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V. Memoiren eines vergessenen Meisters

Die Geschichte ist die parteiischeste aller Wissenschaften. Wenn sie sich einen Menschen erkoren hat, liebt sie ihn eifersüchtig und will von andern nichts mehr wissen. Seit dem Tage, da die Größe Johann Sebastian Bachs erkannt wurde, ist alles, was zu seiner Zeit groß war, weniger als nichts geworden. Kaum verzeiht man Händel die Anmaßung, ebenso genial gewesen zu sein wie Bach und mehr Erfolg geerntet zu haben. Die andern sind zu Staub geworden; mehr als alle Telemann, den die Nachwelt den Sieg entgelten ließ, den er zu seinen Lebzeiten über J. S. Bach davonzutragen wagte. Dieser Mann, dessen Musik in ganz Europa von Frankreich bis Rußland bewundert war, den Schubert den unvergleichlichen Meister nannte, den selbst der strenge Mattheson für den einzigen Musiker erklärte, der über jedes Lob erhaben sei Ein Lulli wird gerühmt; Corelli läßt sich loben;
Nur Telemann allein ist übers Lob erhoben.
, ist heute vergessen und verachtet. Man versucht nicht einmal, ihn kennenzulernen. Man beurteilt ihn vom Hörensagen, nach Aussprüchen, die ihm in den Mund gelegt wurden und deren Sinn man sich nicht mehr zu verstehen bemüht. Er ist dem Eifer der Bachforscher zum Opfer gefallen, wie dem von Bitter, Wolfrum oder unserem Freund A. Schweitzer, der nicht begreift, daß Bach mit eigener Hand ganze Kantaten von Telemann kopiert hat. Es mag unverständlich sein; aber diese einzige Tatsache, daß er so über Telemann dachte, mag den Bewunderern Bachs zu denken geben. Nur Winterfeld hat seinerzeit die religiösen Werke von Telemann genau studiert und seine historische Bedeutung für die Entwicklung der geistlichen Kantate erkannt. Seit einigen Jahren beginnt man, das allzu leichtfertige Urteil der Geschichte zu revidieren. 1907 hat Max Schneider in den »Denkmälern der Tonkunst in Deutschland« zwei der letzten Werke Telemanns herausgegeben, den »Tag des Gerichts« und »Ino«, nebst einer vortrefflichen historischen Einleitung. Ferner hat Curt Ottzenn eine kurze, etwas oberflächliche Studie veröffentlicht: »Telemann als Opernkomponist, ein Beitrag zur Geschichte der Hamburger Oper« (Berlin 1902), und hat ihr eine Auswahl von Opern- und Singspielfragmenten Telemanns beigefügt. Hugo Riemann hat ein Instrumentaltrio von Telemann in seiner schönen Sammlung »Collegium musicum« herausgegeben.
In der Vorrede Max Schneiders zu dem Band der »Denkmäler«, den ich ausgiebig benutzt habe, findet sich eine kleine Bibliographie.

Mitteilungen über Telemanns Leben fehlen nicht. Er selbst hat dreimal seine Laufbahn beschrieben: 1718, 1729 und 1739.

Diese Freude an der Selbstbiographie lag im Geschmack der Zeit; man findet sie bei andern deutschen Musikern von damals wieder. So bei Holzbauer. Sie fällt zusammen mit der Veröffentlichung der ersten Lexika, Wörterbücher und Musikgeschichten von Walther und Mattheson. Man mag mit dieser Freude der jüngeren Künstler, sich zu beschreiben, die Gleichgültigkeit eines Bach oder eines Händel vergleichen, der nicht einmal auf Matthesons biographische Fragebogen antwortet. Händel und Bach waren nicht weniger stolz auf Telemann, Holzbauer usw.; sie waren noch viel stolzer; aber ihr Stolz gipfelte darin, ihre Kunst zu zeigen und ihre Person zu verbergen. Eine neue Zeit trennt das nicht mehr; die Kunst wird das Bild der Persönlichkeit. Telemann entschuldigt sich, um aller Kritik gleich vorzubeugen, am Schluß seines Berichtes von 1718, daß er zuviel von sich gesprochen habe. Er möchte ja nicht, daß man glaube, er habe sich rühmen wollen:

»Aber wie mit gutem Gewissen für alle Welt bezeugen kan, daß, außer der erlaubten Ehre, die ein jedweder Mensch haben soll, mich keine närrische Hoffahrth plage ... Und eben also, wann ich viel von meinem Fleiße melde, so ist es nicht geschehen, mich damit groß zu machen, indem doch dieses eine allgemeine Bedingung aller Menschen ist, daß sie ohne Arbeit nichts erlangen sollen:

Nil sine magno
Vita labore dedit Mortalibus.

Sondern meine Absicht ist gewesen, diejenigen, so die Music studiren wollen, zu erinnern, daß sie in dieser unerschöpflichen Wissenschaft, ohne große Bemühung, nicht weit gelangen ...«

So glaubt er also, wie viele seiner Zeit, daß es ebenso interessant und nützlich sei, sein Leben zu kennen, wie seine Arbeit. Aber auch ohne alle diese Gründe hat er ein unendliches Vergnügen daran, von sich zu sprechen. Seine naiven Bekenntnisse sind voll Humor, Komik und Überschwang; er füllt sie mit Zitaten in allen Sprachen, eigenen Versen, Allerwelts-Moralsprüchen; er verbirgt nichts, was ihn betrifft; nach dem Tode seiner ersten Frau erzählt er in Versen die Geschichte seiner Liebe, des Brautstandes, der Hochzeit, der Krankheit, des Sterbens; er schenkt uns keine Einzelheit; die ganze Welt muß über seine Freuden und Leiden orientiert sein. Welcher Abstand von Händel und von dem großen Schweigen, in das sich jener hüllte, als er bekümmerten Herzens seine heitere Musik zu »Poro« schrieb, in den Tagen, da seine Mutter starb! Jetzt fordert der Künstler für seine Persönlichkeit seinen Platz an der Sonne und breitet sich da mit Befriedigung aus. Wer möchte das bedauern: dieser veränderten Anschauung, dieser Entspannung des inneren Zwangs, der den Ausdruck individueller Empfindungen gehemmt hatte, danken wir die lebensprühende und befreite Musik am Ende des Jahrhunderts und den Aufschrei der Leidenschaft bei Beethoven.

*

Georg Philipp Telemann wurde in Magdeburg am 14. März 1681 geboren. Er war Sohn und Enkel lutherischer Pastoren und zählte noch nicht vier Jahre, als er seinen Vater verlor. Sehr frühe zeigte er eine ungewöhnliche Begabung für Latein, Griechisch und Musik. Die Nachbarn vergnügten sich daran, den Knirps Geige, Gitarre und Flöte spielen zu hören. Ein Zug unterscheidet ihn von den anderen deutschen Musikern seiner Zeit: er hatte viel Sinn für deutsche Poesie. Als er noch ganz klein war, wurde er, einer der Jüngsten in der Schule, vom Kantor zu seinem Stellvertreter in der Singstunde ausersehen. Er nahm auch einige Klavierstunden, aber er verlor bald die Geduld, denn sein Lehrer war ein Organist ganz altmodischer Art. »In meinem Kopffe«, erzählt er, »spuckten schon muntrere Töngens, als ich hier hörte. Also schied ich, nach einer vierzehntägigen Marter, von ihm; und nach der Zeit habe ich, durch Unterweisung, in der Musik nichts mehr gelernet.« (Von einem Lehrer, versteht sich; denn er lernte viel allein und aus Büchern.)

Noch nicht zwölf Jahre alt, fing er zu komponieren an. Der Kantor, den er vertrat, komponierte; der Knabe las heimlich seine Partituren und dachte, wie herrlich es sein müsse, so schöne Dinge zu erfinden. Er fing also gleichfalls an zu schreiben, ohne einer Menschenseele etwas davon zu sagen, ließ seine Kompositionen dem Kantor unter einem Pseudonym zugehen und hatte die Freude, sie nicht nur loben, sondern in der Kirche, ja auf der Straße singen zu hören. Er wurde kühner: als ein Opernbuch ihm in die Hände fiel, setzte er es in Musik. Unfaßbares Glück! Die Oper wurde wirklich aufgeführt, und der kleine Komponist spielte selbst eine Rolle darin.

»Ach! aber, welch ein Ungewitter zog ich mir durch besagte Oper über den Hals! die Musik-Feinde kamen mit Schaaren zu meiner Mutter, und stellten ihr vor: Ich würde ein Gauckler, Seiltänzer, Spielmann, Murmelthierführer etc. werden, wenn mir die Musik nicht entzogen würde. Gesagt, gethan! mir wurden Noten, Instrumente und mit ihnen das halbe Leben genommen.«

Um ihn noch strenger zu bestrafen, schickte man ihn auf eine entfernte Schule im Harz, nach Zellerfeld. Da trieb er sehr erfolgreich Geometrie, aber der alte Adam in ihm war noch stärker. Bei einem Volksfest in den Bergen wurde der Lehrer, der eine Festkantate hätte schreiben sollen, krank. Das Kind benutzte die Gelegenheit, komponierte die Kantate und leitete das Orchester; er zählte kaum dreizehn Jahre, und er war so klein, daß man ihn auf eine Bank stellen mußte, damit die Orchesterspieler ihn sehen konnten. »Die treuherzigen Bergleute«, erzählt Telemann, »mehr durch meine Gestalt, als durch die Harmonie gerührt, ... brachten mich hauffenweise nach meiner Wohnung; einer aber von ihnen trug mich auf dem Arme dahin.« Der Schulleiter war durch diesen Erfolg geschmeichelt, gestattete ihm, die Musik zu pflegen, und erklärte, daß schließlich und endlich dieses Studium dem der Geometrie nicht entgegenstünde, ja, daß sogar eine Verwandtschaft zwischen diesen beiden Wissenschaften bestehe. Der Knabe machte von dieser Erlaubnis Gebrauch, indem er nun die Geometrie vernachlässigte. Er setzte sich wieder ans Klavier und studierte den Generalbaß, dessen Regeln er selbst ergründete und aufschrieb, »denn«, sagt er, »ich wußte noch nicht, daß Bücher davon wären«.

Siebzehnjährig kam er auf das Gymnasium nach Hildesheim, wo er Logik studierte und, obwohl er die »Barbara Celarent« nicht leiden mochte, hatte er doch ausgezeichnete Erfolge. Besonders aber machte seine musikalische Ausbildung Fortschritte, und er hörte nicht auf zu komponieren. Kein Tag sine linea. Er schrieb hauptsächlich Kirchen- und Instrumentalmusik. Seine Vorbilder waren Steffani, Rosenmüller, Corelli, Caldara. Er fand Geschmack an dem Stil der neueren deutschen und italienischen Tonsetzer, an »ihrer Erfindungsvollen, singenden und zugleich arbeitsamen Arth«. Ihre Werke bekräftigten seine instinktive Vorliebe für die ausdrucksvolle Melodie und seine Abneigung gegen den alten kontrapunktischen Stil. Er hatte insofern Glück, als er nur eine kurze Strecke von Hannover und von Wolfenbüttel entfernt war, wo berühmte Kapellen den neuen Stil pflegten. Er fuhr hin, sooft er konnte. In Hannover lernte er die französische Manier kennen, in Wolfenbüttel den theatralischen Stil Venedigs. Die Orchester an beiden Höfen waren ausgezeichnet, und Telemann studierte eifrig den Charakter der verschiedenen Instrumente: »worin ich aber weiter gegangen wäre, wenn nicht ein zu hefftiges Feuer mich angetrieben hätte, außer Clavier, Violine und Flöte, mich annoch mit dem Hoboe, der Traverse, dem Schalümo, der Gambe etc. biss auf den Contrabaß und die Quint-Posaune, bekannt zu machen.« Ein höchst moderner Zug: der Komponist sucht nicht Virtuosität auf einem einzelnen Instrument zu erlangen, wie J. S. Bach auf der Orgel und dem Klavier, sondern er will alle Möglichkeiten aller Instrumente kennen. Telemann erklärt diese Kenntnisse für unbedingt nötig zur Komposition.

In Hildesheim schrieb er Kantaten für die katholische Kirche, obgleich er überzeugter Lutheraner war. Er verfaßte auch die Musik für die Theaterstücke eines seiner Lehrer, eine Art komischer Opern mit gesprochenen Rezitativen und Arien.

Indessen war er zwanzig Jahre alt geworden, und seine Mutter wollte ebensowenig wie Händels Vater erlauben, daß er sich der Musik widme. Telemann bäumte sich nicht gegen den Familienwillen. 1701 ging er nach Leipzig mit der festen Absicht, die Rechte zu studieren. Warum aber mußte er gerade durch Halle kommen, wo er die Bekanntschaft des sechzehnjährigen Händel machte, der dort die Rechte studieren sollte, aber statt dessen Mittel und Wege gefunden hatte, eine Organistenstellung zu erlangen und in der Stadt bereits einen für sein Alter erstaunlichen Ruf genoß? Die beiden jungen Leute schlossen Freundschaft, doch mußten sie sich bald trennen, und Telemann setzte schweren Herzens seinen Weg nach Leipzig fort. Er hielt durch, allein kaum angekommen, geriet er aus einer Versuchung in die andere. Er hatte ein Zimmer in Gemeinschaft mit einem Studenten gemietet, aber als er es betrat, fand er Musikinstrumente an allen Wänden, in allen Winkeln des Zimmers. Sein Kamerad war vernarrt in Musik und legte Telemann fortwährend das Martyrium auf, ihn spielen zu hören. Noch verschwieg Telemann heroisch, daß auch er Musiker sei, doch es kam, wie es kommen mußte. Eines Tages konnte Telemann nicht widerstehen, seinem Kollegen einen von ihm komponierten Psalm zu zeigen. (Er behauptet allerdings, der andere habe ihn in seinem Koffer gefunden.) Der Freund hatte nichts Eiligeres zu tun, als das Geheimnis zu verraten. Der Psalm wurde in der Thomaskirche aufgeführt, und der entzückte Bürgermeister ließ Telemann kommen, überreichte ihm ein Ehrengeschenk und verpflichtete ihn, alle vierzehn Tage ein Stück für die Kirche zu schreiben. Das war zuviel. Telemann schrieb seiner Mutter, daß er es nicht mehr aushielte, er müsse Musiker werden. Die Mutter schickte ihren Segen, und Telemann konnte sich endlich der Musik widmen.

Man merkt daraus, welche Abneigung die damaligen deutschen Familien hatten, ihre Söhne den Musikerberuf ergreifen zu lassen, und es ist merkwürdig, wie viele große deutsche Musiker, Schütz, Händel, Kuhnau, Telemann, zu Beginn die Rechte oder Philosophie studierten. Indessen scheint dieses Studium ihnen keineswegs geschadet zu haben, und die heutigen Musiker, selbst die in ihrem Fach höchstgebildeten, deren allgemeine geistige Ausrüstung solche Lücken aufweist, sollten diese Beispiele bedenken, die beweisen, daß allgemeine Bildung sich sehr gut mit der Kenntnis der Musik verträgt und sie vielleicht sogar bereichert. Telemann jedenfalls verdankt seiner literarischen Bildung einige seiner besten musikalischen Qualitäten, seinen ganz modernen Sinn für das dichterische Element in der Musik, der sich sowohl in lyrischer Deklamation wie in symphonischer Malerei ausspricht.

Während seines Aufenthaltes in Leipzig wurde Telemann Kuhnaus Nebenbuhler, und obgleich er, wie er sagt, den größten Respekt für die »rühmlichen Qualitaeten ... dieses sonderbaren Mannes« hatte, hat er ihm doch Ungelegenheiten genug geschaffen. Kuhnau, der in vollster Mannesreife stand, entrüstete sich darüber, daß ein kleiner Student beauftragt worden war, alle vierzehn Tage eine Komposition für die Thomaskirche zu schreiben, deren Kantor er war. Wirklich war dies einigermaßen beleidigend für ihn und beweist, wie sehr der moderne Stil dem allgemeinen Geschmack entsprach, da auf ein einziges Stück hin einem unbekannten Studenten vor einem berühmten Meister der Vorzug gegeben worden war. Das war aber noch nicht alles. 1704 wurde Telemann zum Organisten und Kapellmeister der Neuen Kirche (später Matthäikirche) ernannt mit der Bemerkung, daß er im Notfalle »capabel wäre, in der Thomaskirche den Chor zu dirigieren und wann sich einmal eine Veränderung begeben möchte, so hätte man wieder ein tüchtiges subjectum«. Wohlverstanden: »wenn Herr Kuhnau sterben sollte«, denn dieser war hinfällig und von schwacher Gesundheit. Man rechnete also mit seinem Tode, auf den er indessen boshafterweise bis 1722 warten ließ. Es ist begreiflich, daß das Verfahren nicht nach Kuhnaus Geschmack war. Den höchsten Grad erreichte seine Erbitterung, als sich Telemann die Leitung der Oper zu verschaffen wußte, obgleich sie in der Regel mit der Organistenstellung unvereinbar war. Alle Studenten wandten sich ihm jetzt zu, gleichermaßen von seinem jungen Ruhm, dem Zauber des Theaters; und dem bessern Verdienst angezogen. Sie verließen Kuhnau, der sich bitter darüber beklagte. In einem Brief vom 4. Dezember 1704 legt er dar, daß »durch die neülichst daselbst Veränderung und Annehmung eines neuen Organisten, der die hiessigen Operen machet ..., die sonsten ohne Entgelt mit zu Chore gehende und zum Theil von mir unterrichtete Studenten, weil sie aus der Opera sich einiges hierum machen können ..., unseren Chor verlassen, und dem Operisten helffen«. Aber Kuhnaus Beschwerde blieb wirkungslos, und Telemann hatte seinen Willen.

So hat Telemann gleich am Beginn seiner Laufbahn dem berühmten Kuhnau Schach geboten, bevor er den Kampf mit Johann Sebastian Bach aufnahm! So stark war die Strömung der neuen musikalischen Mode!

Im übrigen verstand es Telemann, seine Erfolge für sich und für andre fruchtbar zu machen. Er war kein Intrigant, und man kann auch nicht sagen, daß es bloßer Ehrgeiz war, der ihn antrieb, alle Stellen anzunehmen, die er während seiner langen Laufbahn in seiner Hand vereinigt hat: es war vielmehr eine ungewöhnliche Aktivität und ein fieberhaftes Bedürfnis, sie auszuüben. In Leipzig arbeitete er voll Eifer, indem er sich Kuhnau zum Vorbild für den fugierten Stil nahm, Er sagt: »Die Feder des vortreflichen Hn. Johann Kuhnau diente mir hier zur Nachfolge in Fugen und Contrapunkten.« und vervollkommnete sich im Melodischen, indem er gemeinsam mit Händel arbeitete. Sie schrieben einander, sandten sich ihre Kompositionen zu und kritisierten sich gegenseitig. Zu gleicher Zeit gründete er in Leipzig mit den Studenten ein Collegium musicum, welches Konzerte veranstaltete, und leitete so die großen öffentlichen Konzertfolgen ein, die er später auch in Hamburg einführte.

Im Jahre 1705 wurde er nach Sorau, einer Stadt zwischen Frankfurt an der Oder und Breslau, als Kapellmeister eines Edelmannes berufen, des Grafen Erdmann von Promnitz, dessen kleiner Hofstaat sehr glänzend war. Der Graf war kürzlich aus Frankreich zurückgekehrt, liebte die französische Musik, und Telemann begann, französische Ouvertüren zu schreiben; mit der Feder in der Hand las er die Werke von »Lully, Campra und andrer guten Meister«, und legte sich »fast gantz auf derselben Schreibart«, sodaß er »der Ouvertüren in zwey Jahren bey 200 zusammen brachte«.

Außer dem französischen lernte Telemann in Sorau den polnischen Stil kennen. Der Hofstaat begab sich zuweilen für einige Monate auf einen oberschlesischen Sitz des Grafen, nach Pleß oder nach Krakau. Hier lernte Telemann »die polnische und hanakische Musik Die Hanaken sind die mährischen Tschechen. kennen in ihrer wahren barbarischen Schönheit. Sie bestund, in gemeinen Wirtshäusern, aus einer um den Leib geschnalleten Geige, aus einem polnischen Bocke; aus einer Quintposaune, und aus einem Regal (kleine Orgel). An ansehnlichen Oertern aber blieb das Regal weg; die beiden erstem hingegen wurden verstärckt: wie ich denn einst 36 Böcke und 8 Geigen beisammen gefunden habe. Man sollte kaum glauben, was dergleichen Bockpfeiffer oder Geiger für wunderbare Einfälle haben, wenn sie, so offt die Tantzenden ruhen, fantaisiren. Ein Aufmerckender könnte von ihnen, in 8 Tagen, Gedancken für ein gantzes Leben erschnappen. Genug, in dieser Musik steckt überaus viel gutes; wenn behörig damit umgegangen wird. Ich habe, nach der Zeit, verschiedene große Concerte und Trii in dieser Art geschrieben, die ich in einen italiänischen Rock, mit abgewechselten Adagi und Allegri, eingekleidet.« Schneider gibt Beispiele dieser polnischen Musik in Telemanns »Sonates méthodiques« und der »Kleinen Cammer-Music«.

Die Volksmusik fordert ihr Hausrecht von der gelehrten Kunst. Die deutsche Musik belebt sich in der Berührung mit der nationalen Kunst der Grenzvölker, gewinnt an Natürlichkeit und Erfindungsfrische und geht so einer neuen Jugend entgegen.

Von Sorau kam Telemann 1709 an den Eisenacher Hof, wo er wieder ein musikalisches, von französischen Einflüssen durchsetztes Milieu fand. Der Leiter der Kapelle, Pantaleon Hebenstreit, war ein Virtuose von europäischem Ruf und hatte ein nach ihm Pantaleon oder Pantalon benanntes Instrument erfunden, eine Art vervollkommnetes Hackbrett, in dem sich unser Klavier ankündigt. Pantaleon, der sogar den Beifall Ludwigs XIV. geerntet hatte, besaß eine ungewöhnliche Fertigkeit in der Komposition nach französischem Stil, und die Eisenacher Kapelle war »am meisten nach frantzösischer Art eingerichtet«, Telemann behauptet sogar, »daß sie das parisische Opernorchester übertroffen habe«. Hier vollendete er seine französische Erziehung. Tatsächlich ist in Telemanns Leben viel mehr von französischer, polnischer, italienischer, besonders französischer musikalischer Erziehung die Rede als von deutscher. Telemann schrieb in Eisenach eine Menge Konzerte im französischen Stil und eine stattliche Reihe von zwei- bis neunsätzigen Sonaten, Trios, Serenaden, Kantaten mit italienischem oder deutschem Text, in denen er der Instrumentalbegleitung große Aufmerksamkeit schenkte. Namentlich von seiner religiösen Musik hielt er viel.

In Eisenach, wo Johann Bernhard Bach Organist war, trat Telemann in Beziehungen zu Johann Sebastian und wurde 1714 der Pate seines Sohnes Philipp Emanuel. Er kam auch in Verbindung mit dem Pastor und Dichter Neumeister, einem der Hauptverfasser der religiöser, Kantate in Opernform und einem der bevorzugten Textdichter von J. S. Bach. Endlich trat in Eisenach ein trauriges Ereignis ein, das seinen Charakter sehr tief beeinflussen sollte. Er verlor 1711 seine junge Frau, die er zu Ende des Jahres 1709 in Sorau geheiratet hatte. Er hat diese Erlebnisse in einem langen Gedicht erzählt, welches er benennt:

Poetische Gedanken,
mit welchen die Asche
seiner hertzgeliebtesten Louisen Telemanns erste Frau Amalie Juliane war die Tochter des Kasseler Kapellmeisters Daniel Eberlin. eines seltsamen Mannes nach dem Curriculum vitae zu schließen, das sein Schwiegersohn entwirft: erst Hauptmann der päpstlichen Truppen in Morea, hierauf Bibliothekar in Nürnberg dann Kapellmeister in Kassel. In der Folge wurde er noch Hofmeister der Pagen, Privatsekretär, Münzaufseher, Bankier in Hamburg usw., endlich Milizhauptmann in Kassel. Er war ein gelehrter Kontrapunktist, ein guter Geiger und hat verschiedene Trios veröffentlicht.
beehren wollte
derselben hinterlassener Mann
Georg Philipp Telemann.
1711.

Diese kleine Dichtung, obgleich allzu weitschweifig und von etwas geschwätziger Empfindsamkeit, ist doch voll innigen Gefühls, wie eine schöne Musik. Sie beginnt:

So sah ich dich mein Schatz, auf einer Todtenbaare!
Ists möglich, dass ich noch für Jammer athmen kan!

Er erzählt, wie sie sich kennen gelernt und geliebt hatten.

Wir sahen uns zuerst in einem fremden Lande.
Ich dachte nicht an sie. Sie wußte nichts von mir ...
Ich weiß nicht, wo ich sie zum erstenmal erblicket;
Dies weis ich, daß sie mir gleich liebenswürdig schien ...
Ich dachte bey mir selbst: die hab ich mir ersehen ...
Doch wollte Gott mit mir gantz fremde Wege gehen,
Und sprach: du mußt zuvor ein andrer Jacob seyn:
Das hieß: Ich solte sie durch Müh und Schweiß erlangen.

Er seufzte jahrelang nach ihr. Sie schien gleichgültig. Wie litt er, als er sie einmal schwerkrank wußte! Ein andermal wollte man sie verheiraten. Er »dacht, er müßte sich das Hertze selber fressen«. Sie schien immer ohne Empfindung für ihn. Erst im letzten Augenblick, als er Sorau auf der Flucht vor der schwedischen Invasion verließ, ließ sie ihn in ihrem Herzen lesen.

Ich gieng, und nahm von ihr die letzte gute Nacht.
Allein, was wolte mich doch dieser Abschied lehren?
Ich sah ein weinend Aug und nasses Angesicht:
Sie ließ (ach welche Lust!) mich diese Worte hören:
Fahrt wohl, mein Telemann! vergesset meiner nicht!
Ich trat die Wallfahrt an mit Millionen Freuden,
Obschon des Feindes Schwert mir hinterm Rücken war.

Nun kamen die Liebesbriefe, endlich die Rückkehr, der Heiratsantrag, die Verlobung. »Wie mir damals geschah, das weis ich selber nicht.«

So waren sie nun Eheleute, und es war ein wolkenloses Glück trotz mancher Sorge und schmaler Bissen.

Der Tisch war königlich in unser beyder Augen,
Auf den doch selten mehr, als eine Schüssel kam.

Kein Zank trübte ihre treue Liebe. Nun kam auch noch ein »liebes Kind«.

Anitzo fangen mir die Glieder an zu beben.
Ich komm auf einen Punct, der gar zu bitter ist.

Sechs Tage nach der Geburt war sie wohl, heiter und zu Scherzen aufgelegt, wie immer. Allein er hatte seltsame Vorgefühle. Er verbarg sich, um zu weinen.

So bald der Abend kam, so fieng sie an zu klagen.

Sie verlangte einen Priester.

Es war als träumte mir Ich könnt unmöglich glauben,
Daß ihres Lebens Ziel so nahe solte seyn
Drum wolt ich ihr erst nicht den Geistlichen erlauben,
Doch als sie heftig bath, gieng ich es endlich ein.

Sie sagte:

Ich bitte dich itzund vom Grunde meiner Seelen,
Verzeihe, wenn ich dir jemals ein Leid gethan.

Sie sprach von ihrer Liebe in den rührendsten Worten:

An statt der Antwort ließ ich Thränen rinnen.

Der Priester kam.

Hier lernt ich erst was recht mit Andacht bethen heißt,
Ihr angenehmer Mund hieß eine Himmelspforte ...
Nur Jesus war ihr Trost. Nur Jesus war ihr Leben.
Nur Jesus war Licht. Nur Jesus war ihr Heil.

Immer wieder rief sie ihn an.

Denn Jesus! Jesus war ihr Wort ohn Unterlaß,
Und das auch eher nicht aus ihrem Munde schiede,
Als bis der bittre Tod schon auf der Zunge sass.
Und endlich spürt ich auch nach mir noch einge Triebe;
Sie reichte mir die Hand, und fing liebreitzend an:
Ich danke tausendmal für deine treue Liebe ...
Dein Hertze wohnt in mir. Diess nehm ich mit zum Himmel ...

Man wollte, daß sie schliefe. Sie verweigerte es,
indem sie mit ihrer schönen Stimme sang:

Ich lasse Jesum nicht! Ich hoff auf sein Erbarmen;
Er liebt mich und ich ihn. Ich lasse Jesum nicht!
So sang sie voller Lust mit ausgespannten Armen,
Und kehrte Himmelwärts ihr lachend Angesicht ...
Die Mattigkeit nahm zu. Sie fiel in einen Schlummer,
In dem sie (wo mir recht) zwo gantzer Stunden lag.
Bey mir verschwand indess ein großer Theil von Kummer;
Ich wartete getrost auf einen guten Tag.
Die süsse Ruhe ward ihr endlich unterbrochen;
Sie fieng ganz unverhofft, doch etwas Krafftloss an:
Mein Jesus hat mit mir im Traum gesprochen ...
Drauf kam ihrs dunkel vor, indem sie wolte klagen:
Die Lichter hätten nicht, wie vor, den Schein
Und, daß ich alles mag mit wenig Worten sagen:
Sie neigte sich, und schlief in Christo selig ein.
Und solt ich meine Noth und meine Quaal beschreiben:
Allein, wo fang ich an? ...
Schreib ich: der Himmel liegt mir ängstlich auf dem Rücken:
Der ganzen Erde Last hat meine Brust beklemmt:
Die dicke Luft wil mich mit Bangigkeit ersticken;
Das Blut in Adern wird versticket und gehemmt;
Die Ohren brausen mir, als hörte ich ein Wetter;
Ein schwartzer Nebel nimbt den Augen ihren Schein;
Es zittern Hand und Hertz, als wie die leichten Blätter;
Die Füsse wollen nicht des Leibes Stütze seyn:
Und wenn ich alles diss der Länge nach erzählte:
Hätt ich nur von meiner Pein berührt.
Gnug: wie ein solcher Schmertz die matten Sinne quälet,
Weiss niemand sonst, als wer dergleichen selbst verspürt.

Er schließt mit den Worten: »Mein Engel gute Nacht!«

Man fühlt aus dieser rührenden Erzählung, die von schmerzlicher Glaubenskraft durchdrungen ist, daß Telemann, wie er sagt, in Eisenach »auch im Christenthume ein gantz anderer Mensch worden« ist. Aber so tief er auch getroffen war, seine Natur war zu lebendig und zu regsam, als daß er sich in seinen Schmerz vergraben konnte: drei Jahre später nahm der untröstliche Gatte eine zweite Frau, die es sich zur Aufgabe machte, das Andenken der ersten zu rächen.

Er hatte Eisenach verlassen. Trotz seiner schönen Stellung am Hofe hatte ihn sein Abwechslungsbedürfnis bewogen, einen Antrag nach Frankfurt am Main im Jahre 1712 anzunehmen.

»Aber wie gerathe ich zu denen HHnn Republicanern,« sagt er selbst, »bey welchen, wie man glaubet, die Wissenschafften wenig gelten,

Où le docte savoir ne leur semble plus rien
Où l'on hazarde tout pour acquérir du bien? Telemann zitiert leidenschaftlich gern französische Verse und, wie die meisten Ausländer, lieber schlechte als gute.

Ich weiß nicht, was mich bewog, einen so auserlesenen Hof, als der eisenachische war, zu verlassen; aber das weiß ich, damahls gehört zu haben: Wer Zeit Lebens fest sitzen wolle, müsse sich in einer Republick niederlassen; und obschon nicht bey allen Höfen eintrifft:

Qu'au matin l'air pour nous est tranquille et serein
Mais sombre vers le soir et de nuages plein,

am allerwenigsten aber in Eisenach zu vermuthen war, so ließ mir doch endlich den Rath gefallen: Ich möchte die Wahrheit dieses Spruches nicht in eigner Erfahrung erwarten.«

Er hatte seinen Entschluß nicht zu bereuen. Er wurde zum Kapellmeister mehrerer Frankfurter Kirchen ernannt und nahm überdies die seltsame Stellung eines Intendanten bei einer vornehmen Frankfurter Gesellschaft an, die sich im Haus Frauenstein vereinigte, und von der er mit ganz anderen als musikalischen Angelegenheiten betraut wurde: er verwaltete die Finanzen, versorgte die Festmahlzeiten, hielt ein Tabakskollegium usf. Es war das eine Sitte der Zeit, und Telemann vergab sich nichts, als er diese Stellung annahm, sondern wurde damit im Gegenteil ein Mitglied des vornehmsten Kreises der Stadt. Er gründete dort 1713 ein großes Collegium musicum, das sich von Michaelis bis Pfingsten alle Donnerstage im Frauenstein vereinigte, um die Gesellschaft zu erlustigen und sie in der Musik zu vervollkommnen. Diese Konzerte waren nicht geschlossen, man konnte auch Fremde einführen. Telemann übernahm es, sie mit Musik zu versorgen: Sonaten für Solovioline oder mit Klavierbegleitung, kleine Kammermusik, Trios für Geige, Oboe, Flöte oder Fagott und Kontrabaß, fünf Oratorien über das Leben Davids, mehrere Passionen, darunter eine auf den berühmten Text von Brockes, deren Erstaufführung in der Frankfurter Hauptkirche 1716 ein großes musikalisches Ereignis war, zwanzig Hochzeitsserenaden, »zu welchen allen«, sagt Telemann, »die Verse mich zum Urheber haben; deren viele ich aber, in Ansehung ihrer Freiheit, und ihres nicht gar zu schmackhafften Saltzes. itzo zu schreiben Bedenken tragen würde.« Diese Hochzeitsserenaden enthielten Arien zu Ehren jeder Gesundheit, die man ausbrachte. Die Ordnung der Trinksprüche war, wie folgt:

1. Auf Ihro Römisch-Katholische Majestät,
2. Auf Ihro Majestät die Römische Kaiserin,
3. Auf Se. Hochfürstl. Durchl. Printz Eugenium,
4. Auf Se. Hochfürstl. Durchl. Hertzog von Marlborough,
5. Auf eines Hoch-Edlen Magistrats und sämbtlicher Stadt Franckfurth Wohlfarth,
6. Auf einen baldigen und guten Frieden und das dadurch florirende Commercium.
7. Auf die Jungfer Braut,
8. Auf den Herrn Bräutigam,
Schluß-Aria auf das Hochzeits-Paar.

(Ein glückliches Paar, in der Tat, das bis zum neunten Toast durchhalten mußte.)

Dies war während des Krieges mit Ludwig XIV., und man war dem Frieden schon nahe, den Telemann in einer Kantate (3. März 1715) feierte. Er schrieb auch eine auf den Sieg des Kaisers bei Semlin und bei Peterwardein, auf den Frieden von Passarowitz 1718, von den Geburtstagen der kaiserlichen Familie gar nicht zu reden.

1721 verließ er Frankfurt, um nach Hamburg zu gehen, wo er zum Kapellmeister und Kantor am Johanneum ernannt wurde. Der Wandermusikant sollte endlich hier einen ruhigen Halt finden, eine Stellung, die er ein halbes Jahrhundert lang bis zu seinem Tode behielt. Allerdings war er 1723 wieder nahe daran auszuwandern, um die Nachfolge des nun endlich doch dahingegangenen Kuhnau in Leipzig anzutreten, für die man ihn einmütig gewählt hatte. Aber Hamburg wollte ihn nicht ziehen lassen und nahm alle Bedingungen Telemanns an. Noch ein wenig später, 1729, kam er in Versuchung, nach Rußland zu gehen, wo man ihm vorschlug, eine deutsche Kapelle zu begründen, »Hamburgs Annehmlichkeit aber, und der Vorsatz ... endlich stille zu sitzen, überwogen die Begierde nach einer außerordentlichen Ehre«.

»Stille zu sitzen ...« Die Ruhe Telemanns war eine sehr bedingte. Er hatte den musikalischen Unterricht am Gymnasium und am Johanneum zu leiten und zwar fast täglich Gesangs- und musikhistorische Kurse. Er hatte für die fünf Hamburger Hauptkirchen die Musik zu liefern, mit Ausnahme des Doms, wo Mattheson thronte. Für das Jubiläumsfest zu Ehren des zweihundertjährigen Bestehens der Augsburger Konfession im Juni 1730 machten hundert Personen in den fünf Hauptkirchen Musik. Alle aufgeführten Werke waren von Telemann, der, obwohl er krank war, alles leitete. Er hatte für dieses Fest allein zehn Kantaten verfaßt. Er war Musikdirektor der Hamburger Oper, die sehr heruntergekommen war, aber 1722 wieder flottgemacht wurde. Diese Stellung war kein Ruheposten. Die Parteinahme für die Künstler war nicht weniger heftig als in der Londoner Oper unter Händel und der Federkrieg um nichts weniger bissig. Telemann wurde nicht geschont und sein eheliches Unglück und die lebhafte Neigung seiner Frau für schwedische Offiziere brutal ans Licht gezerrt. Seine musikalische Impulsivität scheint darunter nicht gelitten zu haben, denn gerade aus dieser Zeit stammen eine Reihe von Opern und Singspielen, die von guter Laune und reicher Erfahrung sprühen.

Ihm genügte das aber noch nicht: sofort nach seiner Ankunft in Hamburg hatte er ein Collegium musicum und öffentliche Konzerte begründet. Die Konservativen wollten dem Kantor verbieten, seine Musik in einem öffentlichen Wirtshaus hören zu lassen und dort Opern, Komödien und andere »alle dergleichen zur Wollust anreitzende Spiele« aufzuführen, aber Telemann gab nicht nach und siegte schließlich. Die von ihm begründeten Konzerte dauern bis auf unsere Zeit. Sie fanden zuerst in der Kaserne der Bürgergarde zweimal wöchentlich, Montag und Donnerstag um vier Uhr, statt. Der Eintrittspreis betrug 1 fl. 8 Gr. Telemann brachte hier alle seine Arbeiten zur Aufführung, religiöse und profane, für öffentliche und private Zwecke geschriebene oder schon aufgeführte, nicht zu gedenken jener, die er für eben diese Konzerte schrieb: Psalmen, Oratorien, Kantaten, Instrumentalmusik. Er dirigierte kaum je andere Musik als die seine. Es scheint, daß er nur für Händel eine Ausnahme machte, dessen Passion er 1722 und dessen Vokal- und Instrumentalkompositionen er 1755 dirigierte und für Graun, dessen »Tod Jesu« er 1756 zu Gehör brachte. Diese Konzerte waren von der besten Gesellschaft besucht, von der Kritik beachtet und erreichten, da sie sorgsam und regelmäßig geleitet wurden, bald eine hohe Blüte. 1761 errichtete man ihnen einen schönen heizbaren Saal.

Aber mehr: 1728 gründete er die erste deutsche Musikzeitung. »Der Getreue Music-Meister.« Er veröffentlichte hier Stücke zeitgenössischer Meister, darunter von Pisendel, Zelenka, Görner, von J. S. Bach (einen vierstimmigen Kanon). Er selbst machte dafür einige Auszüge aus seinen Opern. Er behielt den Titel eines sächsischen Kapellmeisters bei und lieferte weiter die Tafel- und sonstige höfische Fest-Musik nach Eisenach. Als er von Frankfurt weg ging, hatte er sich verpflichtet, zum Dank für das ihm verliehene Bürgerrecht alle drei Jahre religiöse Kompositionen zu schicken. Seit 1726 war er Kapellmeister von Bayreuth und schickte jährlich eine Oper und Instrumentalmusik hin. Da endlich die Musik nicht hinzureichen schien, um seine Regsamkeit zu beschäftigen, wurde er noch Korrespondent des Eisenacher Hofes und sandte Berichte über die Ereignisse im Norden. Wenn er krank war, diktierte er seinem Sohn.

Die Summe seiner Arbeit ist kaum zu berechnen. In zwanzig Jahren seines Lebens, allein von 1720 bis ungefähr 1740, zählt er zusammen: zwölf vollständige religiöse Zyklen für alle Sonn- und Feiertage des Jahres Man fand neununddreißig Jahre nach seinem Tode., neunzehn Passionen, deren Dichtungen vielfach auch von ihm waren, etwa zwanzig Opern und Singspiele und ebensoviele Oratorien, gegen vierzig Serenaden, sechshundert Ouvertüren, Trios, Konzerte, Klavierstücke usw., siebenhundert Arien usw.

Diese märchenhafte Regsamkeit wurde nur durch eine Reise unterbrochen, die nach Paris, die der Traum seines Lebens gewesen war. Oft schon war er von Pariser Virtuosen, die seine Werke bewunderten, dorthin eingeladen worden. Nun kam er zu Michaelis 1737 an und blieb acht Monate. Blavet, Guignon, Forcroy der Jüngere und Edouard Blavet spielte Flöte, Guignon Violine, Forcroy Gambe und Edouard Violoncell. spielten seine Quartette auf »bewunderungswürdige Art. Sie machten die Ohren des Hofes und der Stadt ungewöhnlich aufmerksam, und erwarben mir, in kurzer Zeit, eine fast allgemeine Ehre, welche mit gehäuffter Höflichkeit begleitet war«. Er benutzte sie und ließ in Paris diese Quartette und sechs Sonaten stechen. Arbeiten von Telemann erschienen seit 1736 in Paris. (Siehe Michel Brenet.) Am 25. März 1738 brachte das Concert Spirituel seinen 71. Psalm, fünfstimmig mit Orchester. Er schrieb in Paris eine französische Kantate »Polypheme«, und eine komische Symphonie über ein Lied, das gerade in der Mode war, »Pere Barnabas«, »und schied mit vollem Vergnügen von dannen, in Hoffnung des Wiedersehens.«

Er blieb Paris treu und Paris ihm. Man stach weiter seine Arbeiten in Frankreich und führte sie im Concert Spirituel auf. Telemann seinerseits sprach mit Begeisterung von seiner Reise und kämpfte in Deutschland für französische Musik. Die »Hamburgischen Belichte von gelehrten Sachen« sagen 1737: »Herr T. wird indes die Kenner der Musik gar sehr verhindern, wenn er, seinem Versprechen gemäs, den gegenwärtigen Zustand der Musik zu Paris, so wie er ihn aus eigener Erfahrung erlernet hat, deutlich beschreibet, und dadurch die französische Musik, welche er in Teutschland so sehr in Aufnahme gebracht, immer beliebter bey uns zu machen suchet.« Telemann fing nun an, diesen Vorschlag auszuführen. In einer Vorrede schreibt er 1742, daß er schon ein gut Teil seiner Reiseerfahrungen zu Papier gebracht habe und daß nur der Zeitmangel ihn an der Vollendung gehindert hat. Es sei um so wünschenswerter, sie zu veröffentlichen, sagt er »als es gilt, den Vorurteilen, so man hin und wieder gegen Französische Musik heget, einigermaßen dadurch abzuhelfen«. Leider weiß man nicht, was aus diesen Aufzeichnungen geworden ist.

In seinem Alter teilte dieser liebenswürdige Mensch sein Herz zwischen zwei Leidenschaften: für die Musik und für Blumen. Es sind Briefe erhalten, in denen er um Blumen bittet und von seiner »Unersättlichkeit in Hyazinthen und Tulpen« spricht, von seinem »Geiz nach Ranunkeln und besonders Anemonen.« – Das Alter brachte ihm Beschwerden: die Beine wurden schwach, das Sehvermögen schlecht, aber niemals litten sein musikalischer Tätigkeitsdrang noch seine gute Laune darunter. Auf eine Arienpartitur schrieb er 1762:

Mit Dinte, deren Fluß zu stark,
Mit Federn, die nur pappicht Quark
Bey blöden Augen, finsterm Wetter
Bey einer Lampe, schwach von Licht,
Verfaßt' ich diese saubern Blätter.
Man schelte mich deswegen nicht!

Seine stärksten musikalischen Kompositionen datieren aus den letzten Jahren seines Lebens, als er über achtzig Jahre alt war. So die beiden von Schneider veröffentlichten Kantaten: »Der Tag des Gerichts« (1761 oder 1762) und »Ino« (1765). Ein Jahr vor seinem Tode veröffentlichte er noch ein theoretisches Werk und schrieb eine Passion. Er starb am 25. Juni 1767 zu Hamburg, reich an Jahren und an Ruhm. Er zählte mehr als sechsundachtzig Jahre.

*

Fassen wir die Resultate dieser langen Laufbahn nun zusammen und trachten wir, ihren Hauptlinien nachzugehen. Wie immer wir die Qualität dieser Lebensarbeit auch beurteilen mögen, es ist unmöglich, die phänomenale Quantität Selbst Telemanns Bewunderer sahen bei seinen Lebzeiten dieser abnormen, maß- und bedenkenlosen Produktion nicht ohne Kopfschütteln zu. Händel sagte scherzend, Telemann schreibe ein Kirchenstück wie ein anderer einen Brief. – Graun schrieb 1752 an Telemann: »Doch aber kann nicht unberühret lassen, daß ich mit dero Satze, In der Melodie ist nichts Neues mehr zu finden, nicht zufrieden bin. Bey deren meisten französischen Compositeurs glaube ich wohl, daß selbige erschöpfet sey, aber nicht bei einem Telemann, wenn er nur nicht durch all zu viel Schreiben, sich selbst einen Eckel verursachen wollte?« Und Ebeling sagte 1770: »Überhaupt wäre er größer, wenn es ihm nicht so leicht gewesen wäre so unsäglich viel zu schreiben.« zu übersehen und die staunenswerte Vitalität eines Menschen, der vom zehnten bis zum sechsundachtzigsten Jahre mit nie ermattender Freude und Begeisterung komponiert, seine hundert andern Beschäftigungen gar nicht gerechnet.

Vom Anfang bis zum Schluß bleibt diese Vitalität enthusiastisch und frisch. In keinem Augenblick seines Lebens altert er und wird konservativ, sondern er strebt immer mit der Jugend vorwärts – ein seltener Fall. Seit seinen Anfängen zieht ihn die neue Kunst, die melodische, an, und er verbirgt seine Abneigung gegen das Versteinerte nicht.

1718 schreibt er im Hinblick auf sich diese schlechten französischen Verse nieder:

»Ne les élève pas (die Alten) dans un ouvrage saint
Au rang ou dans ce temps les Auteurs ont atteint.
Plus féconde aujourd'hui la Musique divine
D'un art laborieux étale la doctrine,
Dont on voit chaque jour s'accroitre les progrèz.«

Diese Verse sprechen für ihn: in dem großen Streit der Alten und der Neuen ist er ein Moderner, und er glaubt an den Fortschritt. »Man darf zur Kunst nicht sagen: Du kannst nicht mehr weiter. – Man kann immer weiter, man soll immer weitergehen.« »Ist in der Melodie nichts Neues mehr zu finden,« schreibt er dem zaghaften Graun, »so muß man es in der Harmonie suchen.« 15. Dezember 1751.

Der überaus konservative Graun ist entsetzt:

»In der Harmonie neue Thöne suchen, kommt mir ebenso vor, als in einer Sprache neue Buchstaben. Unsere jetzigen Sprachlehrer schaffen lieber etliche ab.« 14. Januar 1752.

»Ja, heißt es: man soll aber nicht zu weit gehen; bis in den untersten Grund, antworte ich drauf,« schreibt Telemann, »wenn man den Namen eines fleißigen Meisters verdienen will. Solches habe zu bewerkstelligen getrachtet, als ich die Hand an mein Intervallensystem gelegt, und mir daher keinen Vorwurf wegen unnutzer Klauberey zu machen, sondern vielmehr, wenigstens von der Nachwelt, ein Gratias vermute.«

Dieser verwegene Modernismus setzte sogar Neuerer wie Scheibe in Erstaunen. In seiner Vorrede zu seiner »Abhandlung von den Musicalischen Intervallen« (1739) sagt Scheibe, daß die Bekanntschaft mit Telemann, die er in Hamburg machte, ihn noch mehr in der Richtigkeit seines Systems bestärkt habe, »weil«, so schreibt er, »ich in den musicalischen Stücken dieses großen Mannes sehr oft solche ungewöhnliche und fremde Intervallen antraf, die ich fast selbst noch nicht für brauchbar gehalten hatte, weil ich sie noch nicht bey andern Componisten angetroffen, ob ich sie schon längst unter die Reyhe der Intervallen hatte, und von ihrer Gewißheit aus meinem System bereits überführet war ... Ich hörte mit größtem Vergnügen, daß Er alle Intervalle, die sich in meinem System befanden, mit der schönsten Zierlichkeit und so nachdrücklich und rührend in seinen Stücken anbrachte, wo es nur die Stärke der Gemütsbewegungen erforderte, daß man, ohne der Natur selbst zu widersprechen, diese Intervallen unmöglich verwerfen konnte ...«

Ein anderes Feld der Musik, auf dem er ein begeisterter Neuerer war, ist die Tonmalerei. Hier erreichte er einen universellen Ruhm, indem er zugleich den Vorurteilen seiner Landsleute entgegentrat: denn man liebte diese musikalischen Schilderungen, die nach französischem Geschmack waren, in Deutschland nur wenig: indessen ließen sich auch die Strengsten von der Kraft einiger dieser Bilder unterjochen. Max Schneider hat in einer Lessingausgabet »Kollektaneen zur Literatur«, Wien 1804. das folgende Urteil von Philipp Emanuel Bach gefunden:

»Herr Bach, welcher hier in Hamburg Telemanns Stelle erhalten hat, ist beständig ein besonderer Freund von diesem gewesen ... Telemann, sagt er, ist ein großer Mahler, wovon er besonders in einem seiner Jahrgänge (Zyklen kirchlicher Musik für alle Festtage des Jahres), welcher hier der Zellische heißt, ganz ausnehmende Beweise gegeben hat. Unter andern führte er mir eine gewisse Arie an, worin er das Erstaunen und den Schrecken über die Erscheinung eines Geistes ganz unnachahmlich ausgedrückt habe, so daß man auch ohne die Worte, welche höchst elend sind, gleich hören könne, was die Musik wolle. Aber Telemann übertrieb auch nicht selten seine Nachahmung in das Abgeschmackte, indem er Dinge mahlte, welche die Musik gar nicht mahlen sollte. Graun hingegen hatte einen viel zu zärtlichen Geschmack, um in diesen Fehler zu fallen; aber die Hut, auf der er desfalls beständig stand, macht auch, daß er selten oder gar nicht mahlte und sich meistenteils einer lieblichen Melodie begnügte.«

Sicherlich hatte Graun einen feineren Sinn für das Schöne, aber der Telemanns für das Leben war viel stärker.

Ein vornehmer Kritiker jener Zeit, Christian David Ebeling, Professor am Hamburger Johanneum, schrieb »Hamburger Unterhaltungen«, 1770. kurz nach Telemanns Tode:

»Ein großer Hauptfehler in allen seinen Werken, den er den Franzosen abgelernt hatte: er war so sehr in die musikalischen Mahlereyen verliebt, daß er sie nicht selten ganz widersinnig anbrachte, an einem mahlerischen Worte oder Gedanken kleben blieb, und darüber den Affekt des Ganzen vergaß; daß er in Spielwerke verfiel, und Dinge mahlen wollte, die keine Musik ausdrücken kann ... Aber man muß auch gestehen, daß keiner mit stärkeren Zügen mahlt, und die Einbildungskraft mehr zu erheben weiß, als er, wenn er diese Schönheiten zur rechten Zeit anbringt.«

Man vergesse nicht, daß Händel sich zu gleicher Zeit der gleichen deutschen Kritik aussetzte. Schreibt doch Peter Schulz 1772, er könne nicht verstehen, wie ein Mann von Händels Begabung sich und sein Talent so weit erniedrigen kann, in einem Oratorium durch Noten die ägyptischen Plagen, die hüpfenden Heuschrecken, das Ungeziefer und andere ähnlich ekelhafte Dinge zu malen. Man könne sich einen törichteren Mißbrauch der Kunst nicht vorstellen.

Der wackere Peter Schulz ist ein charmanter Musiker, und in der Theorie hat er möglicherweise recht; aber was nützen Theorien? Alle Aesthetiker der Welt können durch a + b beweisen, daß jede Tonmalerei absurd ist und daß Händel ebenso wie später Berlioz und Richard Strauß sich gegen den guten Geschmack und gegen die Musik selbst vergangen haben: das hindert nicht, daß der Hagelohor in »Israel in Aegypten« ein Meisterwerk ist und daß man seinem Brausen ebensowenig widerstehen kann wie dem Rakoczymarsch oder der Schlacht im »Heldenleben«. Ohne eine überflüssige Diskussion heraufzubeschwören (denn die Musik bedarf ihrer nicht, und das Publikum folgt der Musik und läßt die Streiter im Stich) muß man bemerken, daß man schon zu Telemanns Zeit hier auf französische Einflüsse aufmerksam wurde.

Man hat in seiner Lebensbeschreibung gesehen, daß ihm die Möglichkeiten, französische Musik kennenzulernen, nicht gefehlt hatten. Im ganzen war seine musikalische Erziehung mehr französisch als deutsch. Zuerst in Hannover, als er siebzehnjährig das Gymnasium in Hildesheim besuchte, dann 1705 in Sorau und ein drittes Mal in Eisenach, bei Pantaleon Hebenstreit (1709), hatte er sich in einem französischen Milieu befunden und sich bemüht, im französischen Stil zu arbeiten. Seine Pariser Reise 1737 hatte ihn völlig zu einem Franzosen in Deutschland gemacht, der von seiner Sache durchdrungen war und sie mit Überzeugung vertrat. Er hatte die Franzosen in Deutschland in Mode gebracht. »Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen«, 1737

Wenn er daran dachte, die Eindrücke seiner Pariser Reise zu Papier zu bringen, so geschah es, nach seinem Geständnis, nur, um die landläufigen Vorurteile gegen französische Musik zu bekämpfen und um sie in ihrer wahren Schönheit, als subtile Nachahmerin der Natur aufzuzeigen.

Ein merkwürdiges Dokument zeigt uns, welch genauer Kenner französischen Stiles Telemann war: es ist dies eine Korrespondenz mit Graun von 1751-52 über Rameau. Veröffentlicht von Max Schneider. Graun hatte Telemann einen langen Brief geschrieben, in dem er die Rezitative in »Kastor und Pollux« zerpflückte. Er tadelte den Mangel an Natürlichkeit, die falschen Intonationen, das Arioso, das im Rezitativ nicht am Platze war, die grundlosen Taktveränderungen, die »dem Sänger und Accompagnateurs« Schwierigkeiten machen: »... ist also nicht natürlich. Und halte ich es vor eine Haupt Regel: Man muss ohne erhebliche Ursache keine unnatürliche Schwierigkeiten machen,« und er fügt »sub rosa« hinzu: »Mir deucht das französische Recitativ-Singen komme dem Hunde Geheule »Der französische Gesang ist nichts als ein unausstehliches Gebell für jedes unbefangene Ohr.«
(J. J. Rousseau, »Brief über die französische Musik«.)
etwas nahe ... Enfin, mir gefällt die französische Recitatif Art ganz und gar nicht, u. wie ich in meinem Leben erfahren habe, so fält sie auch in keinem Theile der Welt als nur in Frankreich ...« Und nun fällt er über Rameau her. »Rameau, welchen die Pariser le Grand Rameau, l'honneur de la France nennen. Rameau muss es wohl selbst auch glauben, dass er es sey, denn er hat, wie Hasse erzählt, selbst gesagt: Er könnte nichts schlechtes machen. Worinnen äussert sich denn seine rhetorische, philosophische und mathematische Gelehrsamkeit? in der Melodie oder im Satze? ... Ich gestehe, ich habe in der Mathematique wenig oder nichts gethan, habe auch in der Jugend keine Gelegenheit gehabt, habe aber auch erfahren, dass die mathematischen Compositeurs der practischen Music wenig Nutzen und Ehre verschafft, wie ich gleichfalls gesehen, dass der grosse Mathematicus Euler falsche ... Sätze angegeben hat.«

Telemann erwidert: 15. Dezember 1751.

»Hochedelgebohrener insonders Hochzuehrender Herr u. liebwehrtester Freund! Wir wollen uns vergleichen. Ew. Hochedelgeb. suchen zu behaupten: der Welschen D. h. der Italiener. ihr Recitatif sey vernünftiger, als der Franzosen ihres. Ich sage sie taugen alle beyde nichts, in so fern wir ihnen eine Aehnlichkeit mit der Sprache beylegen; will aber doch, wenn Sie draufdringen, Ihnen Ihren ersten Satz, mit Vorbehaltung einer Bedenkzeit wegen des andern, friedliebend einräumen, auch das Mandat mit unterschreiben, dass künftig alle Völker nach dem Italiänischen Leisten recitiren sollen.«

Darauf geht er die von Graun zitierte Stelle aus Rameaus »Kastor und Pollux« durch:

Telaire zu Pollux (II. Akt, 5. Szene)

D'un frère infortuné ressusciter la cendre,
l'arracher au tombeau, m'empêcher d'y descendre,
triompher de vos feux, des siens être l'appuy,
le rendre au jour, à ce qu'il aime,
c'est montrer à Jupiter même,
que vous êtes digne de lui.

»Dass der herrschende Affect«, sagt er, »herrisch sey, solches erhellet aus den Worten digne de Jupiter même. Diesen Affect hat der Componist nicht allein erreichet, sondern auch die Nebenobjecte im Vorbeygehen berühret. Infortune zärtlich; ressusciter ein rollender Triller; l'arracher au tombeau, prächtig; m'empêcher eine Aufhaltung, triompher trotzig; à ce qu'il aime zärtlich, même erhaben: digne eine Dehnung ... Bald bekomme ich Lust, auch den Bass durchzugehen, da sich denn zeigen würde, dass er ohne matt zu werden, nicht anders hat seyn können, als er ist. Wie verhält sich unser Italiäner?« Der Italiener war Graun, der es für nötig gehalten hatte, die Stelle bei Rameau zu überarbeiten, und zwar auf andere Weise.

Noten
Noten

Das wird nun von Telemann mit boshaftem Vergnügen durchgehechelt:

»Die Harmonie ist zur Hälfte traurig, bitter, sauer, und die Nebenobjecte sind, ungeachtet ihrer Verschiedenheit, auf einerley Ahrt vorgetragen, und ermüden also das Ohr ... Im 2ten Tacte ist eine Pause wodurch der Wortverstand unterbrochen wird, im 7ten Tacte sind aus rendre au jour vier Sylben gemacht ...« Nun folgen einige sehr richtige Bemerkungen über die Art wie ein Franzose »rezitiert«, ganz anders als ein Italiener, über die Aussprache verschiedener französischer Worte, die Graun falsch aufgefaßt hat, über »namhafte« Worte, die im Französischen vokalisiert werden müssen: »Triompher, voler, chanter, rire, gloire, victoire«. Hier hat Telemann ein kleines ironisches Lächeln. »Die Tact Veränderungen machen dem Franzosen gar keine Schwierigkeit. Es lauft alles nach einander fort, wie Champagnerwein ... Ob die französischen Recitative in keinem Welttheile gefallen, das weiss ich nicht, weil die Geschichtsbücher nichts davon melden ... Zum wenigsten habe ich Deutsche, Engländer, Russen, Polacken u. auch ein Par Juden gekannt, die mir ganze Auftritte aus dem Atys, Bellerophon etc. auswendig vorgesungen. Das macht sie haben ihnen gefallen. Hingegen ist mir kein einziger Mensch vorgekommen, der von den Welschen mehr gesaget als: Sie wären schön, excellent, unvergleichlich, aber ich habe nichts davon behalten können ...« Er fügt hinzu, daß er wohl seine Rezitative »nach dem Welschen Fusse abfasse ..., um mit dem Strome zu schwimmen,« daß er aber ganze Zyklen religiöser Musik und Passionen im französischen Stil komponiert habe. Endlich bekennt er sich zu den harmonischen Kühnheiten und stützt sich dabei auf die Franzosen, die ihnen Beifall zollen.

Graun antwortet etwas beleidigt. 14. Januar 1752 Er behauptet, daß Telemann Rameaus Rezitativ nicht ohne Malice verteidigt habe. »Denn«, sagt er, »Sie wollen wie aus einer kleinen Leichtfertigkeit glauben machen, dass bei Infortuné der Ausdruck zärtlich sey. Ich glaube aber, dass wenn es auch bien heureux wäre, der Ausdruck auch gantz wohl stehen könnte ... Durch einen rollenden Triller die Resuszitation zu exprimiren, ist mir ganz was unbekanndtes, weil man nur von einer einzigen Auferweckung ... was weiss, davon aber die Schrifft nichts gedenket, dass dabey was wäre gerollet worden ... Die Expression bey l'arracher au tombeau halten Sie vor prächtig ...« Er glaube, »dass wenn die Worte etwan hiessen: mettre dans le tombeau, die Modulation denen Worten ähnlicher seyn würde, als sie der Compositeur gemacht ... Das Zärtliche bey à ce qu'il aime kann nicht finden, wenn bey dem Contrario, à ce qu'il hait könne die Modulation eben auch passiren. Bei der vermeinten Erhabenheit des Wortes même stelle ich mir in Gedanken ein klägliches französisches Heulen vor, weil in einem hohen Tone 2 Sylben ausgesprochen werden müssen, welches dem habilsten Sänger sauer wird.«

Nachdem er einige Fehler Rameaus bezeichnet hat, fügt er hinzu:

»Mon cher! mich deucht hierinnen sind Sie ein bissgen zu partialisch vor die Nation, sonst würden Sie dergleichen Hauptfehler wieder die Rhetorie nicht so leicht passiren lassen, zumahl da alle Blätter von Rameau davon voll sind.«

Hierauf geht er zu der an ihn gerichteten Kritik über: »Sie fragen, mon cher! Wie verhält sich ... unser Italiener? Ich als ein teutzscher, wie Sie, suche das vornehmste in der gantzen Rede zu exprimiren, ... die eintzelne Wort-Expressiones aber, wenn sie nicht natürlich fallen, gantz und gar erlasse ..., verbleibe also bey dem mir vor vernünftig vorkommenden Schlentrian, (wie Sie ihn zu nennen belieben.) Denn in der stuffen Weise angebrachten Erhöhung der Music finde eine wahrhaffte Nachahmung des Redners, welcher seine Stimme dabey erheben wird und muss.«

Ungern gesteht er ein, daß er sich bei der Zählung der Silben des französischen Verses geirrt habe, und hat dafür die sonderbare Ausrede, die französischen Komödianten sprächen ihre Verse, als wenn es Prosa wäre, und nähmen die Anzahl der Silben nicht so genau in acht. Die Beobachtung Grauns bezieht sich auf die Schule Barons, die den Rhythmus des Verses so frei behandelte, daß man nicht mehr unterscheiden konnte, ob es Verse oder Prosa waren, und mehr noch auf die damals berühmte Dumesnil, die versifizierte Reden mit einer Geläufigkeit herunterschnurrte, daß die Puristen entsetzt waren.

Wir haben Telemanns Antwort nicht mehr, aber ein Brief Grauns vom 15 Mai 1756 beweist, daß sie vier Jahre später noch immer über dem Rameauschen Rezitativ im Streit lagen und daß keiner von beiden nachgab.

Dieser ästhetische Zweikampf zweier deutscher Musiker von höchster Geltung im 18. Jahrhundert zeigt bei beiden eine ernste Kenntnis der französischen Musik und Sprache. Telemann zeigt sich darin, wie während seines ganzen Lebens, als der Vorkämpfer französischer Kunst in Deutschland. Das Wort, mit dem er sie charakterisiert (die französische Musik, die subtile Nachahmerin der Natur), läßt sich auch auf seine eigene Musik anwenden. Er hat dazu beigetragen, daß die deutsche Musik von der Intelligenz und der Ausdrucksschärfe französischer Kunst angenommen und die Gefahr, unter Meistern wie Graun in einem abstrakten Schönheitsideal blaß und ausdruckslos zu werden, überwunden hat.

Zu gleicher Zeit hat er die ursprüngliche Verve, den energischen, leichten, lebhaften Ausdruck der polnischen und der neueren italienischen Musik mitgebracht. Das war nötig: die deutsche Musik in all ihrer Größe roch ein wenig nach Moder. Man hätte vielleicht nicht mehr atmen können ohne die Ströme frischer Luft, welche Leute wie Telemann durch die offenen Pforten Frankreichs, Polens, Italiens hereinließen – bis endlich Johann Stamitz die vielleicht wichtigste, die Böhmens öffnete. Wenn man das gewaltige Auflodern der Flamme begreifen will, die in der deutschen Musik zur Zeit Haydns, Mozarts und Beethovens so strahlende Helle verbreitete, muß man die kennenlernen, die den großen Stoß geschichtet haben, muß man sehen, wo das Feuer zuerst aufglimmte. Ohne dieses würden die großen Klassiker wie ein Wunder erscheinen, während sie im Gegenteil nur die natürliche Entwicklung eines ganzen Jahrhunderts von genialen Begabungen abschlossen.

Ich will nun einige der Wege aufzeigen, die Telemann der deutschen Musik gebahnt hat.

Sogar die ungerechtesten seiner Kritiker haben seine große komische Begabung für das Theater anerkannt. Er scheint derjenige gewesen zu sein, der die komische Oper zuerst in Deutschland heimisch gemacht hat. Zweifellos findet man hier und da komische Züge bei Keiser: es war im Hamburger Theater üblich, daß ein Clown, ein komischer Diener, in allen Stücken, selbst in den tragischen, vorkam; er sang komische Lieder mit sehr einfacher, zuweilen einstimmiger Begleitung oder ganz ohne eine solche. Selbst Händel gehorcht dieser Tradition in seiner in Hamburg gespielten »Almira«. Man spricht auch von einem Keiserschen Singspiel aus dem Jahre 1710, »Bon Vivant oder die Leipziger Messe«, und es scheint auch noch andere derartige Veranstaltungen um jene Zeit gegeben zu haben. Indessen wurde der wirklich komische Stil in die deutsche Musik erst durch Telemann eingeführt; die einzige komische Oper, die uns von Keiser erhalten ist, »Jodelet« (1726), kommt erst nach denen von Telemann und ist sicherlich von ihnen beeinflußt. Telemann besaß Humor. Er fing damit an, dem Zeitgeschmack entsprechend, kleine komische Lieder für den Clown zu schreiben. So für die Figur des Turpino im »Sieg der Schönheit«, der von der Invasion der Vandalen in Rom handelt. – Ottzenn hat eine Buffoarie daraus im Anhang seiner Studie »Telemann als Opernkomponist«, 1902, veröffentlicht. Das genügte ihm aber noch nicht. Er hatte einen Hang zur Spötterei, wie Ottzenn bemerkt, und verstand die komische Seite einer Figur oder einer Situation aufzuzeigen, wo der Textdichter nur die ernste gesehen hatte. Seine erste, in Hamburg gespielte Oper, »Der geduldige Sokrates« (1721), weist ausgezeichnete Szenen auf. Sie behandelt das eheliche Unglück des Sokrates. Der Librettist fand, daß eine böse Frau nicht genügt, und versah ihn großmütig mit deren zwei, die sich unaufhörlich zanken und die Sokrates zu besänftigen hat. Das Duett der Schreierinnen im zweiten Akt S. 5 im Anhang bei Ottzenn. ist so unterhaltend, daß es heute noch Erfolg haben könnte.

Diese Buffo-Strömung zeigt sich in Hamburg besonders seit 1724. Die Oper langweilte; man versuchte, in Deutschland die komischen Intermezzi der Italiener einzuführen, welche damals ganz neu waren. Man mengte französische komische Ballette ein. Im Fasching 1724 gab man in Hamburg Fragmente der »Galanten Europa« von Campra und des »Pourceaugnac« von Lully; Telemann schrieb dazu komische Tänze auf französische Art. Eine »komische Chaconne« und einen »Niais« in seinem »Dämon« von 1729. – Siehe S. 41 bei Ottzenn. Im nächsten Jahre ließ er ein Intermezzo auf italienische Manier, »Pimpinone oder die ungleiche Heirat«, spielen, dessen Sujet genau das der »Serva padrona« ist, die vier Jahre später geschrieben wurde. Auch der Stil ist dem Pergolesis sehr verwandt. Wer ist nun das gemeinsame Vorbild? Sicherlich ein Italiener, vielleicht Leonardo Vinci, dessen erste komische Opern aus dem Jahre 1720 stammen. Jedenfalls ist hier ein merkwürdiges Beispiel dafür, mit welcher Raschheit Sujets und Stile von einem Ende Europas zum andern wanderten, und auch eins für Telemanns Geschick, sich der fremden Art anzupassen.

Der deutsche Text dieser Vorläuferin der »Serva padrona« ist von Praetorius. Er enthält zwei Personen, Pimpinone und Vespetta, und drei Szenen ohne Ouvertüre. Beim Aufziehen des Vorhangs singt Vespetta eine reizende kleine Arie, in der sie ihre Qualitäten als Kammerfrau rühmt. S. 31 im Anhang bei Ottzenn. Die geistvolle Musik hat einen völlig neapolitanischen Charakter, pergolesisch vor Pergolesi, die gleiche nervöse Lebhaftigkeit, die abgehackten Wendungen, die plötzlichen Unterbrechungen und überraschenden Sprünge, die spöttischen Repliken des Orchesters, welches die Vorzüge Vespettas unterstreicht oder ihnen widerspricht:

»Son da bene, son sincera, non ambisco, non pretendo ...«

Pimpinone erscheint; Vespetta beginnt, den Alten mit einer deutschen Arie zu umschmeicheln; mitten in ihrem Gesang bezeugen drei kurze a parte ihre Zufriedenheit. Ein Duett, in dem beide Personen das gleiche Motiv haben, beendigt das erste Intermezzo. Im zweiten bittet Vespetta um Verzeihung für ein unbedeutendes Versehen und stellt es so an, daß sie noch Lob erntet. Sie benimmt sich so, daß Pimpinone ihr anträgt, seine Pimpinona zu werden, doch läßt sie sich sehr bitten. Im dritten Intermezzo ist sie die Herrin geworden. Soweit ist Pergolesi nicht gekommen, was von seinem Takt zeugt; denn nun wird die Geschichte minder erquicklich. Aber um das Hamburger Publikum zufriedenzustellen, mußte es Stockprügel geben. So beherrscht also Vespetta das Haus und läßt Pimpinone nicht die mindeste Freiheit, der, allein geblieben, sehr darüber klagt. Er spielt sich selbst ein Gespräch seines Weibes mit einer Gevatterin vor, wobei er beide Stimmen nachahmt, dann einen Streit zwischen sich und seiner Frau, in dem er unterliegt. Vespetta erscheint, neuer Zank, und in einem Schlußduett jammert Pimpinone, während Vespetta hell auflacht. S. 35 im Anhang bei Ottzenn. Hier ist eines der ersten Beispiele des Duetts, in welchem beide Charaktere auf individuelle Art gezeichnet und gerade durch ihren Gegensatz komisch werden. Ein so großer Bühnenmusiker Händel auch war, er hat diese neue Kunst nie wirklich versucht.

Immerhin war der komische Stil Telemanns noch zu italienisch und mußte deutschem Wort und deutschem Denken noch besser angenähert und mit kleinen Liedern von gutmütiger Komik, wie er sie gelegentlich schrieb, ausgeschmückt werden. Aber der erste Schritt war getan, und dieser flinke und sprühende Stil eines Vinci oder Pergolesi sollte der deutschen Kunst nicht mehr verloren gehen. Seine Verve elektrisierte die etwas steife Lustigkeit der Landsleute des großen Bach. Er trug nicht nur zum Entstehen des Singspiels bei, sondern sein Lächeln belebt noch die neuen Mannheimer und Wiener Symphonien.

Ich übergehe die andern komischen Intermezzi Telemanns. »La Capricciosa«, »Die Amours der Vespetta« (eine Fortsetzung des »Pimpinone«) usw., und erwähne nur noch einen »Don Quichott« (1735), der heitere Stücke und gut gesehene Charaktere enthält. S. 44 bei Ottzenn: die erste Arie des Don Quichotte, den friedlich eigensinnigen Charakter eines gutmütigen Narren ausdrückend, mit kriegerischen Geigen, die im voraus seine Heldentaten feiern. Die Dichtung ist von Schiebler, welcher später der Librettist J. A. Hillers werden sollte, des bedeutenden Verfassers deutscher Singspiele

Aber dies ist nur eine Seite des Bühnentalentes von Telemann; man hat nur allzusehr die andere, die tragische, vergessen. Selbst der einzige Historiker, der sich mit seinen Opern beschäftigt hat, Curt Ottzenn, verweilt nicht genug dabei. Wenn ihm sein Schreibfieber Zeit zum Denken läßt, ist Telemann zu allem fähig, sogar zur Tiefe. In seinen Opern gibt es nicht nur schöne ernste Arien, sondern, was noch seltener ist, schöne Chöre. Derjenige, welcher im dritten Akt des »Sokrates« Beachtung verdienen auch die Quintette im »Sokrates« (die Schüler und Aristophanes und die Schüler mit dem Diener Pitho). ein Adonisfest veranschaulicht, ist von erstaunlich modernem Stil. S. 7-10 im Anhang bei Ottzenn. Das Orchester umfaßt drei Clarini sordinati, zwei Hoboen, welche in gedehnten Tönen eine klagende Melodie hören lassen, zwei Violinen, eine Viola und den Kontrabaß, senza cembalo. Der dunkle Klang ist sehr schön. Telemann hat wirklich den Zusammenklang der »verschiedenen sonoren Gruppen gefunden«, den man kaum zu suchen anfing. Das Stück hat eine reine Ergriffenheit, in der sich schon die neuantike Reinheit Glucks ankündigt. Es könnte ein Chor aus »Alceste« sein; auch in der Harmonie kommt das zum Ausdruck.

Man findet bei Telemann aber auch eine romantische Note, einen Sinn für die Poesie der Natur, welche auch Händel nicht fremd ist, aber bei Telemann vielleicht noch verfeinerter auftritt, wenn er sich Mühe gibt, denn sein Empfinden ist moderner. So überrascht die Nachtigallenarie der Mirtilla im »Dämon« (1724) unter den unzähligen Nachtigallenarien jener Zeit durch ihre ganz impressionistische Feinheit.

Dennoch genügen Telemanns Opern allein nicht, um ihn zu beurteilen. Die acht, die uns erhalten sind, sowie die Serenata »Don Quichott der Löwenritter« wurden alle in Hamburg in den wenigen Jahren von 1721-29 geschrieben. Außer dem »Don Quichotte«, von 1735. In dem folgenden halben Jahrhundert hat sich Telemann sehr entwickelt, und man muß ihn gerechterweise nach den Werken der zweiten Hälfte seines Lebens beurteilen oder mehr noch nach denen des Endes: denn hier erst zeigt er ganz, was er kann.

Statt der Opern haben wir aus dieser Zeit Oratorien und dramatische Kantaten. Die von Max Schneider in den Denkmälern der deutschen Tonkunst veröffentlichten – »Der Tag des Gerichts« und »Ino« – sind für die Geschichte der deutschen dramatischen Musik fast ebenso interessant wie die Opern von Rameau und Gluck.

Die Dichtung zum »Tag des Gerichts«, Die erste Aufführung fand am 17. März 1762 statt. »einem Singgedicht voll starker Bewegungen«, stammt von einem früheren Schüler Telemanns am Hamburger Gymnasium, dem Pastor Ahler, einem freisinnigen, keineswegs pietistischen Mann. Zu Beginn erwarten die Gläubigen die Ankunft Christi; die Ungläubigen, als richtige Philosophen des 18. Jahrhunderts, verspotten sie im Namen der Wissenschaft und der Vernunft. Nach einer ersten etwas schwachen und abstrakten Meditation beginnt das Gericht: die Wogen bäumen sich auf, Blitze zucken, Welten wanken und stürzen ein, der Engel erscheint, die Trompeten tönen: Christus ist da. Er ruft die Gläubigen zu sich, deren Jubelchöre ihn umbrausen, und stürzt die heulenden Sünder in den Abgrund. Der vierte Teil handelt von dem Glück der Seligen. Vom zweiten zum vierten Teil ist dies Werk ein einziges mächtiges Crescendo; der dritte und der vierte Teil scheinen nur ein einziger und gehören ganz zusammen, ohne Unterbrechung. »In wie hohem Grade hat der Komponist das Streben des Dichters nach Geschlossenheit der von der zweiten Betrachtung ab unaufhaltsam vorwärtsdringenden Handlung gefördert! Niemand wird da an Pausen zwischen den einzelnen Musikstücken denken können; in einem Zuge geht es weiter, selbst das anfänglich so häufig verwendete Dacapo wird fallen gelassen oder erscheint doch nur noch, wo es – auffallend kurz – die dramatische Entwicklung nicht hemmt.« Max Schneider. Rezitative, Choräle, Arien, Chöre gehen eins ins andere über Siehe die Arie des Jesus, die an den Chor der Gläubigen anknüpft. und heben einander durch ihren Kontrast, indem sie so die dramatische Wirkung verdoppeln. So der dramatische Chor »Ach Hilfe«, der in der Nachbarschaft eines ruhigen monotonen gregorianischen Chorals sehr wirksam ist Telemann hat sich mit wahrer Herzensfreude einem Thema hingegeben, das ihm so reichen Stoff zu Malereien bot: das Prasseln und stürmische Wogen der Geigen im Chor zu Beginn des zweiten Teils: »Es rauscht, so rasseln stark rollende Wagen«, mit seinem dramatischen, fast Beethovenschen Schluß; die Erzählung von den Wundern, die den Untergang der Welt einleiten, die Flammen, die aus der Erde steigen, das stürmische Jagen der Wolken, die zerklaffende Sphärenharmonie, der Mond, der aus seiner Bahn tritt, der Ozean, der sich erhebt, endlich die Trompete des Jüngsten Gerichts. Der packendste der Chöre ist jener der Sünder, die in die Hölle gestürzt werden, mit seinen das Entsetzen ausdrückenden Synkopen und dem dumpfen Rollen des Orchesters. S. 77 in der Ausgabe der »Denkmäler«. An schönen Arien fehlt es nicht, namentlich im letzten Teil, Zum Beispiel die Arie mit Gambe: »Ein ew'ger Psalm« (S. 92) – die Arie mit zwei Geigen: »Heilt wenn um des Erwürgten« (S. 96) – oder die Arie mit Oboe und Fagott: »Ich bin erwacht« (S. 105). allein sie sind weniger originell als die von der Malerei des Orchesters begleiteten Rezitative. Es ist Händelscher oder Bachscher Stil, aber ohne kontrapunktische Strenge. Die neue melodische Kunst mischt sich hier zuweilen mit einer strengen Form, die für einen Telemann schon etwas Altmodisches hat. Man vergleiche die beiden Arien Christi (S. 73 und 82), die schön sind und Würde haben, aber keine eindringende Tiefe. Hier liegt auch nicht die Stärke der Arbeit, sondern in ihren beschreibenden Szenen und dramatischen Chören.

Die Kantate »Ino« verfolgt den Weg des musikalischen Dramas noch weiter. Die Dichtung ist ein Meisterwerk Ramlers, der sein Teil zur Wiedererweckung des deutschen Liedes beitrug. Sie wurde 1765 veröffentlicht. Einige Tonsetzer haben sie in Musik gesetzt, unter anderm Johann Christoph Friedrich Bach aus Bückeburg, Kirnberger, Abt Vogler. Sie wäre noch ein schöner Vorwurf für einen Musiker von heute. Die Sage von Ino, der Tochter des Kadmos und der Harmonia, der Schwester der Semele und Amme des Dionysos, ist bekannt. Sie vermählt sich dem Athamas, der, von Juno um den Verstand gebracht, einen seiner Söhne tötet und den andern töten will. Ino entflieht mit dem Kinde, und da sie sich verfolgt sieht, stürzt sie sich ins Meer, das sie empfängt: sie wird zur weißen Leukothea, dem Schaum des Meeres gleich. – Die Ramlersche Dichtung läßt allein Ino vom Anfang bis zum Schluß auftreten: es ist eine Rolle von erdrückenden Maßen, denn sie bewegt sich in immerwährender Leidenschaft. Zu Beginn erscheint sie in raschem Lauf auf den Felsen über dem Meer; sie hat die Kraft nicht mehr zu fliehen und fleht zu den Göttern. Sie gewahrt Athamas, hört ihn rufen und wirft sich ins Meer. Eine sanfte und ruhige Symphonie empfängt sie. Ino spricht ihr Entzücken aus; allein sie gewahrt, daß ihr das Kind aus den Armen gefallen ist, glaubt es tot, ruft nach ihm und will sterben. Sie sieht den Chor der Tritonen und Najaden, die es tragen; sie beschreibt ihren wunderbaren Weg auf den Grund des Meeres, die Korallen und Perlen, die sich in ihren Haaren fangen; die Tritonen umtanzen sie und begrüßen sie als ihre Göttin unter dem Namen Leukothea. Plötzlich sieht Ino, wie die Meeresgötter sich wenden und zur Huldigung die Arme ausstrecken: Neptun naht in seinem Wagen, von schnaubenden Rossen gezogen, den goldenen Dreizack in der Hand. Ein Jubelgesang an den Gott beschließt die Kantate.

Diese prachtvollen hellenischen Visionen riefen nach der Phantasie eines Musikers, der zugleich Maler und Dichter war. Telemanns Musik ist der Dichtung würdig. Es ist wunderbar, daß ein mehr als Achtzigjähriger ein so frisches und so leidenschaftliches Werk schreiben konnte. Es gehört vollkommen zu der Gattung musikalischer Dramen. Wenn Gluck auch wahrscheinlich Einfluß auf die Ino des Telemann gehabt hat, Der Wiener »Orpheus« stammte aus dem Jahre 1764, die erste »Alceste« aus dem Jahre 1769. konnte es doch auch sein, daß er seinerseits von der Ino viel gelernt hat. Viele Stellen rivalisieren mit den berühmtesten dramatischen Rezitativen der »Alceste« oder der »Iphigenie in Aulis«. Vom ersten Takt an ist man mitten in der Handlung. Eine großartige, etwas schwere Energie, der Glucks ähnlich, belebt die erste Arie. Besonders der II. Teil der Arie, S. 129 der »Denkmäler«. Das Orchester, welches das Entsetzen Inos, die Ankunft des Athamas, Inos Sprung ins Meer darstellt, ist für jene Zeit von erstaunlich malerischer Kraft. Man glaubt am Schlusse die Wogen zu sehen, die sich öffnen, man verfolgt den Körper Inos, der in der Tiefe versinkt, und sieht, wie das Meer sich wieder schließt. Die ruhig-klare Symphonie, die den königlichen Frieden der Gewässer darstellt, ist von Händelscher Schönheit. Aber nichts, nicht nur in dieser Kantate, sondern wie es mir scheint, in Telemanns Lebenswerk, übertrifft die Szene von Inos Verzweiflung, als sie ihren Sohn verloren zu haben glaubt. S. 138-140. Diese Stelle ist eines Beethoven würdig mit einigen Berliozschen Zügen in der Orchesterbegleitung. Die Ergriffenheit ist von einer ganz einzigen Intensität und Freiheit. Der Mann, der dies schreiben konnte, war ein großer Musiker und verdiente seinen Ruhm und verdient nicht, daß er heute vollständig vergessen ist.

Das übrige Werk enthält nichts, was an diese Größe heranreichte, obgleich es an Schönheiten nicht fehlt und sie, wie im »Tag des Gerichts«, einander wechselweise zur Geltung bringen, sei es durch ihre Verkettungen, Alle Stücke bilden vom Anfanq bis zum Schluß eine zusammenhängende Kette. sei es durch ihre Kontraste. Den leidenschaftlichen Klagen Inos folgt ein Stück im Neunachteltakt, welches den schönen Reigen der Nereiden um das Kind darstellt. Dann folgt die Fahrt durch das Wasser, die leichten Wellen, welche die göttlichen Reisenden tragen, kleine Tänze im galanten Stil, die einen kurzen Ruhepunkt im Gesang bilden, eine reizende Arie mit zwei Flöten und Violinen con sordini »Meint ihr mich«, S. 152. ein wenig in Hasses Vokal- und Instrumentalstil. Ein Instrumentalrezitativ kündet machtvoll das Erscheinen Neptuns an. Schließlich endet das Werk mit einer Bravourarie, die einen germanisierten Rossinistil ankündigt, wie man ihn in den ersten zwanzig Jahren des 19. Jahrhunderts bei Weber und selbst gelegentlich bei Beethoven findet. Im ganzen Laufe dieses Werkes ist nicht eine Unterbrechung, nicht ein Seccorezitativ. Alles geht in einem Fluß und folgt dem Laufe des Werkes; nur am Anfang und am Schluß finden sich zwei Dacapoarien.

Wenn man von solchen Arbeiten liest, schämt man sich ein wenig, so lange nichts von Telemanns Kunst gewußt zu haben, und grollt ihm zugleich, daß er von einer solchen Begabung nicht den Gebrauch gemacht hat, den er hätte machen müssen. Man ist ärgerlich, Plattheiten und Trivialitäten neben vollkommenen Schönheiten zu finden. Wenn Telemann sorgsamer mit seiner Kunst verfahren wäre, wenn er nicht soviel geschrieben, nicht soviel Ämter übernommen hätte, würde sein Name in der Geschichte vielleicht ein stärkeres Echo haben als selbst der von Gluck; zumindest hätte er seinen Ruhm geteilt. Aber hier sieht man einmal, von welch gerechter Moral zuweilen die Urteile der Geschichte sind: es genügt nicht, Talent zu haben, es genügt auch nicht, fleißig zu arbeiten – wer wäre fleißiger gewesen als Telemann? –, man muß auch Charakter haben. Gluck hat, mit viel weniger Musik in sich als zehn andere Komponisten des 18. Jahrhunderts, als Hasse, Graun, Telemann, das Werk zustande gebracht, zu dem andere das Material zusammengetragen haben und von dem er nicht einmal den zehnten Teil benutzt hat. Denn er besaß die volle Herrschaft über seine Kunst und sein Genie. Er war ein Mann. Die andern waren nur Musiker. Und in der Musik ist das nicht genug.

Anhang

Man müßte auch Telemanns Anteil an der Instrumentalmusik studieren. Er war einer der deutschen Vorkämpfer der »französischen Ouvertüre«. Bekanntlich versteht man darunter die dreiteilige Symphonie nach Lullys Art: 1. langsam, 2. rasch, 3. langsam, der rasche Teil frei fugiert und der langsame des ersten Teiles in der Regel zum Schluß wiederholt. Die französische Ouvertüre kam 1679 mit Steffani und 1680 mit Cousser nach Deutschland. Sie erreichte den Höhepunkt ihrer Beliebtheit gerade zur Zeit Telemanns, in den ersten zwanzig Jahren des 18. Jahrhunderts. Wir haben gesehen, daß Telemann diese Instrumentalform mit Vorliebe gegen 1704-05 angewendet hat, als er beim Grafen Promnitz in Sorau die Werke Lullys und Campras kennen lernte. Er schrieb damals in zwei Jahren zweihundert französische Ouvertüren und gebraucht noch in Hamburg diese Form für einzelne Opern. Die sehr mäßige Ouvertüre des »Sokrates« (1721) ist von dieser Art.

Das hindert ihn nicht, gelegentlich auch die italienische Ouvertüre anzuwenden: 1. rasch, 2. langsam, 3. rasch. Er nennt sie Konzert, weil er eine erste konzertierende Violine darin benutzt. Wir haben ein ganz hübsches Beispiel dafür in der Ouvertüre zum »Damon« (1724), S. 18 ff. im Anhang bei Ottzenn. dessen Stil analog dem der concerti grossi Händels ist, welche aus 1738-39 stammen. Zu bemerken wäre, daß der dritte Teil (vivace 3/ 8) ein Dacapo ist, dessen mittlerer Teil in Moll steht.

Telemann schrieb auch für seine Opern Instrumentalstücke, in denen französischer Einfluß bemerkbar ist. besonders in den hie und da gesungenen Tanzstücken. Man findet einige bei Ottzenn: Sarabande und Gigue (S. 29), Gavotte (S. 30). le Niais (S. 41), Bourrée, Chaconne. Passacaille usw.

Unter den andern Instrumentalformen, die er anwendet, ist die hauptsächlichste das Instrumentaltrio, die Triosonate, wie sie die Deutschen nannten. Es handelt sich um ein Streichtrio mit Continuo, also im ganzen mit vier Stimmen. Sie hat in der Musik von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 18. einen bedeutenden Platz eingenommen und viel zur Entwicklung der Sonatenform beigetragen. Telemann beschäftigte sich mit ihr besonders in Eisenach 1708; er sagt, daß nichts von seiner Musik so geschätzt wurde wie diese Werke. Er verfuhr bei diesen Arbeiten, wie er selbst erzählt, so, daß die zweite Stimme die erste zu sein schien und daß der Baß eine natürliche Melodie war, die mit den andern die entsprechende Harmonie ergab, bei jeder Note vorwärtsschreitend, so daß es schien, als könne es nicht anders sein. Hugo Riemann hat eins dieser Trios in seiner Sammlung »Collegium musicum« veröffentlicht. Dieses Trio in Es-dur, der »Tafelmusik« von Telemann entnommen, hat vier Sätze: 1. affettuoso, 2. vivace 3/ 8, 3. grave, 4. Allegro 2/ 4. Das zweite und das vierte Stück sind zweiteilig mit Wiederholung. Das erste und zweite Stück hängen zusammen, ähnlich dem grave und fugué der französischen Ouvertüre. Die Form ist noch die der Sonate mit einem Thema, neben dem langsam ein Nebenthema aufzukeimen beginnt. Noch ist man dem Augenblick zu nahe, wo sich die Sonate aus der Suite löst, aber die Themen haben schon modernen Charakter; einige, namentlich das des grave, sind völlig italienisch, man kann sagen pergolesisch. Durch seinen Hang zu individuellem Ausdruck in der Instrumentalmusik hat Telemann Einfluß auf Joh. Friedrich Fasch aus Zerbst ausgeübt; allein hier hat der Schüler den Meister weit übertroffen. Fasch, auf den Hugo Riemann in den letzten Jahren verdienstlich wieder das Augenmerk gelenkt hat, war einer der stärksten Meister der Triosonate und einer der Vorkämpfer des modernen Symphoniestiles. Man sieht, daß Telemann auf allen musikalischen Gebieten: Theater, Kirche oder Instrumentalmusik, seinen Platz dort hat, wo die neuen Bewegungen einsetzen.


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