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Die Weise vom Schmerz des Lebens

I

Peder stand im Sommer mit der Sonne auf und legte sich zu Bett, wenn sie zur Rüste ging. Dann wunderte er sich wohl, warum sie am Abend wie am Morgen so rot im Gesicht war. Das erstere kam gewiß daher, daß sie den ganzen Tag über so mächtig hatte scheinen müssen und jetzt müde und rundherum satt war, gerad wie er selber. – – Schön war's zur Zeit der Morgenröte und schön bei Sonnenuntergang. Hatte dann der Herrgott daran gedacht, die Gutwetterwolken für morgen hinauszuhängen, dann war es geradezu trollenschön; denn dann freute sich die Sonne und lag auf ihnen und lächelte wie im Einschlafen.

Tagsüber wohnte Peder in drei verschiedenen Stuben, ging aus der einen in die andere, ohne es selbst zu merken. Aber nur in der einen fühlte er sich ganz daheim und wagte es, sich recht zu tummeln. Hier tat er, wie er wollte. Und war mit so mancherlei Wichtigem beschäftigt. Hier träumte er – hier baute er an der Zukunft, dachte sich aus, wie er einst schalten und walten wollte, wenn er erst groß war – verstaute es hier. Es schaffte viel Kurzweil, es hervorzuholen und zu begucken. Aber das Artigste war doch, sich Neues auszudenken und dazuzutun. In dieser Stube verkehrte er mit allem auf englisch.

Die zweite Stube bewohnte er gemeinsam mit den Geschwistern und der Mutter. Hier war er nicht ganz so fröhlich. Eine Alltagsstube zumeist. Je mehr er heranwuchs, desto stärker juckte es ihn, alles ringsum anders zu stellen und auf den rechten Platz zu setzen; so durfte das jedenfalls nicht stehenbleiben! Er versuchte es auch mit Besserungsvorschlägen, mußte jedoch bald einsehen, daß er lernen müsse, den Mund zu halten – vorläufig wenigstens. Aber er mußte sich doch oft sehr darüber wundern, daß die Erwachsenen gar nicht sahen, wie ungeschickt sie sich einrichteten!

Die Annemarie zum Beispiel, die Schwester, die dachte auch nicht im leisesten jemals an die Zukunft! Begriff sie denn nicht, daß sie bald groß war und dann heiraten und für Mann und Kinder haushalten mußte? Denn so ging's ständig allen anderen Frauensleuten, wenn an ihnen was dran war. – Wenn sie nun schon spielen wollte, warum beredete sie dann die Mutter nicht dazu, ein Klavier zu kaufen? Dieses schäbige Harmonium, an dem sie Wind trampelnd saß, – wie weit kam sie denn mit dem?

Schlimmer noch war es mit den Brüdern! Die waren erwachsen. Da murkelten sie nun so herum! Jawohl – murkelten! Der Große-Hans, saumselig, schwerfällig, hatte nichts als die Sorge um Mutter im Kopf. Übrigens: nicht als ob das nicht recht und gut war. Aber sah der denn gar nichts von all dem Spaß hier ringsum? Peder grübelte oft über diesen Bruder nach, – in dem saß trotz allem mancherlei Munterkeit, wenn der sich erst locker ließ.

Und nun erst der Ole! Nöhlte der nicht immer und ewig herum? Warum besorgte er sich denn nicht einfach einen anständigen Dreschsatz, wenn er ihn schon durchaus haben wollte? Bei diesem Gedanken kam in Peders Augen immer ein Sprühen; dann hätte er nämlich während der ganzen Ernte draußen mit dabei sein dürfen und Garben abteilen und dies und jenes Nützliche lernen und ein bissel geschwinder groß werden können!

Ein paar richtige Trödelfritzen, das waren sie, die beiden Brüder! – – – Jetzt sollte Dakota Territory bald Staat werden, ein unabtrennbarer Teil der großen Union. Versammlungen wurden gehalten, und über Politik wurde geredet, bis den Leuten die Augen funkelten. Abenteuer und Schwung in allem, was man zu hören bekam. Aber der Ole wie auch der Große-Hans, die sagten rein gar nichts dazu. Selten fuhren sie weg. Niemals durfte er mit. Und glaubt ihr etwa, es wäre Mutter eingefallen, jene eines Bessern zu belehren? Oh! Peder konnte über das alles so zornig werden, daß er ausspucken mußte.

– – – Mutter, jawohl! Die war schlimmer als alle die andern. Da lebte sie nun schon seit wer weiß wie vielen Jahren in Amerika und konnte immer noch nicht ordentlich Englisch, und Englisch war doch das Leichteste auf der Welt! Und sie wollte zu alledem nicht einmal können! Alle naslang ermahnte sie sie: ›Redet norwegisch untereinander!‹, so daß er sich geradezu schämen mußte, wenn Gäste zum Hofe kamen, die nicht Norwegisch verstanden. – Wäre bloß die Mutter anders gewesen, dann wäre diese zweite Stube all right gewesen. Die Mutter war übrigens in vieler Hinsicht fabelhaft tüchtig und gescheit. Sie wußte bisweilen haargenau, woran er dachte; er hatte sich darüber schon oft gewundert. – Nun schön, wenn er erst konfirmiert und erwachsen war und was zu sagen hatte – da wollte er alles stellen und setzen, wo es hingehörte! – In dieser Stube wurde nur auf norwegisch verhandelt.

Auch in der dritten. Das war ein dunkler Raum, wundersam und still und geheimnisvoll. Hier wohnten nur er und Gott. Als er noch ein winziges Büblein war, hatte auch die Mutter mit hinein gedurft; das war aber jetzt schon lange vorbei.

– Gott? Jawohl! Hier hieß es hübsch vorsichtig sein und nicht allzu laut sprechen. Der benahm sich ganz unberechenbar, der Mann! –

Es hatte eine Zeit gegeben, da Gott das Wirklichste von allem rings um Peder gewesen war. Daß er ihn nie zu Gesicht bekam, hatte diese Wirklichkeit nur um so merkwürdiger gemacht. Übrigens war er auch nicht so ganz sicher, ob er ihn nicht doch gesehen hatte. Man sah des Abends, wenn es dunkel geworden war, so mancherlei Seltsames. Und Gottes Gesicht war lauter Augen, Augen, die alles sahen. Gottes Augen sahen im Dunkel – das war ausgemacht! Abends, wenn es regnete, das Wasser an den Scheiben herunterströmte und er selbst dicht dahinter kniete, dann sah er sowohl das Weiße wie das Schwarze in Gottes Augen. Gottes Tränen rannen, weil die Menschen nicht von der Art waren, wie er es gewollt. Nach solch einem Unwetterabend gab sich Peder stets Mühe, noch viel braver zu sein. Nachts zog er sich die Decke gut über den Kopf, damit die Augen nicht sein Gesicht berühren konnten; sie waren so kalt und naß, Gottes Augen! – – –

– – Oh ja, gewiß, Gott wohnte hier auf der Farm! Als kleines Kerlchen war Peder stets erst nach längerem Abwarten um Ecken herumgetappelt, um nicht gar zu jählings auf Gott zu stoßen. Erwachsene Leut waren gar so schreckhaft. Wer weiß, ob Gott so etwas gefiel. Und Peder wollte niemanden erschrecken, der so lieb war. Gott mußte jetzt schon entsetzlich alt sein. Mutter freilich sagte, Gott habe kein Alter, aber auf alles verstand auch sie sich nicht!

– Merkwürdig mit Gott! Nämlich, daß er, der konnte, was er wollte, und nur wollte, was gut war, nicht die Menschen dazu zu bewegen vermochte, zu tun, was er wollte? Peder mühte sich mit diesem Gedankenknäuel, bis er damit zur Mutter gehen und sie bitten mußte, es für ihn zu entwirren. Aber da bekam er nur die altgewohnte Antwort: das geschehe alles, um die Menschen auf die Probe zu stellen.

Diese Auslegung stimmte vorläufig auch ziemlich gut. Die Zuckertasse stand drüben im Spind, und Peder bekam immer solche unbändige Lust, ein Stück zu stibitzen, wenn er zufällig mit der Tasse allein war und sie ihm einfiel. Besann er sich dann nur rechtzeitig, so blieb die Tasse unbehelligt. Er setzte sich dann auf einen Stuhl und lächelte gewissermaßen einem andern geheimnisvoll zu, der ganz genau wußte, woran Peder dachte. Und dann nickte er wohl auch dem andern beruhigend zu: er solle sich stets auf ihn verlassen dürfen. Peders Gesicht sah dabei lieb und hell aus. Aber bisweilen vergaß er sich, und flugs war er mit den Fingern in der Tasse. Kam er dann zu sich, so nahm er es Gott schwer übel, daß der ihn nicht rechtzeitig erinnert hatte oder ihn beim Arm genommen, wie die Mutter es getan haben würde.

Doch war es unsäglich schön, mit Gott gut Freund zu sein und ihn ständig um sich zu haben. In gewisser Weise sogar noch schöner als mit Mutter. Denn er war so viel stärker und klüger. An den Abenden konnte Peder vorm Einschlafen lange mit ihm plaudern und ihn an dies und jenes erinnern, was er ja nicht vergessen dürfe – alte Leute sind immer so jämmerlich vergeßlich! In dieser Zeit war Peder unerschütterlich überzeugt davon, daß Gott ihm zu einem ganz ausnahmsweisen Leben verhelfen werde. – – Vater hatte schon gewußt, was er tat, als er ihm den Zunamen Sieg gegeben hatte! – Wenn ich erst groß bin, dann sollt ihr schon sehen! Und Peder vertilgte an Essen, was immer in ihn hineinging; denn damit – mit dem Großwerden also – hatte es wahrhaftig Eile!

 

II

Als aber dann Vater damals im Frühsommer auf der westlichen Prärie aufgefunden wurde, da war es aus mit der innigen Kameradschaft zwischen Peder und Gott. Gott wurde mit einem Schlage ein hartes, herzloses Wesen, vor dem man sich vorsehen mußte.

Vater war der prachtvollste Mann gewesen, der jemals gelebt – das mußte Peder doch wohl wissen! Fast so klug wie Gott, und mindestens ebenso hilfsbereit. Ja, der hatte einem helfen können! Und immer voller lustiger und kurzweiliger Einfälle.

Im Winter vor vier Jahren war das Unheil hinter Peders Paten, dem Hans Olsen, hergewesen, so daß der den Husten bekam. Die Leute hatten geglaubt, es gehe mit ihm zu Ende, und da hatte Peders Vater fortgemußt, um Hilfe zu holen. Ein höllisches Unwetter raste über die Prärien. Ein Schneesturm immer schlimmer als der andere; Tag um Tag waren Himmel und Erde ein einziges dichtes Gestöber. Abend für Abend hörte Peder im Bett, wie Mutter inbrünstig für Vater betete. So heiß flehte sie, daß er meinte, die Schneeverwehungen müßten davon schmelzen. Ja, ihn kam zuweilen geradezu Furcht vor ihr an; es trat etwas Fremdes in ihr Gesicht; die Augen schauten unnatürlich groß und brennend. Peder hätte Scheu vor der Mutter bekommen, wäre sie nicht in jenen Tagen so sehr lieb zu ihm gewesen. An ihm suchte sie Halt, so klein er war. War er nicht in der Nähe, bangte sie sich und fragte nach ihm.

Er schlief in jenem Winter unten in der Kammer bei der Mutter. Abend für Abend dasselbe: sie suchten Gott auf und flehten ihn an um den Vater. Und das wußte Peder, inniger hätte kein Mensch beten können. Er war immer fröhlichen Sinnes. Eine feste Zuversicht lebte in ihm. Die überirdische Wirklichkeit, die von der Mutter mit so großer Sorgfalt in des Kindes Seele aufgebaut worden war, hielt stand, als ihre eigene zusammenstürzte. Peders Logik war ein Panzer, an dem alles abprallte: Gott wisse ja doch, daß sie den Vater nicht entbehren konnten; Gott sei die reine Allmacht und Güte und Vater tüchtiger und gütiger als irgendein Mensch – so gewiß wie die Sonne am Himmel, müsse Gott ihnen den Vater wieder zurückführen! Peder sagte das dem lieben Gott auch gerad ins Gesicht. Wenn das geschah, dann sah Mutter ihn furchtsam an und sagte, das sei vielleicht nicht nach Gottes Willen getan, – er müsse sich hüten, daß ihr Gebet nicht zur Lästerung werde! Aber Peder lachte sie nur fröhlich an. Sei es nicht gerade Gottes Wille, gut zu sein zu seinen Kindern? Seien sie denn nicht seine Kinder? – Peder merkte, welchen Einfluß er auf die Mutter erlangte, und wurde dadurch nur noch zuversichtlicher.

Dann starb der Pate. Und Peder konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß Gott sich doch jetzt recht merkwürdig benehme. Was beabsichtigte er damit, daß er den Hans Olsen mitten im finstern Winter wegnahm? Die Patin Sörine weinte sich rein zu Tode. Wußte der denn nicht einmal so viel, daß die Patin ein guter Mensch war? Jetzt saß sie ganz und gar allein da mit zwei Kindern ohne Knecht und ohne einen Bissen im Hause! Und der Hans, der stärkste Mann der ganzen Prärie, der lag da draußen in einer Schneewehe im Sarg, den Tönset'n zusammengeschreinert hatte. Seltsames Verhalten von einem, der die reine Güte war und die Allmacht besaß und alles für die Menschen zum besten lenkte! – Peders Empörung milderte sich allmählich, wohl hauptsächlich deshalb, weil diese traurigen Geschehnisse sich außerhalb des eignen Heims abspielten und andere Menschen betrafen. Es gab zu Hause genug zu bedenken. Vielleicht auch, daß der Pate es versäumt hatte, sich jeden Abend mit Gott zu bereden? Vielleicht war Gott verärgert auf den Hans Olsen gewesen und hatte es deshalb zugelassen, daß der Husten ihn holte?

Die Schramme, die des Hans Olsens Tod dem Glauben des Buben beigebracht hatte, heilte schnell. Vater kam bestimmt, sobald es eben an der Zeit war! Vater wurde übrigens mit allem alleine fertig. Solch einen Recken hatte es nie zuvor gegeben. Wenn er jetzt heimkam, wußte er gewiß von vielen Merkwürdigkeiten zu berichten! Peder kniete stundenlang auf einem Stuhl am Fenster und starrte über die öde Schneeebene hinaus, um ja der erste zu sein, der meldete: jetzt kommt Vater. Von jedem Gast, der sie aufsuchte, glaubte er unerschütterlich, daß er Nachricht von Vater bringe.

Die Zeit verstrich. Keine Nachricht. Niemand fand irgendeine Spur von ihm. An Gutwettertagen zogen die Leute auf die Suche aus und kamen doch ebenso klug zurück, wie sie ausgezogen waren. Trotz der zehrenden Angst der Mutter blieb sein Glaube gleich unerschüttert. Denn er fühlte bei sich: den Vater auf die Weise wegnehmen, das vermochte Gott nicht übers Herz zu bringen. Das wäre doch zu niedrig und zu häßlich gehandelt. Und immer durchliefen seine Gedanken den gleichen Kreis: Gott wollte nur das Gute, er war allmächtig, ein trefflicherer Mann als der Vater hatte nie gelebt, Gott sah doch, daß sie den Vater nicht entbehren konnten – selbstverständlich kam also der Vater zurück. Aber Peder konnte vor Ungeduld heulen, weil es so lange währte. Und der Mutter unheimliche Angst goß nur noch Öl in dieses Feuer. Er war böse auf sie. Ein erwachsener Mensch wie sie, der sich so gut mit Gott stand, sollte sich was schämen, sich so aufzuführen! – Eines Abends nach dem Gebet faßte er Mut und sprach mit ihr.

Er blickte sie fest an und fragte, wie er meinte, daß Vater getan haben würde:

»Kannst du mir sagen, warum du dich grämst? Gott hilft dem Vater schon heim, wenn die Zeit gekommen ist – das weißt du doch!«

Die Mutter schaute zu ihm hinüber, stumm und scheu, aber daran kehrte er sich nicht, er fühlte sich erleichtert, nun er ihr das gesagt hatte.

Da brachten sie eines Tages den Vater heim auf einem Wagen, – eine fahle Leiche, die zudem übel roch, und alle glaubten, die Mutter werde den Verstand verlieren. Von dieser Stunde ab wandelte sich Gott für ihn. Zuerst glitt er für ihn weiter zurück. Bald darauf nahm er eine andere Gestalt an.

Eines Morgens, noch in der Zeit des Wartens, war es in Peder gerad beim Aufwachen aufgezuckt: heute kommt der Vater. Er hatte nichts davon gesagt; denn er wollte ja der erste sein, der ihm entgegenlief. Während die anderen draußen zu emsig bei der Morgenwirtschaft waren, um auf ihn aufzupassen, hatte er sich irgendeine Jacke übergezogen und war auf den Indihügel hinaufgetappelt, wo er stehen blieb und in den Frostrauch starrte. Es war so kalt, daß es in den Sträuchern auf dem Felde knisterte. Als sie ihn schließlich dort gefunden hatten, die Mutter ihn in die Stube getragen und festgestellt hatte, daß ihm eine Hand ganz verklammt war, da hatte sie diese Worte gesagt: »Jetzt hast du es wahrlich geschickt angestellt!« Aus diesem Vorwurf hatte so viel Besorgnis um ihn geklungen, daß er sogleich hatte losflennen müssen. Aber ihre Worte hatte er nicht vergessen.

Der furchtbare Tod des Vaters und der Mutter unsäglicher Kummer verletzten das Gerechtigkeitsgefühl des Kindes aufs heftigste, wie wenn ein Stärkerer in mutwilliger Roheit einem Schwächeren etwas aus den Händen reißt, der sich nicht wehren kann. Nachdem der erste Schmerz sich gelegt hatte, raunte Peder dem unsichtbaren Antlitz immer wieder zu: »Jetzt hast du es wahrlich geschickt angestellt!« – Jedesmal, wenn er seitdem die dritte Stube betrat, saß dort, seiner harrend, der Trotz.

So war es zugegangen, daß Gott ein böses Wesen wurde, vor dem einer sich hüten mußte. Unsichtbar ging er umher und lauerte darauf, wie er den Leuten so recht eins auswischen könne. Jählings reckte er die Hand und schlug zu. Gelang es ihm nicht mit Husten und anderem Siechtum, so ließ er einfach die Schneestürme los und traf die Menschen auf diese Weise. Zweimal ging Peder zur Mutter und fragte, wie das zusammenhinge; er mußte sich einfach mit einem Erwachsenen beraten; und beide Male erhielt er zur Antwort, das sei Strafe, Strafe für begangene Sünde. Da ließ er fürderhin das Fragen – die Mutter kam zuweilen mit so viel Ungereimtheit! Keiner Macht der Welt wäre es gelungen, ihm den Glauben beizubringen, daß Gott, der den Vater auf solche Art hatte umbringen können, dennoch lautere Güte sei.

 

Ein gutes Glück für Peder, daß er seine beiden Patenmütter ganz in der Nähe hatte, so daß er sie so oft besuchen konnte, als die Mutter es erlaubte. Auf die Weise ergatterte er manchen Leckerbissen, der ihm sonst entgangen wäre. Solange er bloß das Wichtlein war, behagte es ihm am prächtigsten bei der Kjersti-Patin: sie griff am ehesten in die Zuckerschale oder nach einem Kuchenbrösel. Und außerdem wußte sie so viele Geschichten! Über einige mußten sie beide miteinander weinen. Und sie erzählte so gern.

Auf dem Uhrenwandbrett hatte die Kjersti ein seltsames altes Buch liegen, aus dem sie ihm oft vorlas. Seit dieser Schatz ans Tageslicht gekommen war, mußte Peder ihn bei jedem Besuch beschauen. Die Kjersti-Patin war hierzu auch keineswegs abgeneigt. Wenn sie ihn dabei auf dem Schoß hielt, den warmen Bubenkopf fest an die Brust gedrückt und ihre Backe an seine warme Schläfe gepreßt, war die Freude des großen Kindes oftmals inniger als die des kleinen. Sie hatten so manche kurzweilige Stunde mitsammen über dem Buch.

Das Titelblatt fehlte, aber glücklicherweise waren alle übrigen Seiten wohl instand, Die Bilder machten eine ganze Serie aus. Jedes der Bilder bestand vor allem aus einem großen Herzen. In dem ersten dieser Herzen saß Jesus mit der Dornenkrone auf dem Haupte und sah betrübt aus. Von der unteren Ecke her, jedoch außerhalb des Herzens, kam Satan auf Pferdefüßen angestampft, in der Hand trug er eine Waffe, die einer Heugabel glich. Im weiteren Verlauf stellte die Bilderfolge dar, wie Jesus allmählich aus dem Herzen hinausgedrängt wurde, während Satan hineingelangte. Und trotzdem gerieten die beiden nicht ins Raufen! Peder begehrte zu wissen, wie diese Verschiebung möglich sei, ohne daß sie einander in die Haare gerieten. Die Kjersti antwortete, Jesus müsse vor der Mistforke zurückweichen, wie Peder sich doch denken könne! Dann aber wandte sich das Blatt, und zum Schluß saß Jesus auf dem Platz, den er anfangs innegehabt, und sah jetzt gar zufrieden aus; rings um das Herz tanzten und flogen Engelein; auf der entgegengesetzten Ecke des Blattes trollte sich Satan von dannen.

»Ja, meinst du nicht auch, daß das großartig ist,« konnte die Kjersti sagen, wenn sie schließlich das Buch zusammenklappte. »Da schleicht er seines Weges, der Böse! Wenn du dieser Geschichte hier nachlebst, wirst du ein braver Bub, daran fehlt gewiß nicht viel!« – »Aber kommt er denn nicht wieder zurück?« wollte Peder wissen. – »Nein, Kind, jetzt mag er gefälligst daheim bleiben!« – Damit streichelte sie ihm den Kopf und schob ihn so hoch, daß ihre runzelige Backe sich an seine warme schmiegen konnte. Peder ließ das gern zu, denn jetzt winkte ihm bestimmt und bald ein Leckerbissen.

Kjerstis Vorlesen an sich fand Peder nicht gerade unterhaltsam. Er saß mit geschlossenen Augen dabei und hörte die Bilder erzählen. Aber eins konnte er nie und nimmer begreifen: daß Jesus, der doch immer so tapfer war, vor dieser Heugabel zurückweichen sollte. Da mußte doch ein Kampf stattgefunden haben? Aber so etwas ließ sich vielleicht nicht hineinzeichnen? – Die Kjersti-Patin wußte es ihm nicht zu erklären, also hatte es keinen Zweck, sie zu fragen; aber wenn es hier im Buche so stand, dann verhielt es sich so; denn alles, was in Büchern stand, war die lautere Wahrheit – so viel wußte er doch auch!

Damals, als Knirps, war es ihm auch Gewißheit gewesen, daß Jesus in seinem Herzen wohne. Er hatte ihn lebendig in sich gefühlt. Und er hatte oft Angst bekommen, daß der mit der Heugabel kommen und Jesus hinausjagen könne, aber dann hatte er sich bald dabei beruhigt, daß das nicht gar so gefährlich sein könne; denn auf der letzten Seite kam Jesus ja doch wieder zurück. Auch die Engelein waren gewiß da! Und wenn er so fröhlich war, daß es die Brust beinah sprengte, dann waren das alle die kleinen Engel, die da drin herumflogen und tanzten. Peder hatte sie damals fast noch lieber gehabt als Jesus!

Das alles war in jenen glücklichen Tagen gewesen, als er mit Gott und Jesus noch gut Freund war. Vielleicht hatten diese Bilder dazu beigetragen, daß er nicht an Gott denken konnte, ohne ihn sich in Menschengestalt vorzustellen. Sah Jesus so aus, dann war der Unterschied zwischen ihm und dem Vater wohl nicht allzu groß – gerad so, wie alle von Peder sagten, die meinten, den Per Hansen vor sich zu sehen. – Vielleicht war Gott ein bißchen größer als Jesus? Und viel, viel stärker! Jesus war nicht ansehnlicher als irgendein anderer erwachsener Mann. – Oh nein, Gott selber wich bestimmt nicht vor einer gewöhnlichen Heugabel zurück! – Und Peder war dessen gewiß, daß Gottes Gesicht weit fröhlicher aussah als das von Jesus. Es mußte das allerfroheste in der Welt sein! Wie hätte er wohl sonst so viel schaffen und mit allem in der Welt, akkurat wie er selber es wollte, umgehen können, ohne sich daran zu freuen? – Nur an schlimmen Regenabenden, da hatte Gott Tränen in den Augen!

Nach des Vaters Tode war Peders Bild von Gott nicht wiederzuerkennen. Gott wuchs, bis er ungeheure Ausmaße bekam; sein Körper saß irgendwo auf einem Berggipfel, der Kopf ragte in die Sterne. Da saß er und umfaßte alles mit den Armen und fegte an den Himmeln herum. Neben ihm lag ein Ungeheuer von einer Heugabel; mit der stocherte er in der Luft herum, wenn er die Unwetter losreißen wollte. Das Gesicht war frostblau und kalt. Die Augen die schiere Wut, blitzend von Bosheit und von der Begierde, Menschen zu morden. Letztes Frühjahr hatte er fünf Irländerkinder mit Hilfe des Scharlach abgemurkst; Mrs. Thompson war gestorben, als ihr letztes Kind zur Welt kam; Ole Strandvold wurde vom Stier zerstampft – das war letzten Herbst gewesen; und kürzlich war Petter Neß auf der Heimfahrt vom Kutschbock gefallen und hatte sich den Hals gebrochen – wenn auch die Leute sagten, das sei in der Trunkenheit geschehen. Peder empfand eine eigenartige Freude, wenn er an alle die Unglücksfälle dachte, von denen er gehört hatte. Und nicht nur an diese, auch an alle anderen ihm bekannten Todesfälle; denn auch das war ja Gott. Gott mußte so viel damit zu tun haben, die Toten, die er holte, zu zählen und zu sortieren, daß er zu gar nichts anderem mehr Zeit bekam! – Er saß auf dem Berggipfel und sortierte die nacheinander eintreffenden Toten. Er hatte einen schwarzen Talar an und einen weißen Kragen um den Hals. So hatte der alte Pfarrer ausgesehen an jenem Tage, da er Vater die Totenrede gehalten hatte, ehe die Nachbarn diesen wegtrugen. Der alte Pfarrer war bestimmt ebenso stark gewesen wie Gott – davon war Peder damals überzeugt. Nach dem Begräbnis war der alte Pfarrer drei Tage bei ihnen geblieben und hatte die ganze Zeit mit Mutter gesprochen. Peder hatte sich in der Nähe gehalten, aber von Gott hatte er wenig gehört; der Pastor hatte von der Farm gesprochen, und wie die Mutter alles einrichten müsse, wenn sie jetzt die gesamte Verantwortung aufgebürdet bekam; und die ganze Zeit war er wie ein Vater gewesen, der alles wußte, nur daß er es noch freundlicher vorbrachte. Deshalb hatte Peder damals sehr lange geschwankt, ob er nicht, vorausgesetzt, daß er dabei nichts mit Gott zu tun bekäme, Pastor werden solle und allen Leuten zeigen, wie sie sich einrichten müßten, um mit dem Leben fertig zu werden. – Seit Gott sich aber den schwarzen Talar und den weißen Kragen angezogen hatte, war ihm das Bild von dem alten Pastor nicht mehr so teuer und lieb.

Das Bild, das er sich von Jesus gemacht hatte, erlitt mit der Zeit eine merkbare Veränderung; es wurde zu etwas Fernem und Unwirklichem. Daß Jesus, der so stark war wie der Vater, sich von der Heugabel verjagen ließ! – Das Bild von Jesus mußte, wenn er es recht bedachte, unbedingt verkehrt sein; denn dies Gesicht hatte nie gefühlt, was Freude ist! Und dabei hatte er die Welt erlöst! Hatte die Menschheit vorm ewigen Höllenfeuer bewahrt! Und konnte dabei so traurig aussehen, als habe er was ganz Verkehrtes getan? – Daß Jesus ihm verloren ging, das tat Peder leid; ihm wurde damit ein schwaches Wesen, das er allmählich wegen seiner Hilflosigkeit liebgewonnen hatte, genommen, und er fühlte den Verlust. Er hatte stets inniges Mitleid mit Jesus empfunden. Die Menschen waren böse mit ihm umgegangen. Bisweilen konnte Peder eine Wand hinaufsehen und überlegen, wie er sich wohl fühlen würde, wenn er da oben an den Händen festgenagelt hinge. Er konnte sich so hineinversetzen, daß er schließlich weinte: was die für Prügel verdient hatten, die zu jemandem, der so gut war, so gemein gewesen waren! –

Eine ganze Welt von Gefühlen war in dem Buben zusammengesunken, und das machte ihn sonderbar erwachsen und altklug. Hätte er noch mit jemandem über all diese Gedanken sprechen können! Aber die Mutter hatte er so lange gefragt, bis sie ihm versicherte, er sei der größte Einfaltspinsel, der in zwei Schuhen herumlaufe. Bisweilen erschreckte er sie ernstlich; dann wurde sie böse und bestrafte ihn in heiligem Eifer, weinte nachträglich und bat ihn flehentlich, sich nicht solchen Gedanken anheimzugeben. Das sei Gotteslästerung; und Gottes Zorn werde ihn treffen! – – Nun, mit dem wollte er's schon noch aufnehmen – er kannte die Fäuste seiner Brüder, die verfuhren auch nicht gerade glimpflich mit ihm – wenn er bloß dahinterkäme, was es mit Gott und all dem, woran er dachte, auf sich hatte!

Scheußliche Traumgesichte, wie er im Höllenfeuer braten werde, raubten ihm eine Zeitlang vor Entsetzen fast den Verstand. Dann gewöhnte er sich auch daran und versuchte, mit allerlei Mitteln gegen die Furcht anzukämpfen. Man konnte zum Beispiel recht laut und herzhaft singen; tüchtig arbeiten war gut; der Mutter helfen, auch nicht schlecht. Hörte er, daß jemand etwas Verkehrtes getan hatte, freute er sich beinahe – dann war er einst in der Hölle doch nicht ganz allein! Er versuchte mancherlei; nur eins nicht: zu Gott zu beten. Niemals ging er den, der seinen Vater getötet, um Hilfe an! Bestand die Mutter darauf, leierte er das Gebet vor ihr herunter, während er zugleich an anderes dachte; oder er log und behauptete, er habe bereits für sich gebetet. Aber das Tischgebet sagte er her; denn er war der Jüngste, von dem ›Job‹ Job = Geschäft. konnte er sich nicht drücken.

In jenem Sommer, in dem er acht Jahre alt war, beging er eine entsetzliche Sünde, die um so schlimmer wurde, je länger er sie für sich behielt: Die Mutter hatte einen prächtigen Hahn gekauft, den sie ›Trollvogel‹ nannte. Der rote zackige Kamm leuchtete und wippte, wenn der Hahn anstolziert kam. Peder konnte den Hahn nicht ausstehen, weil er so häßlich mit den Hennen umging; mitten im schönsten Picken streckte er plötzlich den Kopf vor, legte ihn ein wenig auf die Seite, aus den schwarzen Augen blaffte es rot, und dann – war er hinter einer Henne her und führte sich häßlich gegen sie auf. Eines Tages entschloß sich Peder, den Hahn abzustrafen; er lockte die Hühner mit einer Tasse voll Hafer hinter den Stall und streute ihnen dort den Hafer hin; dann nahm er einen Stock, paßte die Gelegenheit ab und gab ›Trollvogel‹ einen tüchtigen Hieb über den Kamm: der sollte einmal spüren, daß auch über ihm ein Gott waltete! Peder schaute finster drein. Aber er mußte wohl zu kräftig ausgelangt haben; der Hahn lag flach auf der Erde und zappelte; das war so häßlich mit anzusehen, daß Peder ihm noch ein paar Hiebe versetzen mußte; da strampelte der denn nicht mehr. Peder holte geschwind den Spaten und begrub den ›Trollvogel‹ drüben im Wäldchen. – – Nun aber ging es so zu, daß diese Sünde ein ganzes Heer weiterer Sünden nach sich zog: denn die Mutter fragte Peder mehrere Male am Tage, ob er nicht den Hahn gesehen habe; und immer log er ihr vor. – Ach ja, er kam freilich dorthin, wo es ewig loderte und brannte!

 

III

Jahre gingen und Jahre kamen; Leben wuchs und Leben welkte; nie war es anders gewesen; anders wurde es wohl auch nie.

Starke Junisonne mit lauem Südwind. Die Prärie schwamm in einem Meer von Sonne; so sehr hatte sie sich noch nie ihres Lebens gefreut. Den ganzen geschlagenen Tag hatte sie Licht geschlürft und war jetzt so schwer und faul, daß sie sich gegen Abend legen mußte, um ein wenig zu schlummern; zur Nacht, wenn der Mond erst heraufkam, harrten ihrer wieder andere Aufgaben! – –

Peder war jetzt elf Jahre alt und soeben auf dem Heimweg von der Schule; finster gerunzelten Gesichts und säumigen Fußes schlenkerte er den Frühstückseimer durch das hohe Gras am Wege. Er hatte gar keine Eile! – Seit zwei Wochen hatten sie Religionsunterricht, und dies Jahr hatten sie einen Lehrer, der noch weit unausstehlicher war als irgendeiner von den vorigen.

Heute hatte Peder wieder mal Pech gehabt. War zwar nichts Neues! Aber das hier, das war also das Ärgste, was er erlebt. Er schlug hart auf das Gras ein, bedachte sich einen Augenblick, sprang dann aber doch zu und schlug aus voller Wucht drein. – – So sollten sie's kriegen! so! und so!

Folgendes war geschehen:

Am Vormittag hatte er zugehört, als die Größeren in der Geschichte von Jesus, der auf dem Wasser wandelt, abgefragt worden waren; so sehr war er in diese merkwürdige Episode vertieft gewesen, daß es ihm, ehe er es hindern konnte, in echtestem Nordländisch entfuhr: »Kannst du mir sagen, was hatte er denn dabei für Schuhwerk an den Füßen?« – Das war keineswegs Unglaube gewesen; auch nicht Spott; er hatte doch nur so sehr darüber nachgedacht, ob Jesus nicht einmal nasse Füße bekommen habe.

Die Klasse hatte vor Lachen gebrüllt; aber was hinterherkam, war schlimmer. Der Lehrer hatte auf dem Podium ein Holzscheit auf dem einen Ende aufgestellt, neben den Stuhl, den er selber benutzte; auf diesem Scheit hatte Peder bis zur Mittagspause sitzen müssen. Hätte ihm nicht die Wut den Rücken gesteift, er wäre vielleicht ohnmächtig geworden, denn es saß sich mordsschlecht. Aber die Freude sollte keiner erleben, daß es ihm was ausmachte – nein! noch schöner! – Das Schlimmste aber waren die Worte des Lehrers gewesen, als er ihn laufen ließ: »Wenn du deine Aufgaben nur halb so tüchtig lerntest, wie du dir allerlei Schabernack auszudenken verstehst, könnte vielleicht auch aus dir einmal was Rechtes werden; aber es sieht nicht danach aus!«

In der Mittagspause hatte Peder sich auf die Prärie hinausgeschlichen und dort ausgestreckt; alle Glieder taten weh, ebenso das Gesäß. Es kochte in ihm. Das mußte Haß sein, was er jetzt fühlte, und er freute sich darüber. Derweilen er auf dem Scheit gesessen, er allein vor der ganzen Klasse, hatte er etwas gewaltig in sich arbeiten gefühlt, und das half ihm jetzt das Gelübde ablegen, daß er diesen Mann später einmal windelweich prügeln wolle, bis er um Gnade bettelte. Und er würde ihn schon aufstöbern, ganz gleich, in welche Winkel der sich verkroch!

Jetzt auf dem Heimweg rumorten diese Gedanken wieder in ihm. Immer wieder hieb er aufs Gras ein – oh! – – Warum hatte der denn nicht auf die Frage geantwortet, der Ochs? – Er, Peder, wollte Gift darauf nehmen, daß der, wenn es zum Klappen kam, keinen Muck von all dem, wovon er quatschte, verstand. Aufgeblasen und dumm, das war er! – – Und Englisch konnte er auch nicht. Jedes zweite Wort sprach er verkehrt aus. Aber war es zu glauben, er mußte trotzdem englisch quasseln! Natürlich bloß, um bei den Schülern gut abzuschneiden! – Und immer predigte er, wie herrlich alles ›daheim in Norwegen‹ sei! Warum reiste er denn nicht hin, der Hammel!

Peder ging weiter. Mit bösem und grübelndem Gesicht. – – Wenn es auch nur eine Spur von Gerechtigkeit in Gott gäbe, hätte er diesem Wichtigtuer eins hinter die Ohren gelangt! – – Aber freilich, Gott war vollauf damit beschäftigt, die Menschen umzubringen!

Da blitzte ein großes Licht in ihm auf und zugleich eine starke Freude: Gott wohnte in Norwegen! Er hörte, wie ihm jemand das klar und deutlich ins Ohr sagte. Schau – da hatte er endlich die Lösung!

Er war sogleich versöhnlicher gestimmt und mußte im stillen sogar lachen. – – Mutter und die andern irrten sich selbstverständlich. Gott hatte in Norwegen so viel zu tun, daß er nicht herkommen konnte. – Die Amerikaner waren außerdem auch viel tüchtiger als die Norweger. Hatten den Washington wie auch den Lincoln. Der eine von diesen beiden Hauptkerlen hatte das Land gegründet, der andere alle Sklaven befreit. Solche Großtaten hätte Gott selber auch nicht besser gekonnt, wenn er hier regiert hätte! – Amerika war übrigens ein neues Land – gar nicht so lange her, daß Kolumbus es gefunden hatte. – – Vielleicht hatte es nicht einmal mit zu jenem Teil der Welt gehört, von dem in der Biblischen Geschichte die Rede war? Well – dann hatte Gott doch auch nichts damit zu schaffen?

Peder fühlte, wie ihn eine seltsame Freude durchrieselte. Plötzlich hatte er einen zweiten lichten Einfall: Wenn Gott dennoch auch hier war, dann mußte er auch Amerikaner sein! Da hast du's – was soll einer mit einem norwegischen Gott in Amerika? Vielleicht gerade, weil die Norweger das nicht begriffen, erging es ihnen so jämmerlich?

– – Nun, ihm sollte niemand einreden können, daß ein richtiger amerikanischer Gott Menschen mit Schneestürmen und so tötete – auf der Lauer lag! Da redeten sie immer, wie häßlich es sei, an den Türen zu horchen; aber Gott, der horchte die Gedanken ab, die die Leute bloß im Herzen hegten, die sie nicht einmal ausgesprochen hatten und für die sie nichts konnten. Und paßten ihm dann diese Gedanken nicht, dann klatsch! zog er den Menschen einfach eins über. Und so was, bildeten sie sich ein, sei fair play von Gott! – Peder blickte aufs neue nachdenklich vor sich hin. Heute hatte er beschlossen, daß er, sobald er groß war, Carrie Teigen heiraten und sofort nach Black Hills ziehen und sich ein bißchen Gold ausgraben werde. Denn sie hatte einen so weißen und hübschen Hals. – – Well, vielleicht zog er auch erst nach Westen und kam dann zurück und heiratete hinterher? – – So etwas gefiel Gott aber wahrscheinlich nicht. Mutter würde es nicht gern sehen, und Mutter und Gott meinten fast immer dasselbe!

– – Wenn aber Gott es nun vielleicht nicht gern hatte, daß man Norwegisch mit ihm redete? Wo er doch Amerikaner war? Das nachdenkliche Bubengesicht hellte sich auf, um sich sogleich wieder zu verdüstern: ›Isaaks und Jakobs Gott‹ stand da. Also mußte er Jude sein. – – Die Juden hatten Jesus gekreuzigt – auch das stand da. – Akkurat der rechte Gott für sie!

Peder dachte lange Zeit angestrengt nach, konnte sich aber nicht recht darauf besinnen, ob Norwegen und Amerika in der Biblischen Geschichte vorkamen oder nicht. Aber es freute ihn, daß er nun wenigstens hinter Gottes Nationalität und Rasse gekommen war. Obwohl er nichts von dem Volke der Juden wußte, reimte sich doch alles sogleich weit besser. Nur der Gedanke, daß es sich für einen Amerikaner nicht schicke, mit Gott Norwegisch zu reden, ließ ihm noch nicht Ruhe.

Als sie am Abend auf der Koppel melkten und er seine Kuh so nahe zur Mutter hinbugsiert hatte, daß er mit der Mutter unter vier Augen sprechen konnte, fragte er sie, ob Vater gut Englisch gekonnt habe.

Er selbst konnte sich nicht mehr darauf besinnen. Wenn er an Vater zurückdachte und wie gut und kurzweilig sie es miteinander gehabt, blieben alle Worte weg; er und der Vater kamen sich so nahe, daß sie nicht zu reden brauchten, um einander zu verstehen.

Warum wolle er das wissen? Die Mutter stützte den Kopf gegen die Flanke der Kuh; sie melkte langsamer, um besser zu hören.

Oh, es sei ihm nur gerad so in den Sinn gekommen. – Hätte Vater gut Englisch gekonnt?

Das sei wohl mit ihm so gewesen wie mit den andern, die als Erwachsene herübergekommen waren; die meisten seien nicht übers Stammeln hinausgekommen. Bücherwissen sei im übrigen des Vaters starke Seite nicht gewesen.

Er habe doch aber Englisch reden können? Peder konnte seine Entrüstung über sie kaum verbergen und versuchte es auch gar nicht erst.

So, daß er sich habe helfen können – gewiß, meinte die Mutter.

Richtig! Ja! Vater hatte sich stets zu helfen gewußt – Peder war sogleich wieder versöhnlich gestimmt und dachte eine Weile angestrengt nach; dann fragte er plötzlich:

» Betete er auf englisch?«

Die Mutter antwortete nicht sogleich. Und dann hatte ihre Stimme einen harten Klang, dessen Ursache Peder nicht recht faßte:

»Der Vater hat nicht gebetet.« Und wie um jede weitere Frage abzuwehren, fügte sie sogleich hinzu: »Er war nicht von der Art!«

Für Peder lag darin nicht die Spur Merkwürdiges; es machte ihn nur froh, gab ihm größere Gewißheit. – Worum wohl auch hätte Vater beten sollen, er, der mit allem selber fertig wurde? Dieser Gedanke rief einen andern wach, der ihm bisher noch nie gekommen war:

»Wonach ist er denn damals ausgefahren?«

Die Mutter säumte auch jetzt mit der Antwort. Sie sprach so leise und traurig heut abend.

»Er hat den Pastor für den Hans Olsen holen wollen.«

Das begriff Peder nicht, und er mußte sogleich Bescheid haben, was denn der Pate vom Pastor hätte haben wollen. Er wartete lange auf die Auskunft, hielt die Zitzen, ohne zu melken, und als er dann immer noch nichts von der Mutter hörte und aufsah, da hatte sie die Kuh ausgemolken, saß noch auf dem Schemel, der Kübel stand neben ihr; aber sie hielt sich die Schürze vors Gesicht und bebte vor Schluchzen. Peder wurde so weh zumute, daß er nicht wußte, was mit sich anfangen, ratlos dabeistand und spürte, wie auch ihn das Heulen ankam. – – Das war natürlich das mit Vater! Er brannte vor Eifer, wieder gutzumachen, was er da angerichtet hatte, und trug sogleich die Milch hinein. Er dachte angestrengt nach, ob er etwas Passendes zu sagen fände; aber vergeblich; ging geradeswegs zum Holzstapel und nahm einen großen Armvoll Holz. Er ließ sich recht Zeit, damit sie sehe, wie vorsorglich er war, – sie mochte es gern, wenn er nicht vergaß, ihr mit dem Holz zu helfen.

Im Fenster lag sein Schulbuch; er nahm es, huschte in den Keller hinunter, wo sie bereits beim Milchseihen war, hielt es so, daß sie es sehen konnte, und sagte:

»Der gibt uns immer mächtig viel auf, siehst du. Ich glaub, ich schau mir's einmal an.« – Sie sagte nichts dazu, aber er merkte es sofort an sich selber: das hier, das freute sie.

Er steckte sich das Buch unter den Schurz seines Overalls und lief auf den Indihügel. Da stand eine Bank, die er sich selbst aus Weidenästen zurechtgezimmert hatte; an Schönwetterabenden hauste er oft hier oben. Es war so hübsch, zuzugucken, wie sich die Prärie zur Nacht hinbettete. Man sah von hier so weit. Vierzehn Farmen konnte er zählen.

Es war ihm, als würde er eins mit dem Abend und allem, was er sah, und das tat ihm gut. Wie ging es wohl zu, fragte er sich, daß die Prärie sich des Nachts zusammenzog? Er hätte jetzt von hier aus das Haus der Patin Sörine mit einem Stein treffen können. Der Abhang zu Tönset'n hinunter hatte sich ganz zusammengekuschelt. Vielleicht hatten im Dunkeln nicht nur die Menschen Angst? Auch er rollte sich gern vorm Einschlafen zusammen.

Er schlug die Aufgabe im Buch auf. Aber es wollte nicht so recht vorwärts gehen mit dem Lernen. Aus der Tiefe, vom Stall der Patin her, schwebte eine Melodie zu ihm herauf. Er mußte lauschen. – – Da sang jetzt der Tambour-Ola sein Lied, während er die Pferde besorgte. – – Eine merkwürdige Weise; er konnte sie selber, sang sie aber nur, wenn er sich einen Kummer vom Herzen wegsingen wollte – die Weise rührte so mancherlei Seltsames auf.

– – Mit eins war er in Überlegungen befangen, wie merkwürdig es doch war, daß erwachsene Menschen sich so selten freuten. Es war so, als stecke ihnen das Weinen ständig in der Kehle. Unversehens lief es dann über! – – Das Größte auf Erden mußte sein, die Menschen so mit Freude zu erfüllen, daß sie sich vor Lachen nicht halten konnten. – Und just das will ich versuchen!

Die Dämmerung trug ihm das Lied weiter zu. Je dunkler es wurde, desto trauriger schien auch das Lied zu werden. Sonderbarerweise fiel ihm die Mutter ein. Peder steckte sich sein Buch unter den Schurz und sprang auf. Wenn er jetzt nicht schleunigst nach Hause lief, mußte er wohl gar noch flennen. Im Abwärtsschreiten jodelte er die Melodie. – – Merkwürdig, wie stark heute die Prärie war!

 

IV

Im Frühjahr darauf – Peder war jetzt zwölf Jahre alt – ereignete sich etwas im Settlement Settlement = Siedlung., das dem Gerede der Leute reichlich Nahrung gab:

Im Osten der Siedlung wohnte die Witwe Gunhild Tuftan mit ihrer Stieftochter Oline. Die Witwe war eine gar tüchtige Wirtin, und nur während der Erntezeiten bedurfte sie fremder Hilfe, vor allem in der Harvest, der Weizenernte; dann hauste da draußen bei ihr so mancherlei Mannsvolk. Über Gunhild selber waren nicht gerad die schmeichelhaftesten Gerüchte im Umlauf; der Klatsch beschäftigte sich oft mit ihr. Von der Tochter wußte man, seit sie letztes Jahr eingesegnet worden war, wenig oder nichts. Sie sei ausnehmend schön, behaupteten die Burschen, denen es gelang, einen Blick in ihr Gesicht zu tun; aber deren waren nicht viele, denn Oline war scheu und kehrte sich ab, wenn man mit ihr sprach. Seit sie erwachsen war, ging sie weder zu den Meetings Meetings = Zusammenkünfte, auch Gebets- und Andachtsstunden. noch sonst dorthin, wo viele zusammenkamen. Das Verhältnis zwischen ihr und der Stiefmutter sollte nicht das beste sein.

Da geschah es in diesem Frühling, daß die Dirn heimlich ein Kind zur Welt brachte. Ob sie es absichtlich hatte umkommen lassen, konnte niemand nachweisen; jedenfalls war es tot, als der Mietknecht es neben einem Heuschober fand. Da jedoch die Obrigkeit bei Untersuchung und Verhör keine Spuren von Gewalt entdecken konnte, ließ sie die Angelegenheit auf sich beruhen. Es war ein schönes, wohlgestaltetes Knäblein gewesen.

Niemand außer dem Pastor bekam die Tochter zu sehen. Gunhild gab die Erklärung ab, sie habe schon befürchtet, daß es nicht recht mit Oline stehe; sie hätten letzten Herbst zwei Mannsleut während der Harvest gehabt; beide seien wie toll hinter der Dirn her gewesen. Der eine habe Guitarre gespielt und so wonnevoll dazu gesungen – ja, da sei es halt glaublich, daß die Dirn sich in ihn vergafft habe; sie sei sehr musikliebend, da habe er wohl seinen Willen bei ihr durchgesetzt. Sie, Gunhild, habe es nicht über sich gebracht, Oline deswegen zur Rede zu stellen. Fürs erste sei sie ihrer Sache nicht ganz sicher gewesen, sodann aber hätte sie auch nicht geglaubt, daß Oline bereits vor ihrer Niederkunft stehe. Am Tage des Ereignisses sei Oline morgens zum Maispflügen gegangen und des Mittags wieder zu Hause gewesen, habe aber wenig zu sich genommen. Als sie dann am Abend heimgekommen sei, habe sie erschreckend elend ausgesehen und sei sofort zu Bett gegangen. Am Tage darauf habe der Mietknecht nachsehen wollen, was die Krähen beim Heuschober zu bekrächzen gehabt, und dabei habe er das Kind gefunden. – Alles das erklärte Gunhild dem Pastor und den übrigen Befragern höchst umständlich. Sie könne nur nicht begreifen, daß Oline, die doch so gutherzig und brav sei zu Menschen wie zu Vieh, ihr nichts davon gesagt hätte.

Das Geschehnis war bald im ganzen Settlement bekannt. Die Leute begutachteten es von allen Seiten. Einige meinten, da stimme etwas nicht; wäre es noch Gunhild selber gewesen, denn dem Frauenzimmer sei allerlei zuzutrauen. Als jedoch nichts Neues mehr dazukam, wollte das Gerede sich fast schon legen.

Pastor Isaksen, noch verhältnismäßig neu im Amte und gründlich durchgebildet in der reinen Lehre, hatte mit Olines Mutter gleich beim Aufkommen des Geredes besprochen, was zu geschehen habe. Mutter und Tochter gehörten beide zur Gemeinde, und die kirchliche Ordnung, die ihm eingeprägt worden war, verlangte, daß Oline in Kirchenzucht genommen werde. Nicht nur habe sie heimlich geboren, sondern die Indizien sprächen auch stark dafür, daß sie den Tod des Kindes verschuldet habe. Warum hätte sie denn sonst alles vor der Mutter verheimlichen wollen? Von Oline selber bekam er wenig oder nichts heraus. Die paar Male, die er dort gewesen, hatte sie im Bett gelegen und die Wand angestarrt und war nur zu bewegen gewesen, den Mund aufzutun, wenn er strenge mit ihr sprach; dabei ließ sie ihn auch einmal ein Ja vernehmen, aber derart, daß er den Eindruck gewann, es geschähe, um ihn loszuwerden. Hätte nicht Gunhilds klares Zeugnis vorgelegen, er hätte nicht gewußt, wie er die Sache anzugreifen hatte. Jetzt berief er die Diakone, erzählte ihnen alles, was er wußte, und erklärte ihnen, was Ordnung und Schicklichkeit innerhalb einer christlichen Gemeinde in solchen außergewöhnlichen Fällen erforderten. Und da wurde denn beschlossen, daß Oline Tuftan am nächsten Predigtsonntag, dem vierten Sonntag nach Trinitatis, unter Kirchenzucht gestellt werden solle.

Die Gemeinde hatte es noch nicht zu einer Kirche gebracht. Der Gottesdienst wurde im Tallaksen-Schulhaus abgehalten, das am geräumigsten war und auch allerseits bequem erreichbar lag. Jeden Sonntag wurden hier ein paar hausgetischlerte Bänke aufgestellt und nach dem Gottesdienst wieder herausgenommen.

An jenem Sonntag nun waren ungewöhnlich viele erschienen; drin war alles gedrängt voll, ebenso im Flur, und vor jedem Fenster stand ein dichter Haufe.

Nach der Predigt und der Taufe trat der Pastor vor und erklärte – etwas stockend zwar wegen all des Getratsches, das in letzter Zeit auch in den Pfarrhof gesickert war – mit schonenden Worten das Vergehen, dessen Oline Tuftan sich schuldig gemacht, samt dem Beschluß, den er im Verein mit den Diakonen gefaßt habe. Das entspräche dem Worte Gottes und der Regel, die die Väter der Kirche in diesem Lande für ähnliche Fälle anempfohlen hätten. Die Gefallene sei ein Kind der Gemeinde; als Christen könnten sie es nicht verantworten, die Sache unbeachtet zu lassen. Hier sitze jetzt das Mädchen Oline Tuftan und sei bereit, ihre Sünde zu bekennen und die Gemeinde um Vergebung zu bitten wegen des Ärgernisses, das ihr gottloser Wandel verursacht habe. Die Barmherzigkeit, die die Anwesenden einst vom Herrn für sich erhofften, die sollten sie jetzt bei einem armen Menschenkinde walten lassen. – Der Pastor sprach lange und ausführlich und mit vielen Worten.

Darauf trat er an die vorderste Bankreihe heran und sprach dort auf jemanden ein. Ein Weib erhob sich, von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Klein und vorgebeugt ging sie und ähnelte lebhaft einem ungeheuren schwarzen Vogel, der so gezähmt war, daß man mit ihm nach Belieben verfahren konnte. Ein schwarzes Tuch umhüllte das Gesicht und ließ fast nur die Augen frei. Das farblose Weiß dieses Kindergesichts hob sich stark von dem Tuch ab. Als sie sich der Versammlung zukehrte, flog ein verängstigter Blick durch den Raum, wanderte zurück und heftete sich an den Boden.

Der Pastor entfaltete einen Bogen und reichte ihn ihr. »So, und nun lies,« ermunterte er freundlich. Willenlos nahm sie den Zettel entgegen und fingerte daran herum.

Ein drückendes, peinliches Schweigen entstand. Der eine merkte am andern, daß es sich hier schwer atmen ließ, und stöhnte. Durch jedes Fenster guckten gespannte Gesichter.

»Lies jetzt!« wiederholte der Pastor sanft.

Die Hände tappten an dem Papier herum. Eine kindliche Stimme schlich sich zitternd unter dem schwarzen Tuch hervor. Peder glaubte noch nie etwas gehört zu haben, das ängstlichem Vogelzirpen mehr ähnelte. »Ich, Oline Tuftan,« so begann die Stimme – Peder fühlte einen dräuenden Sturm von Tränen aus ihr heraus, ein Weinen, das wogte und brandete, zurückgezwungen durch eine übernatürliche Gewalt, und auch er hätte geweint, wenn er es vor Spannung gekonnt hätte; jeder Nerv an ihm riß, um zu erfassen, was hier vor sich ging – »bekenne vor dieser Gemeinde, das heilige Verbot des Herrn hinsichtlich Hurerei gebrochen zu haben.« – Jetzt erlosch die Stimme vor Schluchzen, schlich sich wieder hervor, aber noch ängstlicher, – das dräuende Wetter kam ständig näher –: »Meine Schande mußte ich vor den Menschen verbergen und gebar in Heimlichkeit –«

Eine heisere Mannsstimme ließ sich durch das hinterste Fenster vernehmen:

»Lauter! Lies lauter! – Wir hören nichts!« – – – Als hätten sie bloß auf diesen Ruhepunkt gewartet, fingen jetzt ein paar Männer an, stark zu husten; einem entfuhr ein schweres Stöhnen, das sich genau anhörte wie Pferdeschnaufen. Eine Mutter mit einem Säugling ging hinaus. Mehrere nahmen die Gelegenheit wahr, sich zu rühren; dann herrschte wieder Totenstille, unterbrochen von tiefen Seufzern.

Aufs neue begann die Stimme, jetzt stoßweise wie ein Räderwerk, das stehenbleiben will, weil die Feder abgelaufen ist:

»Doch die Hand des Herrn – hat – hat – mich gefunden und – mich – mich und meine Sünde – vor die Öffentlichkeit – geführt –«

Die schwarze Gestalt schwankte und sank in einen Haufen zusammen, aus dem ein Paar abgenutzte Schuhe hervorlugten. Ein unheimlicher Anblick, denn es sah aus, als hätte der Geist den Leib verlassen. Alle waren gelähmt von Entsetzen.

Beret Holm war die erste, die nach vorn ging. »Hier bedarf es schneller Hilfe!« sagte sie ruhig. Ein paar Männer traten sofort neben sie; mehrere kamen dazu; viele standen auf, um besser sehen zu können; ein paar von den Männern trugen Oline hinaus. Der Pastor folgte, und die Versammlung kam wieder zur Ruhe. Eine kalte Hand hielt die Herzen umschlossen. Hatte hier der Herr selber gesprochen, überlegten einige, dachten an ihre eigenen verborgenen Sünden und waren von um so größerem Ernste beschwert.

Als Oline wieder hereinkam, stützte sie der Pastor unter dem einen Arm, Gunhild unter dem andern. Jetzt hieß Pastor Isaksen Oline sich neben die Mutter setzen. Das Kopftuch war zurückgeglitten und ließ einen feingeformten Kopf mit welligem Haar erkennen, das im Licht golden schimmerte. Das kleine, zarte Gesicht beugte sich tief hinunter; es wäre schön gewesen, wären die Züge nicht so verzerrt und so unnatürlich bleich gewesen.

Wieder erhob sich der Pastor, jetzt erschüttert und unsicher wegen des Vorgefallenen. Noch einmal begann er mit seinen umständlichen Erklärungen. Das Mädchen und insbesondere die Mutter hätten bekannt, wie alles zugegangen sei; ein lahmer Knecht hätte letzten Herbst Oline in seine Gewalt bekommen und sei dann auf und davon gegangen; – vielleicht sollte dies ihnen allen zur Warnung dienen, auf daß sie sich künftig vorsähen, wen sie in ihr Haus nähmen, der Hausherr trage die Verantwortung für seinen Knecht! Wenn sie Oline jetzt richteten, sollten sie bedenken, daß diese keinen wachsamen Vater neben sich gehabt habe, und deshalb milde in ihrem Urteil sein. – Starke Indizien sprächen freilich dafür, daß sie nicht nur Hurerei betrieben, sondern noch Schlimmeres beabsichtigt hätte. Sie fragten gewiß, wie er selber: warum hatte sie sich nicht der Mutter anvertraut? Ein gerechter Einwand; aber an dieser Stelle müsse er die Worte seiner Frau wiederholen: es gäbe Fälle im Leben, in denen das Reden nicht so leicht sei. Und ferner müßten sie in Betracht ziehen, daß die Witwe Gunhild nicht Olines rechte Mutter sei. Auch sei das Mädchen noch das reine Kind. Vielleicht leuchte auch das Licht des Verstandes ihr nicht immer hell genug – er gestehe zu, daß er diesen Eindruck bekommen habe. Das vorliegende Bekenntnis habe sie anerkannt und unterschrieben; obwohl es sich nicht mit den Regeln der kirchlichen Disziplin vereine, so glaube er doch, daß Christenpflicht gebiete, Oline nicht zum Verlesen desselben zu zwingen, da sie so schwach sei – übrigens habe sie ja auch einen Teil bereits vorgelesen. Falls daher kein Einspruch geschehe, wolle er selber an ihrer Statt das Bekenntnis verlesen. – Der Pastor hüstelte, blickte über die Versammlung und machte eine kurze Pause. Darauf las er das Bekenntnis vor, das er selbst für sie abgefaßt hatte. Als er fertig war, entschlüpfte ihm ein Seufzer der Erleichterung: das hier war mit Gottes Hilfe so verständig abgefaßt, daß ein Spektakel daraus eigentlich nicht entstehen konnte!

Jedoch unverzüglich erhob sich der alte Tönset'n mit rotem Kopf; er stützte sich auf seinen Stock und ließ den Blick herausfordernd über die Versammlung gleiten:

Das müsse er sagen, das seien ein paar tolle Diakone, die sich die St.-Lucas-Gemeinde jetzt angeschafft habe, die führen im Settlement herum und durchschnüffelten alle Lumpen nach Mist und Dreck! Und brächten's dann vor die Gemeindeversammlung! Eigentümlich, daß der Pastor sich dafür nicht für zu gut hielte! Wenn sie das so weiter machten, dann brächte man sich ein andermal lieber gleich das Essen mit in die Kirche und am Ende auch die Betten, denn dann hätten sie bald nichts anderes mehr zu tun, als Gemeindeversammlungen abzuhalten! – Er mache die Diakone aufmerksam darauf, daß sie diese Sache gar nichts angehe. Die Obrigkeit habe bereits alles Nötige getan – er sei selber Obrigkeit gewesen und wisse, was er sage! – – Was könne denn das arme Ding dafür, daß es akkurat sie überrascht habe und daß sie es nicht fertiggebracht, sich der Gunhild anzuvertrauen? Wenn der Pastor das Weibsbild kennen tät, dann hätte er vielleicht seine Nase nicht da hinein gesteckt! – – Wer sich ohne Schuld fühle, der werfe den ersten Stein! Wenn er sich nicht sehr irre, so stehe da in seiner Bibel so etwas. Er schlage deshalb vor, daß man die ganze Sache begrabe – und streiche – er betonte ›streiche‹ – im Gemeindeprotokoll, denn es würde ihren Nachfahren kaum zur Freude gereichen, zu entdecken, daß ihre Väter Barbaren gewesen seien. Von einem Papsttum wolle man in Dakota Territory nichts wissen!

Tönset'ns Zorn riß einen Teil der Versammlung aus seinem brütenden Ernst. Und Aslak Tjömes lachfreudige Stimme ließ sich sofort vernehmen: »Ich unterstütze deinen Antrag, Syvert Tönset'n, ja bei Gott, das tu ich!«

Vieler Augen richteten sich auf den Pastor. Worte waren hier gefallen, die er nicht ungerügt hingehen lassen durfte. Einige der Burschen reckten die Hälse voller Erwartung und Spannung. Die Dirnen schauten geschwind einmal vom Gebetbuch auf. Doch die älteren Leute saßen zumeist unerschüttert ernst und bedächtig da.

Der Pastor hatte sich während Tönset'ns Rede in die Lippe gebissen. Ohne den Blicken der Versammlung zu begegnen, sagte er sehr nachdrücklich: wer das Wort begehre, müsse auch so reden, wie es einer Christenversammlung anstehe! Ferner müsse er bitten, daß man sich an die Sache halte. Er und die Diakone würden ihre Handlungsweise schon vor Gott und den Menschen zu verantworten wissen. Sie hätten genug der Präzepte, die ihnen zur Richtschnur dienten! – Es liege also ein Antrag vor; der bestehe aus zwei Teilen, erstlich, daß das Mädchen Oline Tuftan, das sich der Hurerei schuldig gemacht –

»Das habe ich nicht gesagt!« rief Tönset'n wütend dazwischen!

»Das war aber der Inhalt deiner Worte! Und jetzt schweig, du hast nicht das Wort!« Der Pastor war blaß und die Stimme bebte, als er fortfuhr:

Diese Oline Tuftan also solle für das Ärgernis, das sie veranlaßt, die Vergebung der Gemeinde erhalten; zweitens: alles darauf Bezügliche solle im Protokoll gestrichen werden. Wolle sich jemand vor der Abstimmung dazu äußern, so sei jetzt dazu Gelegenheit.

In der Versammlung befand sich auch Nils Nilsen, ein schmächtiger, schwarzbärtiger, braunäugiger Mann; er las unentwegt im Gebetbuch; die rechte Hand, die die Seite hielt, zitterte merklich. Als er jetzt aufsteht, heften sich seine braunen Augen mit Wärme auf den Pastor, und er sagt langsam: »Nach Mose Gesetz soll das Weib vor die Mauern der Stadt geführt und gesteinigt werden, wenn ich die Schrift recht verstehe. – Ja, ich wollte also bloß darauf aufmerksam machen, was Gottes Wort zur Sache zu sagen hat,« fügt er ernst hinzu und setzt sich wieder.

Der Pastor lächelt ihm gezwungen zu und erinnert ihn sanft daran, daß sie heute nicht mehr in dem Alten Bund lebten, sondern in dem Neuen, nicht unter dem Gesetz, sondern in der Gnade, und das besage, daß, wenn dein Bruder sündigt, bereut und vor den Menschen bekennt, so soll ihm seine Sünde vor den Menschen vergeben sein, gleich wie sie es vor Gott ist. Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! So lauten Christi Worte.

Kaum hat der Pastor ausgeredet, als Nils Nilsen schon wieder auf den Beinen ist:

Woher hätten denn nun aber der Pastor und die Diakone die Gewißheit dafür, daß Gott der Oline Tuftan vergeben habe? Hätten sie in seinem Rat gesessen? Des Mädchens Sünde sei fraglos übergroß; nicht nur habe sie gehurt, sondern sie habe auch das Kind liegen lassen, ohne der Mutter ein Wort zu sagen – also habe sie es umkommen lassen wollen; nicht nur Hurerei also, sondern Mord! – Nils Nilsen hält einen Augenblick inne und fährt dann bedächtiger fort: »Gesetzt den Fall, daß Gott ihr nicht vergeben habe, wird dann nicht, falls wir ihr vergeben, uns selber der Fluch treffen? Ein ähnlicher Fall ist bereits in dieser Gemeinde einmal vorgekommen – diesen Herbst vor sechs Jahren. Auch ihr vergaben wir; und damals hat uns die züchtigende Rute schwer getroffen, und nicht nur uns, sondern viele andere dazu. Denn einen solchen Winter hat Gott nicht ohne Grund geschickt! – Freilich verlachen heutzutage die Menschen solche Auffassung als altväterisch.«

Mehrere von den jungen Leuten begrüßten diese Auslassungen mit einem höhnischen Pruschen; der alte Tönset'n stützte finster das Kinn auf den Stock; Aslak Tjöme jedoch schmunzelte über einen Gedanken; aber die meisten fühlten sich immer noch stumm und bedrückt: mocht am Ende viel Wahres an dem sein, was der Nils sagte. Gottes Strafe war bisweilen recht nahe! Heikle Sache, hier abzustimmen. Wußten denn sie, was für einen Lebenswandel diese beiden Weibsleut geführt hatten? – Ob man nicht besser täte, die Angelegenheit aufzuschieben?

Der Pastor nahm wieder das Wort: Gott werde es sich wohl kaum einfallen lassen, sie zu bestrafen, wenn sie in Liebe und gemäß der kirchlichen Ordnung und Disziplin verführen, selbst wenn das Unheil es wolle, daß die Liebe sie auf Irrwege führe; denn wer viel geliebt hat, dem soll viel vergeben werden!

Nils Nilsen erhob sich wiederum bekümmert und bat, noch ein paar Worte sagen zu dürfen. Zunächst bitte er den Pastor um Verzeihung, weil er, ein unwissender Mann, sich zur Widerrede gegen ihn erdreiste. Sodann müsse er um seines Gewissens willen vor ihnen für die Wahrheit zeugen, die er vor sich sehe: dieses Gerede von der Liebe klinge so herrlich; darum eben sei sie die erste Waffe, die Satan gegen die Menschen führe. Das süße Gefühl, das sie Liebe hießen, könne von mancherlei Art sein, zum Beispiel Weichlichkeit, die vor der Pflicht zurückschrecke, schlappe Gutmütigkeit der Eltern gegenüber mißratenen Kindern! … Vielleicht käme Oline Tuftan darauf, dieselbe Entschuldigung für ihr Tun vorzubringen. Was habe sie denn gefühlt, als sie sich an des Fleisches süßer Wollust ergötzte? Wenn es jetzt bereits dahin gekommen sei, daß die Jungen sich der Hurerei hingeben, die Sprößlinge umkommen lassen und dennoch Glieder einer christlichen Gemeinde bleiben dürften, nachdem sie weiter nichts als ein paar Worte vorgelesen hätten, die ein anderer ihnen aufgeschrieben, dann sei wahrlich das Salz dumpf geworden in des Herrn Gemeinde! Jetzt wolle er den Nebenantrag einbringen, daß man Gunhild ersuche, mit der Tochter die Siedlung zu verlassen; dann würden die beiden Frauen niemandem mehr zum Ärgernis oder zur Versuchung gereichen. Auf daß aber keiner die Gemeinde einer lieblosen Handlung beschuldige, erbiete er sich, Gunhilds Farm zu einem Preis zu kaufen, den die Trustees Trustee = Vertrauensmann, Gemeindevertreter. festsetzen mochten. – – Nils Nilsen sprach langsam und ruhig; aber ein glühender Fanatismus schwelte in seinen Worten und warf seine Funken in leichtentzündliche Gemüter.

Der Pastor befand sich augenscheinlich am Ende seiner Weisheit. Da hatte er nun seinen lieben Gemeindekindern alles so klar und deutlich dargelegt, daß die Abstimmung nur eine Formsache hätte bleiben können, und nun drohte sich alles unauflösbar zu verheddern. Und nichts war gefährlicher, als sich mit einem religiösen Eiferer öffentlich in eine Diskussion einzulassen – das war ihm bereits in seiner Seminarzeit eingeprägt worden. – – Aus allen Ecken des Zimmers starrten ihn Gesichter an und forschten gespannt, wie er wohl den Nils Nilsen abfertigen werde, viele offenbar jetzt weit interessierter an der Auseinandersetzung zwischen ihm und Nils als an dem eigentlichem Anlaß.

Da aber kam dem Pastor der liebe Gott in Aslak Tjömes Gestalt zu Hilfe. Mit verhaltenem Lachen in jedem Wort sagte er trocken und gutgelaunt: wenn Nils Nilsen es für seinen Teil übernehme, die ›Mauern der Stadt‹ zu errichten, so sei er bereit, auf seiner Schubkarre all die nötigen Steine für das Business Business = Angelegenheit, Sache., das sich vor diesen Mauern abspielen solle, herbeizukarren. Gerne fange er schon morgen damit an, obwohl es eigentlich erst dann damit Eile habe, wenn Nils auch die Mauern der Stadt schicklich mit Kalk verputzt hätte! In Nils' Nebenantrag könne er keinen Sinn finden. Zunächst einmal besitze Nils schon jetzt ausreichend Grund und Boden; sodann aber käme es ihm auch christlicher vor, daß sie sich selber mit ihren Sünden plagten, als daß sie deren üblen Geruch unter unschuldige Menschen jagten. Wüßte er nicht, daß der Nils ein strenger Temperenzler sei, so müßte er glauben, daß der einen kleinen Schwips im Kopf habe! – Unter vernehmlichem Lachen beantragte Aslak Abstimmung und setzte sich. Der alte Tönset'n sprang sogleich hoch, stieß laut mit dem Stock auf und unterstützte den Antrag.

Damit war jede weitere Debatte abgeschnitten. Die Abstimmung mußte vorgenommen werden. Nur einer stimmte dagegen. Nach der Stimmenzählung erhob sich Nils Nilsen und bat sanftmütiglich darum, daß seine Gegenstimme zu Protokoll genommen werde.

Damit war die Sache abgetan.

 

V

Beret und Peder saßen während dieser Vorgänge in einer der vordersten Bänke. Als die Verhandlung ihren Anfang nahm, hatte es Beret so geschienen, als gehe sie besser mit dem Buben hinaus; aber sie war schließlich doch geblieben; sie dachte bei sich: vielleicht, daß das Kind dann die Sünde mit tieferem Ernst scheuen lernt.

Peder war allem mit brennender Aufmerksamkeit gefolgt. Es war ihm, als erfahre er jetzt erst, was das Leben eigentlich bedeute. Ein Gefühl wogte unausgesetzt in seinem Sinn auf und ab, wurde mächtiger, brandete auf: jetzt handelten sie nicht redlich! Was hier einem Menschen angetan wurde, war nicht nach Gottes Willen!

Als die schwarzgekleidete Gestalt mit der verängstigten Stimme und dem Antlitz, in dem der Tod saß, vorzulesen begann, sah er sich mit brennenden Augen um und mit so trocknem Hals und Mund, daß die Zunge nach Feuchtigkeit lechzte; die Hände ballten sich feucht und heiß. Hier muß jetzt ein Wunder geschehen! dachte er. Ein Mensch mit dieser Stimme kann sich unmöglich so entsetzlich vergangen haben – jetzt muß Gott kommen! – Als die Mutter nach vorn eilte, um zu helfen, wollte er mit; aber das durften wieder nur die Erwachsenen, er hatte sitzenzubleiben. – – Ob sie schon tot war? Es hätte ihn nicht gewundert – hatte er nicht selber schon oft gefühlt, daß ihm das Herz stille zu stehen drohte? Und aus geringeren Ursachen! – Sie würden sie doch wohl nicht schon heute begraben? – Vielleicht konnte Gott sie wieder auferwecken – – so etwas stand in der Biblischen Geschichte. – – Oh nein, Gott hütete sich wohl davor; nur Jesus tat so etwas, und den hatten sie gekreuzigt! Ein ohnmächtiger Grimm bemächtigte sich seiner; die Hände ballten und lösten sich abwechselnd wie im Krampf. Wenn er erst groß war, dann wollte er – dann wollte er –! – – In rasendem Zorn gab er sich den Gedanken hin, was er dann dem Pastor und den Diakonen und allen, die diese Geschichte hier eingerührt hatten, antun wollte, nichts war peinvoll genug! Oh, er wollte – – er würde – –!

Als Oline wieder hereingeführt worden war und Nils Nilsen mit so edlem Ernst dartat, daß Steinigen die einzig angemessene Strafe sei, da war kein Zweifel in Peder, daß die Leute die Strafe auch tatsächlich vollziehen würden. Er biß in den Jackenärmel, um nicht laut loszuschreien. Stets geschah das Verkehrte, das Erzböse! – Doch dann sollte es noch mehr Tote abgeben! Er wollte ihnen Felsklötze zwischen die Augen schleudern! Hätte er doch wenigstens Zeit gehabt, die Flinte von Hause zu holen! – – So gewaltig war der innere Aufruhr, daß er nach Aslak Tjömes letzten Worten in lautes Schluchzen ausbrach. In dem klaren Licht des Witzes, mit dem der andere die Sache beleuchtet hatte, sah Peder sogleich, wie gänzlich sinnlos und undurchführbar das mit dem Steinigen gewesen war. – Das kann nicht geschehen – nein, so etwas kann nicht geschehen! Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte für Aslak Tjöme und für Tönset'n Hurra gerufen, sie waren doch die wackersten Recken der Welt! – – So wollte auch er einmal die Leute zum Lachen über ihre eigne Dämlichkeit bringen! – Die Mutter fragte sogleich, was ihm denn fehle, und da riß er sich schnell zusammen und belauerte jetzt still, mit welchen Absichten die Erwachsenen sich trugen.

Denn irgend etwas Sonderbares war da im Werden – das merkte er wohl. Er hatte die ganze Zeit mit einem Gefühl von Scham dabeigesessen. Dasselbe fühlte er auch bei den andern heraus; selbst in der Mutter meinte er es wahrzunehmen. Was bedeutete das sonderbare Grinsen auf vielen der Männergesichter? Und die Mädel saßen mit roten Backen und wagten nicht aufzusehen? Worüber schämten denn die sich?

Als er und die Mutter zum Wagen gingen und an einer Schar schwätzender Männer vorbeikamen, hörte er einen leise sagen: »Es ist nicht so einfach, sich hierzuland mit den Mädeln einzulassen; drüben im alten Land nahm man es nicht so genau mit einem oder zwei Kegeln Kegel = uneheliches Kind (vgl. Kind und Kegel).!« – Ein anderer fiel lachend ein: »Mußt hierzulande halt lernen, es smarter smart = schlau, gescheit. anzustellen, siehst du!« – Die ganze Gesellschaft lachte. Die Mutter nahm Peder beim Arm und zog ihn mit Gewalt schnell mit sich fort. – Was hatte das alles zu bedeuten?

Auf der Heimfahrt wurde nicht gesprochen. Zu Hause angelangt, brachten die Brüder, ohne ein Wort zu verlieren, die Pferde in den Stall. Die Schwester ging ihm aus dem Wege. Er merkte das alles, und das Geheimnisvolle wurde nur um so seltsamer. Er schlich sich auf den Boden, holte die Bibel hervor und las alles nach, was da über Hurerei stand, aber das war nur dasselbe, was er bereits gewußt hatte, und hinterher war er auch nicht klüger.

Als langsam seine Erregung nachließ, fühlte er sich elend und hatte Brechreiz. Aber er sagte nichts davon; als er jedoch den Geruch des Mittagessens spürte, vermochte er ihn nicht zu ertragen, er mußte ins Bett. Den ganzen Nachmittag blieb er liegen, schwitzte und sann derweilen über vielerlei nach.

Als die Mutter am Abend im Keller beim Milchseihen war, stand er auf und begann sich herumzutrollen. Ein Schmeckpröbchen von der frischgemolkenen Milch täte ihm sicher gut, fiel ihm ein; übrigens wollte er auch gern mit der Mutter sprechen. Wenn dort jetzt bloß nicht die Schwester herumschnüffelte! Er spähte umher und stahl sich hinab.

Dort unten war es schummerig und kühl, und es ließ sich leicht reden. Er wartete, bis die Mutter ihm den Rücken kehrte. Dann fragte er, was denn Oline Schlimmes getan habe. – Die Mutter ließ die Schüssel erst vollaufen, ehe sie antwortete:

»Kind, das hast du heut doch wohl gehört. – – – Bitte den Herrgott, daß er dich davor bewahrt, daß du je ein Menschenkind in solches Elend bringst.« Das letzte setzte sie hinzu wie aus vielem Nachdenken heraus.

»Ist sie nicht verheiratet gewesen?«

»Nein.«

»Ist das Hurerei, wenn eins Kinder kriegt und nicht verheiratet ist?«

Er merkte, wie ihm die Kehle trocken wurde, und er schlürfte noch einen Schluck Milch.

Die Mutter antwortete nicht gleich; und das war ihm lieb. Sie bückte sich über eine Schüssel und stellte sie besser auf dem Wandbrett zurecht. »So steht es geschrieben.« Jetzt klang ihre Stimme müde; aber er kehrte sich nicht daran:

»Ist das denn etwas gar so Schlimmes?«

Die Mutter hatte noch eine Schüssel vollgegossen. Sie schien unschlüssig, wohin sie die setzen solle. Dann kam ihre Stimme wie aus tiefster Seele und beladen mit einer so großen Traurigkeit, daß es ihn tief ergriff.

»Lies nach in deinem Katechismus über das sechste Gebot. Da steht's klar genug!«

Peder sah plötzlich einen neuen Gedanken herbeilaufen und fing ihn sofort ein:

»Steht das so auch auf englisch?« Die Worte waren ihm noch nicht über die Lippen, als er auch schon davon überzeugt war, daß es auf englisch nicht so unverständlich und dunkel sein könne; übrigens war alles auf englisch weit klarer.

»Oh, das tut es wohl!«

Peder überlegte eine Weile.

»Glaubst du, Gott hat von ihr gewollt, daß sie tue, was die andern heut von ihr verlangten – wenn er ihr vergeben hat? Denn dann geht das die andern doch gar nichts an?«

»Es ist zuweilen gar schwierig zu verstehen, was er will.« – Sie wandte sich nach ihm um. »Und jetzt geh hinauf und nimm die Schularbeiten für morgen vor, denn von dem bin ich sicher, daß er's will!«

Aber dann, als er schon halb im Kellergang war, plagte den Peder etwas so sehr, daß er sich's nicht verkneifen konnte; und jetzt stand die Mutter auch da drunten im Dunkeln, so daß es nicht so schwer war, es zu sagen:

»Du, Mutter, ich tät so sehr gern die Schulaufgaben auf englisch lernen!«

Die Mutter setzte die Schüssel hin, die sie gerade in der Hand hielt, und trat in den Kellergang: »Kannst du mir sagen, was du da für Unsinn schwätzest, du Permann? – Schulaufgaben auf englisch!« setzte sie hinzu, wie um ihm recht zu zeigen, wie dumm er daherschwatze.

»Es wär halt viel leichter!«

»Für dich, der so schön Norwegisch kann?«

»Ich versteh die Worte nicht recht!« behauptete er bockig.

»Ja, dann lern du sie nur, ich weiß keinen besseren Rat!«

Er merkte an ihrer Stimme, daß im Augenblick nichts bei ihr zu erreichen war. So! Das hatte er sich verpatzt – jetzt konnte er auch nicht mehr wegen des andern fragen. Er fügte nur noch hinzu, wie um sich zu verteidigen:

»Die andern tun's auch!«

»Das ist nicht unsere Sach!« Dann aber fügte sie freundlicher hinzu: »Aber geh, Permann, du wirst mir doch die Schand nicht antun,« und trat dabei mehr ins Licht.

»Schand?« Er wich vor ihr ein paar Treppenstufen nach oben zurück.

»Ja, das muß ich freilich sagen!«

»Ist das denn solch eine Schand?«

»Es ist doch wohl eine Schand für einen norwegischen Buben, wenn er mit dem Christentum in einer Sprache herumalbern will, die seine eigene Mutter nicht versteht! – Jetzt geh du nur hinauf an deine Bücher!«

Peder ging hinauf und in den Abend hinaus, so ergrimmt, daß es in ihm kochte – – jetzt sah die Mutter doch wahrhaftig nicht weiter, als ihre eigene Nase lang war, – – er ein norwegischer Bub! Hö, das war mir das Richtige!

Drüben beim Stall stand ein Buggy Buggy = leichter, einfacher Wagen; Viersitzer.. Waren das nicht Sam Solums Gäule? Aus dem Buggy klangen laute Mannsstimmen; Peder kreiste näher, immer näher – das mußte er herauskriegen. Hsch – bloß nicht so nahe, daß sie ihn wegjagten! – Ho, das war der Sam; er hatte den Chris Tallaksen mit. Ole stützte den einen Fuß auf das Vorderrad, der Große-Hans tat das gleiche auf der anderen Seite. Sam führte das Wort. Wie hell begeistert das alles klang! Die anderen lachten dröhnend und warfen ab und zu eine Bemerkung dazwischen. Alles handelte von der Gunhild Tuftan und wie die sich aufführe, wenn sie so recht mannstoll sei. Wie oft sie diese Rappel bekomme, wer bei ihr gewesen wäre; und dabei wurden viele Männernamen genannt. Peder hörte sonderbare Worte, Worte, die dunkle Dinge aufwühlten, an etwas rührten, was er nur ahnte wie einen Traum, auf den er sich nicht recht besann. Er schämte sich, daß die Brüder so viel von dem allen wußten. Sam zog den Ole damit auf, daß er auch bei der Gunhild gewesen sei, bezeichnete sogar den Abend. Peder warf einen Blick zum Haus hin: das durfte Mutter nicht hören – um alles in der Welt nicht!

Der Buggy fuhr weg, Peder ging hinein und nahm die Bücher vor. Aber gleich darauf kamen neue Gäste zum Hof, die Patin Sörine mit ihrem ganzen Hausstand, sie und der Kleine-Hans an der Spitze; Sofie und Tambour-Ola hinterher.

Tambour-Ola hieß eigentlich Ole Tönaas. Als halbwüchsiger Bub war er mit seinen Eltern herübergekommen. In Wisconsin hatten die sich etwa vierzig Acres abgeholzten Waldlandes geborgt und sich daran begeben, das Leben von vorne anzufangen, und sie hatten sich noch nicht lange versucht, als sie schon entdecken mußten, daß sie einstweilen das Paradies noch nicht gefunden hatten.

Als der Sohn zweiundzwanzig Jahre alt war, hatte er den Bürgerkrieg mitgemacht und war Tambour geworden. Daher sein Spitzname. Vielleicht hatte er eine große Begabung für Musik mitbekommen; jedenfalls schien er seinen ehemaligen Tambourberuf nicht vergessen zu können; alle Augenblicke trällerte er ein Lied und trommelte den Takt dazu. Und wenn er sang, legte er so viel schönen Ausdruck hinein, daß die Leute stehenblieben, um zu lauschen.

Im übrigen war er ein sonderbarer Kauz. Bisweilen so lustig und munter, daß die Leute sich über seine Redereien geradezu kaputtlachen konnten, und dann – unversehens – überkam es ihn, daß er tagelang mürrisch und verdrossen umherging.

Als ihn Sörine erst besser kannte, wußte sie es jedesmal vorauszusagen, wenn solch ein Schwermutsanfall sich vorbereitete; dann begann er eine bestimmte Melodie vor sich hinzusummen, die sich durch viele kunstvollen Läufe und Tremolos, mit denen er sie verzierte, auszeichnete und dabei so traurig und schwer war wie ein bleigrauer Novemberabend über einer öden Prärie. Diese Weise bestand eigentlich aus zweien – einem Soldatenliede aus dem Krieg und einem norwegischen Volksliede, das sich an das andere mit einigen gefühlvoll gesummten Hm-hms anschloß. Beide in Moll. Jetzt kannten schon alle im Hause und auch die Nachbarn diese Melodie. Einmal hatte Sörine ihn gefragt, wie er dieses Lied benenne; da hatte er mit einem entsetzlich verzerrten Gesicht geantwortet, das sei die Weise vom Schmerz des Lebens! Hinterher hatte er kalt und höhnisch gegrinst. Seit der Zeit nannte man das Lied im Hause der Sörine: Tambour-Olas Schlechtwetter-Weise; die Sofie war auf den Namen gekommen, denn sie verspürte stets solche Lust zum Weinen, wenn sie jemanden die Melodie summen hörte.

Außerdem aber hatte der Mann die Eigenheit, daß er mit allem, was mit Religion zusammenhing, seine Possen trieb. Kam man in seiner Gegenwart auf dieses Gebiet zu sprechen, so ging er entweder seines Weges oder er machte sich derart über die verschiedenen Meinungen lustig, daß die Ernsthafteren unheimlich davon berührt waren und glaubten, der Mann sei nicht recht bei Verstande.

Er sei so bei seinem halbjährigen Aufenthalt im Gefangenenlager von Andersonville geworden, meinten die einen; andere wieder glaubten, es schriebe sich von dem schweren Geschick her, das ihn betroffen, habe er doch, während er im Felde gewesen, sowohl sein Mädel wie auch beide Eltern verloren. Den Eltern sei die Armut und die schwere Arbeit im Waldland so schlecht bekommen, daß sie eine leichte Beute des Hustens wurden, der eines Frühjahrs im Settlement wütete. Die Braut hatte, seit er in den Krieg gezogen war, nie mehr von ihm gehört und also annehmen müssen, daß er gefallen sei. Lieber, als daß sie das ganze Leben allein vertrauerte, hatte sie einen genommen, der ihr dabei half. Als Ola dann eines schönen Tages auftauchte, um sie heimzuführen, war sie eine verheiratete Frau mit Mann und zwei Kindern. Das war das Ende dieses Liedes gewesen.

Seither war er herumgestreift und dabei auch nach dem Westen geraten. Trotz seiner Absonderlichkeiten hätte man viele Counties County = eig. Grafschaft, hier etwa = Provinz. vergeblich nach einem tüchtigeren und treueren Arbeiter absuchen können; jetzt war er bereits das dritte Jahr bei Mrs. Waag; wie einige einander zutuschelten, war es nicht ganz ausgeschlossen, daß er um sie warb. Ob das nun auf Wahrheit beruhte oder nicht: jedenfalls war sie die einzige gewesen, die den Vorhang vor seinem früheren Dasein hatte lüften dürfen. Und jetzt wurde er mit zur Familie gerechnet.

Vor keinem Menschen in der ganzen Prärie empfand Peder solche Hochachtung wie vor Tambour-Ola. Er stellte ihn sogar beinahe neben Abraham Lincoln und bemühte sich eine Zeitlang eifrig, ihn in Reden und Gebärden nachzuahmen. Er war übrigens nicht der einzige daheim, der etwas für ihn übrig hatte. Beret hatte Tambour-Olas Geschichte von Sörine erfahren. Bisweilen ruhte ihr Blick auf diesem Gesicht, das vom Leben so tief gezeichnet war, und dann fühlte sie den Drang, gut zu ihm zu sein. Olas viele Absonderlichkeiten beachtete sie nicht weiter.

Als die beiden Brüder die Gäste hörten, kamen sie geschwind aus ihrer Stube auf dem Boden herunter, wo sie sich fast immer, wenn sie an den Sonntagnachmittagen daheim waren, aufhielten. Die Mutter und die Patin blieben wie gewöhnlich plaudernd in der Küche; die anderen begaben sich in die Wohnstube. Peder mußte ihnen nach, einmal um Tambour-Ola nahe zu sein, sodann aber auch, um den Großen-Hans und die Sofie zu beobachten. Er hatte im Frühling bemerkt, daß der Bruder immer so komische Augen machte, wenn er die Sofie ansah – – wie mochten also wohl ihre Augen aussehen, wenn sie den Großen-Hans anguckte? Peder mochte sie gut leiden; über ihrem Wesen lag solch warme blühende Gesundheit, – ganz wie die schöne Prärie an warmen Lenzabenden. Und jetzt fiel ihm auf, wie sanft ihr Hals sich bog; es müßte spaßig sein, die Hand dahin zu legen – – sie über die kleinen Buckel gleiten zu lassen, die gleich darunter lagen. – Im übrigen konnte er nichts Besonderes an ihr entdecken, nur daß sie hin und wieder den Großen-Hans ansah und ihre Augen dann jedesmal in etwas Gutem und leuchtend Warmem aufstrahlten. Besonders, wenn Tambour-Ola etwas wirklich Lustiges gesagt hatte. Der Bruder aber, der Große-Hans, guckte die Sofie so oft an, daß Peder sich wahrhaftig in seine Seele hinein schämen mußte – das hätte bloß die Mutter sehen sollen!

Aber dann vergaß er die beiden über dem Tambour-Ola. Letztes Jahr hatte Peder auf dem Vierten-Juli-Fest Am 4. Juli 1776 erklärten die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit vom Britischen Reich. das Märchen eines Feuerwerks erlebt, und daran mußte er jetzt denken; denn wahrhaftig, der Mann belustigte sich damit, hier Raketen steigen zu lassen!

Der Große-Hans hatte sogleich, als Tambour-Ola begann, die Tür zwischen Küche und Stube zugezogen.

Heute abend hielt Tambour-Ola eine Art Vortrag über Nils Nilsen und das Gebäude, das dieser errichten müsse, damit das Leben in Dakota Territory endlich erträglich werde. – Er habe heute mit Nils gesprochen, erzählte er, und habe sich ihm sofort verdungen. Jammerschade, wenn man den Mann bei einem so wichtigen Unternehmen nicht unterstützte! Und Nils habe ihn zum Aufseher über Hunderte von Arbeitern gemacht! Heut abend sei er bloß hergekommen, um noch ein paar Leute anzuwerben. Auch der alte Tönset'n habe sich unverzüglich auf ein ganzes Jahr verpflichtet. – Ja, auch der arme Aslak mit seinem Schubkarren! Hatten sie schon gehört, daß Mrs. Tjöme ihm heute nach der Kirche Salbe für seinen Rücken gekocht habe? Ja, der Aslak hatte eine sorgliche Hausfrau! – – Also solch ein Bauwerk sei noch nicht dagewesen. Nils habe es ihm in allen Einzelheiten beschrieben; und jetzt sollten sie bloß hören: zwölf Ellen sollten die Stadtmauern hoch sein und zwölf breit; zwölf Tore darinnen, und in jedem zwölf Türen – für den Fall, daß sie recht viel Business mit Steinigen und so bekämen. Über jedem Tor sollten sich zwölf Türme erheben, in jedem Turm zwölf Wächter stehen, jeder bewaffnet mit zwölf Karabinern. – Yes, Sir, und jedesmal, wenn ein Bursch sich zu einer Dirn hinstahl, sollte jeder Wächter zwölf blinde Schüsse abfeuern; kehrte der Sünder dann nicht um, sollten alle Wächter auf allen Türmen zugleich scharf schießen, zwölfmal hintereinander, alle auf einmal. So schnell die Finger abdrücken konnten. Dieses alles, damit Nils Nilsen in seinem Gemüt vor garstigen Gedanken Ruhe bekäme. Jöß! der Große-Hans müsse von heute ab schön auf der Hut sein!

Tambour-Ola wippte zu seiner Schilderung mit dem übergeschlagenen Bein im Takt wie zu einem Musikstück. Er war todernst und wartete immer ab, bis die anderen ausgelacht hatten. Dann fuhr er leise, wie gütlich zuredend, fort; und wie es nun auch zusammenhängen mochte, so lockte er ein gewisses tristes Unbehagen mit seiner spöttelnden Erzählung heraus; vielleicht hing das mit dem bitteren Ausdruck zusammen, der ständig auf seinem Gesicht lag:

»Oben auf jedem Turm wird ein schwarzer Aufbau errichtet, zum Schmuck für die Stadt und zur Augenweide für den Nils Nilsen. In diesem Aufbau sind zwölf Kammern, schwarz wie die Nacht. Unter jeder Kammer zwölf kochende Kessel, springkochend Tag und Nacht. In jeder Kammer sitzen zwölf Hexen; nur wer ganz scharfe Augen hat, kommt für diesen Posten in Betracht! Jede Hexe ist mit zwölf ungeheuer langen Ketschern bewaffnet mit einem Angelhaken am Ende, so groß wie ein Bootshaken. Sobald eine Hexe vermeint, daß sie bei einer Farmerdirn Anzeichen davon sieht, daß die in einen Burschen verliebt ist, soll die Hexe sie heraufangeln und sie zwölf Tage lang in jedem der zwölf Kessel kochen.«

Hier schob Tambour-Ola eine düstere Pause ein, ehe er fortsetzte:

»Dann erst ist die Schweinerei so hinreichend aus ihr herausgesotten worden, daß sie unbedenklich jenen Wächtern auf den Türmen zur Mahlzeit serviert werden kann – denn in die Wächter darf keine Unreinlichkeit hinein! – – Ach ja, meiner Seel,« fügte er betrübt hinzu: »wenn der Nils Nilsen erst richtig in Gang kommt mit dieser seiner Stadt, dann ist es nicht einfach mehr, Dirn zu sein!« Er müsse deshalb jeder anraten, daß sie sich sofort unter die Haube begebe, denn verheiratete Männer und Weiber, die dürften nach Belieben sündigen, gerad wie der Nils Nilsen selber, für die gebe es keine Strafe, weder innerhalb noch außerhalb der Stadtmauern. – – Ätsch ja, gähnte er – jetzt wolle er geschwind heim, um sich noch tüchtig auszuschlafen, ehe das Werk beginne.

Tambour-Ola gähnte noch einmal und rekelte sich.

»Uff, was du für garstige Geschichten erzählst, du Ola!« sagte Sofie und stand auf.

»Och, das ist nun mal so,« meinte Tambour-Ola müde, »wie die Henne sagte: es muß einer halt mit dem Schnabel gackern, den er hat.«

Peder mußte durchaus zu ihm hin; er fragte leise mit bebender Stimme: »Warum waren es denn aber von allen immer zwölf?«

»Oh das,« meinte Tambour-Ola gleichmütig, »das ist zu Ehren der zwölf Stämme Israels. Darüber steht übrigens in deinem Buch; oder sollte etwa in einem christlichen Haushalt wirklich so gröbliche Unwissenheit herrschen?«

Als sie gerade im Weggehen waren, kam die Sofie zum Peder, legte ihm den Arm um den Hals und zog ihn dicht an sich heran, schob ihm die Hand unters Kinn und hob sein Gesicht hoch: »Was für ein blitzsauberer Bursch aus dir wird, du, Permann! – Ich sollt dir wohl lieber ein wenig schöntun als Buße für all das Häßliche, was der Tambour-Ola über uns ausgeschüttet hat!« Und damit streichelte ihm eine warme Hand die Backen. Und dann war sie weg. Peder befand sich in der Stube allein, blutrot, aber wunderlich frohgemut.

Oben beim Zubettgehen ließ er sich sehr lange Zeit. Sofies Worte klangen in ihm nach. Ob er wirklich schön anzusehen war? Dann wurde es noch interessanter, einst ein erwachsener Mann zu sein. Er zog sich nackt aus, setzte sich auf den Bettrand und strich sich über den Körper, liebkoste sich und fand, das sei artig. Endlich legte er sich ins Bett, und ihn umschwebte ein unsäglich süßes Verlangen danach, jemanden zu finden, dem er gut sein könne, zu dem er lieb sein dürfe. – – – – Von nun ab überkam ihn diese Sehnsucht jedesmal, wenn er in die Stube ging, in der er sich mit dem Bauen an der Zukunft beschäftigte.

 

VI

Am Abend darauf brachte Peder es zustande, sich und der Mutter einen Todesschrecken einzujagen; hinterher, als es wieder Tag geworden, verlachte er dann die ganze Geschichte: die Mutter hatte schon recht, wenn sie sagte, daß er dümmer sei als die Leut sonst; zwar – das glaubte sie wohl kaum selber.

Über Mrs. Holms Boden lief ein schmaler Gang; auf jeder Seite lagen zwei Stuben, nur durch eine dünne Bretterwand getrennt. Die eine bewohnte Annemarie mit ihrem ganzen Kram; die andere daneben wurde nur ausnahmsweise gebraucht, wenn sie Gäste beherbergten. In der hinteren Stube auf der andern Seite hausten Ole und der Große-Hans; die Nachbarstube – die zunächst der Treppe – hatte Peder bekommen. Vor einem Jahr noch hatte er unten bei der Mutter geschlafen; dann aber hatte sie ihn oben einquartiert. Vielleicht sei es nicht gut für ihn, hatte Beret überlegt, daß er, der körperlich so schnell heranzureifen schien und so vielerlei sonderbare Einfälle hatte, nachts bei ihr im Zimmer schlafe.

An dem Abend ging er nach oben wie sonst, um zu Bett zu gehen. Ein großer, grüner Mond leuchtete zur Kammer herein und aufs Bett. Peder zog sich nackt aus und stellte sich in die Flut von Licht, strich sich liebkosend über den Körper wie am Abend vorher. Er spürte eine leichte Unruhe, Freude, aber wohl auch etwas Furcht. Er trat ans Fenster, um hinauszusehen. Es war schön, so in all dem Licht zu stehen! –

Da begann er sich auszumalen, daß er einer der Alben sei, von denen das Lesebuch erzählte. Jetzt brauchte er bloß muckstill zu stehen und an etwas recht Schönes zu denken, und am Ende kam dann eine der Elfen auf den Strahlen herbeigetanzt. – – In solchen Mondnächten streiften sie herum und vergnügten sich am Spiel. – – Wenn sie jetzt doch bloß käme, dann wollte er mit ihr tanzen, dann wollte er mit ihr heim zum Schloß und sich anschauen, wie sie wohnte. Vielleicht wollte sie, daß er sich mit ihr verheirate? – – Sonderbar, daß die Sofie, die selbst so schön war, so etwas von ihm hatte sagen können?

Die Nacht wehte zu ihm hin, weich und liebkosend; der grünblaue Dunst umhüllte lauschig alles Lebendige, streichelte es und freute sich daran. Im Hain schwebten geheimnisvoll Schatten. Die hatten mancherlei Form – einige breit, andere schmal – er konnte sie im Dunst gerade noch unterscheiden. – Horch! Trat da nicht jemand auf einen Ast? Er legte das Ohr dicht an das Mückennetz des Fensters; es pochte von einem Ohr zum andern. Draußen wisperte es: »Si-i su-i, su-i-si-i.« Das mußten viele sein. Es war von allen Seiten zu hören, und jetzt kamen sie dicht an sein Ohr. Wenn er den Kopf drehte und hinaussah, hörte er es nicht so deutlich. – – Wenn doch die Elbin, die ihn holen kam, eine feine Haut und so runde Brüste hätte wie die Sofie; dann wollte er die Hand hineinschieben und ein ganz klein wenig kitzeln. – Nicht ganz so groß wie die Sofie sollte sie sein, aber erwachsen – mit kleinen Kindern mochte er doch nicht auf die Art spielen!

– Seltsamer Schatten da drüben! Reckte er sich nicht auf die Zehen, wie um zu horchen? Vielleicht hörte er Menschenstimmen in der Küche und fürchtete sich vor dem Licht im Fenster? – War da nicht Geflüster zu hören? Freilich! Wart bloß, bis es recht still ist im Haus, dann wollen wir nach Herzenslust spielen! – – Grünblaues Licht lugte durch das Gezweig; Schatten dehnten sich darin; zogen sich zurück und kamen wieder; mit jedem Male, so schien es, näher.

– – – Merkwürdiger Schatten? Da war der Kopf und da ein Arm zu erkennen. Oh – sie kam gewiß, wenn es bloß unten erst still war! Ein seltsamer Schauer durchrieselte ihn.

Plötzlich hörte er den Ole nebenan laut sprechen. Er huschte zum Bett, warf sich das Nachthemd über, kroch unter die Decke und setzte sich auf, um zu horchen. Der Bruder sprach heut abend ungemein lärmend. Peders Ohren hörten weit aufgesperrt zu, und er vergaß die Gestalt unten im Hain, die zu ihm hinauf wollte.

Sonderbare Geschichte! Ole war heute nachmittag in der Stadt gewesen und soeben heimgekommen; beim Ausziehen erzählte er dem Bruder, was er dort erfahren hatte:

Die Oline Tuftan habe Hand an sich gelegt. Letzte Nacht! »Ja, Kind! Denk dir bloß! Als sie heut morgen in den Stall gekommen sind, da hat sie dort gebaumelt: ein toller Anblick! Die Kirchenkleider von gestern hatte sie an. Weder der Mietknecht noch die Gunhild haben sich getraut, sie herunterzuschneiden – oh nein, davor hüteten sie sich wohl! Sie mußten dazu andere herbeiholen. – – Ja, jetzt kam mir Leben in das Gelump! Die Leut munkeln davon, daß es nicht ganz sicher sei, ob wirklich die Oline die Mutter des Kindes wäre. Der Nils Rognaldsen jedenfalls hat gemeint, den Job habe die Gunhild allemal selbst besorgen können; er habe die Oline gekannt, seit er bei ihr Gevatter gestanden; ein unschuldigeres Menschenkind gebe es nicht auf Gottes weiter Welt; ja, so hat er also beteuert. Die Gunhild hingegen, die ist ständig mannstoll, – das sag auch ich. Und der Mietknecht ist gewiß eine Teufelsbrut. Die Gunhild freilich weiß mit ihm so umzugehen, daß er alles beschwört, worauf sie bloß hinzeigt. Und der Nils Rognaldsen hat auch davon gesprochen, daß er die Leut dazu bestimmen will, die beiden aus dem Country Country = Land, hier = Territorium. zu jagen. – – Dann aber müßten auch der Pastor und ebenso die Diakone abgesetzt werden, haben andere geäußert, weil die sich überflüssig in die Sache eingemischt hätten.«

Jetzt lachte Ole laut auf: »Ja, und Tönset'n raste währenddes wie ein wütender Stier; er werde an den Vorsitzenden der Kirchenkorporation schreiben, schwört er, und ihn herzitieren; denn selbstverständlich sei es das Theater, das sie gestern mit ihr aufgeführt haben, das die Oline in den Tod getrieben hat. – Ja, hier gibt's jetzt einen Mordskrach!« schloß Ole seinen Bericht.

Der Große-Hans hatte zugehört, ohne den Bruder zu unterbrechen. Jetzt tönte seine tiefe Stimme durch die Bretterwand:

»Den Pastor sollten sie nur ruhig gen Jericho jagen; denn der ist ein Rindvieh – er hätt ihr privatim ins Gewissen reden sollen. Der Meinung ist auch die Mutter.«

»Ja, wär's nicht um die Mutter,« sagte Ole mit inniger Überzeugung und schmiß ein Kleidungsstück hin, »so wollt ich mit der Gemeinde nichts mehr zu schaffen haben; dann könnten sie von mir aus sitzen bei ihrem Gewäsch, solange sie mögen – hier in Amerika gibt's anderes zu tun!«

»Oh, das ginge doch auch nicht recht an.«

»Werden's ja sehen, wenn's so weit ist!«

Jetzt trat auf der andern Seite der Wand Stille ein. Die Brüder legten sich zu Bett; bald hörte Peder ihre tiefen Atemzüge.

Nach einer Weile hatte er sie vergessen. Plötzlich zitterte er über den ganzen Körper. Das starke Licht schien grünblau und lebendig bewegt auf sein Bett, so, als leuchte jemand mit einer großen Laterne zum Fenster hinein. Er mußte sich die Decke über den Kopf ziehen, um nichts zu sehen. Aber damit war ihm wenig geholfen, denn jetzt sah er die ganze Szene von gestern wieder vor sich, noch deutlicher, grauenhafter. Alles rückte ihm so nahe, und er war mutterseelenallein damit: das blasse Gesichtchen unter dem schwarzen Kopftuch, die hilflose Verlassenheit der ganzen Gestalt, die Kinderstimme voller Verängstigung – er hörte heute alles noch eindringlicher. Und dann der flüchtende Blick, und die Augen – ach, die Augen, wie die voll von Entsetzen flehten!

– – Und jetzt hing sie dort im Stall, weil die Menschen böse mit ihr umgegangen waren, weil niemand ihr hatte helfen wollen!

Plötzlich scheuchte ihn ein Gedanke im Bett hoch: jener sonderbare Schatten unten im Hain – war das vielleicht die Oline? Die Kjersti-Patin wußte Geschichten von Toten, die umgingen, wenn sie wollten, daß man etwas für sie ausrichte. – – Ob jetzt die Oline ihn darum anflehte, daß er aufstehe und ihre Unschuld bezeuge?

Da! Da klopfte und trommelte sie ans Fenster!

Peder schlotterte, daß ihm der kalte Schweiß ausbrach. Das Gruseln hatte sich unterm Herzen festgebissen; sprang er nicht sofort auf, dann erstickte es ihn! Er stürzte aus dem Bett und ans Fenster. Die Augen verschlangen, was draußen zu sehen war.

Seit Peder das letztemal hier gestanden, war der Mond zwischen zwei Zweige geglitten. Auf der rechten Seite des lebenden Schattens hatte er einen kleinen Ast mit weichem Laub gefunden, der unter den Liebkosungen des Nachtwindes bebte. Diesen Ast mußte der Mond sich etwas näher begucken, nahm also Strahl um Strahl von seinem grünlichen Licht und legte ihn darauf, und so entstand dort ein seltsamer weißgrüner Fleck.

Peder sah den Fleck, wollte aufschreien, brachte aber nur ein heiseres Stöhnen heraus: da stand die Oline leibhaftig! Den Zettel hielt sie noch in der Hand und winkte ihm damit!

Peder sauste zum Zimmer hinaus, taumelte die Treppe hinab und stürzte in die Schlafkammer zur Mutter; er warf sich neben sie hin und riß sich die Decke über den Kopf. Er war außer sich und wußte nicht, was er tat. Sobald er jedoch die Wärme ihres Körpers spürte, stürzten ihm die Tränen aus den Augen. – Der Beret wurde ganz unheimlich zumute; sie setzte sich auf, wies ihn barsch zurecht und wollte ihn von sich wegschieben, – so dünn bekleidet, wie sie in der heißen Jahreszeit lag, war es ihr peinlich. Aber mit dem Kopf, der sich in sie hineinbohrte, wurde sie nicht fertig.

»Die Oline hat sich umgebracht!« flüsterte er heiser und schaudernd. »Sie steht drüben im Grove und will gewiß, daß wir ihr helfen?«

Als Beret aus diesen Worten heraushörte, was ihm so zusetzte, verstand sie sogleich, wie alles zusammenhing, und streichelte ihm den Kopf. Vielerlei fuhr ihr dabei durch den Sinn über dieses Kind, um das sie so innig sorgte. Ihr Herz war wie ein Himmel, über den dunkle Wolkenmassen ziehen im Kampf mit einer Sonne, die sich erst durchsetzen muß, um zu scheinen. Allmählich sah sie klarer. Daß er anderer Not so tief empfand, milderte ihre große Bekümmernis. Nach einer Weile löste sie seinen Arm, stand auf und zog sich an, steckte die Lampe an und ließ sich zu allem gute Weile. Doch sagte sie nichts.

Peder hatte den Deckenzipfel gelüftet, schielte darunter hervor, vergaß sich und fragte:

»Was hast du vor?«

Beret antwortete erst, als sie auch noch die Laterne aus der Küche geholt und angesteckt hatte. Dann trat sie zum Bett:

»Verhält es sich so, daß die Oline zum Hofe gekommen ist, dann müssen wir hin und ihr helfen. Ruck dich nur aus dem Bett, und komm und zeig mir, wo sie ist. Wir werden ihr schon helfen, du sollst sehen!«

Peder wollte schnurstracks in sein Entsetzen zurück, fand jedoch nicht den Weg. Lampe und Laterne brannten beide auf dem Tisch; alles im Zimmer stand traulich und heimelig; die Mutter war um ihn und neckte ihn freundlich. Er zog sich die Decke über den Kopf, suchte nach der Furcht und fand nichts als Scham. Wie gut, daß nur die Mutter darum wußte!

Beret wartete eine Weile; dann wollte sie ihm die Decke herunterziehen:

»Jetzt komm mit. Wir müssen hinaus und nachschauen, was dich geschreckt hat.«

Peder kehrte ihr einfach den Rücken zu.

Da sprach sie strenger auf ihn ein; faßte ihn beim Arm, daß es weh tat:

»Eil dich jetzt, daß wir heut nacht endlich zur Ruhe kommen!« Und fuhr dann milder fort: »Ich kann hier keinen großen Buben brauchen, der so furchtsam ist, daß er sich und andern einen Todesschrecken einjagt. – – Was, meinst du, soll aus solchem Burschen werden?«

»Das ist gewiß bloß meine Albernheit gewesen!« gestand er kleinlaut ein und hatte so leise die Hoffnung, daß er damit durchschlüpfen könnte.

»Jetzt komm du nur!«

Peder kroch langsam aus dem Bett und ging mit. Kaum standen sie in dem betauten Grase, kaum fühlte er die Kühle der Nacht um sich, als es ihm aufging, wie mordsdumm es war, daß zwei erwachsene Menschen hier mit einer Laterne nach einem Schatten herumsuchten. Er wußte übrigens aufs Haar genau, welcher Baum den Schatten geworfen hatte – wie albern die Mutter doch war!

»Wo ist's also gewesen?« fragte Beret.

»Wo es gewesen ist?«

»Ja – daß du's gesehen hast?«

Peder ließ die Hand der Mutter los und lief zwischen die Bäume:

»Genau hier hat sie gestanden! Den Zettel, von dem sie gestern abgelesen, hat sie in der Hand gehalten – – hat damit gewinkt – – so wahr, wie ich hier steh!«

Die Mutter kam ihm nach. »Siehst du jetzt ein, was für ein Gimpel du bist?« Die Beret leuchtete mit der Laterne zwischen die Bäume, um ihn nachdrücklich zu überzeugen.

»Ja, wenn du sie auch mit der Laterne wegschreckst …!« sagte Peder vorwurfsvoll.

Darüber mußte die Mutter lachen: »Ja, du Permann, du Permann!«

»Oh ja,« sagte er selbstbewußt, »ich komm auf so mancherlei!«

Als sie wieder ins Haus traten, wollte er sogleich die Bodentreppe hinauf. Da sagte Beret sanft und lieb:

»Es ist schon das beste, du kriechst heut nacht bei mir unter, dann schläfst du ruhiger.«

Peder fand, das sei ein vernünftiger Vorschlag. Bald darauf lag er geborgen, den Arm um ihren Hals geschlungen. – Zwar, wenn es die Schwester erfuhr, daß er heute nacht hier geschlafen hatte, dann bekam er gewiß »Wickelkind« und »Zuckerbüblein« zu hören! – – Well, einerlei – er stand einfach auf, sobald die Mutter sich morgen in der Frühe rührte!

– – – Ob sie jetzt wach lag?

»Was ist denn jetzt wieder, Permann?«

»Ja, da ist – ja schau, ich muß gerad daran denken, wie es zugehen mag, daß Gott etwas so Gräßliches wie das mit der Oline zuließ.«

»Das ist Gott nicht gewesen!«

»Wer denn sonst?«

»Der Teufel.«

»Ist denn der stärker?«

»Nein –«

»Doch, das ist er!« Peder stützte sich auf den Ellbogen.

»Jetzt laß die garstigen Reden!« Beret rüttelte den Arm an ihrem Hals.

»Doch, denn der bekommt stets seinen Willen! Gott vermag nicht das Geringste gegen ihn!« Peder sprach jetzt mit lauter und überzeugter Stimme.

Beret kehrte sich nach ihm um:

»Kannst du mir sagen, wo du dir all diese Vorstellungen herholst?«

»Ich kann's doch sehen!« vertraute er ihr zuversichtlich an. »Gott vermag nichts anderes, als die Leut sterben – und die Bibel lesen – und zur Kirche gehen zu lassen – und dann außerdem noch alle die Toten zu zählen!«

»Jetzt schau, daß du aufhörst!«

»Das will ich keineswegs! Denn der andere, der bringt sie dazu, zu saufen – zu huren – und einander totzuschlagen, – – der sorgt für all das Böse – hier gibt's nichts als Böses!« Peder berichtete mit frischer, fröhlicher Stimme.

Beret saß im Bett. Die Worte des Buben wirkten um so entsetzlicher, als er sie mit solcher Herzlichkeit vorbrachte. In einem Ton, der um das Teuerste fleht, bedeutete sie ihm, welch große Sünde er begehe, wenn er derartige Gedanken in sich wohnen lasse. – – Tränen, wehe Angst mischte sich darein, als sie ihn immer wieder ermahnte: er müsse unablässig beten, beten darum, daß Gottes Engel ihm nahe seien! – – Nur dann könne er sich sein Herz rein erhalten. Denn mit den bösen Gedanken sei es wie mit dem Unkraut: läßt man sie erst ins Herz hinein und Wurzel fassen, dann ersticken sie alle gute Saat! – Sie jammerte wie in großer Not, er müsse folgsam sein und die Wege einschlagen, die sie ihm weise! – – Schließlich bekam ihre Erregung die Oberhand; sie warf sich weinend über ihn, preßte ihn an sich. Und da wurde alles so traurig, daß er mitweinen mußte, obwohl er gar nicht begreifen konnte, was er denn jetzt Schlimmes getan haben möge. Worte fanden sie beide nicht, Mutter und Sohn. Aber sie streichelte ihn leise. Er schmiegte sich dichter an sie, versank in etwas sonderlich Weiches und Liebes; plötzlich wußte er von nichts mehr, denn hier war es gut.

– – Am nächsten Tage ließ ihm die Unwetterweise des Tambour-Ola keine Ruhe; surrte bald leise, brauste dann wieder empor, und immer und immer konnte er sie hören. Da hub Peder an, sie zu singen und tat das so lange, bis er wieder fröhlich ward.

 

VII

Eine sturmzerrissene Zeit brach über die St.-Lucas-Norwegisch-Evangelisch-Lutherische-Gemeinde herein. Das Boot legte sich bedenklich auf die Seite und niemand war da, der über das Wasser zu wandeln und den Sturm zu stillen verstand. Das Schlimmste war, daß Pastor Isaksen der sichern Hand und des klaren Auges ermangelte, die der alte Pastor gehabt, und darum schlecht dazu taugte, in dem tobend heraufziehenden Ungewitter am Steuer zu stehen.

Oline Tuftans trauriges Ende wirkte wie ein gewaltiger Stoß auf die ganze Gemeinde; sie, die sich zu ihren Lebzeiten so scheu verborgen gehalten, trat jetzt bei jedermann ein und forderte seine Meinung, eindringlich – weigerte sich zu gehen, ehe sie Antwort erhalten hatte.

Ihr Tod wirkte am stärksten auf die Erweckten. Hier habe man ein Beispiel dafür, was sich in einer Gemeinde zutragen könne, wenn in ihr ›die Welt‹ die Oberhand behielt. Weltlichkeit und Sünde und unaussprechliche Missetaten! Aber die Wächter auf den Mauern Zions schliefen sanft, und alles schiene sehr gut zu sein. Kurz: das Mißvergnügen, das bisher nur in der Tiefe geschwelt hatte, flammte mit einem Male lichterloh auf.

Die Erweckten hatten unter sich einen kleinen Verein – nur drei, vier Familien – der bekannt war unter dem Namen ›der Betkreis‹; sie kamen jeden zweiten Sonntagnachmittag zusammen, erbauten sich an frommen Liedern und Gebeten, sowie daran, daß ein Bruder, der etwas auf dem Herzen hatte, aufstand und Zeugnis ablegte. Was jetzt jedoch in der Gemeinde geschehen war, das war so grauenhaft, daß weder Gebet noch Gesang die Sinne von dem Gedanken daran zu befreien vermochte. Darum war in letzter Zeit während der Andachtsstunden fast nur hin und her geredet worden; der eine hatte dies gehört, der andere jenes; und alles bewies nur das gleiche: das Ende war nahe – ja, wahrlich, das Ende war nahe!

Die Bewegung hatte damit ihren Anfang genommen, daß Nils Nilsen sich auf eine längere Reise begab, deren Zweck nur seiner Frau bekannt war. Ein alter Freund in Marshaltown, Iowa, hatte ihm geschrieben, daß sie dort den Besuch eines Sendboten des Herrn erwarteten, eines Mannes mit einer ganz seltenen Gnadengabe, die Menschen zu Gott zurückzuführen; könne nicht auch Nils Nilsen an dem Pfingsten teilnehmen, dem sie nunmehr mit Gewißheit entgegensähen? Er wisse ja doch selber, daß, je mehr Gnadengaben sie sammelten, desto herrlicher die Frucht gedeihen werde.

Nils Nilsen war nach Eintreffen dieser Aufforderung noch schweigsamer und verschlossener als gewöhnlich herumgegangen. Sobald er das Maispflügen hinter sich gebracht hatte, packte er zwei frisch gesteifte Hemden in den Reisesack, bat Elise, seine Frau, über den Zweck seiner Reise zu schweigen – die Leute hätten ohnehin für eine Weile genug zu bereden! – und reiste ab.

Elise war froh, als sie ihn abfahren sah. Wie brav und gottselig auch der Mann war, den ihr der Herrgott in seiner Gnade verliehen hatte, so fühlte sie dennoch eine große Erleichterung dabei, daß sie die Kinder und die Farm eine Zeitlang allein für sich haben konnte. Gewiß meinte Nils es nur gut, aber er war harthändig gegen die Kinder, hetzte sie sehr bei der Arbeit ab und griff gar schnell zur Rute. Und Miriam, die Zweitjüngste, hatte ein mutwilliges Wesen, obwohl die Mutter wußte, daß in keiner Brust ein besseres Herz schlug. Im Eheleben mit Nils hatte Elise mit der Zeit gelernt zu schweigen, – das war schließlich doch noch das Leichteste.

Aber diesmal schwieg sie gar zu ausgiebig. Fragte jemand, wo Nils sich jetzt aufhalte, wußte sie entweder wenig zu sagen, oder sie antwortete mit so zweideutigen Worten, daß die Leute schier das Wundern ankam. Sonderbar, daß Nils Nilsen um diese Jahreszeit die Muße fand, von der Farm wegzureisen? Wo war er nur? Aus welchem Grunde war er gereist? Zu guter Letzt entstand das Gerücht, Nils sei von Weib und Kindern durchgebrannt; jemand erzählte, ein anderer habe ihn in Sioux City gesehen, und da sei er in Gesellschaft eines fremden Weibsbildes gewesen.

Nach einmonatiger Abwesenheit jedoch sah man Nils Nilsen wieder auf der Farm und ebenso emsig arbeiten wie früher. Den Leuten, die ihn wißbegierig ausfragten, gab er stets die merkwürdige Antwort, er sei fortgewesen und habe eine Begegnung mit dem Herrn gehabt. Mit näheren Angaben wollte er nicht herausrücken, und so bekamen die Leute füglich nichts anderes zu wissen.

Aber auf der ersten ›Betkreis‹-Zusammenkunft nach seiner Rückkehr stand er auf und sprach prächtige, glühende Worte, wie wesentlich es sei, nach innen an der eigenen Heiligung zu arbeiten und nach außen im Acker des Herrn zu jäten; denn jetzt wachse die Bosheit empor; es gehe zum Jüngsten Gericht; bald komme die Nacht, die tiefe, brütende Finsternis, da niemand wirken könne. Das hatte man ihn und andere ja nun schon früher sagen hören, aber heute lag in dem allen ein unbekanntes Feuer, und viele meinten, seine Rede sei wie ein letzender Trunk nach langer Dürre. – –

Das Beste jedoch hob er bis zum Schluß auf; denn da schlug er vor, daß sie von jetzt ab jeden Sonntag zusammenkommen sollten – es müsse gar traurig sein für den Herrn, droben vom Himmel aus seine Kinder zu beobachten. Er biete ihnen die Speise seiner Herrlichkeit, sie aber fühlten nicht öfter das Bedürfnis nach seiner Nähe als zweimal im Monat! Hatte nicht der Heiland den Jüngern ausdrücklich aufgetragen, zu beten ohne Unterlaß? Fühlten sie den Drang, diesem Gebot zu folgen? Oder seien sie lau und stumpf geworden von der Sünde ringsum? Wahrlich – dann sei es kaum zu verwundern, daß die Bosheit sich wie in Sodom und Gomorras Tagen verbreite! Sie erinnerten sich doch dessen, daß auch damals ein zugewandertes Volk angesteckt und viele von dem Feuer des göttlichen Zorns verzehrt worden wären?

Nach der Andacht war er einsilbig, als einige der Brüder mit ihm zu reden begehrten, und fuhr bald heim. –

Wie es nun auch zugehen mochte, es kam doch mit jedem Sonntagnachmittag mehr Leben in die Andachtsstunden. Dieser feuerte jenen durch sein Zeugnis an. Die Flamme breitete sich aus; von den Lauen wurde einer nach dem andern mitgerissen; mit jeder Zusammenkunft wuchs die Teilnehmerzahl; das Bekenntnisablegen mehrte sich, ebenso die Freude daran, sie wurde mehr männlich freimütig, und mit ihr kam der Eifer, dem Herrn neue Seelen zu gewinnen – denn jetzt wollte es Abend werden, und der Tag ging auf die Neige! Dieses Letztere wurde zu einem ständig wiederkehrenden Motiv in einer schönen Trauersymphonie.

Pastor Isaksen nahm nicht teil an diesen Andachten; das sei Fanatismus. Und seiner Hilfe schienen sie auch nicht zu bedürfen – sie hätten ihn doch aufsuchen und bitten können, die Zusammenkünfte zu leiten!

Der Teil der Jugend, der wegen fehlender Singstimme nicht im Gesangverein sein konnte, es jedoch verschmähte, die Zerstreuungen aufzusuchen, die die Saloons Saloon = Kneipe. des Städtchens boten, und andrerseits noch zu jung war, um sich in die Politik zu stürzen – Jugend mit brennendem Bedürfnis nach Freude und Licht und rühmlicher Tat, wurde mitgerissen und vermeinte, holde gaukelnde Bilder in magischer Beleuchtung zu sehen. Und diese Bilder hatten Zauberkraft; es lag eine eigne schöne Traurigkeit in ihnen; sie erzählten wundersam: von der Wanderung durch die Wüste der Welt, von des Fleisches Lust und des Geistes Licht, von dem ewigen Ringen zwischen den Heerscharen des Herrn und den Mächten der Finsternis. Sodann von dem Blute des Lammes, das die Wundermacht hatte, selbst die schwärzeste Sünde weißzuwaschen! Zuweilen sinnliche, betörende Traumgesichte – von jenem Bräutigam, dem reinen, der über die Braut trauert, die sich nicht das rechte Festgewand antun möchte, das in des Lammes Blut getaucht ist. Jenseits vom Tal des Todes lag das Leben in leuchtend goldenem Glanz, in einer Freude, die nie durch Sorge und Seufzer getrübt wurde. Was war da wohl der kurze Kreuzesweg durch dieses Tränental im Vergleich zu der Aussicht, für ewig an der Brust des Bräutigams zu ruhen und zu schmecken, daß der Herr gut ist? – –

Es brandete in den Gemütern. Die Seele eines Volkes war in Aufruhr geraten. Was diese Menschenherzen drüben in Norwegen jahrhundertelang in einem dumpfen engen Fjordkessel oder auf einer einsamen, ewig umstrudelten Schäre an religiöser Mystik geträumt und später jenen Lebensbedingungen angepaßt hatten, das fand hier draußen auf der flachen Prärie nur mit Mühe seinen befriedigenden Ausdruck, und Kräfte regten sich in ihnen, die sie selber nicht klar durchschauten. Fernweh, Wandertrieb hatte sie von Heim und Geschlecht und allem, was ihnen zuvor Sicherheitsgefühl verliehen, losgerissen und sie in die weite Ferne entführt. Jetzt begann der Strom – bei etlichen – stark zurückzufluten. Die Phantasie verzauberte und verwandelte, legte ständig neue Holdheit über das alte Heim, das sie nimmermehr zurückgewinnen konnten. An Schönwetterabenden standen sie dann wohl draußen in der Prärie und ahnten es im östlichen Abenddunst wie eine versunkene Atlantis. Bei denen verband sich dann mit dem religiösen Bedürfnis das Gefühl der Fremde und Wurzellosigkeit und verlieh ihrer Rede etwas eigentümlich Reiches, Selbsterlebtes; ein paar von den Neukömmlingen waren beim Zeugnisablegen fast die allereifrigsten.

Zuweilen hörte die Jugend bei diesen Versammlungen den Älteren so lange zu, bis sie glaubte, neue Länder aufschimmern zu sehen, in denen es köstlich sein mußte, umherzustreifen, sah sie wirklich und gab sich gefangen. Aber auch junge Menschen, die vor Scham wegen der Sünde, die in ihnen brannte, sich nicht zu lassen wußten – jener Sünde, die unter Menschen nicht erörtert werden darf – griffen zu der religiösen Erweckung als letztem Mittel, das ihnen vielleicht ihre Selbstachtung wieder zurückgab; und auch die gaben sich gefangen. Wenn sich das große Wunder ereignete und ein junger Mensch vortrat und Zeugnis ablegte, daß er jetzt den Erlöser vor sich sehe, dann weinten die Alten vor Freude über das Pfingsten des Geistes, das jetzt über die Prärie brauste.

Der Wunsch nach einer Gemeinschaft, die sich ausschließlich aus christlichen Bekennern zusammensetzte, schien ganz spontan aufzusprudeln. Und kaum hatte der Gedanke Ausdruck gefunden, als er auch schon anfing, um sich zu greifen. Mehrere der Brüder sahen es mit einem Male: das einzige, was ihnen zu tun blieb, war, aus der St.-Lucas-Gemeinde auszutreten und eine neue zu bilden. Zu einer Gesellschaft zu gehören, in der die Kinder der Welt das entscheidende Wort zu reden hätten, das bedeute ja doch das gleiche, als daß man sich selber der Welt anheimgebe. Alles Kämpfen gegen den Satan werde dann nutzlos. Das Gottesreich könne bei solchen Bedingungen nicht wachsen. Andere stimmten diesen Meinungen sogleich zu: die Streiter des Herrn müßten freilich ganz anders vorgehen! Eine Gemeinde, in welcher nur das lebendige Wort einer wiedergeborenen Seele sich vernehmen lassen dürfe, werde anziehen wie ein Magnet. War des Herrn Wort nicht das lebendige Leben? In der Vorzeit habe Gott zu seinem Reich mit zwölf Arbeitsleuten den Grund gelegt – erinnerten sie sich dessen nicht? Und wenn jetzt einfache Farmer es auf sich nähmen, weiterzubauen? –

Die neue Umgebung, der Zukunftsglaube des Pioniers, daß letzten Endes alles möglich sei, taten noch das ihre hinzu: es werde schon gehen, selbstverständlich werde es gehen! Sie redeten, bis ihnen vor Freude das Herz leicht wurde. Vielleicht, daß der Herrgott sie wirklich in die Mitte von Amerika geführt hatte, damit sie hier aufständen wie eine Feuersäule vor allen seinen Menschenkindern! –

Aus Nils Nilsens Stellung zu dieser Frage war nicht leicht klug zu werden; er äußerte sich nicht darüber, wenn in seiner Gegenwart die Rede darauf kam. Wurde er gefragt, so antwortete er verblümt, daß, wer einen Turm zu bauen vorhabe, weise daran tue, im voraus alle Kosten zu berechnen. Die Brüder verstanden ihn nicht und wunderten sich.

Da stand an einem Sonntagnachmittag, als sie gerade eine reichgesegnete Andacht in Nils Nilsens Koppel beendeten – die Häuser waren für die Zusammenkünfte zu klein geworden – ein junger Mann namens Andrew Holte, nicht weit über die Zwanzig, auf und brachte den Gedanken, eine eigene Gemeinde zu gründen, öffentlich zur Sprache. Sein Gesicht und Wesen hatten etwas Ansprechendes, er sprach leicht und für seine Jugend mit großer Unbefangenheit. – Er habe sich schon den ganzen Sommer mit diesem Gedanken getragen, sagte er, und jetzt wolle er gern hören, was die älteren Brüder davon hielten. Alle könnten sie wohl sehen, daß St. Lucas mit sich selbst zerfallen sei, und sie wüßten, was der Herr von solch einem Hause meine! Sei es nun nicht besser, daß die, so eines Sinnes und eines Herzens seien, sich zu dem großen Vorhaben, das Erlöserwerk fortzusetzen, zusammenschlössen? Sie sollten des Guten eingedenk sein, das Gott ihnen und ihren Vätern so reichlich erwiesen! Habe er sie nicht vom Sklavenlos in der Staatskirche Norwegens befreit? Warum machten sie jetzt nicht Gebrauch von ihrer Freiheit? Auf den Prärien sei Raum genug dafür, daß Gottes Volk weiterbaue. Vielleicht, daß sie ein Werkzeug in des Herrn Hand würden. – – Sie sollten es ihm nicht verübeln, daß er, der Jüngste und Geringste unter ihnen, aufstehe und zeuge; vielmehr sich daran erinnern, daß sogar einem Esel Sprache gegeben werden könne, wenn er etwas zu sagen habe! Vielleicht sei das die Erklärung dafür, daß in diesen Tagen so viele plötzlich Rednergabe bekommen hätten!

Eine fröhliche Unruhe durchlief die Versammlung, als Andrew Holte sich setzte.

Nils Nilsen blickte schweigend über die Menge. Er spürte deutlich, wie die vielen Sinne nur das eine Ziel vor sich sahen, und wie stark sie fühlten, daß dies das einzig Rechte sei; und die Stimmung gab ihm Sicherheit, wie der günstige Wind einem Boot, das über ein gefahrvolles Meer segeln soll. Aller Augen richteten sich erwartungsvoll auf ihn; er hatte bis jetzt die Erweckungsbewegung geleitet, jetzt forderten sie seine Antwort auf diese Frage. Nils Nilsen senkte den Kopf, alle fühlten, daß er jetzt betete. Tiefe Stille breitete sich aus.

Endlich erhob er sich und begann seine Rede, stark bewegt aber beherrscht: »Die Straßen gen Zion liegen wüst, weil niemand auf ein Fest kommt; alle ihre Tore stehen öde, ihre Priester seufzen; ihre Jungfrauen sehen jämmerlich, und sie ist betrübt.« Die Bibelstelle benutzte er als die Pforte, durch die er eintrat, ehe er seine Erklärung begann: wenn er bisher noch nicht den Mut gefunden habe, seine Meinung in dieser Sache zu sagen, so nicht darum, weil er selber unsicher gewesen sei, sondern weil er gemeint habe, es sei am besten, den Sauerteig des Herrn ungestört wirken zu lassen. Dann nämlich werde sich zeigen, ob es von Gott sei oder nur eine Laune der Menschen. Sollten sie jetzt eine eigene Gemeinde gründen, so böten sich zwei Wege: entweder sie beriefen einen Diener des Herrn nach ihrem eigenen Sinn, oder sie bildeten eine Gemeinde nach der Apostel Weise. Wählten sie den ersten, so werde es eine schwere Bürde werden für so wenige. Der andere Weg sei wohl der rechte, obzwar kaum der leichtere. Sie müßten sich dann aus ihrer Mitte einen Vorsteher wählen – nicht also einen festangestellten Pastor. So habe es auch die Apostelgemeinde gehalten. Dann aber freilich müßten sie auf all den Spott vorbereitet sein, den Satan über sie ergießen werde; alle wahren Nachfolger Christi jedoch müßten das Kreuz auf sich nehmen!

Eine helle Stimme aus der Mitte der Versammlung rief zuversichtlich: »Wir wollen lieber selber predigen!«

Lachen hüpfte durch die ganze Zuhörerschaft. Alle erfreute der Gedanke, daß sie jetzt endlich die Arbeit für das Reich Gottes nach eigenem Wunsch und Willen würden einrichten können.

Des Herrn Süße und Lieblichkeit wehte in der warmen, kosenden Herbstbrise; es war gut, mit den Brüdern beisammenzusitzen; zu zeitig noch, heimzufahren und Vieh und Ställe zu besorgen! So erhob sich denn einer und fragte, ob es nicht angehe, die Gemeinde sogleich an Ort und Stelle zu begründen; was zauderten sie, da sie doch einig seien, und sei es nicht am besten, sich ohne Aufschub zum Streite zu rüsten?

Man nickte Zustimmung; niemand widersprach. Und so wurde die evangelisch-lutherische Gemeinde Bethel am 16. Sonntag nach Trinitatis gestiftet.

Vorher hatte sich noch eine Diskussion wegen des Namens entsponnen, war jedoch schließlich in voller Einträchtigkeit des Herzens beigelegt worden; es hätten nämlich einige, darunter Nils Nilsen, ›norwegische‹ an Stelle von ›evangelische‹ lieber gesehen; sie wurden jedoch von Andrew Holte dahin belehrt, daß ja die neue Gemeinde in dem zukünftigen Amerika wirken müsse.

Ein Komitee zur Ausarbeitung des Arbeitsplanes wurde gewählt, das auch zu Pastor Isaksen gehen sollte, um im Namen sämtlicher Mitglieder, die sich jetzt in die Listen eintrügen, zu erklären, daß sie sich hiermit aus St. Lucas abmeldeten. Mit dieser wichtigen Mission wurden John Baardsen, Knut Veum und Hans Lykke betraut. Ferner wurde beschlossen, nächsten Sonntag zur Zeit des Hauptgottesdienstes hier bei Nils Nilsen zusammenzukommen – – man könne geradesogut sofort beginnen. Ehe sie auseinandergingen, ermahnte Nils Nilsen sie noch, einige Zeit in der Stille zu verbringen und in unablässigem Gebet, damit die Saat verwurzele und die Gnade über sie ströme. Die Kraft des Gebets wirke heute Wunder, so gut wie in alten Zeiten. – –

In fröhlicher Zufriedenheit fuhren die Leute an diesem Abend heim. Jetzt erst würde die Arbeit für Gottes Reich hier draußen am Spring Creek die rechte Art bekommen!

 

VIII

Als jedoch am nächsten Sonntag der Pastor gleich nach dem Gottesdienst eine Gemeindeversammlung anberaumte, weil er eine Sache vorzulegen habe, die keinen Aufschub vertrage, da ballte sich ein Ungewitter über St. Lucas zusammen.

Das Komitee der neugestifteten Bethelgemeinde war nämlich in der vergangenen Woche ein paarmal zusammengetreten und dabei auf viele schwierige Fragen gestoßen. Erst gestern nachmittag waren sie so weit gediehen, daß sie sich zum Pastor aufgemacht hatten, um ihm den Austritt kundzutun, und da hatte Pastor Isaksen mitten in der Ausarbeitung der Predigt gesessen, ohne etwas von dem nahenden Verhängnis zu ahnen.

Das Komitee kam bald zur Klarheit darüber, welcher Jonasauftrag ihnen hier auferlegt worden war. Sie überreichten dem Pastor den Zettel, auf dem sechzehn Familien und ungefähr ebenso viele Einzelpersonen – alle mit Namensunterschrift – erklärten, daß sie sich hiermit aus der Gemeinde abmeldeten. Er hatte den Zettel zunächst beguckt, ohne recht zu begreifen, worum es sich handelte. Als ihm endlich aufging, daß es nicht mehr und nicht weniger bedeutete, als daß der vierte Teil der Hauptgemeinde Lebewohl sagte, war er tief gekränkt und vergaß sich sogar. Denn bald wandelte sich das Gekränktsein in Zorn. Er sprang vom Stuhl auf und fragte, ob sie denn alle samt und sonders verrückt geworden seien. Habe der Böse ihnen den Sinn verblendet, so daß sie nicht mehr wüßten, was sie täten? – John Baardsens Darlegungen, daß sie nunmehr endlich in Gnaden den rechten Weg vor sich sähen und sich bestreben wollten, des Herrn Willen zu tun, derweil es noch Tag sei, gossen nur noch Öl in das Feuer, das bereits recht kräftig brannte. – – Also um die Gemeinde zu sprengen, hätten sie sich in die Häuser geduckt und Aufrührerzusammenkünfte gehalten? Den heiligen Ruhetag hätten sie benutzt, um in eine christliche Gemeinde die Saat der Zwietracht zu säen? Begriffen sie, daß sie des Satans Geschäfte besorgten? Von einem herrschsüchtigen Fanatiker hätten sie sich verführen lassen – ja, den Bescheid möchten sie Nils Nilsen getrost von ihrem Pastor hinterbringen! Nicht aber sollten sie sich in dem Glauben wiegen, daß so etwas angehe, solange noch Recht und Gesetz im Lande gälten!

John Baardsen versuchte einen sanftmütigen Einwand, daß sie nur das Rechte vor dem Herrn zu tun vermeinten; die Bosheit drohe in St. Lucas überhandzunehmen – das sähen doch alle – –

Jetzt unterbrach ihn der Pastor. Bebend vor Wut zeigte er auf die Tür: »Geht! geht! – Ich dulde es nicht, daß ihr, während ich über Gottes Wort sitze, in mein Haus einbrecht und mich mit Beleidigungen überschüttet! – Hinaus mit euch, sage ich!« Und Pastor Isaksen stampfte zornbebend auf.

So böse habe er ausgesehen, berichteten die drei Sendboten später, daß ihnen geradezu unheimlich geworden sei.

Und da waren sie gegangen. Draußen in der Sonne waren sie stehengeblieben, um sich recht zu besinnen. – John Baardsen war so verdutzt, daß er sich geradezu biblisch ausdrückte: »Ein unreiner Geist ist in ihn gefahren!« Das schien dem Veum einzuleuchten, und er fügte mit einer gewissen Innigkeit hinzu, derlei ließe sich wohl weder mit Gebet noch mit Fasten mehr austreiben, nein, das glaube er nicht! – Aber Hans Lykke trabte nachdenklich zum Wagen; hier biß er sich einen Priem ab – warum in aller Welt hatte er nicht getan, was er eigentlich gewollt, und es abgeschlagen, diesem sogenannten Komitee beizutreten? Das sah ja geradezu nach Mord und Totschlag aus!

Als sich jedoch des Pastors Erbitterung gelegt hatte, überkam ihn tiefer Kummer. An das Gotteswort, das er morgen verkünden sollte, dachte er nicht mehr. Er sah nur noch die Schande vor sich. Bald würde die Geschichte überallhin austrompetet sein, vielleicht sogar in die Zeitung kommen! Seine Amtsbrüder würden ihn herablassend und spöttisch ansehen. Und das passierte ihm! Ihm, der sich auf dem Seminar das Lob aller Lehrer verdient hatte, weil er es mit seiner Predigt so ernst genommen! Und verdient mit Fug und Recht. – – Daß sich das ganze Unglück von seinem Vorgänger im Amte herschrieb, jenem alten Autodidakten, der hier herumgetrottelt und Kaffee mit den alten Weibern geschlürft hatte, das würde natürlich niemand begreifen! Seine eigenen Gemeindekinder waren ja sogar derart verblendet, daß sie geradezu einen Götzen aus dem alten Faselhans machen wollten – eine Geldsammlung war im Gange zu einem gewaltigen Grabstein für jenen!

Pastor Isaksen saß vor der Perikope und sah, wie sich alle Ungerechtigkeit der Welt um ihn auftürmte, bis ihm so traurig, ach so traurig zumute wurde, daß er den Kopf auf den Tisch legte und weinte.

Als am Abend seine ›Missis‹ in das kleine Amtszimmer gekommen war, um ihm zu eröffnen, daß jetzt die Buttermilchgrütze fertig sei – sein Leibgericht an jedem Sabbatabend, sintemalen sie seinen Geist so klärte für den darauffolgenden Tag – da hatte sie ihn zertrümmert und verzweifelt vorgefunden. – Die ganze Nacht hindurch hatte er seine Wüstenwanderung fortgesetzt, immer auf und ab durch die Stube, indes er darüber nachgrübelte, wie er sich gegen die dräuende Bosheit, die ihm entgegentrat, rüsten könne.

 

Der Gemeinde blieb nicht lange Zeit, sich zu fragen, was denn eigentlich geschehen sei. Heute trug der Pastor ein überaus bestimmtes Wesen zur Schau. Er zog den Zettel hervor, den ihm das Komitee gestern abend übergeben hatte, und las ihn feierlich vor; sodann alle Namen, jedesmal mit einer Pause, die die Liste unheimlich lang erscheinen ließ. Die drückende Stille, die hinterher eintrat, wurde dadurch behoben, daß jemand in den hinteren Bänken lachte; dieses Lachen hörte sich höchst fröhlich an – das war bestimmt der Aslak Tjöme. Mehrere drehten sich lächelnd nach ihm um.

Aber dann nahm der Pastor wieder das Wort:

Er lege hiermit die Sache in die Hand der Gemeinde. Vorher jedoch müsse er den § 6 der Kirchenverfassung vorlesen, der den Austritt behandle. Hier stehe nämlich: ›Ein Mitglied kann aus dieser Gemeinde nicht austreten, solange es am Orte verbleibt, wofern nicht bewiesen werden kann, daß der Pastor falsche Lehre verbreitet. In einem solchen Fall muß der Vorsteher der Kirchenkorporation hinzugezogen werden.‹ – Die Frage sei also, fuhr der Pastor fort, ob ihm klar und deutlich falsche Lehre nachgewiesen werden könne. Wenn nicht, so seien diese Menschen nicht berechtigt auszutreten. Da die Sache seine Person angehe, sei es gegen geziemende kirchliche Übung, daß er selber die Versammlung leite; sie müßten sich also einen andern Vorsitzenden wählen. Er blickte über die Versammlung hinweg, gekränkt und mißhandelt, müde nach seiner nächtlichen Wüstenwanderung.

Eine große Unruhe entstand, man begann die Sache mit dem zufälligen Nachbarn zu erörtern; einige wollten ein Komitee einsetzen, andere sofort den Vorsteher holen lassen: denn das sei nichts für den einfachen Mann; der eine freute sich, endlich diese Muckergesellschaft loszuwerden; andere wieder gerieten in Uneinigkeit darüber, was man mit Nils Nilsen und seinen Anhängern vornehmen solle. Da übertönte eine Stimme allen Lärm: »Wenn das hier den ganzen Tag lang dauert, ist es das beste, die Weiberleut von daheim das Nachtessen holen zu lassen!« Und dann lachte einer herzlich auf; man mußte sich umsehen, und da war es der Tambour-Ola, der auch zur Andacht gekommen war und jetzt seinen Spaß hatte.

Endlich wurde Tom Helgesen zum Versammlungsleiter bestimmt, und die Diskussion konnte beginnen. Aber jetzt trat plötzlich Stille ein; alles schien wie mit Stummheit geschlagen.

Tom meinte folglich, da niemand etwas zu sagen habe, könnten sie wohl schließen und heimgehen. Da aber regten sich Lebenszeichen. Einer schlug vor, ein Komitee einzusetzen, das mit Nils Nilsen verhandeln solle. Nein, meinte ein anderer, erst müßten die Vertrauensmänner die Sache behandeln und Bericht erstatten. Nein, nicht diese, sondern die Diakone, berichtigte ein dritter. Wieder ein anderer gab zu bedenken, wenn sie jetzt so viele Mitglieder verlören, dann stände es wenig aussichtsvoll um den Bau der Kirche, von dem sie schon so lange sprächen. Dies brachte noch einen vierten auf einen Einfall: er hielt eine warme Rede darüber, wie wichtig der Kirchenbau sei; hätte der Nils eine Kirche für seine Versammlungen gehabt, dann hätte er sich sehr wohl bedacht, solche Sprünge zu machen; denn dann hätten noch mehr Leute ihn predigen hören können! Und damit sprang ein neuer Redner auf und beantragte ein Komitee für den Kirchenbau. – – Nach diesem Vorschlag kratzte sich Tom Helgesen den Kopf und hatte Bedenken, ob die beiden letzten Redner streng genommen zur Sache geredet hätten, da es sich hier ja nicht um den Kirchenbau handle. Toms Bemerkung ging dem letzten Sprecher an die Ehre; heftig erhob er sich zu eingehendem Widerspruch. Schließlich erhielt Gjermund Dahl das Wort und schlug vor, für Freitag abend halb acht eine Versammlung einzuberufen, die allein diese Angelegenheit behandeln sollte. Und würden sie dann nicht fertig, konnten sie immer noch am nächsten Predigtsonntag fortfahren. Dieser Vorschlag wurde ohne Debatte angenommen.

Tönset'n hatte vorn gesessen, und das Kinn auf dem Stock, gegrübelt. Jetzt sprang er auf und begehrte das Wort.

»Liebe Leute, was ist das alles für ein Gewäsch!« Er müsse sich über sie wundern! Solle man jetzt etwa auch Versammlungen wegen solchen Unsinns abhalten? Hätten sie vergessen, daß hier in Amerika einst ein Bürgerkrieg gewesen sei? Worum hätten sie sich damals geschlagen? Nun – das wolle er ihnen erzählen: ein paar Aufrührer im Süden hätten gemault, weil sie ihren Willen nicht bekommen hätten; und da sei es ihnen eingefallen, aus der Gemeinde austreten und für sich allein starten zu wollen. Habe man ihnen das gestattet? Oh nein, Freundchen! Prügel hätten sie bezogen und hätten sich bescheiden müssen. Damit sei aber für alle Zeiten entschieden, daß nicht eine Minderheit aufstehen und zur Stube hinausmarschieren könne, weil ihnen der Anstrich auf den Wänden gerad nicht gefalle! Bestehe der Nils und sein Klüngel darauf, zu stänkern, so gäbe es hier in Amerika doch Gott sei Dank Recht und Gesetz!

Ehe Tönset'n sich setzte, sah er sich mit einer Miene um, die deutlich fragte: hab ich etwa nicht recht? – – Ein paar waren augenscheinlich seiner Meinung und klatschten Beifall.

Tom Helgesen schaute ratlos über die Menge: »Ich glaub, die Versammlung ist bereits geschlossen, obwohl es ein guter Gedanke ist, den der Syvert da vorgebracht hat, – schadet nichts, wenn wir uns den zu Herzen nehmen.«

 

IX

Wie ein verwüstender Sturm fuhr dieser Streit über die St.-Lucas-Gemeinde. An allem, was im Settlement vorhanden war, riß und zerrte er und raste dann weiter, machte kehrt, kam zurück und wurde nur mit jedem Male schlimmer. Die Leute zankten sich so lange um den Willen Gottes, bis ihre Stimmen heiser krächzten und die Augen funkelten und die Hand unwillkürlich nach einer Wehr griff.

Der Kernpunkt war: sollte der ›Rebell‹, wie Tönset'n für gut befunden hatte, den Nils Nilsen und seine Anhänger zu benennen, aus der Gemeinde austreten dürfen? Das verlange eine Friedfertigkeit, die über menschliche Kraft gehe; denn werde hier eine neue Gemeinde am gleichen Ort und unter demselben Volk gestiftet, und beide Gemeinden würden den gleichen Glauben bekennen, so müsse notwendig die eine der andern in die Quere kommen. Einsichtige Leute sahen das Ergebnis vor sich: Unverträglichkeit und Zänkereien auf unabsehbare Zeit. Der Kirchenbau, den sie gehofft hatten, bald vor sich erstehen zu sehen, der lag jetzt in Trümmern!

Es mußte unverzüglich etwas getan werden. Man griff zum Nächstliegenden: der Vorsteher des Kirchenverbandes wurde gerufen. Er kam eigens heraus und hielt drei volle Tage lang Besprechungen und Versammlungen ab; er ermahnte und untersuchte, redete und überredete, rügte scharf und versuchte mit milden Worten die Gemüter friedlich zu stimmen. Aber es wurde nicht besser. Eher schlimmer. Je länger die Leute diskutierten, desto heißer wurden die Köpfe. Was anfänglich für einen Teil nur ein Spaß gewesen – eine Laune, über die man lachen mußte – wurde zu einer Gewissensfrage, ja, bald zu einer Frage der ewigen Seligkeit. Alle wurden mit hineingezogen; der Sturm fegte zusammen; selbst Leute, die sich bisher weder um Gemeinde noch um Kirche gekümmert hatten, nahmen jetzt teil. Sogar Tambour-Ola. Die ihn am besten kannten, wußten, er tat es nur, um die Freude zu haben, gegen Nils Nilsen zu stimmen. Und die Schlingel und Tollköpfe unter dem Jungvolk hatten an allem ihr helles Vergnügen.

Die Majorität – sie war übrigens recht beträchtlich – wollte nichts davon hören, daß man die Dissenters laufen lasse, sie stand unerschütterlich auf ihrem Standpunkt. Hier half die ruhigste Überredung ebensowenig, wie wenn man hätte versuchen wollen, den Nordwind zur Vernunft zu bringen. Übrigens war die Mehrheit nachgiebig genug: der Nils Nilsen möge so viele Andachtsstunden halten, wie er wolle, und sich ganz nach Belieben einrichten – warum denn nicht! Nur dürfe er keine neue Gemeinde stiften. Er habe die Kirchenverfassung unterschrieben und müsse also in ihr verbleiben, geradesogut wie andere auch. Punktum! In allen selbstverwalteten Zusammenschlüssen bestimme die Majorität und müsse das auch, sonst entstehe die reine Anarchie.

Das ewige Gerede über mangelnde Frömmigkeit, das die Gegenseite ständig im Mund führte, bestärkte die Majorität nur noch, bis sie schließlich das rote Tuch sah: eine Frömmigkeit, die sich verstecken müsse, um zu gedeihen, die rieche nach Skunk Skunk = Opossum, Stinktier.. Nein! Bleibt uns vom Halse mit solch einem Christentum!

Die Bethel-Leute äußerten sich nicht ganz so laut, redeten auch nicht so geschwind, verharrten aber ebenso unerschütterlich auf ihrem Standpunkt: sie seien bereits ausgetreten! – – Das müßte sonderbar zugehen, wenn irgendeine Macht der Welt sie zu einer Gemeinschaft zwingen könne, die ihr Gewissen ihnen verbot zu pflegen. – ›Scheuet den Rat der Gottlosen,‹ stehe geschrieben. ›Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer.‹ ›Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen.‹ Die letzten Tage seien voller Bedrängnis und Gefahr für die kleine Schar der Gläubigen – – ach ja! – – Hatte aber nicht auch der Erlöser mit den Pharisäern gebrochen? Hatte etwa der sich die Erlaubnis erbeten, aus der Gemeinde auszutreten? War der nicht auch gegen die Kirchengesellschaft, der er angehörte, aufgestanden? – – Und nun zum Beispiel Luther. Hatte nicht auch der eine neue Kirchengemeinschaft gegründet? Hatte der etwa erst gefragt, ob er es dürfe? Liebe Leute, wollen uns nicht schrecken lassen von der Welt! – – Plötzlich sprang aus ihrem eigenen Wesen eine neue Reihe von Argumenten auf und leuchtete vor ihnen her: volle Freiheit in Glaubenssachen für ein freies Volk! – So? St. Lucas glaube sich also zu einer Staatskirche aufwerfen zu können und die Leute zu zwingen? Hütet euch! Geht nicht zu weit! Gewährleistete ihnen die Verfassung Amerikas nicht volle Freiheit? Bezahlten sie nicht ihre Steuern dafür, daß die Obrigkeit diese Freiheit schütze? Sollten sie sich in dem Reich, das sie selber hier draußen in der Wildnis gegründet hatten, an die Leine legen lassen wie eine Sau, die man zu Markte treibt? Hütet euch, gute Leute! Bald reißt uns die Geduld!

Jetzt erst entfachte sich auf ihren Zusammenkünften die richtige Eifersglut. Das Feuer, das bisher nur Licht und behagliche Wärme gespendet hatte, lohte gewaltig auf, griff hierhin und dorthin über. Neugierige Zuhörer gesellten sich zu den ›Rebellen‹ und wurden zuweilen zu Anhängern. – – Immer wieder wurde Oline Tuftan erwähnt. Wie ein Kampfeszeichen wurde sie vorangetragen. Hurerei und Mord und Selbstmord – da sah man ja doch die Frucht von dem faulen Baum! Laßt uns vor den großen Greueln fliehen, ohne zurückzublicken! – – Selig ist die kleine Schar! Sie fanden Trost in ihrer geringen Zahl und daß sie jetzt in Bedrängnis gerieten. Denn war es nicht besser, im Diesseits Verfolgungen zu leiden als im Jenseits die ewige Pein? – – Verzage nicht, du kleine Schar!

Der Sturm wütete entsetzlich. Nachbarn, die bisher einträchtiglich beieinander gelebt, sich gegenseitig bei jeglichem Tun ausgeholfen und große Freude daran gehabt hatten, wollten nicht mehr hinsehen, wo der andere stand. Es ging sonderbar mit dem Dreschen in jenem Herbst: die nächsten Nachbarn halfen einander nicht! Der Unwille wuchs sich zum Haß aus, zerstörte Nachbarlichkeit und trennte Familienzugehörige. Es wurde bald bekannt, daß der alte Lars Holte den Sohn vor die Wahl gestellt hätte, entweder mit dieser seiner Narrheit aufzuhören oder sich aus dem Hause zu scheren; Andrew tat das letztere, ging zu Mrs. Tuftan und pachtete ihre Farm; an den Gottesdiensten von St. Lucas nahm er nie mehr teil. Doch die Mutter hielt es mit dem Sohn – auch das wußten sich die Leute zu erzählen, obwohl Holtes die Angelegenheit niemals erwähnten.

Schlimmer, wenigstens in gewisser Hinsicht, ging es bei Joe Lund zu; dort zankten sich Mann und Frau so lange, bis die Missis sich den Bethel-Leuten anschloß und die Kinder mitnahm; denn sie hatte das Heft in der Hand. Fuhr der Joe selber mit seinem besten Gaul und im neuen Buggy zum Gottesdienst von St. Lucas, so spannte sie den Leiterwagen an, setzte die Kinder darauf und zog nach Bethel. »Wir sind ja wohl ein freies Volk in einem freien Lande, weiß ich recht, und der Joe soll mich in dem da nicht tyrannisieren; ja, mir ist's gleich, ob's wer hört!« – Die Leut sahen es und hörten es und hatten ihren Spaß am Joe und seiner Bäuerin.

Während des Herbstes und den ganzen Winter ging das Gezänk so weiter; Versammlungen wurden abgehalten, Komitees verhandelten; Nachbar-Pastoren kamen mit gutem und klugem Rat. Aber der Knoten war und blieb unlöslich. »Wir sind ja doch schon draußen!« sagten die Bethel-Leute. »Das könnt ihr ja gar nicht!« antwortete St. Lucas. Und dabei blieb es. Im ganzen Settlement wälzten die Leute ihre Bibeln und flochten Beweismittel zusammen; es galt, sich Waffen zu schmieden. Und es kam vor, daß die eine Farmersfrau der andern ein ›Es stehet geschrieben‹ entgegenschleuderte und mit irgend etwas loslegte, was sie im Worte des Herrn gefunden hatte, wogegen die andere nicht so leicht werde aufkommen können.

Mit dem Frühjahr und dem guten Wetter und aller Draußenarbeit entwickelten sich die Begebenheiten Schlag auf Schlag. Zunächst legte Pastor Isaksen sein Amt nieder; und er fragte die Gemeinde nicht einmal zuvor um ihre Meinung. Übrigens hatte sich auch keiner der Gegner je sonderlich um die seine gekümmert. Er war unter ihnen herumgegangen – mehr wie ein Kind, das die Erwachsenen mit aufs Feld nehmen und dann sich selbst überlassen, weil sie zu emsig sind, um sich viel nach ihm umzugucken. In Tagen und schlaflosen Nächten hatte er sich lange über seine Zurücksetzung gegrämt. Alles richtete sich ja doch gegen ihn persönlich! Aber keiner wollte auf ihn hören! Auf ihn, einen Gesalbten des Herrn, den Hirten der Gemeinde! – Die Amtsniederlegung wirkte wie ein unerwarteter Knall inmitten einer schwülen Stille. »Da habt ihr's,« sagte die eine Seite; »jetzt habt ihr den Pastor verjagt!« – Die andere hatte dafür nur ein Achselzucken: »Seid uns dankbar dafür, daß wir euch dazu verholfen haben; ihr habt euch gewiß nicht allzuviel um ihn gekümmert.«

Gleich darauf aber geschah das Unglaubliche: die Dissenters begannen eine Kirche zu bauen! Anfänglich wollte man seinen Augen nicht trauen; das war unmöglich! Man stand auf und glotzte, völlig geschlagen von dieser unerhörten Frechheit. Der Gottseibeiuns in Person mußte ja unter diese Menschen losgelassen worden sein!

Und dann war es trotz allem doch wahr. Genau dreiviertel Meile Gemeint sind stets englische Meilen = 1,6 km. von der Stelle, wo die St.-Lucas-Gemeinde ihre Kirche zu bauen beabsichtigte, fingen die andern jetzt an, den Grund zu der ihrigen auszuheben. Die unglaublichsten Gerüchte schwirrten durch die Luft; Nils Nilsen sollte eintausend Dollar zu dem Unternehmen gestiftet haben; mehrere andere hätten sich für fünfhundert verbürgt; wieder andere für zweihundert. Ja, es wurde sogar davon gemunkelt, daß die Bethel-Leute beabsichtigten, einen Pastor von einer andern Kirchengesellschaft herzuberufen!

Hier blieb nur eins zu tun: eine Gemeindeversammlung anzuberaumen und den Trustees unbeschränkte Vollmacht zu geben. Was man auch tat. Die Trustees reisten sogleich zur Stadt, nahmen sich einen Rechtsbeistand und veranlaßten eine ›Injunction‹ Injunction = gerichtliche Aufforderung oder gerichtliches Verbot, etwas zu tun. gegen Nils Nilsen und sein Gebäude. Somit entwickelte sich also jetzt ein Prozeß, in dem so gut wie die ganze Siedlung als Zeuge vorgeladen wurde. Die Menschen gingen in bedrücktem Schweigen umher, als getrauten sie sich nicht, den Mund aufzutun. Entsetzlich war das. – Ab und zu trat in die Augen ein seltsames Blitzen; ein Rücken reckte sich; eine Faust faßte nach einer Heugabel – es sollte doch sonderbar zugehen, wenn man diese Tollheit nicht kleinkriegen könnte. Gebärdeten sich die Leut wie die Narren, mochten sie auch die Folgen einstecken!

 

X

An jedem Sonntag des letzten Sommers war Beret zu den Versammlungen des Betkreises gefahren. Anfänglich waren alle die Ihren mitgekommen. Dann aber hatte eines Sonntags, kurz bevor sie abfahren wollten, der Ole erklärt, er erwarte am Nachmittag Gäste und könne nicht mit. Die Mutter hatte dazu nichts gesagt; dennoch sahen die andern, wie wenig es sie freute. Die ganze Woche über war sie wortkarg, – wie immer, wenn ihr etwas sehr gegen den Strich ging.

Am nächsten Sonntag klagte Ole über Unwohlsein; er legte sich, kaum daß sie zu Mittag gegessen, zu Bett und bat die andern, ohne ihn zu fahren. Der Große-Hans führte die Zügel; Beret saß neben ihm auf dem Vordersitz. Als sie ein Stück gefahren waren, wendete sie sich an ihn:

»Ich mein, dir steht der Sinn auch nicht danach, zu fahren?«

Der Sohn zögerte mit der Antwort: »Wenn ich die Wahrheit sagen soll, so weiß ich Dinge, die ich lieber tät. – Aber wir müssen halt nun mal auch derlei tun,« setzte er hinzu.

Mehr wurde weder an diesem Tag noch in der ganzen Woche darüber gesprochen. Am nächsten Sonntag, als sie soeben aufbrechen wollten, – der Ole war davongeritten, ohne Bescheid zu geben wohin, – wendet sich Beret zum Großen-Hans und sagt:

»Es ist das beste, du bleibst heut daheim; es könnt jemand kommen; wir dürfen die Farm nicht ganz allein lassen.«

Der Sohn schaute die Mutter an. Sie hatte so freundlich und kameradschaftlich gesprochen, daß er geradezu Lust auf den Ausflug bekam; doch als er den Wagen besteigen wollte, sagte sie noch freundlicher:

»Hör du jetzt nur auf mich; du mußt dich für morgen ausruhen; laß alle Arbeit ruhen, bis wir andern heimkommen!«

Und so geschah, was sie zu wünschen schien. Seither waren nur sie und die beiden Jüngsten gefahren. Peder freute das; denn dann kutschierte er. Es kam viel Volk zu den Versammlungen, da gab es immer so viel Getümmel mit den Pferden, und auf seinen Schultern ruhte die ganze Verantwortung!

Nach der Versammlung, auf der die Bethelgemeinde gegründet wurde, hatte Beret sich reichlich Zeit gelassen. Sie wartete ab, bis die Hofreite so gut wie menschenleer geworden war; dann trat sie auf Nils Nilsen zu, begrüßte ihn und sagte dabei:

»Wir haben es heuer im Sommer doch gesegnet gut gehabt. Du hättest es nicht zulassen sollen, daß der Holtebub uns das zerstört. Du solltest doch wissen, daß Unkraut und Weizen zusammen aufwachsen müssen bis zur Ernte! – – Aber wir hatten es vielleicht zu gut.«

Nils Nilsen schaute ihr warm ins Gesicht. Darauf reichte er ihr den Bogen, auf dem sich die andern alle eingetragen hatten:

»Wir brauchen hier auch deinen Namen, Beret Holm – auf dich hab ich die ganze Zeit gerechnet!«

»Damit wird es gewiß nichts werden,« sagte sie gedehnt. »Das Christentum, das sich abseits halten muß, um zu gedeihen, von dem ist noch nicht ausgemacht, wie es mit ihm geht, wenn es einst in den Himmel kommt. – – Und dann: ich bin freilich nur eine alte Frau und verstehe nicht sonderlich viel, aber ich sehe nichts Verkehrtes darin, die Gemeinde ›norwegisch‹ zu nennen. Habt ihr denn nicht im Sinn, gerad unter unsern Leuten zu wirken?«

»Das sind ja aber nur Nebensachen!« Mit einem Male geriet er in großen Eifer: »Weißt du – ich bin, glaube ich, noch nie so fröhlich gewesen, wie zu dieser Stunde! – – Mit Gottes Hilfe wird es gehen!«

Beret blickte zu Boden; ein paar Strohhalme waren an ihrem Rock hängengeblieben; sie zupfte sie ab und drehte und wendete den Rock, um zu sehen, ob noch mehr da seien. Dann richtete sie sich auf und sah ihm gerad in die Augen:

»Mit seiner Hilfe – ja – das tät verschlagen! Jetzt jedoch hast du deine Zuversicht auf Lars Holtes Buben gesetzt!«

»›Nach deinem Sieg wird dir dein Volk willig opfern in heiligem Schmuck. Deine Kinder werden dir geboren wie der Tau aus der Morgenröte‹,« zitierte er in stiller Begeisterung. »Hier in Amerika bricht sich viel junges Leben Bahn. – Dich aber müssen wir für uns gewinnen – ich habe zum Herrn gebetet um dich und deinen ganzen Hausstand. Jetzt müssen Gottes Kinder zusammenhalten!«

Eine kurze Pause entstand; beide blickten zu Boden; draußen auf der Hofreite rief jemand nach Nils Nilsen; keiner der beiden achtete darauf; schließlich antwortete Beret langsam:

»Das muß wohl ohne mich geschehen. – – Ich kann meine Hand nicht dazu hergeben, das einzureißen, was der alte Pastor unter uns aufgebaut hat.« Sie sah zum Himmel auf und fügte still hinzu: »Und ich hätte das auch von dir nicht geglaubt. – – Hab Dank für den Sommer!« Sie wollte ihm die Hand reichen, aber der Mann, der vorhin gerufen hatte, stand bereits da und fragte, ob er nicht mit Nils Nilsen ein paar Worte ganz allein sprechen könne, und so hatte Nils nur noch Zeit zu sagen:

»Darüber werde ich mit dir noch ein andermal reden, Beret Holm!«

Damit schieden sie voneinander.

Auch Annemarie war gekommen, um zu sehen, wo die Mutter blieb. Peder hatte schon längst vorgespannt und wartete ungeduldig und in höchster Spannung auf dem Wagen: da fuhren sie jetzt allesammen fort, ohne daß er Gelegenheit bekam, ihnen zu zeigen, wie fein er mit den Pferden umzugehen verstand! Womit vertrödelte die Mutter denn bloß die Zeit? So lange konnte es doch unmöglich dauern, zu sagen, daß sie mittun wolle, und ihren Namen zu unterschreiben? – – So richtig ärgerlich war er übrigens nicht; denn alle, die am Wagen vorbeikamen, nickten ihm zu. Ein paar fragten auch, was er denn für ein Bursch sei, traten nah heran und sagten ihm, wie hübsch es von ihm sei, daß er seine Mutter herbegleite – daran habe Gott Wohlgefallen, das solle er nur glauben!

Peder hörte nur mit halbem Ohre hin; er war viel zu beschäftigt, nach der Mutter auszuschauen und über Andrew Holtes Großtat nachzudenken. Denn der Andrew, das war einmal ein Kerl! Während Andrews Rede war in Peder etwas Helles aufgestanden und hatte ein kräftiges Ja gesagt – am liebsten hätte er in die Hände geklatscht. – –

Er hätte jetzt gern mit der Mutter über Andrew Holte geschwätzt, und das sagte er ihr auch, als sie sich neben ihn setzte; aber sie schwieg während der Heimfahrt. Sie grübelte über sehr ernste Dinge nach; das Antlitz sah beschwert aus in der Sonnenglut. Peder merkte, ihr war etwas nicht nach Wunsch gegangen. Vielleicht ärgerte sie sich darüber, daß die Brüder heute nicht mitgekommen waren – auf eine so flotte Versammlung? Ehe er noch mit seinen Überlegungen, wie er ein Gespräch über das alles einleiten könne, fertig war, begann sie eine Melodie vor sich hinzusummen, weich und gedämpft. Als er hinhorchte, erkannte er das Lied des Tambour-Ola; daß sie das kenne, hätte er nie geglaubt. Er vergaß darüber fast die Pferde und das Kutschieren. – – Merkwürdig, wieviel Sonderbares er aus der Weise heraushörte? – Seit dieser Zeit hörte er sie das Lied oft bei der Arbeit singen. –

Einer der Erweckten hieß Simon Simonsen. Er las fleißig in der Bibel, hielt sich meistens abgesondert und hatte zuweilen eigenartige Ideen. So hatte er auch jetzt wieder einen Einfall gehabt, der großes Aufsehen machte:

Die St.-Lucas-Gemeinde hatte ihren Kirchhof dort angelegt, wo dereinst die Kirche stehen sollte. Jede zur Gemeinde gehörige Familie hatte hier ihre Grabstätte. Da war nun der Simon auf den Gedanken gekommen, es sei vielleicht das allersicherste, die Vorbereitungen für die Fahrt ins Jenseits noch ein wenig weiterzuführen. Er hatte sich also zwei Särge zimmern lassen, den einen für die Frau, den andern für sich selber. Beide Särge standen harrend im Granary Granary = Kornspeicher.. Allein auch dieses deuchte ihn noch nicht ausreichend genug; darum ließ er auch noch ein ansehnliches Grabdenkmal auf seiner Grabstätte aufstellen, versehen mit seinem Namen und dem der Frau samt den Geburtsdaten beider. Unter jedem Datum war eingemeißelt: Gestorben den … im Jahre … Darunter: Ruhe in Frieden! Oben über dem Ganzen breiteten zwei Engel ihre Flügel und hielten sich, jeder ein Tuch um die Lenden, an den Händen gefaßt. Jetzt konnten sich also Mr. und Mrs. Simonsen beruhigt an jedem beliebigen Tag ans Sterben begeben; denn auch zum Einmeißeln der Sterbedaten hatte der Bildhauer des Grabdenkmals sich kontraktlich verpflichten müssen.

Als es sich herumsprach, was der Simon da auf dem Kirchhof vorgenommen hatte, mußte jeder Vorüberfahrende unbedingt hinein und die Herrlichkeit ansehen. Das war ja geradezu gefährlich! – Die Verwegensten aus dem Jungvolk sparten nicht mit lauten derben Spaßen über des Simon und seiner Bäuerin Engel, die da beide so dünn bekleidet auf dem Kirchhof warten mußten! –

Ole kam am Abend des Gründungsmeetings erst heim, als die andern bereits bei Tisch saßen. Da war er höchst aufgeräumt. Er hatte sich mit ein paar andern die neue Sehenswürdigkeit angeguckt und beschrieb sie ihnen mit so mutwilligen Worten, daß sie alle von seiner tollen Laune angesteckt wurden. Der Große-Hans lachte leise und amüsiert; die Schwester wollte es noch immer nicht recht glauben, und so bekam sie eine noch eingehendere Beschreibung, da wollte sie sich fast ausschütten vor Lachen. Peder verlangte zu wissen, ob denn der Simon beabsichtige, sich sogleich begraben zu lassen – obwohl er doch noch gar nicht tot wäre? Und die Frage war so komisch, daß sogar die Beret mitlachen mußte.

Peder merkte, daß er wieder einmal dumm gewesen war, und mußte also versuchen, das wettzumachen. Sobald die andern sich einigermaßen beruhigt hatten, schilderte er den Brüdern die Versammlung vom Nachmittag. Er malte alles in den phantastischen Farben, in denen er selber es erlebt hatte, erzählte ›erwachsen‹ und versuchte, alles so lustig darzustellen wie der Bruder: jetzt werde es Kurzweil geben, weiß Gott! Der Ole und der Große-Hans hätten heut nachmittag bloß mit dabei sein sollen und hören, wie der Andrew Holte den Nils Nilsen dazu bekam, eine neue Gemeinde zu starten!

»Was redst du da?« rief Ole.

»Jawohl! Akkurat!« setzte Peder munter fort. Es werde fein sein, mitzutun! Der Andrew solle Pastor werden, Peder habe das von vielen sagen hören. – – Aber der Andrew wolle nichts mit Norwegisch zu schaffen haben. Zwei von den Alten hätten sich deswegen auf die Hinterbeine gestellt, aber die hätte der Andrew geduckt wie nichts – ja, der Bursch, der verstehe das Predigen!

Ole glotzte ihn ungläubig an:

»Jetzt dichtest du wieder einmal!«

»Dichtest? Hö!« verteidigte sich Peder begeistert. Sie kämen doch gerade von dort! Die Mutter habe sie eingetragen und alles, und am nächsten Sonntag starteten sie also auf schickliche Art!

Der Große-Hans saß mit einem sonderbaren leisen Lächeln dabei: – – darum also hatte die Mutter ihn nicht mithaben wollen!

Die Mutter wies Peder hart zurecht:

»Kannst du mir sagen, was du da herumflunkerst? Ich mein, es spukt bei dir!«

Ole sprang auf und stieß den Stuhl zurück, sein Gesicht war steinhart und sprühte:

»Jetzt hat also die Tollheit ihren Wanst nach außen gekehrt!« Mitten im Zimmer blieb er noch einmal stehen und wendete sich zur Mutter: »Aber das laß dir gesagt sein – mich bringst du nicht hin!« Er riß die Mütze vom Haken und stürzte hinaus.

– – »Es ist nun wohl einmal so,« sagte Beret nach einer Weile, »daß man's von seinen eigenen Kindern einheimsen muß! – Und jetzt sprich uns das Tischgebet, Permann!«

Das war alles, was darüber gesagt wurde; aber Ole kam in der Nacht erst spät heim.

 

XI

Niedriger grauer Wolkenhimmel. Lastender Novembertag. Kalter Nordwest fuhr über leblose Landschaft; er sputete sich, denn es lohnte wahrhaftig nicht, sich hier mit irgend etwas aufzuhalten. Sank dieser Himmel noch tiefer herunter, dann quetschte er die Prärie noch flacher, als sie ohnehin war.

Die Menschenwohnungen auf der Widde Widde = nordischer Ausdruck für Steppe, Prärie; eigentlich die einsamen Hochebenen Norwegens. lagen weit voneinander entfernt. Meilen dehnten sich zwischen etlichen. Da konnte die eine sich nicht Wärme borgen von der andern. In dem graukalten Halblicht schienen sie sich fröstelnd zusammenzukuscheln und sich in sich selbst zu verkriechen, um ja ihr bißchen Eigenwärme zu bewahren.

Obgleich die Uhr erst auf zwei ging, machte es den Eindruck abendlicher Dämmerung. Kläffte irgendwo ein Hund, konnte man draußen nicht entscheiden, ob der Laut von oben her kam oder aus der Tiefe. Der Nordwest riß hier und da einen weichen Bausch von der bleigrauen Unendlichkeit los und kollerte ihn vor sich her. Der Sturm raste mit solcher Heftigkeit, daß er die Haut zu sengen schien. – – Zur Nacht brachte er gewiß noch Schnee!

Die erste stürmische Gemeindeversammlung von St. Lucas war soeben vorüber. Mit vernichtender Majorität hatte die Gemeinde dem Nils Nilsen und seinen Anhängern den Austritt rundweg verweigert. Von jetzt ab mochten sie sich hüten!

Auf beiden Seiten waren Worte gefallen, die erst nach langer Zeit in Vergessenheit gerieten. Drohende Worte des Trotzes. Die Sinne hatten gekocht. Während der Debatte hatten etliche eine eigentümliche Befriedigung empfunden – eine wunderliche Macht, die ihrem eigenen Wesen entsprang und jedes Wort mit Wonne füllte. Je kräftiger die Ausdrücke kamen, desto besser saß es. Die Verstocktheit sollte es heimgezahlt kriegen! Denn von Recht war hier doch nicht die Rede! – – Andern wieder hatte das Gezänk Mund und Sprache geraubt. Wenn der Herr in dieser Nacht erschiene, wie würde es da der St.-Lucas-Gemeinde gehen? In der Offenbarung Johannis stand von der großen Hure zu lesen. Nun, viel schlimmer, als sie es heute hier hatten mit anhören müssen, konnte es kaum noch werden.

Beret Holm befand sich mit ihrem ganzen Hausstand auf dem Heimweg aus der Versammlung. Immer tiefer hinein ging es in das feuchtkalte Grau. Über den Menschen im Wagen lag eine Stimmung, die mehr bedrückte als der Nordwest und der Winter, der jetzt im Anmarsch war. Annemarie hatte, in ihren Schal gehüllt, versucht, vor sich hinzusummen. Das hatte auf Peder so aufreizend gewirkt, daß der sie angefahren hatte, sie solle gefälligst schweigen, worauf sich die beiden eine Weile gekabbelt hatten. Der Große-Hans hatte ihnen schließlich gedroht, sie alle zwei aus dem Wagen zu werfen, wenn sie nicht sogleich den Mund hielten. Ole kutschierte; die Mutter saß neben ihm im Vordersitz; keiner der beiden hatte es für nötig gehalten, sich in das Geplänkel einzumischen.

Vorläufig war der Ole der einzige in der Familie, der Stimmrecht hatte. Und heute hatte er mit der Majorität gestimmt, obwohl er gut wußte, daß er damit strikt gegen den Willen der Mutter handelte. Das wußten auch die andern. Die Auseinandersetzung, die drohte, wurde gewiß nicht einfach, aber zu vermeiden war sie nicht.

Doch das war noch nicht das Schlimmste:

Heute war namentlich abgestimmt worden, so daß alle darüber unterrichtet waren, auf welcher Seite ein jeder stand. Kaum war die Abstimmung vorbei, so ging auch schon die Debatte wieder stürmisch weiter – mit einem tieferen Knurren von Seiten der Majorität. – – Da war etwas schlechthin Unerhörtes geschehen: Beret Holm war aufgestanden und hatte darum gebeten, ein oder zwei Worte sagen zu dürfen. Noch nie hatte es sich ereignet, daß ein Weib in einer Gemeindeversammlung das Wort ergriff. – Eine Frauensperson und sich öffentlich in das hier einmischen! Das wurde denn auch als so unschicklich empfunden, daß nicht wenige ganz beklommen waren vor Scham.

Beret hatte gar nicht erst abgewartet, bis der Versammlungsleiter sich von seinem Staunen erholt, sondern sogleich angefangen darzulegen, wie verkehrt sie jetzt zu Werke gingen. Glaubten sie denn wirklich, daß sie damit Gottes Geheiß ausführten? – – Die Worte quollen anfangs so mühselig heraus, sie kamen wie in Furcht, Tränen spürte man in ihnen. Aber als Beret erst in Fluß gekommen, da klarte es auf. Sie ermahnte sie wie eine Mutter, die in bekümmerter Zärtlichkeit versucht, ein unartiges Kind zurechtzuweisen. Die Frauen schauten sie traurig an: war sie am Ende gar wieder sonderbar geworden? – – Hier säßen ein paar von ihren eigenen Nachbarn, hatte Beret ausgeführt, die bäten darum, in kirchlichen Dingen sich von ihnen trennen zu dürfen und sich anders einzurichten, um Gott besser zu gefallen. War denn das so arg? Warum könne eine christliche Gemeinde ihnen nicht gestatten, es damit zu versuchen? Das Leben in Gott bedürfe bisweilen großer Sorgfalt und Pflege, um zu gedeihen, – es sei nicht das gleiche für alle. – Wenn jedoch einfach geistiger Hochmut diese Menschen bestimme, so sei es für die Gemeinde nur gut, sie loszuwerden. Nur mit geistigen Steinen könne der Herrgott bauen! Hier lägen Tiefen, die kein Mensch je zu erloten vermöge; und selbst wenn der Herr seine Allmacht zu Hilfe nähme, so könne er doch keinen andern Baustoff gebrauchen. Keineswegs aber dürften sie irgendeinem Menschen, der Gott näherkommen wolle, den Weg verlegen! ›Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist‹, habe Jesus im Evangelium Matthäus gesagt. Aber auch das stehe da: ›Wehe der Welt der Ärgernisse halber! Es muß ja Ärgernis kommen; doch wehe dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt!‹ Am Jüngsten Tage werde kaum die Frage danach sein, wie groß die St.-Lucas-Gemeinde gewesen sei, sondern vielmehr, wie viele aus ihr zur Rechten des Herrn stehen dürften. Gott möge ihnen allen schenken, so zu leben, daß ihnen diese Gnade zuteil werde!

Beret hatte sich gesetzt – in drückender Totenstille, die endlich dadurch gebrochen wurde, daß eine kräftige Männerstimme ausrief: »Wollen jetzt auch die Weiberleut anfangen, den Pastor zu spielen?« Und damit war das Unwetter aufs neue und mit unverminderter Stärke losgerast. – – Peder hätte aufspringen und dem Mann die Faust mitten zwischen die Augen pflanzen mögen! – Oles Gesicht war, während die Mutter sprach, garstig anzusehen gewesen. –

Der Wagen bog auf die heimische Hofreite ein. Noch war die Versammlung mit keinem Wort erwähnt worden. Beret stieg aus und sagte den Buben – als sei nichts Ungewöhnliches geschehen – sie möchten sich im Stall beeilen, das Essen sei sogleich fertig. – Permann solle die Schweine nicht vergessen.

Peder wollte jedoch erst noch beim Ausspannen helfen. Dabei würden die Brüder wohl bald dazu kommen, ein Wörtchen fallen zu lassen. Aber er kam dem Ole in die Quere; der schob ihn unsanft zur Seite: »Mach, daß du aus dem Weg kommst, und zwar schleunigst!«

Und so schlenderte denn der Peder zur Corncrib Corncrib = Maisspeicher.. Eine herausfordernde Frische lag heute im Nordwest; bald gab es Schnee, – dann konnte er auf Skiern zur Schule. Ein munteres Lied lag ihm in den Ohren, das einer von den Dreschknechten letzten Herbst immer und unablässig gebrummelt hatte:

Ein'n Kuß kriegt ich
Und gab dafür zwei,
Ha ha, tra la –
Und ich gab zwei;
Doch lag da mehr,
So nahm ich mehr,
Ha ha, tra la –
So nahm ich mehr!

Einen lustigen Schwung hatte das Lied. Jetzt trällerte es leise in seinen Ohren, und da fing er an, die Melodie zu pfeifen.

Vor dem Corncrib blieb er mit der Schaufel in der Hand stehen und stieß mit dem Fuß in die Maiskörner. – – Sie hatte wirklich gut gesprochen, das hatte sie. – – Wahr war alles, was sie gesagt. – Die Leut hatten zugehört, daß ihnen 's Maul offen stand, obgleich sie doch bloß ein Weib war! Merkwürdig, daß sie den Mut gehabt, so vor aller Augen, – sogar der Pastor hatte aufmerksam zugehört! – – Peder nahm eine Schaufel voll und warf sie in den Schweinetrog. – – War nicht die Spur schwer! – – Er stieß die Schaufel in die Maislade, nahm sie gehäuft voll, trug sie zum Trog und warf ab. – – Wenn er erst groß war, wollte er ihnen derart predigen – derart – ja derart also, daß jede Schnauz so schnurren mußte, wie er zwinkerte!

Die Gewalt des Nordwest schien noch zuzunehmen. Er trieb den feuchten Schnee vor sich her, daß er ins Gesicht biß. Peder schwenkte um die Stallecke herum, um zu horchen, was die Brüder trieben. Der Große-Hans lehnte im Pferdestall an der Tür. Peder sah ihn nicht sogleich; seine Aufmerksamkeit heftete sich auf Ole, der gerade redete – er hatte einen der Gäule aufgezäumt und führte ihn jetzt in den Stallgang. Die Brüder schienen sich gestritten zu haben.

»– – sie ist doch schon einmal verrückt gewesen, das weißt du so gut wie ich. So etwas kann wiederkommen. Das Gescheiteste ist, sie in die Anstalt zu bringen! – – Aber – sie hätte darum noch immer nicht nötig gehabt, uns vor der ganzen Siedlung bloßzustellen. So etwas ist nicht Verrücktheit allein!« Ole schnallte den Kopfriemen zu; sein Blick war hart.

Peder war auf der Schwelle stehengeblieben:

»Wo willst du hin?«

»Aus dem Weg mit dir!«

Als Peder nicht sogleich Platz machte, kam Ole hinter dem Pferd hervor:

»Verstehst du nicht, was man dir sagt?«

Der Große-Hans trat an den Bruder heran und sagte leise:

»Hör jetzt auf mich – das renkt sich alles noch wieder ein, du sollst sehen!«

»Hat gerad den Anschein!«

»Nimm dich doch ein wenig zusammen!« bat der Bruder wie in Angst. »Wir dürfen nicht vergessen, daß sie unsere Mutter ist!«

»Hat etwa sie heut daran gedacht, daß wir ihre Kinder sind?« – Oles Gesicht war weiß; die Hand, die den Zügel hielt, zitterte; er hob sie, als wolle er nach dem Bruder schlagen. – »Sagt sie etwas, kannst du ihr dies gern zum Gruß von mir bestellen!«

Damit führte er das Pferd hinaus, sprang auf und ritt davon.

Der Große-Hans warf einen Blick aufs Haus. Dann ging er zum Kuhstall, um in einer Kälberbucht sauber zu machen, für die er sich heut morgen nicht mehr Zeit gelassen. Peder kam ihm nach, mit so trockner Kehle, daß er nur mit Mühe reden konnte:

»Wo will er hin?«

Der Bruder schien ihn nicht zu bemerken; er ging in den Gang, nahm die Forke und fing an auszumisten.

»Hol du jetzt Stroh,« sagte er zu Peder, »damit wir hier einmal fertig werden.«

Peder mußte den Bruder angucken; denn es hörte sich an, als spräche der aus weiter Ferne, und das machte es nur noch schlimmer für ihn selber.

»Wo ist er hingeritten?«

»Er wollte hinunter zum Syvert. – – Jetzt hol das Stroh.«

»Warum ist er denn so wütend?«

»Das weiß er wohl selbst am besten!«

Peder holte eilig ein paar Armvoll Stroh und warf sie in die Bucht, meinte, es sei damit genug, und preßte sich die Frage ab:

»Kommt er denn nicht wieder?«

»Steh da nicht herum und schwätz Unsinn!« Der Bruder schlug nach einem Kälbermaul, das sich ihm genähert hatte, um zu lutschen.

»Das ist kein Unsinn, ich hab's doch gehört!«

Der Bruder richtete sich auf, er sah bedrohlich aus und herrschte ihn an: »Daß du mir nichts davon vor der Mutter sagst!« wurde dann sogleich freundlicher und streichelte das Kalb, das er geschlagen hatte: »Hol noch einen Armvoll, dann, glaube ich, reicht's.«

Peder kam mit dem Stroh herbei, warf es hinein und blieb abwartend stehen:

»Worüber ist er denn so zornig geworden?«

»Das geht uns nichts an. Daß du mir kein Wort darüber zur Mutter sagst!« – Peder fand diese Ermahnung garstig vom Bruder – ganz närrisch war er doch auch nicht.

Bald darauf traten die beiden zusammen in die Stube. Peder etwas hinter dem Bruder. Er hatte im Grunde noch ein bissel draußen bleiben wollen, wurde aber wie von einer unwiderstehlichen Gewalt hinterher gezogen. Er hatte die Vorstellung, daß die Mutter geschlachtet werden und sein eigener Bruder die Untat ausführen solle.

In der Küche brannte ein lustiges Feuer. Die Mutter rührte am Herd in einem Kessel, aus dem es überaus lieblich und anregend duftete. Sie hatte eine weiße Schürze mit einer Fransenkante vorgebunden – alles erinnerte an Feiertag und Feiertagsessen. – – Die Mutter sah ruhig, fast fröhlich aus. – Irgendeine Auslösung mußte Peder sich schaffen für das, was ihn fast abwürgen wollte, und so ging er zum Holzkasten, um nachzusehen, ob da nicht noch Platz für eine Armlast Kleinholz sei. – Der Bruder wusch sich bereits.

Da fing die Mutter an:

»Wo habt ihr denn den Ole gelassen?« Sie hob den Kessel vom Feuer.

Der Bruder säumte unerhört lange mit der Antwort. Alles, was Ole gesagt hatte, dröhnte in Peders Ohren.

»Er ist zum Syvert hinuntergeritten.« – –

»Kannst du mir sagen –!« Die Mutter blieb stehen und starrte ihn an. – – »Was wollt er jetzt dort?«

»Er wollt halt anfragen, ob er dem Syvert seine Farm abpachten könne,« gab der Große-Hans ruhig zur Antwort und hatte eine so sonderbare Stimme, daß Peder ihn anschauen mußte. Der Bruder sah aschgrau aus im Gesicht, die Züge waren gespannt.

Die Mutter trat dicht an ihn heran, den Kopf vorgestreckt, wie um besser zu hören; das Gesicht offen, ängstlich, fragend, wie bei jemandem, dem etwas Entsetzliches bevorsteht. Dann aber schloß es sich sogleich wieder in undurchdringlicher Traurigkeit.

»So wenigstens sagte er!« wiederholte der Bruder heiser. Die Mutter trat an das Fenster, das auf die Hofreite ging. Blickte lange hinaus. Sie schien alles um sich her vergessen zu haben.

Es wurde hörbar still in der Stube. Annemarie hatte sich in die Herdecke gesetzt und stocherte mit einem Stück Holz in einer Ritze des Holzkastens herum. Der Große-Hans lehnte an einer Wand. Peder hatte sich gerade fertig gewaschen und das Handtuch weggehängt; jetzt nahm er es wieder herunter und fing an, sich wütend das Gesicht trocken zu reiben.

Die Mutter kehrte sich zur Stube zurück und sah sich um wie einer, der aus schwerem Schlaf erwacht und im Traum viel Leid erlitten hat.

»Ich mein, wir sind nahe daran, die Mahlzeit zu vergessen?« sagte sie erstaunt, trat zum Herd und begann aufzuschöpfen. »Setzt euch nur jetzt gleich.«

Und als sie alles auf den Tisch gestellt hatte, hieß sie die Kinder anfangen und nicht auf sie warten, ging dann in die Schlafkammer und klinkte die Tür hinter sich zu. Nach einer Weile stand sie wieder in der Tür:

»Jetzt müßt ihr nur immer tüchtig zulangen! – Ich fühle mich heut elend am ganzen Körper. – Ich glaub, ich leg mich ein wenig.«

Sie ging in die Kammer zurück. Niemand erdreistete sich, nach ihr zu sehen. Peder aß, daß die Tränen ins Essen kullerten.

Aber nach einer kleinen Weile kam die Mutter wieder heraus und setzte sich auf den Stuhl neben dem Großen-Hans:

»Weißt du – es fällt mir ein, daß der Syvert und die Kjersti den ganzen Herbst schon kein schickliches Mahl bei uns genossen haben. Und jetzt haben wir plenty plenty = reichlich. von allem im Haus.« Sie unterbrach sich und sah den Großen-Hans fragend an. Es lag etwas Bittendes im Blick, wie in guten Hundeaugen. – »Ich mein, du gehst hinunter und bittest sie zu uns herauf? Sie sollen erst alles in der Wirtschaft besorgen, ehe sie kommen, dann brauchen sie nicht gar so bald wieder heimzugehen. – – Ja, was meinst du dazu?«

Der Große-Hans antwortete nicht. Sah auch nicht auf. Plötzlich erhob er sich, schob den Stuhl zurück und ging zur Wand, wo der Mantel hing; hier zögerte er einen Augenblick, ehe er ihn herunternahm.

»Ich geh unverzüglich,« sagte er und riß die Tür auf.

Draußen auf dem Treppenabsatz blieb er stehen und zog sich den Mantel über. – Die Mutter hatte doch fast nicht ihresgleichen in der Welt! – Der Wind biß so arg, daß er sich die Augen wischen mußte. – – Wenn er jetzt bloß den Bruder fand! – Das Gute bei dem war, daß die Wut nie lange vorhielt.

Die Mutter war wieder in die Kammer gegangen. Peder fühlte, daß er nicht imstande war, jetzt mit der Schwester allein zu sein; die fing ja bei dem geringsten Anlaß zu plärren an, – das jämmerliche Ding! Er zog sich geschwind etwas über, stampfte auf die Hofreite hinaus, blieb stehen und sah über den Weg. Bruchteile einer Melodie wiegten sich in ihm. Er fing sie ein und folgte ihnen und merkte nicht, daß es das Lied des Tambour-Ola war. – – Irgend was mußte er jetzt anstellen, und da ging er zu den Kälbern. Er lockte das Saugkälbchen heran, gegen das der Bruder so grob gewesen. Es hatte ein weißes Dreieck auf der Stirn; der Schwanz endigte in einer weißen Quaste; das Maul fühlte sich warm und weich und schön an. Ein unbändiger Drang, gut zu jeglicher Kreatur zu sein, stieg in ihm auf. Ehe er sich versah, stand er in der Bucht und liebkoste das Kalb. Ohne ein bissel Geplauder ging es dabei nicht ab, und da ließ er das Singen.

Bald darauf trieb er sich wieder auf der Hofreite herum. Fand keine Ruhe. Heute war's gar so sonderbar zu leben, in ihm lachte und weinte es zu gleicher Zeit. Jetzt hätte er so richtige Lust zu jeglicher großartigen Mannestat gehabt! Und da ihm rein gar nichts einfiel – nichts wenigstens, was so recht was ausgegeben hätte, ging er ins Haus und nahm die Bibel vom Wandbrett. Die legte er auf den Küchentisch und machte sich ans Lesen. – – Jetzt wollte er gerad vom Anfang beginnen und nicht eher aufhören, als bis er sie durchgelesen hatte – dann sollte die Mutter einmal einen Buben sehen, der brav war!


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