Wilhelm Heinrich Riehl
Rheingauer Deutsch
Wilhelm Heinrich Riehl

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Zweites Kapitel.

Wenn ein Rheingauer seinem Gast die höchste Ehre erweisen will, so führt er ihn nicht obenhinauf in die Staatsstube, sondern hinunter in den Keller.

So machte es auch der Schultheiß mit dem Leiblakaien. In dem Keller lagen 60 Stückfaß Wein aus den besten Rheingauer Lagen, denn Rauenthal war damals ein Hauptplatz des Weinhandels und der Schultheiß nicht bloß ein Winzer, sondern auch ein Weinhändler. Hätte er die 60 Stückfaß auf den Rücken packen können, so würde er vielleicht für einige Zeit außer Landes gegangen sein, bis die Geschichte mit dem Deutschmeister verraucht gewesen wäre; allein so vielen und guten Wein kann man doch nicht im Stich lassen.

Er nahm eine Laterne mit in den Keller und einen Pack Lichtstümpfchen, falls die Sitzung länger dauern sollte, dazu einen Stechheber und einen Teller mit Schwarzbrot und Handkäse. Essen und Trinken ist zweierlei, und wer kunstgerecht trinken will, der darf nicht viel essen.

Unten angekommen fragte er zunächst den Gast um seinen Namen.

»Ich schreibe mich Ulrich Mottinger. Allein mein gnädiger Herr kam einmal auf den Einfall, mich Kastor zu rufen, und so heißt mich denn auch alle Welt Herr Kastor. Das ist eigentlich ein Hundename. Ihr wißt vielleicht noch nicht, daß es vornehm ist, solche unsinnige Einfälle zu haben; man nennt dergleichen une fantaisie.«

Der Schultheiß füllte zwei Gläser mit Erbacher Siebener, einem jungen Mittelwein – so bloß zur Einleitung – und wollte wissen, was der Deutschmeister heute noch über ihn gesprochen habe. Kastor machte ihm die Hölle heiß; der Fürst sei bei Tafel immer noch vor Zorn ganz außer sich gewesen.

»Der Erbacher ist zu herb und hitzig«, unterbrach ihn sein Wirt, und hob zwei Gläser Markobrunner 1700er mit dem Heber aus dem Fasse, der war schon recht firn und trank sich beruhigender. »Und jetzt sagt mir Euren Plan, Herr Kastor, wie ich vor dem gnädigen Herren zu einer Aussprache kommen soll.«

Der Leiblakai berichtete nun, er habe das Ohr des Mundschenken, der Mundschenk das Ohr des Leibjägers, der Leibjäger das Ohr des Oberststallmeisters und dieser das Ohr des Fürsten. Morgen früh wolle er ihn beim Mundschenken einführen, dann könne er sich durch diesen hinaufsprechen zum Leibjäger, durch diesen zum Oberststallmeister und endlich durch den Oberststallmeister zum Fürsten. »Allein das ist des Aussprechens zu viel«, meinte der Schultheiß, »denn bis ich mich zum Deutschmeister hinaufgesprochen habe, der sich dann auch noch gegen meinen Kurfürsten wird aussprechen müssen, sitze ich längst im Loch. Könnte man den Umweg nicht etwas abkürzen?«

»Umwege, lieber Freund«, erwiderte Herr Kastor lehrhaft, »führen in dieser Welt mehrenteils am kürzesten und sichersten zum Ziele. Ich nehme ein Beispiel aus dem Bereiche Eurer Anschauung. Wenn ich etwa von Schlangenbad zum Rheine gehen wollte und nähme meinen Weg nordwestwärts hinter dem Rabenkopf und Hirschsprung her nach Kiederich und von dort südwestlich querfeldein nach Erbach, so wäre das wohl ein großer Umweg?«

»Ein ganz unsinniger Umweg«, bejahte der Schultheiß. »Aber ich sehe nicht ab, wo Ihr da hinaus wollt, betreffs meiner Aussprache?«

»Das wird sich ganz zuletzt zeigen. Betrachten wir aber zunächst diesen Umweg noch etwas genauer.« Und nun begann der Lakai seinen Wirt über allerlei Stellen dieses Weges auszufragen, der ihm obenhin bekannt zu sein schien, doch nicht vollkommen. Der Schultheiß gab ehrlich Bescheid. Da sich aber der Frager ganz in seinem Gleichnis des Umwegs nach Erbach verlor und gar nicht mehr auf den rechten Weg zu bringen war, nämlich auf den Weg zum Deutschmeister, so lupfte der ungeduldige Wirt den Spund eines neuen Fasses: »Winkler Neunundneunziger!« rief er, »vom Fuße des Johannisbergs, geht im Handel für Johannisberger; man muß ihn mit Verstand trinken!«

Der neue Wein brachte auch ein neues Gespräch. Der Leiblakai ließ sich vom Schultheißen mit dem Weine einheizen, heizte diesem dafür nun aber um so stärker wiederum ein mit Schreckbildern von Zorn, Ungnade und Strafe seines Kurfürsten.

»Der Kurfürst darf auch nicht alles, was er will«, entgegnete der Schultheiß trotzig. »Wir Rheingauer sind gefreite Leute und haben unser eigenes Landrecht. Aber freilich steht das mehr nur noch in der Chronik, und das Herrenrecht gilt in der Wirklichkeit.«

»Wenn Ihr ein so gutes Recht habt«, sagte der Lakai mit lauerndem Blicke, »dann solltet Ihr Euch auch darauf steifen; behandeln Euch die Fürsten schlecht, so zahlt ihnen mit gleicher Münze!«

»Oho!« rief der Schultheiß staunend. »Aus welchem Tone sprecht Ihr da? Mir scheint, mein Wein ist Euch zu stark.«

»In der Tat zu stark!« lallte der Diener und stellte sich angetrunkener, als er war. Das durchschaute der Schultheiß gar wohl, denn er hatte nicht bloß eine Kennerzunge für die Weine, sondern auch einen Kennerblick für die Räusche. »Sollte der Bursche mich vielmehr ausspionieren und ins Verderben stürzen wollen statt mir zu helfen und zu raten?« Aber es schien ihm dann doch unmöglich, daß einer so falsch sein könne zum Dank für so echten Wein.

»Euer Wein ist zu stark! Kehren wir lieber zum Wasser zurück, das heißt in Gedanken, ich meine zum Rheine bei Erbach, und zu unserm Umweg.« Und nun fragte Kastor den Schultheiß aus, ob wohl Kähne genug in Erbach lägen, um die ganze vornehme Badegesellschaft, so etwa fünfzig Personen, ans linke Ufer überzusetzen. Der Schultheiß bemerkte, daß die Erbacher nur elende Dreiborde hätten, sogenannte Seelenverkäufer, ganz ungeeignet, fürstliche Personen zu tragen, während eine kurze Strecke rheinaufwärts in Eltville zwei prächtige große Schiffe des Kurfürsten den Herren ohne Zweifel zur Verfügung ständen. Allein der Lakai kam immer wieder auf die Erbacher Dreiborde und ihre Zahl und meinte, es sei wohl ein unsinniger Einfall, wenn die Herrschaften dort überführen, das sei übrigens nun einmal gerade wie mit dem Namen Kastor – une fantaisie.

»Stellst du dich dumm«, dachte der Schultheiß, »dann will ich dich gescheit machen, und spiegelst du mir einen Rausch vor, dann sollst du auch einen wirklichen Rausch kriegen!« Mit diesem Vorsatze schritt er zu seinem Hauptfasse, dem Rauenthaler Sechsundneunziger, und füllte zwei Gläser.

»Dies ist der edelste Wein!« sprach er feierlich und hielt das große Glas gegen das Licht. »Er hat Blume, Feuer, Kraft, und ist doch so mild und zart, ein Lebenswecker und Erhalter, die wahre Muttermilch für Erwachsene, lac maternum, wie der Lateiner sagt, denn Ihr müßt wissen, ich habe drei Jahre in Mainz Lateinisch gelernt. Es ist eine sehr schöne Sprache.«

»Lait maternel, sagt der Franzose, und ich glaube, Französisch ist noch viel schöner«, so prahlte der Lakai.

»Könnt Ihr Französisch?« fragte der Schultheiß.

»Perfekt! Jeder höhere Lakai kann Französisch; aber die Herrschaften dürfen's nicht wissen; denn wenn sie sich etwas sagen wollen, was wir nicht verstehen sollen, so reden sie untereinander französisch, und wir verstehen's dennoch. Aber nur nicht merken lassen!«

»Die Bedienten sind doch nicht immer ganz so gute Menschen, wie ich vor einigen Stunden geglaubt habe«, brummte der Schultheiß in den Bart. Der Lakai fuhr fort, die französische Sprache und die Franzosen zu rühmen. »Was seid Ihr denn eigentlich für ein Landsmann?« warf der Schultheiß zwischen diese Lobrede ein. »Ich bin Weltbürger, obgleich aus Schwabach gebürtig. Aber ich habe schon in der halben Welt gedient, und vor einem Jahre nahm mich der Deutschmeister als Leiblakai in Dienst, wegen meiner Talente.«

Der Schultheiß nötigte zu immer stärkerem Trinken, und Kastor entwickelte auch nach dieser Seite in der Tat ein staunenswertes Talent. Beide sprachen dabei fortwährend übers Kreuz; denn jeder wollte von dem andern etwas anderes wissen. Kein Wunder, daß es dem Lakaien zuletzt schwindelte.

»Das kommt daher, weil Ihr auf dem Estrich des Kellerbodens steht«, belehrte der Schultheiß und schob Kastor ein Brett unter die Füße. »Es ist eine alte Küferregel, daß man sich beim Trinken im Keller stets auf ein Brett stellen soll, dann wirft einen der stärkste Wein nicht um. Wir nennen es das Rettungsboot der Schiffbrüchigen.«

»Und jetzt stehe ich wieder fest wie ein Grenadier!« rief der andere, sich auf dem Brette balancierend. »Aber Freund! Du brauchst den Deutschmeister gar nicht so um Gottes willen zu bitten. Morgen um diese Zeit wird er von selbst sehr mild und freundlich sein, sehr höflich! Laß mich nur machen! Sacrebleu!« und er lachte hell auf, verlor aber das Gleichgewicht und zog es nun vor, auf dem Rettungsbrette zu sitzen.

Sein gläserner Blick belehrte den Schultheißen, daß der Mann nunmehr im Ernste betrunken sei.

Er fragte nach der Uhr: – es war Mitternacht. Aber der Schultheiß redete ihm ein, daß die Glocke eben erst neun geschlagen habe. Dann zählte der Trunkene an den Fingern von neun bis drei Uhr. »Nur noch sechs Stunden!« rief er. »Eine kurze Frist! Ich muß fort.«

Sein Wirt aber behauptete, sie hätten sich ja noch gar nicht recht ausgesprochen, und brachte einen neuen Wein, einen ganz jungen feurigen Rauenthaler aus der besten Lage.

Nach etlichen tiefen Zügen erkannte Kastor den Schultheißen nicht mehr und begann französisch zu reden, untermischt mit abgebrochenen deutschen Sätzen. »Die Hintertüre steht offen – ich werde Euch führen – jetzt zur Türe links – da schläft der Oberststallmeister – und dann rechts der Fürst – er hat nur einen Jäger im Vorzimmer – leise, daß er nicht aufwacht! – die Pistolen an der Wand sind geladen.« Dann kamen wieder französische Sätze.

Der Schultheiß lauschte bestürzt. Er hätte hundert Gulden draufgezahlt, wenn er sein Latein jetzt geschwind gegen Französisch hätte vertauschen können. Zwischen den französischen Worten verstand er nur noch die deutschen: »Rabenkopf, Hirschsprung, Kiederich, Erbach; doch nein! das ist ja der falsche Weg!« Dann redete aber der Lakai mit sich selbst etwas leiser und nun wiederum in deutscher Sprache: »Fünfhundert Livres! – ein Lumpengeld, wenn man den Galgen riskiert!«

Jetzt hatte der Schultheiß seinen Entschluß gefaßt. Wenn der Lakai auch ihn nicht zur Aussprache hatte kommen lassen, so hatte er sich selber doch nunmehr genügend ausgesprochen. »Ihr seid etwas betrunken, Freund!« schrie er ihm laut ins Ohr und rüttelte ihn, »Ihr müßt wieder nüchtern werden! Nehmt noch ein Glas von diesem Wallufer, es ist ein ganz leichter Kutscherwein, ein bloßer Groschenburger, – der kühlt und erweckt! Alle Küfer trinken sich zuletzt wieder nüchtern daran. Allein ihr müßt das ganze Glas auf einen Zug leeren.« Und nun füllte er ein großes Wasserglas, aber nicht mit dem Groschenburger, sondern mit seinem stärksten Weine, dem Sechsundneunziger.

Er betrachtete schwermütig die Fülle des edlen Getränkes und sagte leise für sich: »Dieses Opfer bringe ich dem Deutschmeister, der mich verfolgt und nicht einmal anhören will!« und reichte das Glas dem Lakaien, der es auf einen Zug austrank.

Die Wirkung war blitzartig: lautlos brach der starke Mann zusammen, fiel der Länge nach auf den Estrich und blieb steif wie ein Toter liegen.

Nun packte ihn der Schultheiß auf, rief seinen Knecht und ließ den Trunkenen ins Gemeindegefängnis schleppen, welches gleich hinterm Hause mit den Schweineställen unter ein Dach gebaut war. Dort konnte er wohlverwahrt seinen Rausch ausschlafen; den Schlüssel aber steckte der Schultheiß selber in die Tasche und sprach zum Knecht, denn er mußte immer sprechen: »Michel, den Kerl habe ich besiegt! Im Keller bleibt der Rheingauer alleweil Meister; wäre ich mit dem Weltbürger über der Erde zusammengetroffen, so würde er wahrscheinlich umgekehrt mich über den Löffel barbiert haben.«

Dann lief er zum Staunen des Knechtes stracks hinunter nach Schlangenbad. Im Laufen aber legte er sich aus dem eben Erlebten folgende Geschichte zurecht: Man wollte ohne Zweifel noch vor Tagesanbruch den Deutschmeister berauben oder gar ermorden, und der Lakai spielte dabei den Kundschafter und Verräter. Er hatte ihn ausforschen und durch das Gerede von dem Umweg über Kiederich auf eine falsche Fährte locken wollen; vermutlich beabsichtigten die Räuber, ihre Flucht in entgegengesetzter Richtung in die Taunuswälder zu nehmen. Aber der Streich mußte verhindert werden; bei so dringender Gefahr mußte ihm der Deutschmeister augenblicklich Audienz geben, zur Not im Bette, und als Anhang konnte er sich dann auch gleich über seine eigene Sache aussprechen.

Durchdrungen von der Wucht des Momentes erreichte er Schlangenbad, welches damals nur aus wenigen, einsam im Walde gelegenen Häusern bestand, und klopfte seinem Gevatter, dem Burggrafen, so stark ans Fenster, daß die Scheibe klirrend in die Stube fiel, und der erschrockene Mann im Hemde herbeisprang und rief: »Wo brennt's?«

Der Schultheiß beschwichtigte ihn und sagte, er begehre nur ganz stillen Einlaß, er habe dem Deutschmeister höchst Wichtiges mitzuteilen. Der Burggraf glaubte, sein Gevatter habe aus Angst den Verstand verloren und belehrte ihn, daß die Herrschaften mitternachts keine Audienzen erteilten. Im übrigen möge er sich aus dem Staube machen; denn die Fürstlichkeiten hätten beim Billard höchst erzürnt von dem Bauernpack gesprochen, welches das Regiment kritisiere und über Krieg und Frieden, Kaiser und Reich räsoniere, und vom bösen Geiste der Zeit, welcher unterdrückt werden müsse, auch sei eine reitende Stafette nach Mainz gegangen – – »Über diese alten Geschichten will ich mich zunächst gar nicht aussprechen, sondern erst hintendrein«, unterbrach ihn der ungeduldige Schultheiß. »Aber es ist ein Komplott im Werke gegen den Pfalzgrafen; der Leiblakai hat mir's vorhin verraten –.«

»Der Leiblakai? Wo steckt der? Wir suchten ihn den ganzen Abend.«

»Ich habe ihn arretiert.«

»Unglücksmensch!« rief der Burggraf, »was hast du da wieder angerichtet! Am Morgen arretierst du den Fürsten und am Abend seinen Leiblakaien –«

»Und wenn diese Raubgesellen nicht gleichfalls arretiert werden, und zwar vor Tagesanbruch«, fiel der Schultheiß ein, »dann gibt's ein großes Unglück. Aber wir müssen erst wissen, wer sie sind.«

»Jetzt arretiert er gar im voraus Leute, die er noch gar nicht kennt!« rief der Burggraf. »Ich fürchte, ich fürchte, Gevatter, der Nächste, welcher arretiert werden wird, bist du selber. Wieviel Flaschen hast du denn heute nacht getrunken?«

Der Schultheiß versicherte, daß er in seinem Keller nur ein Dutzend Fässer geprobt habe mit dem Leiblakai und noch ganz nüchtern sei; zur Bekräftigung aber fuhr er so heftig mit dem Arm aus, daß er das Gleichgewicht verlor und sich an der Mauer halten mußte.

Da schlug der Burggraf das Fenster zu und schickte ihn unter Scheltworten nach Hause, daß er seinen Rausch ausschlafe. Trotz allen Protestierens blieb dem ehrlichen Schultheißen zuletzt nichts übrig, als sich einstweilen zu gedulden. Laut mit sich selber redend und leidenschaftlich gestikulierend ging er das Schlangenbader Tal hinab und setzte sich in eine verlassene Wächterhütte am Wege, von wo er die Badehäuser im Auge behalten wollte.

Allein die Müdigkeit und der geprobte Wein übermannten ihn, und er fiel in tiefen Schlaf.


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