Wilhelm Heinrich Riehl
Rheingauer Deutsch
Wilhelm Heinrich Riehl

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Wilhelm Heinrich Riehl

Rheingauer Deutsch


Erstes Kapitel.

Von 1708 auf neun war der kalte Winter, der kälteste des Jahrhunderts. Tausend Menschen gingen elend zu Grunde, die Vögel fielen tot aus der Luft, das Wild erfror im Walde, durch lange Wochen konnte man bei Mainz mit vierspännigen Frachtwagen über den Rhein fahren. Dann brachte plötzliches Tauwetter den verwüstenden Eisgang, ein voreiliger Frühling lockte die Knospen und Blätter aus den Bäumen, allein der laue Südwest wurde im Mai wieder durch eisigen Nordsturm zurückgeschlagen, das grünende Laubholz erfror, und noch im Juni und Juli sah man auf weite Strecken den Buchenwald braun mit verdorrten Blättern, zwischen denen sich kümmerlich die neuen Keime hervordrängten.

Armut und Elend herrschten überall in Deutschland und Frankreich. Dennoch waren viele Leute dieses Jammers im stillen froh; denn sie dachten, wenn Gott die Menschen so schwer züchtige, dann würden sie wenigstens für dieses Jahr Vernunft annehmen und nicht fortfahren, sich freventlich untereinander totzuschlagen, die kargen Saaten zu zertreten und Dörfer und Städte niederzubrennen. Man hoffte, die Not werde Frieden gebieten, nach welchem vorab die deutschen Reichslande seufzten.

So dachten die Bauern, aber die Könige dachten nicht so. Ludwig XIV. konnte die Niederlagen nicht verschmerzen, welche ihm Eugen und Marlborough in den letzten Jahren beigebracht, und die Friedensbedingungen seiner verbündeten Gegner trieben ihn zur Verzweiflung. Im Haag verhandelten die Diplomaten den Frieden, aber von Versailles aus rüstete man den Krieg, und ehe die Deutschen sich's versahen, rückten 45 000 Franzosen an den Oberrhein. Dies geschah im Juni: der deutsche Reichstag war damals gerade bis zu dem Beschluß gekommen, daß die älteren Reichsbeschlüsse betreffs der Kriegsanstalten erneuert werden sollten. Im Juli ging der französische Marschall Harcourt über den Rhein und plünderte das Kinzigtal. Die Reichsstände berieten noch immer. Anfangs August stand endlich eine schwache Reichsarmee in der Pfalz »mit einigen Kriegsbedürfnissen ausgerüstet«, allein der Oberbefehlshaber ließ noch etliche Tage auf sich warten, so daß die Deutschen genau zwei Monate nach dem Aufmarsch der Franzosen denselben schlagfertig – aber um ein Drittel schwächer! – gegenübertraten.

Für die meisten deutschen Reichsstände lag ja die Kampfbühne des Oberrheins so viele Meilen entfernt, da konnten sie also einstweilen ruhig zusehen, ob sich die »Kriegsvölker« an den Weißenburger Linien schlagen würden oder vielleicht erst bei Mainz oder Koblenz oder sonstwo dort hinten.

»Erschallt in der Nachbarschaft Feuerruf, dann dreht man sich im Bette um und fühlt mit der Hand, ob die Wand schon warm wird; ist sie noch kalt, dann schläft man ruhig weiter«; – so sagte der Schultheiß Anton Kayser von Rauenthal und dachte dabei an die Fürsten und Herren, welche im Anfang Juli des Jahres 1709 in dem benachbarten Schlangenbad noch ganz vergnüglich badeten, schwelgten und schwärmten. Schlangenbad und Rauenthal liegen an den Pforten des Rheingaues, und also war der Krieg noch volle dreißig Stunden Wegs von dort entfernt.

Dieser Schultheiß, ein merkwürdiger Mann und weit und breit bekannt, weil er gleich schlagfertig war mit dem Worte wie mit der Faust, ging am Nachmittage des 12. Juli in die Weinberge seiner Gemarkung. Da sah er einen fremden Menschen, welcher in einen Wingert stieg und sich dort von einem Kirschbäumchen eine Gerte schnitt, um seinen kleinen Hund zu strafen, der offenbar schlechten Appell gezeigt hatte.

Der Schultheiß schlich sich ganz sachte seitwärts heran, bis er so nahe gekommen war, daß ihm der Baumfrevler nicht mehr entwischen konnte; dann trat er mit rascher Wendung vor denselben und rief: »Heda! Landsmann!«

»Ich bin Euer Landsmann nicht«, entgegnete kaltblütig der Fremde.

»Es ist auch nur so eine Redensart. Wäret Ihr kein Fremder, sondern ein Hiesiger, so wüßtet Ihr, daß ich Euch pfänden müßte.«

Statt aller Antwort prüfte der Fremde die Gerte und sie schien ihm zu dünn, denn er schnitt sich stracks einen zweiten stärkeren Zweig herunter.

Der Schultheiß legte ihm die Hand auf die Schulter und rief: »Jetzt pfände ich Euch wirklich. Ihr geht mit mir nach Rauenthal!«

»Die Hand hinweg!« gebot der Fremde. »Ich bin der Deutschmeister!«

»Bei diesem Meister habe ich noch nicht arbeiten lassen. Ihr folgt mir!«

»Ich bin Pfalzgraf von Neuburg.«

»Da werdet Ihr wohl so ein Graf sein wie mein Gevatter dort unten im Bade, der verwaltet das kurfürstliche Badehaus, drum heißt er der Burggraf von Schlangenbad.«

»Hütet Euch, mich anzutasten: ich bin ein Reichsfürst!«

»Hütet Euch, mir Widerstand zu leisten: ich bin der Schultheiß von Rauenthal!«

Der Fremde lachte und brummte etwas von dummem Bauernkerl. Da schlug der Schultheiß, in seiner Ehre als gebildeter Rheingauer gekränkt, plötzlich einen ganz andern Ton an und sprudelte mit ungeheurer Geläufigkeit die Sätze heraus: »Es gibt auch Leute, die keine Bauern und doch so dumm sind, daß sie nicht einmal Spott verstehen. Ich bin nicht hinter der Kuhherde aufgewachsen. Meint Ihr, ich wisse nicht, was quousque tandem Catilina heißt? Meint Ihr, ich wisse nicht, daß Seine hochfürstliche Durchlaucht der Herr Hoch- und Deutschmeister, zur Zeit aus dem pfalzgräflichen Hause Neuburg, in Mergentheim residiert und nach den drei geistlichen Kurfürsten der vornehmste geistliche Fürst des Reiches ist? – Unterbrecht mich nicht! – Ich weiß auch recht gut, daß der hohe Herr gegenwärtig da drunten im Bärstadter Bade sitzt, welches man neumodischerweise das Schlangenbad nennt. Ich habe ihn ausfahren sehen, vierspännig, einen Läufer voran, Lakaien vorn und hinten, und seinen Oberststallmeister zur linken Seite, der selbst von Adel ist. So ein Herr sieht ganz anders aus wie Ihr und läuft nicht allein in den Weinbergen herum.«

Der Fremde lächelte über diese ungeahnte Weisheit. »Und was würdet Ihr sagen, wenn ich nun dennoch der Deutschmeister wäre?«

»Was ich sagen würde? Ich spräche in aller Höflichkeit: Hochfürstliche Durchlaucht! Statt im Schlangenwasser zu baden, um eine weiße Haut zu kriegen wie die Frauenzimmer, tätet Ihr gescheiter, zu Pferde zu steigen und all Eure Ritter aufsitzen zu lassen, falls sie vor Fett noch ordentlich reiten können, und nach den Weißenburger Linien zu reiten oder nach Ettlingen oder Kehl, wo es jetzt etwas Ritterliches zu tun gibt; oder noch besser, Durchlauchtiger Herr, Ihr ginget zum Kurfürsten von Hannover, dem Generalissimus, und ersuchtet ihn, seinen Abzug ins Hauptquartier zu beschleunigen; oder am besten, gnädigster Herr Pfalzgraf!« – er machte bei diesen Anreden jedesmal einen spöttischen Diener gegen den Fremden – »Ihr griffet in Euern Ordensschatz, den andern Fürsten und Ritterschaften zum Exempel, und verhülfet der Reichskriegskasse ein wenig zu Geld, denn das fehlt dem Reich am meisten, wie wir singen:

Es schickt Soldaten in das Feld
Ohne Brot und ohne Geld.

Dies und vieles andere würde ich ungefähr dem Deutschmeister sagen, aber ohne alle Grobheit.«

Der Fremde rümpfte die Nase und rief: »Will das Bauernvolk heutzutage hoch hinaus! Wißt Ihr gar schon, daß wir Krieg haben und kein Geld in der Reichsoperationskasse, und rechnet den Fürsten vor, wie sie ihre Zeit verwenden sollen!«

»Weil wir den badenden Durchlauchten das Bad bezahlen müssen, wenn der Franzose hierher kommt. Übrigens sind wir Rheingauer keine Bauern, sondern Winzer, wir sind freie Leute, wenn auch Kurmainz untertan, und haben unser Bürgerrecht so gut wie die Frankfurter und Kölner. Und wir Rauenthaler sind nicht die Schlechtesten im Rheingau, und ich bin der Schultheiß von Rauenthal!«

Sie waren inzwischen aus dem Weinberg getreten. Der Fremde, ein großer Mann, ging langsamen Schrittes, der Schultheiß, klein, doch stark gebaut, eilte vorwärts, hielt aber dann immer wieder zurück, damit ihm der Baumfrevler nicht auskomme.

»Wie lange wollt Ihr noch mit mir gehen?« fragte dieser endlich.

»Ihr geriet ja mit mir!« entgegnete der Schultheiß.

»Wollt Ihr mich etwa zwingen?« rief der andere finster und schlug an seinen Hirschfänger.

Der Schultheiß erhob seinen Stock. »Rühret das Messer nicht an! Ein Pfiff, und ich habe Hilfe genug; die Weinberge stecken voll Rauenthaler« – »wenn's wahr wäre!« ergänzte er leise. Denn er mußte seine Gedanken immer aussprechen, sei es nach außen oder nach innen.

Jetzt gelangten sie ins freie Feld, wo der Weg links nach Schlangenbad, geradeaus nach Rauenthal abzweigte. Der Fremde wandte sich links, aber der Schultheiß fiel ihm in den Arm und zog ihn derb auf den Rauenthaler Weg. Entrüstet griff jener nach seiner Waffe, doch im Nu sprang der Schultheiß drei Schritte zurück, holte mit seinem Stocke weit aus, hieb dem Fremden über den Arm und entwand ihm den Hirschfänger.

»Infamer Kerl!« rief dieser. »Gib mir die Waffe wieder! Es war nur Spaß, nur etwas flache Klinge für deine Unverschämtheit.«

»Ich habe auch nur im Spaß geschlagen: wenn ich scharf dreinfahre, dann sitzt der Hieb ganz anders. Es war auch nur für die Unverschämtheit. Ihr folgt mir nach Rauenthal.«

Der Fremde wußte nicht, ob er sich schämen, ob er zürnen oder lachen solle, widerstreben oder folgen. Wie ein Paar Kampfhähne standen sich beide eine Weile beobachtend gegenüber; der kleine Hund mitten inne, knurrend und bellend, fuhr dem Schultheiß gegen die Waden.

Da sah sich die seltsame Gruppe mit einemmal von einer zahlreichen Gesellschaft von Herren und Damen umringt; sie waren unbemerkt den Schlangenbader Weg heraufgekommen und begrüßten den Arrestanten des Schultheißen, staunend und lächelnd, mit tiefen Bücklingen, sie redeten ihn mit »Durchlaucht« an, und bei den weiteren Begrüßungen und Anreden flogen die »Prinzen«, »Grafen« und »Gräfinnen« nur so herüber und hinüber, und der unterste von der Gesellschaft schien ein Baron zu sein.

Dem Schultheiß schlug das Wort »Durchlaucht« wie ein Blitzstrahl durch den ganzen Leib: also war das doch der Deutschmeister, den er hatte pfänden wollen! Er stand, wie er nachher sagte, ganz »verdattert« und vermochte es gar nicht zu fassen, daß ein Mensch im Wagen und mit Bedienten so ganz anders aussehen könne als zu Fuß und ohne Dienerschaft.

Die Freunde, welche den Deutschmeister aus seiner wunderlichen Lage befreiten, waren lauter Badegäste: der junge Fürst von Taxis, Prinz Friedrich von Mecklenburg, Graf Bernhard von Solms-Braunfels mit Damen und Gefolge, der Geringeren gar nicht zu gedenken. Von öfterem herzlichem Lachen unterbrochen, erzählte ihnen der entwaffnete Pfalzgraf sein Abenteuer mit dem Schultheißen, während zwei Lakaien den armen Teufel beiseiteschoben und ihm die blanke Waffe wieder abnahmen. Er ließ aber alles willenlos geschehen, denn Hören und Sehen war ihm vergangen, und es war ihm die ganze Zeit, als träume er und ringe mit dem Aufwachen.

Da vernahm er plötzlich, wie der Deutschmeister die Worte »Flegel« und »Lümmel« im Text seiner Erzählung kraftvoll betonte, und er wachte auf wie ein Nachtwandler, der sich beim Namen rufen hört, und als er nun gar noch das Wort »Bauernübermut« deutlich verstand, da kam er wieder ganz zu sich selber, und gleich als wolle er den Deutschmeister zum zweitenmal packen, sprang er auf; aber die Bedienten rissen ihn zurück.

»Ich muß mich aussprechen!« rief er. »Ich bin grob gewesen, aber ich habe doch recht gehabt und bin leider nur an den Unrechten gekommen. Ich bin der Schultheiß von Rauenthal.«

Allein er ward von festen Armen zurückgehalten, und die Herrschaften gingen lachend ihres Weges, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. So blieb denn zuletzt auch ihm nichts übrig, als dem Bedeuten der beiden Diener zu folgen und gleichfalls seines Weges zu gehn, fast erstickend an der verhaltenen Aussprache.

Da winkte ihm aber einer dieser Leute, welcher geflissentlich ein wenig zurückgeblieben war – der Leiblakai des Deutschmeisters.

»Herr Schultheiß«, sprach er leise, scheu umherblickend, »Ihr habt Euch eine schöne Suppe eingebrockt!«

»Und was werde ich denn kriegen?« flüsterte der sonst so laute Mann.

»Das will ich Euch sagen: mein gnädiger Herr wird sofort eine reitende Stafette an Euern Kurfürsten nach Mainz schicken, und dann werdet Ihr abgesetzt und eingesperrt und könnt das weitere abwarten.«

»Das wird nicht geschehen!« rief der Schultheiß mit mächtiger Stimme, und er war wieder ganz der Alte. »Heute abend noch geh' ich hinunter ins Bad und nehme eine Audienz bei Euerm Herrn. Recht muß Recht bleiben! Wenn ich mich nur erst einmal gründlich aussprechen kann, dann wird ihm alles klar werden. Er ist ein Fremder und hat vorhin mein Rheingauer Deutsch nicht verstanden.«

»Man wird Euch nicht vorlassen«, entgegnete der Lakai sehr kaltblütig.

Der Schultheiß schlug sich vor die Stirn. Hatten ihn hier oben zwei handfeste Bediente vom Aussprechen abgehalten, so konnten ihn da unten allerdings sechs vor die Türe werfen.

»Aber es ginge doch wohl«, flüsterte dann der Leiblakai, nachdem er ihn eine Weile hatte zappeln lassen. »Ich könnte vielleicht eine Audienz einfädeln, nur müßte ich vorher die Sache genauer mit Euch beraten. Um acht Uhr bin ich dienstfrei, da komme ich in Euer Haus.«

Der Schultheiß war ganz glücklich über diese Aussicht; konnte er sich dann doch wenigstens zunächst gegen den Lakaien aussprechen! Und er verhieß ihm einen Tropfen Rauenthaler Sechsundneunziger, wie er seiner Lebtage noch keinen getrunken haben werde.

Der Bediente eilte zu den Herrschaften zurück; der Schultheiß aber ging einigermaßen getröstet nach Hause und sprach, seinem Tröster nachblickend: »Heilige Muttergottes von Kiederich! Was doch die Herren für böse Leute sind, und was für gute Menschen sind die Bedienten!«


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