in Fäulnis zerfallen, wie ein alt Linnen.«

Eine Frau: Schon hat sie der Tod am Genick!

Debora: Und vor diesem wandelnden Siechenhaus, vor diesen wankenden Leichen ist unser Volk geflohen? Warum hat man die Stadt aufgegeben, ohne sie zu verteidigen?

Noëmi: Sie sind nicht geflohen. Sie lassen sie nur in den Graben hineintappen. Dann werden sie sie umzingeln. Sie werden Feuer legen an die vier Enden der Stadt und alles wird verbrennen.

David: Und wir?

Debora: Auch wir, wenn es not tut. Hast du Furcht?

David (mit der Faust gegen das Fenster schlagend): Nein! (Man führt ihn vom Fenster fort. Er wehrt sich): Ich will verbrannt werden!

Debora: O, könnte ich sterben, wie Simson unter den Philistern!

Die Frauen: Und ich ... ich auch ... ich auch ...

Trommelgerassel.

Die Frauen: Was tun sie? ... Sie stellen sich im Kreise auf dem Platze auf ... sie holen unsere Fahne nieder! O, sie werden die ihre aufziehen!

Debora: Das darf nicht sein! Gott, tue etwas, daß dies nicht geschehe!

Noëmi (sich erhebend): Das Wunder! Ich fühle es nah ...

Debora: Beten wir: (Alle knieen nieder.) Wir harren deiner, Herr! Meine Seele rufet dich in der Nacht.

Eine Frau: Der Bedrückte wird nicht getäuscht sein in seiner Hoffnung.

Eine andere Frau: Der Herr verletzt, aber er heilet auch!

Debora: Zerschmett're deine Feinde! Tilg sie aus von der Erde! Triff sie!

Sie schweigen zitternd. Einige haben die gefalteten Hände erhoben, andere sich ganz auf den Boden hingestreckt. Debora, die Arme über der Brust gekreuzt, starrt aufrecht vor sich hin, als blicke sie Gott ins Auge.

Inmitten dieser Stille tönt plötzlich von außen das »God save the king«. Alle sehen einander an, die einen verzweifelt, die andern voll Schmerz, das Kind in Erstaunen. Die alte Noëmi zittert. Debora hat die Augen geschlossen. Tränen laufen über ihre Wangen herab.

Eine Frau (nähert sich zaghaft dem Fenster): Sie haben die Flagge gehißt!

Die alte Noëmi (der die Mägde aufhelfen): So ist es für später aufgespart!

Sie stehen alle enttäuscht auf.

Eine Frau: Gott, worauf wartest du?

Debora: Daß wir für ihn kämpfen! (Sie steht auf.)

Eine Magd (erschreckt hereinstürzend) Ihr General! Er ist in unsern Hof eingetreten.

Debora: Ich will ihn nicht sehen!

Noëmi: Führt mich weg!

Sie verschwinden schweigend. Lord Clifford tritt ein, von Doktor Sir Thomas Miles und dem Soldaten Owen gefolgt.

Miles (auf der Schwelle um sich blickend): Niemand!

Clifford: Eben erst schloß sich die Türe. Sie sind vor uns verschwunden.

Miles: Vom Hof aus sah ich noch ihre Schatten hinter dem Fenster. Sie beobachteten uns heimlich.

Clifford: Immer beobachten sie uns heimlich. Auch jetzt hinter ihren Mauern, hinter den Türen. (Er setzt sich nieder. Zu Owen): Bitte Frau Erasmus de Wit zu mir her. Sag ihr, Lord Clifford erbitte die Ehre, sie zu sprechen.

Owen geht ab.

Miles: Nun wären wir endlich in der berühmten Hauptstadt!

Clifford: Eine schöne Hauptstadt! Scheunen und Gehöfte! Kein Mensch in den Straßen, nur bösartige Hunde, magere Hühner, ein paar Juden, die »Hoch England« rufen, um ein Recht zu haben, uns das Fell über die Ohren zu ziehen. Und hinter den Fenstern diese blassen Frauengesichter und ihre haßerfüllten Blicke. Keiner, der Widerstand leistet. Keine Spur von Verteidigung. Ein unfaßbarer Feind, der sich immer weiter zurückzieht ...

Miles: Sie Kampfhahn! Immer träumen Sie von Wunden und Narben! Auch ohne Feinde gibts hier genug zu tun gegen dieses mörderische Klima, gegen diese Entfernungen, die nur zu wachsen scheinen, je mehr man vordringt.

Clifford: Das ist ein Glück. Was wäre, wenn wir nicht einmal das hätten, die Freude an den überwundenen Schwierigkeiten!

Miles: Sie scheinen nicht sehr begeistert über Ihren Sieg?

Clifford: Ich schäme mich, mein Lieber! Solch ungeheure Gewalt, um ein paar Bauern aus ihren Feldern zu jagen! Es ist nicht viel Ehre dort, wo man der Stärkere ist. Vergnügen ist es mir, einen Gegner gleichen Rangs und gleicher Art zu besiegen. Ach, wann wird das vorüber sein?

Miles: Bah, das bleibt ewig so. Wenn die Stärkeren die Schwächeren nicht schlachteten, gäbe es keine Zivilisation.

Clifford: Schon möglich. (Er gähnt.)

Miles : Schauerlich ist dies große leere Haus. Laden wir doch die Kameraden zur Einweihung her. Wollen Sie, daß ich es ihnen sage?

Clifford: Ja, ja. Tun Sie es, Miles. Es wird angenehmer sein.

Miles ab.

Owen (zurückkehrend): Marschall, Madame de Wit wird gleich erscheinen.

Clifford: Was setzt du für ein Gesicht auf, Owen?

Owen: Ach Marschall, draußen in der Küche standen die Frauen alle ringsum gegen die Mauer gedrückt und in der Mitte Madame de Wit mit der alten Mutter. Sie saßen am erloschenen Herd. Keine rührte sich, keine sprach ... sie sahen mich nur an.

Clifford: Machen dir die Frauen jetzt auf einmal Angst, Owen?

Owen: Nicht Angst, aber es ist unbehaglich zu fühlen, wie verhaßt man ist.

Clifford: Hast du dich daran noch nicht gewöhnt?

Owen: Nein, Marschall, daran kann ich mich nicht gewöhnen.

Clifford: Wird schon kommen, mein Junge. Du wirst noch manch anderes sehen.

Owen: Ich verstehe, daß man sich schlägt, wenn man uneins wird. Aber warum sollte man sich nachher verabscheuen ... Glauben die denn, unsereins sei zu seinem Vergnügen da?

Die Türe tut sich auf. Debora erscheint mit ihrem Kind. Sie bleibt unbeweglich stehen.

Clifford (sich ernst ihr vorstellend): Lord Clifford, Feldmarschall Seiner Majestät des Königs. (Er verbeugt sich. Debora rührt sich nicht.) Ich bitte Sie, Madame, die Notwendigkeit zu entschuldigen, die mich zwingt, Quartier bei Ihnen zu nehmen. So peinlich Ihnen mein Anblick sein muß, ich lege doch Gewicht darauf, Sie persönlich des Respekts zu versichern, den ich für die Witwe des Gentlemans hege, der mein ritterlicher Gegner war. Gerade im Hinblick auf ihn habe ich Ihr Haus gewählt, um Ihnen zu zeigen, wie hoch ich die Ehre achte, hier empfangen zu sein und auch, um es vor den Kriegsmöglichkeiten zu schützen. Aber ich will so sehr als möglich das Peinliche meiner Gegenwart verringern. Dieses große Zimmer und den Nachbarraum bestimme ich für meinen Gebrauch und die Bureaus meines Stabs. Alle anderen Räume bleiben zu Ihrer Verfügung.

Debora: Sie verteilen etwas, was Ihnen nicht gehört. Dieses Haus ist mein Eigentum. Die Gewalt macht Sie zu seinem Herrn, aber ein Recht gibt sie Ihnen nicht. Von ihr nehme ich nichts an.

Clifford: Sie irren, ich bitte Sie nicht, von mir zu empfangen, was Ihnen gehört: ich erbitte hier Ihre Gastfreundlichkeit.

Debora: Sie wissen, daß ich nicht die Möglichkeit habe, sie zu verweigern. So sparen Sie mir die Erlaubnis.

Clifford: Madame, selbst wenn ich über alle Macht der Erde verfügte, so löste sie mich dennoch nicht von der Pflicht der Höflichkeit. Ihre Stadt ist in meinem Besitz, aber hier bin ich Ihr Gast.

Debora: Ich verachte das Gerede. Ich sehe nur die Tat. Die hasse ich!

Clifford: Ich fordere nicht von Ihnen, den Menschen in mir und meine Pflicht zu trennen. Mein Stolz erlaubt mir nicht, die Verantwortlichkeit für das zu verleugnen, was ich tue. Ich nehme Ihren Haß also hin. Die Trauer, die Sie tragen, gibt Ihnen Recht genug, mich zu verabscheuen. Ich neige mich vor Ihrem Schmerze mit tiefem Mitgefühl für das Unheil, das ich gegen meinen Wunsch verursachte.

Debora: Was nützt mir Ihr Mitgefühl? Wenn Sie es noch einmal tun müßten, Sie täten es zum zweitenmal.

Clifford: Gewiß! (Seit dem Beginn des Gespräches sieht er aufmerksam den kleinen David an.) Ist dies Ihr Kind? (Debora nickt. Clifford beugt sich zu dem Kinde, das sich verbirgt.) Bleib doch, Kleiner, verkriech dich nicht.

Der kleine David (mit dem Gesicht hinter dem Rock der Mutter hervorschauend): Ich verkrieche mich nicht.

Clifford (ihn aufmerksam ansehend): Er sieht ... er sieht meinem kleinen Jungen so ähnlich.

Debora: Sie haben ein Kind? Gott möge es Ihnen nehmen!

Clifford: Madame!!... (Nach einem kurzen Schweigen): Er hat Sie leider nur allzusehr erhört!

Debora (nach einem Augenblick Schweigen): Entschuldigen Sie ... wie alt war es?

Clifford: Acht Jahre. Und dieser da?

Debora: Sechs.

Clifford: Er ist kräftiger als der meine war.

Debora: Wann haben Sie ihn verloren?

Clifford: Vor drei Wochen.

Debora: Hier? (Clifford nickt.) Seine Mutter lebt noch?

Clifford: Sie starb mit ihm.

Debora (Bewegt die Lippen, sie scheint Mitleid zu fühlen und im Begriff es auszudrücken. Dann faßt sie sich): Gott ist gerecht!

Clifford: Sie sind noch grausamer als wir. (Sie schweigt.) Haben Sie noch andere Söhne?

Debora: Zwei Ältere. Einen Vierzehnjährigen und einen Zwölfjährigen.

Clifford: Wo sind sie?

Debora: Sie stehen im Felde wider Sie.

Der kleine David: Ich werde auch kämpfen.

Clifford: Sie haben noch etwas Glück auf Erden.

Debora: Oder vielleicht noch etwas, was ich zu betrauern haben werde. Ich beklage mich nicht. Ihr Leben und das meine habe ich zum Opfer gestellt. Aber wir werden auch Ihres haben.

Clifford: Wenn Sie uns so verabscheuen, warum sind Sie dann zurückgeblieben? Warum folgten Sie nicht Ihren Männern?

Debora: Wir wären ihnen zur Last gewesen. Wir hätten ihr Brot gegessen. Hier essen wir das Ihre. Jetzt sind wir Ihnen zur Last.

Clifford: Und wenn wir Sie schlecht behandelten?

Debora: Um so besser! Wir werden Sie zwingen, unmenschlich zu sein, und Sie damit ehrlos machen. Verfolgen Sie uns! (Sie geht ab.)

Clifford bleibt, die Blicke starr auf die Tür gerichtet, die sich hinter ihr schließt. Dann zuckt er die Achseln und seufzt. Miles kommt zurück.

Miles: Alles in Ordnung, sie kommen gleich. – Nun, haben Sie die Herrin gesehen? Ist sie wirklich so schön wie man sagt? Hat wohl dramatische Szenen hingelegt ... Was haben Sie?

Clifford: Nichts.

Miles: Frischer, mein Freund! Kein so sorgenvolles Gesicht, Sie wissen, was für einen Einfluß der Gesichtsausdruck des Chefs auf seine Untergebenen hat.

Clifford (trocken): Ich danke Ihnen! Aber ich kenne meine Pflicht.

Miles: Was ist denn geschehen, seit ich Sie verließ?

Clifford: Wissen Sie, Doktor, ich ließ mich niemals von dieser Lüge der Zivilisation narren, die ein Recht zu haben behauptet, die angeblich minderwertigen Völkerrassen ihrer Heimat berauben zu lassen. Aber noch nie hat sich diese Lüge frecher gespreizt als in diesem Feldzug, wo der Gegner eine alte europäische Rasse ist, gleichwertig ihrem Bezwinger oder ihm noch überlegen.

Miles: Überlegen? Sie machen wohl Spaß?

Clifford: Nein, ich spaße nicht. Welche moralische Größe ist in dieser Frau, die ich eben sah. Und wie traurig ist es, sich auszudenken, daß wir Menschen in Verzweiflung treiben, die wir mehr als jeder andere hochschätzen könnten. Gerade sagte Owen hier: »Es gibt Augenblicke, wo man den Haß des Andern nicht zu ertragen vermag.«

Miles: Die Andern, was geht es uns an, was die Andern denken. Nie haben Sie sich früher darum gesorgt: Sie verfolgen Ihr Ziel und taten Recht daran.

Clifford: Ja, ich habe den Krieg geliebt, sogar sehr geliebt, er machte mich glücklich als ich noch jung war. Aber zu unserer Zeit und in unserem Alter, Miles, muß ein denkender Mensch doch fühlen, wie viel Überlebtes im Krieg ist und sich schämen, dabei mitzutun.

Miles (der, während er zu ihm spricht, seine Hand genommen hat und den Puls abtastet): Ja, ja, alles das kenne ich: das ist die Sentimentalität unserer Zeit! Parbleu, natürlich wäre es besser, man lebte Bruder zu Bruder. Aber Sie wissen ja, wie's damit steht. Soviel Menschen, soviel Feinde. Ausrottung ist ein Naturgesetz. Ach, ich lasse mich ebensowenig wie Sie vom Worte Kulturfortschritt narren und liebe nicht die Lügen dieser Bibelfresser, die sich Illusionen darüber machen wollen, was wir hier tun. Aber es ist schon einmal so: wozu darüber diskutieren? Sie wissen das so gut wie ich, lieber Freund; für gewöhnlich sind Sie nicht sentimentaler als ich. Und wenn ein Individuum oder ein Volk Zeichen dieser Sensibilität gibt, so sind das eben Symptome körperlicher oder moralischer Schwächung. Fieber, Schwindsucht, Greisenhaftigkeit, verminderte Lebenskraft. Und um gerade heraus zu reden: Sie sind übermüdet! Das ist alles.

Clifford: Sie haben recht. Ich bin an Leib und Seele erschöpft.

Miles: Diese Enteritis vom letzten Monat hat sich Ihnen bis ins Mark geschlichen. Sie haben jetzt noch Fieber.

Clifford: Ich habe immer Fieber ... seit jenen Dingen....

Miles: Ja, ja, denken Sie nicht daran! Es ist ein schändliches Klima und Sie sind arg angegriffen davon. Ein weniger starker Organismus hätte es nicht durchgehalten. Aber wir haben's fertig gebracht: jetzt handelt es sich nur noch um ein paar Tage.

Clifford: Ich bin verbraucht. Ich habe kein Interesse mehr an dem, was ich tue. Manchmal habe ich Lust abzureisen.

Miles: Abzureisen? Wohin?

Clifford: Nach England.

Miles: Sie denken doch nicht ernstlich daran.

Clifford: Sehr ernstlich sogar.

Miles: Was für ein Wahnsinn! Überlegen Sie doch!

Clifford: Bitte, diskutieren wir nicht darüber. Ich sage ja nicht, daß ich es tun werde, aber sobald ich es wollte, wären Ihre Argumente nutzlos. Ich entscheide mich ganz allein.

Miles: Bitte ... Das hieße also, Sie würden Ihre Demission geben.

Clifford: Vielleicht.

Miles: Wer würde Sie ersetzen? Ah, Graham natürlich!

Clifford: Graham, er ist unfähig, eine Armee zu führen.

Miles: Er hat bei Bethlehem jetzt einen ganz netten Sieg erfochten.

Clifford: Eine Reiterattacke! Er ist ein Dreinschlager, aber kein Heerführer.

Miles: Er hat eine starke Anhängerschaft.

Clifford: Ich weiß. Und wäre gar nicht ungehalten, mich zu ersetzen. Aber das niemals, Miles, niemals! Unausgesetzt tadelt er die Milde meiner Kriegführung. Er würde ein schonungsloses Regime einführen. Ihm trete ich meinen Platz nicht ab. Ich will und darf es nicht.

Miles: Bravo! Man darf nie seinen Posten verlassen, auch wenn man ihn als übel erkannt hat. Denn man kann dort immer etwas Gutes tun, oder zumindest verhindern, daß ein Anderer dort etwas Böseres anstelle.

Clifford: Graham! Ich sollte für Graham geschuftet haben? Und Miles, Sie, mein bester Freund, sagen mir das? (Man klopft.) Herein! (Zwei junge Offiziere treten ein.) Guten Tag, Clodds, Lawrence! Habt Ihr Umschau gehalten in der Stadt?

Lawrence: Marschall, wir haben die wichtigsten Stadtteile gesehen. Man begegnet keinem Menschen. Alles verschlossen, die Türen verriegelt, die Vorhänge herabgelassen. Man könnte meinen, alles sei ausgestorben. Aber stößt man eine Tür ein, so findet man drin im Dunkel die Frauen, Kinder und Greise schweigend sitzen.

Clodds: Dieses Schweigen ist unerträglich. Man möchte sie lieber zum Schreien bringen.

Clifford: Habt Ihr Euch erwartet, man würde uns hier festlich empfangen?

Lawrence: Nein, mein Marschall. Aber sie sollten doch begreifen, daß wir nicht ihre Feinde sind, daß wir in ihrem eigenen Interesse kommen.

Clifford (sieht ihn an, zuckt die Achseln und sagt in kalter Ironie): Ach ja, es scheint eben, daß immer die guten Absichten mißverstanden werden. Trotzdem, wir müssen fortfahren in unseren Vorsätzen und versuchen, sie zu beruhigen. Clodds, haben Sie die Proklamation verfaßt, die ich Ihnen diktierte?

Clodds: Zu Befehl, mein Marschall!

Clifford: Lassen Sie hören!

Clodds (vorlesend): Proklamation an die Einwohner der südafrikanischen Republik! Da die unter meinem Befehl stehenden Streitkräfte Seiner Majestät des Königs in das Gebiet der südafrikanischen Republik eingerückt sind und falsche und bösartige Ausstreuungen über die gegenwärtige Behandlung der Einwohner durch Seiner Majestät Truppen verbreitet wurden, mache ich, George Lindsley, Baron Clifford of Herat, Oberkommandant Seiner Majestät Truppen in der südafrikanischen Republik, kund und zu wissen:

1. »Die persönliche Sicherheit und Schutz vor jeder Belästigung der am Kampf nicht beteiligten Bevölkerung wird gewährleistet...«

Der General Graham tritt ohne anzuklopfen ein.

Miles (sich umwendend): Graham...

Graham: Verzeihung, daß ich unterbreche. Wichtige Nachrichten! Ich höre eben die letzten Worte der Proklamation. Milde ist jetzt nicht am Platze. Die Verbindungen zur Küste sind unterbrochen, der Telegraphendraht zerschnitten, die Eisenbahnzüge angehalten. Wenn wir nicht scharf aufpassen, haben nicht wir die Stadt, sondern die Stadt uns. Man bereitet eine Einschließung vor. Der Feind ist ganz in der Nähe und kennt jede unserer Bewegungen. – Aber das ist noch nicht alles: die fünfte Kompagnie der irländischen Füsiliere, die im Stadthause einquartiert ist, hat im Keller Pulverfässer gefunden, die sichtlich bestimmt waren, das Gebäude in die Luft zu sprengen. Außerdem...

Clifford: Weiß Gott, wie Sie's machen, Graham, aber wo Sie hintreten, wächst eine böse Nachricht.

Graham: Anscheinend ernte ich, was die Andern aussäten. Um fortzufahren: irgend ein Lump hat die Fahne beschimpft und versucht, einen Soldaten zu ermorden. Ich habe allen Grund, zu glauben, daß er es ist, der im Auftrag des Feindes das Stadthaus in die Luft sprengen wollte. Lassen Sie ihn rufen und urteilen Sie selbst. Wenn man nicht die Stadt mit dem Schrecken niederhält, bricht der Aufstand an allen vier Ecken aus.

Clifford: Sie haben wohl Neigung, Märtyrer zu schaffen? (Er zuckt die Achseln.) Laßt den Mann vorführen!

Lewis-Brown (eintretend): Hurrah, Marschall! Hurrah, meine Herren!

Clifford: Was gibts, Sir Lewis? Doch keine schlechten Nachrichten?

Lewis-Brown: Schlechte Nachrichten? Im Gegenteil: ganz ausgezeichnete! Verzeihung, daß ich mich setze; ich bin müde. – Alles geht aufs Beste.

Miles: Eben sagte der General, eine Konspiration ...

Lewis-Brown: Sie können jetzt tun, was sie wollen! Wir sind zurecht gekommen!

Clodds: Wo denn?

Lewis-Brown: Zu den Minen! Um ein Haar wäre es zu spät gewesen. Als ich zu dem Stollen von Guld-Fonteins mit meinem Detachement kam, war alles schon zur Zerstörung bereit. Aber, Gott sei Dank, die Banditen hatten es noch nicht gewagt. Alles ist intakt, nicht eine Maschine beschädigt! Nie hätte ich gewagt, mir ein solches Resultat für unseren Gewaltmarsch zu erträumen. Ich habe sofort an den Eingängen Wachen aufgestellt und die Nachricht den Aktionären telegraphieren lassen. Welche Freude für die Nation, welcher Triumph für uns! Wo ist der Telegraph?

Clodds: Der Telegraph ist abgeschnitten.

Lewis-Brown: Donnerwetter! Da müssen wir einen Eilboten senden, Marschall!

Clifford (ihm den Rücken wendend): Erledigen Sie das, Clodds!

Lewis-Brown (teilt nach allen Seiten begeisterte Händedrücke aus, die ohne Herzlichkeit erwidert werden): Danke, meine Herren, danke! (Er geht mit Clodds ab, der aber bald zurückkehrt. Sie schweigen und vermeiden, einander anzusehen. Clifford nagt an seinem Schnurrbart, Miles lächelt ironisch grausam, Graham unterdrückt eine heftige Geste gegen die Türe, die sich hinter Lewis geschlossen hat. Alle bleiben so eine Zeit bedrückt und beschämt.)

Clifford (gereizt): Nun, wo bleibt er, der Gefangene?

Lawrence: Hier ist er.

Soldaten führen einen schmutzigen und zerfetzten Bauern mit idiotischem Gesichtsausdruck herein. Lord Clifford betrachtet ihn einige Augenblicke. Richard Carnby klopft und tritt ein.

Richard Carnby: Es scheint, daß der Bursche erschossen werden soll. Darf ich der Untersuchung beiwohnen und mir ein paar Notizen machen!

Clifford: Schreiben Sie, mein Herr, schreiben Sie, wenn es Ihres Herzens Wunsch ist. (Auf den Gefangenen zu): Du wolltest einen meiner Soldaten töten? (Der Mann schaukelt mit dem Kopf, sieht ihn grinsend und zitternd an.) Was hat er? Wie heißt du? (Gleiches Benehmen.) Versteht er mich nicht? (Der Mann sagt etwas Unverständliches.) Was für eine Sprache spricht er? Das ist nicht holländisch.

Miles: Ein Dialekt, mit Kaffern- und Hottentottenbrocken gemischt. Ich verstehe nichts daraus.

Graham: Er tut's mit Absicht, um nicht zu antworten. Übrigens ist seine Aussage gleichgültig. Man hat ihn auf frischer Tat ertappt.

Clifford (zu den Soldaten): Was habt Ihr gesehen?

Ein Sergeant: Als wir vor das Stadthaus kamen, lag er vor den Stufen und wie er uns sah, kam er auf uns zu, schwenkte einen Stock und sang einen Psalm. Dann ging er gerade aus auf Füsilier Rolf zu und faßte die Fahne. Rolf gab ihm einen mächtigen Stoß mit dem Kolben in den Bauch und wir warfen uns alle auf ihn, aber der Kerl blieb trotzig, man mußte ihn halb erschlagen, ehe er die Fahne hergab und da hatte er sie schon zerfetzt.

Graham: Ein klarer Fall.

Clifford (achselzuckend): Ein blödsinniger Fanatiker.

Graham: Das genügt.

Clifford: Sie haben nur die Kranken und Idioten hier zurückgelassen.

Graham: Der da ist zurückgeblieben, um das Stadthaus in die Luft zu sprengen, darüber gibt es keinen Zweifel. (Der Bauer schwankt hin und her, immer dem Sprechenden in den Mund schauend. Er scheint Graham zuzustimmen.) Seht Ihr, er gibt's selbst zu, der Bandit.

Clifford: Er versteht es nicht, er ist ja blödsinnig.

Graham: Mit dieser Ausrede käme er leicht durch.

Clifford (Miles mit dem Blick fragend): Doktor?

Miles (nachlässig den Mann untersuchend): Pah, er ist so wie Sie und ich! Ein Exaltierter. In dieser Hinsicht sind wir alle unzurechnungsfähig. Und eigentlich ist ja jeder mehr oder weniger abnormal. Der da ist ganz normal, jedenfalls gut genug für das, was Sie mit ihm vorhaben.

Clifford: Lächerlich! Verurteilungen dieser Art nähren nur den Fanatismus.

Graham: Um so besser. Lieber ein offener Brand, als ein unterirdisches Feuer.

Clifford: Eine schöne und humane Politik!

Graham: Die beste und menschlichste Art der Kriegführung ist die unbarmherzige: sie führt am schnellsten zum Ende.

Clifford (zu den andern Offizieren): Ist das Eure Meinung?

Miles: Jawohl.

Die andern stimmen zu.

Clifford: Gut, füsiliert ihn!

Die Soldaten fassen den Gefangenen, der die ganze Zeit über die Gesten der Sprechenden und ihre Lippen verfolgt hat, um ihre Worte zu ahnen. Er lacht nervös, zittert, sieht die Soldaten an, die ihn beim Arm nehmen. Jetzt scheint er zu begreifen, er geht auf Clifford mit plötzlich veränderten Zügen zu. Man schleppt ihn zurück. Er widersteht nicht, spricht nicht, stößt nur unartikulierte Laute aus, zittert und läßt Clifford nicht mit dem Blick, bis man ihn hinausgeführt hat.

Richard Carnby: Verdammte Bestie! Nichts aus ihm herauszubringen. Merkwürdig, die Lämmer zittern auch so, wenn man ihnen die Gurgel abschneidet, als ahnten sie was von der Sache.

Lewis-Brown (wieder eintretend): Alles besorgt. Morgen haben sie die Nachricht zu Börsenanfang. Man wird in London illuminieren. – Ich höre, Sie haben hier einen verurteilt. War es der, dem ich begegnet bin?

Clodds (zu Clifford): Marschall, soll ich die Proklamation weiterlesen?

Clifford: Sie ist sinnlos jetzt. Sie verhieß Gnade und die Taten strafen sie schon Lügen.

Lewis-Brown: Ein Grund mehr, sie zu veröffentlichen. – Verzeihung, Marschall, das ist meine bescheidene Meinung – ich glaube, man soll gerade nachher durch Worte die Erregung abschwächen, die unsere, leider notwendigen Gewaltmaßregeln hervorrufen. (Zu Graham): Sind Sie nicht auch dieser Meinung, General?

Graham: Wir verfahren mit diesen Rebellen noch zu glimpflich. Man kann da nur mit Gewalt zu einem Ende kommen. Aber ich leugne nicht den Vorteil des gütlichen Zuredens, vorausgesetzt natürlich, daß die Gewalt dahinter steht oder vorausgeht: es ist gewiß gut, von Milde zu sprechen, aber keineswegs, sie auch anzuwenden.

Clifford: Machen Sie sich lustig über mich? Glauben Sie, ich werde mit meinem Namen Versprechen decken, die ich nicht willens bin, einzuhalten?

Graham: Wir machen dem Feind bedingungsweise diese Versprechungen. Übertritt er die Bedingungen – und wir können im voraus sicher sein, daß er sie übertreten wird – so sind Sie Ihres Wortes ledig.

Lewis-Brown: Ganz recht! Man muß nur im Text einige einfache Sätze einfügen, die uns die Freiheit lassen, so zu handeln, wie wir wollen. Sehen wir uns die Proklamation einmal an. Sie gestatten doch, Marschall? (Er nimmt sie aus Clodds Händen.) Ausgezeichnet! Wird glänzende Wirkung haben! »... garantieren die persönliche Sicherheit ... Schutz vor jeder Belästigung ...« Ja, das ist Seiner Majestät und des ausgezeichneten Heerführers würdig. Ich meine nur –, sie ist ja ausgezeichnet, ich möchte nur meine bescheidene Anmerkung machen, ganz nach Ihrem Dafürhalten natürlich zu verwenden, – ich meine nur, es wäre gut, noch mehr die Vornehmheit unseres Verhaltens zu unterstreichen. Wir sind doch die Sieger und könnten doch unseren Sieg auch schonungslos ausnützen. Nun, wir tun es nicht, aber dann soll es die Welt doch wenigstens wissen. Wenn wir uns nicht loben, wer tut es dann? Alle verleumden ja jetzt in Europa unser Vorgehen, das doch in Wirklichkeit ein Vorbild für alle ist. Ich glaube, daß im ganzen Verlauf der Weltgeschichte noch nie ein Krieg so human geführt wurde. Erste Rede Balfours, 20. Juni 1901. Gibt es etwas Schöneres als die Opfer, die wir bringen, um diese Erde, die durch den Stumpfsinn ihrer Besitzer brach liegen gelassen wurde, der Zivilisation zu eröffnen, sie gewaltsam dem Welthandel, der Industrie, der Religion zu erschließen, die unermeßlichen Reichtümer zu heben, die Gott ihr verliehen und die Gleichgültigkeit verkommen ließ.

Richard Carnby: Eine schöne Auffassung. England als Gottes Bankhalter!

Lewis-Brown: Sein Kämpfer gewiß! Eisen und Gold gehen zusammen. Übrigens kommt es nicht auf meine Ausdrucksweise an. Aber sind Sie nicht der Meinung, daß wir jetzt, zu Beginn der Besitznahme, das Humanitäre unserer Aktion stärker betonen sollten?

Clodds: Ja, das scheint mir berechtigt.

Graham: Es wäre politisch.

Lawrence: Und es ist dabei absolut wahr.

Richard Carnby (das Gesicht verziehend): Ich kann da nicht mit!

Lewis-Brown: Was denken Sie darüber, Marschall?

Clifford: Bitte, meine Herren, beginnen Sie! Ich will sehen, was dabei herauskommt und werde dann meine Meinung äußern.

Lewis-Brown: Also, Clodds, schreiben Sie: »In Anbetracht ... der Zivilisation ... der Menschlichkeit ...« so beredt als Sie können. Sie werden es schon aufs Beste machen.

Clodds (schreibend): Ich habe es ja schon zwanzigmal so geschrieben ... »da wir ausschließlich zur Verteidigung der Menschlichkeit und der verletzten Menschenrechte kamen ...«

Lewis-Brown: Ausgezeichnet. (Er liest die Proklamation durch.) Jetzt paßt es sich ausgezeichnet an ... »garantieren wir die Sicherheit und Schutz vor jeder Belästigung ... respektieren wir das Privateigentum ...«

Graham: Halt! »... insoweit es mit den Kriegsoperationen vereinbar ist.«

Lewis-Brown: Natürlich. Schreiben Sie's so, Clodds!

Graham: »... und vorausgesetzt, daß die Einwohner sich ihrerseits jeder bösartigen Zerstörung des Eigentums enthalten.«

Miles (ironisch): Welches Eigentums? Ihres eigenen?

Lewis-Brown: Des unsern. Oder vielmehr des Staates. Sie verstehen schon.

Graham: Dieser Artikel bezieht sich auf die Zerstörung der Eisenbahn, des Telegraphen, alles dessen, was den Verkehr und die Truppenbewegung hindern könnte.

Miles (ohne seine Miene zu verändern): Man muß doch übereinkommen. Also kurz, wir verbieten ihnen, sich zu verteidigen.

Lewis-Brown: Selbstverständlich, man muß ihnen eine heilsame Angst einjagen.

Graham (diktierend): »Sollten dennoch bösartige Eigentumsbeschädigungen sich ereignen, so werden alle an diesen Unternehmungen Schuldigen, sowie jeder daran Beteiligte ...«

Lewis-Brown: »... direkt oder indirekt Beteiligte ...«

Graham: »... direkt oder indirekt Beteiligte den schwersten Strafen an Leben und Eigentum verfallen.«

Lewis-Brown: Das träfe nur diejenigen, die man ihrer Schuld an solchem Vandalismus überweisen kann, und es ist manchmal schwer, sie zu überweisen. In Wirklichkeit ist die ganze Bevölkerung mitschuldig, die es weiß und es duldet. Sie muß in die Bestrafung der Schuldigen einbezogen werden.

Graham: Das war auch meine Absicht. Schreiben Sie, Clodds: »Nicht nur die direkt an diesen Akten Beteiligten, sondern auch alle bevollmächtigten Personen, die verstatteten ...«

Lewis-Brown: »... oder die nicht ihr Möglichstes getan haben, um diese böswilligen Beschädigungen zu verhindern ...«

Graham: »... werden mit der Konfiskation oder der Vernichtung ihres Gutes haftbar gemacht.«

Clodds: Man müßte auch einen Schutz gegen die weibliche Bevölkerung vorsehen, die zu unserem Schaden zurückgelassen wurde. Wir haben Beweise für ein ausgebreitetes Spionagesystem.

Lewis-Brown: Vorsicht, meine Herren, Vorsicht! Da heißt es bedacht sein, Rücksicht nehmen! Sobald es sich um Frauen handelt, riskiert man, die ganze öffentliche Meinung gegen sich aufzubringen.

Richard Carnby: Sobald sich's um Frauen handelt, nicht um diese Weiber!

Lewis-Brown (mit Würde): Eine Frau bleibt immer eine Frau. Ludwig XIV. nahm selbst vor seiner Magd den Hut ab, erzählt man. – Übrigens, meine Herren, meine ich nicht, daß wir die Narren unserer Galanterie werden sollen. Man soll sich durch nichts narren lassen. Das ist nur eine Taktfrage. Mit Takt kann man alles machen.

Clodds: Wir wollen ihnen ja nichts antun. Wir wollen nur, daß sie uns nichts antun.

Graham: Es genügt, sie an solche Orte zu bringen, wo man sie leicht überwachen kann. Wir haben schon oft davon gesprochen, aber der Marschall hat einen Widerwillen dagegen. Nach den neuen Beweisen, daß immer wieder dem Feinde Nachrichten durch die Spionage der Weiber übermittelt werden, ist es unmöglich, diese Maßregel zu unterlassen. Das Interesse der Armee erfordert es.

Lewis-Brown: Das eigene Interesse der Frauen und der Kinder. Hätten sie es nicht in unsern Lagern besser als zu Hause? Nicht wahr, Doktor?

Miles: Besser? Das wäre eine Übertreibung! Vielleicht nicht viel schlechter. In ihren Häusern würden sie im Verlauf eines Monats Hungers sterben. In Städten, die zwei Schritt vom Feind liegen und jeden Augenblick angegriffen werden können, ist der Nachschub kaum aufrecht zu erhalten. Es wird schwer sein, sie zu ernähren.

Graham: Ganz unmöglich sogar.

Miles: Aber andererseits würden die Zusammenrottungen in Lagern bald schwere Epidemien zur Folge haben.

Lewis-Brown: Das hängt von Gott ab, nicht von uns. Wir für unsern Teil können ihnen ausgiebigere Unterstützung geben, wenn wir sie nahe haben, als wenn sie über das ganze Land verstreut sind. Nicht wahr, Doktor? (Miles schüttelt zweifelnd den Kopf.): Schließlich gebietet unser Interesse wie das ihre, sie in Sicherheit zu bringen.

Miles (lau): Wie Sie meinen.

Lewis-Brown: Also sagen wir so. »In Anbetracht der kriegswidrigen und unrechtmäßigen Weise, mit der der Feind den Kampf führt, indem er die für die friedlichen Einwohner bestimmten Versorgungen anhält, sehen wir uns gegen unsern Wunsch genötigt, die Frauen und Kinder in geschützte Lager außerhalb des Kriegsgebietes zu bringen. Wir haben das aufrichtigste Mitgefühl für dieser armen Leute Leiden, deren Verantwortung den Rebellen und ihrem unentschuldbaren Verhalten zufällt und die wir auf alle mögliche Weise zu lindern trachten werden.« Lord Kitchener an Botha. 16. April 1901.

Lawrence: Bravo, Sir Lewis! Das ist gerecht, energisch und menschlich.

Miles: Man möchte glauben, Sie hätten sich Ihr ganzes Leben mit dem Krieg beschäftigt. Sie haben den richtigen Stil für Proklamationen.

Lewis-Brown: Nichts leichter als das. Ich habe es bei der Niederkämpfung der Streiks gelernt. Das Erste in solchen Fällen ist, die öffentliche Meinung im Namen der Menschlichkeit und des eigenen Interesses der Streikenden gegen die Ausständigen zu wenden. Ein Kinderspiel!

Graham: So werden sie's verstehen. Ausgezeichnet!

Lewis-Brown: Auf diese Weise wird die menschliche Bedeutung unseres Werkes ins rechte Licht gesetzt, ohne daß wir Opfer einer übertriebenen Sentimentalität werden.

Miles (mit leichter Ironie): Ganz recht. Der erste Teil der Proklamation dient dazu, uns Sympathie zu gewinnen, und der zweite, um zu verhindern, davon Gebrauch zu machen.

Lewis-Brown: Sehen Sie, man kann alles zwischen den Zeilen ausdrücken, es ist nur eine Kunst der Nuance. Man muß alles nur recht aufzufassen wissen. – Und nun, was denken Sie darüber, Marschall?

Clifford (sich erhebend und auf Clodds zugehend): Was ich davon denke? Sie gestatten, meine Herren? (Er nimmt die Proklamation Clodds aus der Hand und zerreißt sie. Zu Clodds): Schreiben Sie!

I. Wer Telegraphen und Eisenbahnen beschädigt, wer auf direktem oder indirektem Wege versucht, die Verbindung, die Ernährung oder den Vormarsch der Armee zu verhindern, wird erschossen und sein Gut konfisziert.

II. Alle Dörfer und Niederlassungen im Umkreis von fünf Meilen vom Orte solcher Attentate werden verantwortlich gemacht, die angesehensten Bürger gefangen gesetzt, ihre Häuser verbrannt, ihre Güter konfisziert.

III. Alte Familien, Frauen und Kinder, die in Städten, Niederlassungen von Rebellen, die sich nicht im Verlauf von zehn Tagen unterwerfen, zurückgeblieben sind, werden bis zum Ende der Feindseligkeiten unter militärische Überwachung in Lagern interniert.

Gott schütze den König! Gegeben und gesiegelt zu Christburg in Afrika, 31. Mai

Clifford Feldmarschall, Oberkommandant

Lewis-Brown und die Offiziere sehen einander und Clifford verblüfft an, aber antworten nicht.

Lewis-Brown (leise zu Miles): Er ist furchtbar.

Miles: Er fällt von einem Extrem ins andere.

Lewis-Brown (leise zu Lawrence): Er ist es doch sonst, der die milden Maßregeln befürwortet.

Lawrence (leise zu Lewis): Im Grunde ist er der Unbarmherzigste von allen.

Graham (beiseite): Er übertreibt. Aber besser so.

Richard Carnby (auf Clifford zu und ihm die Hand schüttelnd): Das war ein Manneswort. Endlich! Es scheint, daß man sich heute schämt, stark zu sein und die Schwachen niederzuzwingen. Warum schämt man sich dann nicht auch, schöner oder besser zu sein als andere? Nur keine falsche Bescheidenheit. Der Krieg ist gut und noch besser ist der Sieg. Das ist das Gesetz des Fortschritts und der Verschönerung der Welt. Alle Stimmen der Natur, vom Summen des Insekts bis zum Ertönen des Donners, feiern die Siege und Niederlagen im herrlichen Kampf des Lebens. Ihre Worte, Marschall, tönen wie eine Fanfare in diesem heroischen Konzert. Ich beglückwünsche Sie. Das war schön.

Die Offiziere zucken leicht mit den Achseln.

Clifford (verächtlich): Sie finden das schön? Nun, Sie kennen sich wohl aus in den Dingen. Ich bin nicht Künstler genug, um eine Schönheit in dem zu finden, was ich da tue. Im Gegenteil, ich finde es erbärmlich. Ich tue es, weil ich muß. Die Pflicht zwingt uns manchmal zu widerlichen Verrichtungen. Genug, daß sie getan werden müssen und es ist unnötig, sie noch zu bewundern. Diejenigen, die, ohne sie zu tun, sie bewundern und ohne dazu gezwungen zu sein, sich aus Vergnügungssucht dazu drängen, die sprechen viel von Schönheit: aber es zeigt, daß sie sie am wenigsten kennen.

Lawrence (zum Fenster hinausblickend): Der Kommandant und Mrs. Simpson.

Clifford: Gut! Lassen wir die Geschäfte. Genug für heute. Ich bin müde.

Simpson und Mrs. Simpson treten ein.

Mrs. Simpson: Ach, Marschall, wir sind unglücklich über unsere Verspätung. Aber es dauerte so lange, bis man anständige Unterkunft fand. Ach, es ist reizend hier!

Clifford (zu Owen): Richte den Tee her!

Mrs. Simpson: Bitte, lassen Sie, ich bereite ihn selbst.

Lawrence: Nun, Mrs. Simpson, wie finden Sie das Land?

Mrs. Simpson: Entzückend, wirklich entzückend! Wir sind entzückt, Georgie und ich. Diese kleinen Häuschen, die Gärten, die Blumen, die Hühner ... Aber wie hübsch Sie es hier haben, Marschall! Ich liebe solche große Fenster. Ach, wir haben hier Glycinen um die Spaliere und im Garten einen süßen Brunnen, umrankt mit Glockenblumen; ich will morgen davon eine Zeichnung machen.

Simpson: Tu's, Liebe, das ist eine entzückende Idee!

Clodds: Und die Leute hier im Land, wie finden Sie die?

Mrs. Simpson: Ach, sie sind so reizend.

Lewis-Brown: Haben Sie Ihre Quartiergeber gut aufgenommen?

Mrs. Simpson: Wunderbar.

Miles: Was sagten sie Ihnen denn?

Mrs. Simpson: Oh, sie sagten nichts. Sie sind nicht sehr gesprächig. Aber kaum, daß wir einzogen, haben sie sich zurückgezogen, um uns nicht zu stören. Sie sind sehr nett.

Miles: Und sind Sie auf der Straße jemandem begegnet?

Mrs. Simpson: Ja. Alle sehen so gutmütig aus. Sie scheinen froh zu sein, daß wir hier sind.

Miles: Wirklich?

Lewis-Brown: Haben Sie mit ihnen gesprochen?

Mrs. Simpson: Nein. Das heißt, ich wollte mit einem jungen Mädchen sprechen, das in der Tür stand. Sie hatte Augen wie Blumen. Ich fragte sie, ob ich ihr Porträt machen dürfe. Sie verstand mich nicht. Sie ging ins Haus und schloß die Türe. Sie sind ein wenig unzugänglich, aber ich liebe sie sehr.

Lawrence: Und werden wir bald das Vergnügen haben, Miß Simpson zu sehen?

Mrs. Simpson: Ach, kaum angekommen, ist sie gleich ins Lazarett gegangen. Sie liebt es so sehr, die armen Leute zu pflegen. Das ist ihre Leidenschaft. Am liebsten sähe sie uns alle krank, um uns pflegen zu können.

Während des Sprechens serviert sie mit Lawrences Hilfe den Tee.

Richard Carnby: Brr, welche Idee, Kranke zu pflegen.

Mrs. Simpson: Pfui, Sie reden ja abscheulich.

Graham: Mein Gott, wenn man die verwundeten Feinde meint, hat er recht. Diese Menschlichkeit verlängert den Krieg ins Unendliche. Kaum daß der Feind hingestreckt ist, hat man nur eine Sorge: ihn zu heilen, damit er vom Neuen anfängt. Ich verstehe, daß man einen verwundeten Gegner schont, aber es ist lächerlich, einen Bruder aus ihm zu machen. Die besten Hilfsmittel der Armee werden von ihm aufgezehrt. Sie bekommen die beste Milch, gute Betten, bequeme Unterkunft und überdies noch die Zärtlichkeiten der Damen. Das heißt sich lächerlich machen vor der Welt.

Richard Carnby: Früher war man logisch: da metzelte man einfach alles nieder. Sie sind empört! Nun – führen wir Krieg oder nicht? Ich verstehe die Duchoborzen, die Quäker, die Kriegsgegner. Sie sind toll, aber logisch in ihrer Tollheit. Aber wenn man den Krieg führt, dann darf man seinen Konsequenzen nicht ausbiegen! Glauben Sie, daß man ein Volk schlagen, ihm sein Vaterland nehmen und es dann zum Freund haben kann? Es wird immer nur daran denken, sich zu rächen. Die einzige wirkliche dauerhafte Eroberung ist die Ausrottung einer Rasse durch die andere. Keine Verwundeten pflegen! – Und seien wir aufrichtig, wir verlieren dabei Zeit und Geld, unsere eigenen Kranken zu pflegen. Wir ersticken vor lauter Hospitälern und Ambulanzen. Das bricht den Elan des Krieges und dabei erweist man den armen Teufeln gar keinen Dienst. Ist denn ein gelähmter Mensch noch ein Mensch? Für ihn wäre es besser, tot zu sein!

Mrs. Simpson: Ach, wie paradox Sie doch immer reden. Da – trinken Sie, das wird Sie hindern, solche Sachen zu sagen.

Die Türe tut sich auf. Der kleine David erscheint auf der Schwelle und sieht, den Finger im Mund, die Versammlung an. Nur Clifford, der abseits sitzt, gleichgültig gegen das Gespräch, bemerkt ihn; er macht ihm ein Zeichen, ruft ihn und lockt ihn, indem er ihm ein Stück Zucker zeigt. Der Kleine kommt zögernd näher, ohne sein böses Gesicht zu erhellen oder den Finger aus dem Munde zu nehmen. Clifford nimmt ihn zwischen die Knie, gibt ihm den Zucker, streichelt ihn und sieht ihn an.

Lewis-Brown: Sehen Sie doch, Mrs. Simpson!

Mrs. Simpson: Ach, wie süß er ist, der Kleine! Was für schöne Haare. Geben Sie mir ihn doch her.

Alle drängen sich um das Kind, das sich wehrt.

David: Nein ... Ihr nicht!

Simpson (zu Clifford): Sie sind sein Liebling.

Miles: Kein Wunder! Er gibt ihm Bonbons!

Lewis-Brown: Ah, der Heimtückische!

Mrs. Simpson: Nimm, mein kleiner Engel!

Sie überhäufen das Kind mit Bonbons.

Simpson: Wie heißt du?

David: David.

Mrs. Simpson: Ah, ein schöner Name! Weißt du wer David war? (Das Kind nickt.) Ja? Du bist ein liebes Kind! Also sag, wer war David? Nein, du willst nicht? Weißt du, ich glaub's nicht, daß du weißt, wer David war.

David: Doch, ich weiß es.

Mrs. Simpson: Dann erzähl's doch!

David: ... »David sprach zu den Philistern: Du kommst gegen mich mit Schwert, Lanze und Schild, ich aber komme im Namen des Herrn der Heerscharen, des Gottes Israel, gegen den du gefrevelt. Und der Herr wird dich in meine Hände geben, und ich werde dich fällen und dir das Haupt abschlagen und die Leichen der Philister den Vögeln des Himmels und den Tieren der Erde zu fressen geben, auf daß die Erde wisse, daß ein Gott über Israel ist.«

Das Kind spricht in psalmodierendem und überzeugtem Ton mit bösen Blicken, am Ende schlägt es mit der Faust auf den Tisch. Alle schweigen. Clifford hat den Knaben aus seinen Knieen gelassen, die andern ziehen die Brauen zusammen. Nur Mrs. Simpson, die immer Ahnungslose, ruft »Bravo« und applaudiert, merkt aber sogleich am Schweigen der Andern etwas, das sie nur halb begreift und schweigt verwirrt.

Clifford: Geh!

Das Kind geht langsam zurück und verschwindet.

Graham: Giftige Brut!

Mrs. Simpson: Er ist entzückend, der Kleine!

(Sie findet kein Echo, das Gespräch ablenkend.) Oh, ich freue mich, hierher gekommen zu sein! Wie viel Gutes können wir hier tun!

Simpson: Wir tuen es ja schon.

Mrs. Simpson: Wir haben sie so viel zu lehren!

Lawrence: Und auf allen Gebieten. Sie wissen verteufelt wenig!

Mrs. Simpson: Umso besser! Es ist wunderbar, den armen zurückgebliebenen Völkern die Kultur und das Wort Gottes zu bringen.

Miles: Ach, die Bibel, die kennen sie gerade gut genug.

Mrs. Simpson: Aber sie verstehen sie nicht.

Lewis-Brown: Wir werden sie ihnen erklären.

Mrs. Simpson: Wir werden sie lehren, alle Menschen als Brüder zu betrachten. Ist es nicht unerhört, wie sie die armen Schwarzen behandeln? (Die Offiziere scheinen nicht ganz ihrer Ansicht.) Meinen Sie nicht, Sir Lewis?

Lewis-Brown: Gewiß! Gewiß, deshalb sind wir ja gekommen!

Carnby: Bringen Sie ihnen doch zuerst die Reinlichkeit bei, das haben sie am nötigsten.

Miles: Wir vor allem!

Simpson: Und den Komfort.

Mrs. Simpson: Und die Schönheit! Wir werden Schulen einführen. Wir bringen ihnen das Licht. Oh, wie entzückt bin ich über alles, was wir für sie tun werden. Wie schön es ist, Diener einer großen Sache zu sein. Nicht wahr, wie man fühlt »England ist das moderne Israel, von Gott mit besonderer Botschaft in die Welt gesandt«. Rede Dr. Watsons.

Lewis-Brown: Ja, es ist wahr, »Keine andere Nation hat soviel Gelegenheit, die andern die Wahrheit zu lehren«. Rede des Erzbischofs von Canterbury.

Simpson: Sie sind sehr oft ungerecht gegen uns.

Clodds: Man hat gegen einen stupiden Fanatismus anzukämpfen.

Mrs. Simpson: Was tut's. Man vollbringt seine Pflicht, wir haben das Bewußtsein, mit Gott zu sein.

Lewis-Brown (sich erhebend, das Liqueurglas in der Hand): Auf seinen Sieg!

Carnby: Und auf den unsern!

Alle heben ihre Gläser.

Mrs. Simpson: Ah, ein Piano! Lawrence, Sie spielen so entzückend. Lassen Sie doch etwas zur Feier des großen Tages hören!

Lawrence: Mit Vergnügen! Und Sie müssen singen!

Mrs. Simpson: Nein, nicht heute! Ich bin so schrecklich heiser!

Lawrence setzt sich an das Klavier und beginnt.

Mrs. Simpson (in die Hände klatschend): Ah, Händel ... wie ergreifend ... oh, Händel hier ... das ist ... wie die Feuersäule vor Israels Heer, die seinen Weg in die Wüste erhellt.

Simpson: Auf den Sieg, Sieg des Lichts!

Lewis-Brown: Der Zivilisation!

Von außen Pelotonfeuer. Man erschießt den Verurteilten.

Mrs. Simpson: Was ist das für ein Lärm!

Clifford: Das Echo.

Lewis-Brown (zu Carnby): Ah, ist es ...

Mrs. Simpson: Was denn?

Miles: Nichts.

Mrs. Simpson (den Tee anbietend): Noch eine Tasse Marschall?

Clifford: Danke! (Er steht auf und geht zum Fenster.)

Graham: Auf das Vaterland!

Lewis-Brown: Auf das Reich!

Richard Carnby: Auf die Eroberung der Erde!

Clifford (bei Seite): Der Erde ... ja, sechs Schuh Erde! –

Ende des ersten Aktes.


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