Emil Alphons Rheinhardt
Das Abenteuer im Geiste
Emil Alphons Rheinhardt

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Das Abenteuer im Geiste

Rudolf Feiler, ein junger Mann, der in der Großstadt bei bescheidenem Auskommen sich mit vielerlei Studien beschäftigte, erhielt eines Tages die Nachricht, daß er eine beträchtliche Erbschaft gemacht habe, die ihm eine ihm kaum bekannte Anverwandte seines lange gestorbenen Vaters zugewendet hätte. Die gerichtliche Zusprechung, die vorläufig noch auf einige Schwierigkeiten stoße, würde in einer nicht allzufernen kleineren Stadt erfolgen, in deren Nähe die Verstorbene gewohnt hatte und wo der vererbte unbewegliche Besitz gelegen sei.

Der Erbe entschloß sich, die Stadt aufzusuchen, und langte an einem schönen Herbstnachmittage dort an. Er begab sich sogleich zu einem Advokaten, trug ihm das wenige, das er von seiner neuen Angelegenheit wußte, vor und wurde von ihm zu Gericht geführt, wo sie erfuhren, daß die Sache sich verzögere, weil das Testament von einer noch entfernteren Verwandten angefochten worden sei. Nach kurzer Einsicht in die Akten riet der Anwalt, Rudolf Feiler solle, wenn sein Beruf es ihm erlaube, sich einige Zeit in der Stadt aufhalten oder zum mindesten öfters kommen. Sein Beruf verbiete ihm keineswegs, hier 102 Aufenthalt zu nehmen, äußerte sich Feiler nach wenigem Bedenken. Er sei bereits entschlossen, zu bleiben, solange es nötig wäre. Er betraue den Herrn Doktor formell mit der Führung seiner Angelegenheit, sofern dieser dazu bereit sei. Auf dessen Zusage und Versicherung, sich im Interesse des Erben nach Kräften bemühen zu wollen, befragte Feiler den Doktor Rosenberg noch um die Wohnungsverhältnisse der Stadt, vernahm, daß es bei nicht zu großen Ansprüchen sehr leicht möglich sei, ein sauberes Quartier zu finden, und erfuhr einige Häuser, in denen er zuerst nachfragen solle.

Sie standen auf dem Stadtplatze, einem größeren, unregelmäßigen Trapez, an dessen kleinere Grundlinie sich die Straße, die zusammen mit ihm eigentlich die Stadt ausmachte, anschloß. Inmitten des Platzes stand, im Augenblicke von schräger Sonne schön beleuchtet, doch ohne Anmut, ein mäßiger Mauerbau, romanische Formen nachahmend, die Kirche. Eingehegt war der Platz von größtenteils einstöckigen Häusern, bescheidenen grauen älteren und grellweißen neuen. Aus der oberen Häuserzeile führte eine ganz kurze Gasse, die Bäume und freies Land sehen ließ, so daß dieser am städtischsten zurechtgemachte Teil der Stadt dem Fremden am wenigsten ein Gefühl von Ländlichkeit versagte.

Die Hauptstraße, in die Feiler nun zurückkehrte, um noch heute eine Wohnung zu finden, zeigte sich jetzt mit dem nahenden Abend ziemlich belebt von spazierenden Mädchen, die zum Teil recht sorgfältig 103 gekleidet waren, und von zahlreichen größern und kleinern Jungen, Gymnasiasten, wie der Ankömmling mit einem Gefühle heimwehvollen Erkennens aus Gesprächsfetzen und der Art ihres Redens und Gehens entnahm. Plötzlich war ihm die Abendstunde der eigenen späteren Gymnasiastenzeit wach, die einen überfallen hatte, wo man auch war, was man auch tat, mit der sehnlichen Nötigung zum Gehen, immer dieselbe Straße auf und nieder, von der man täglich erwartete, daß heute, da, um diese Stunde das Besondere geschehen würde – da man noch keinen andern Ort hatte, wo es hätte geschehen können, als diese Straße, die man auch nicht im Novemberregen, nicht in bitterster Kälte meiden konnte. Wenn man einmal krank war, brachte die Dämmerung so schmerzliche Unruhe in das Zimmer, daß man sich Gewalt antun mußte, zu bleiben. War dann die Stunde vorüber und wußte man die Straße nun leer, so fühlte man sich betrogen, hatte Großes und Entscheidendes versäumt, war ein Ritter, der sich verlegen hatte, indes draußen die Abenteuer von anderen bestanden worden waren.

Ein Barbierladen, der von dem Advokaten als Merkmal genannt worden war, gemahnte Rudolf Feiler an die beschriebenen Häuser. Er betrat den Flur, der stark nach Äpfeln roch, und stieg die Treppe empor, die erste Türe war die bezeichnete. Er fand die Vermieterin, eine kleine, ältere Frau in schwarzem Kleide, zu Hause, wurde in ein Zimmer geführt, dessen einziges Fenster in die Straße sah, fand sich freundlich und heimlich berührt von der Art der Einrichtung, 104 dem pompösen großen Plüschdiwan mit einem burgartigen Aufsatze, den Photographien altmodisch gekleideter, gleichgültig blickender Menschen und den Rahmen aus natürlichen Baumästchen. Er mietete das Zimmer und erbat sich, es noch an diesem Abende beziehen zu dürfen. Er ging zum Bahnhofe, sein geringes Gepäck zu holen, und schrieb hier an seine bisherige Vermieterin um Nachsendung alles Nötigen. Als er die Liste der aufgezählten Dinge überlas, fand er, daß er den größten Teil seines Besitzes verlangt hatte. Das Zimmer in Wien behielt er, was er sich bei seinen in Änderung begriffenen Vermögensverhältnissen ja wohl gestatten durfte.

Er aß im Bahnhofe zur Nacht und kehrte in seine neue Wohnung zurück. Es schlug neun, als er sich dem Tore näherte. Mit einem Schlage erloschen die großen elektrischen Lampen. Erst nach einer Weile tauchten die vereinzelten kleineren mit trübem rötlichen Lichte aus dem Dunkel, wie Nachtlämpchen der im Augenblicke entschlafenen Stadt. Die Hausfrau empfing ihn schläfrig, überreichte ihm den Schlüssel zur Wohnung und einen unförmig großen Hausschlüssel und übergab ihm das Zimmer mit dem gemurmelten Wunsche, daß es ihm Glück bringen möge. Er solle wohl auf seine Träume in dieser ersten Nacht achten, weil solche stets in Erfüllung gingen.

Das Bett war offen, die Lampe brannte. Feiler ordnete sein Mitgebrachtes sauber in Schrank und Lade, trug einige Bücher und ein Bündel Schriften auf den kleinen Schreibtisch, wohin er auch die Lampe 105 gestellt hatte, und ließ sich in den guten breiten Armsessel nieder. In den Lampenschirm aus steifem grünen Karton waren achteckige Fenster von buntbedrucktem Seidenpapier eingefügt, ein Gretchen, an Faust geschmiegt, eine reiche Obsternteszene, ein wildreiches Jagdstück und ähnliches zeigend, was alles er mit glücklicher Neugierde und voll überraschendem Gefühl von Heimatlichkeit betrachtete. Ein hallender Menschenschritt rief die noch fremde Straße wach. Das Schließen eines Tores folgte. Feiler ging an sein Fenster, fand reichen Sternhimmel über sich, gewahrte nach links zu eine lange, leere, nie gesehene Straße und rechts den Platz mit der Kirche, von dem ein leichter Wind mit dem Geruche von Feldern und Herbstrauch kam. Geringe Laute, an Sommerdörfer seiner Jugend mahnend, trieben von dort her und erhöhten, da er auf dem schon gewonnenen Boden seines Zimmers stand, eine erregte ferienhafte Erwartung von neuer Lebendigkeit. Im Umwenden, beim Blicke auf den sehr dürftig gefüllten Schrank, wünschte er sich das eben erst Verschriebene her, ersehnte Ordnung und Eingelebtsein. Doch da erschreckte ihn die sonst geliebte Luft seines all die Jahre bewohnten Zimmers. Einen Augenblick verzerrte sich das Leben der freundlichen Gewohnheiten maßlos, und die Unentrinnbarkeit der eignen Atmosphäre ließ ihn wünschen, wieder dort zu sein, woher er gekommen war, in schrittweise ergangenen Gedanken, mit Entbehrungen bezahlten Hoffnungen und der sehnsuchtsvollen Kleinlichkeit des bisherigen Daseins, die ihm 106 der einzige Weg geschienen hatte zu seinen fernen Zielen, die ihm eine höchste, letzte Ordnung und klarste Gesetzmäßigkeit alles Lebens waren.

»Da unten atmet, schläft verworren Schicksal, Samen von Abenteuern,« sagte er sich, »die mich zwar heben können und tragen, die aber vielleicht, ja wahrscheinlich etwas höchst Störendes sind. Es ist zwar sehr verlockend, wieder einmal in neuer Luft, in der Optik des Vorübergehenden zu schauen, aber . . . ich habe kein Zeug zum Abenteurer. Eigentlich scheine ich mich zu fürchten. Warum aber muß ich an Abenteuerliches denken? Komme ich nicht einfach in Geschäften her, nach deren Abwicklung ich diese Stadt wohl für immer verlassen werde, diese kleine Stadt ohne besondere Reize? Reisen nicht so viele erwachsene Menschen ohne jeden Gedanken an Beeinflußtwerden durch die neuen Umgebungen? Mir ahnt da etwas. Sollte ich Ferien von mir selber suchen? Ich scheine höchst bereit zu Unordnungen zu sein und nach Jahren wieder einiges tun zu wollen, was erfahrenermaßen zu mir nicht passen wird. Hübsche Bereitschaft.« Er mußte lächeln, wie er, der doch sonst höchst mäßig und wenig gesellig war, über diese ganze Stadt zu seinem seelischen Gebrauche verfügt hatte. Irgendein kleiner Fatalismus, ein Wissen, daß es da unten in ihm etwas Selbstherrliches gebe, ließ ihn die Achseln zucken und scheuchte alles Ahnungsvolle und Beunruhigende. Er kleidete sich aus, machte seine gewohnten Turnübungen und nahm von dem Bette Besitz, darin er bald guten tiefen Schlaf fand. 107

 

Rudolf Feiler brachte nun einige ganz ungeschäftige Tage mit Spaziergängen in der Umgebung der Stadt zu. Er fand wirklich ein Ausruhen von sich selbst, indem er nach Jahren des Lebens in der Stadt, ja im Zimmer, voll Neugierde durch die großen Auwälder ging. Der etwas bläßliche, stark gealterte Wald seiner Vorstellung hielt der herbststarken farbigen Wirklichkeit nicht stand. Da mußte er sich nun über mancherlei verwundern. Im Grunde war er zu jeder Art eingehender Betrachtung höchst geneigt, empfänglich für Wirklichkeiten und mit einem äußersten Ordnungssinn begabt, der nun auf den immer weiteren Gängen seine Bilder von Bäumen, Wolken und Gefühlen an die herbstklare Wahrheit hielt.

Wenn der Morgennebel über dem Flusse und den Wiesen zerriß, trat ein Tag von lauterster Helligkeit hervor und forderte gleiche Klarheit in dem Beschauer, der sich die Forderung sehr wohl gefallen ließ. Obgleich er keine Farben von solcher lohenden Kraft in sich vorfand, die er hätte diesem hingehenden Lebendigen da gesellen können, zeichnete er doch sauber Umriß und Form in sich ein. Wenn dann die Welt erloschen war, traf er es in seinem Zimmer ganz leidlich, den reinlich bewahrten Kontur mit Kupferröten, sehnsüchtig tiefem Dunkelgrün oder aufloderndem Birkengelb anzufüllen und diese neugewonnenen Bilder zuletzt in alte, vergessene, wiedergewonnene Sehnsucht, Zärtlichkeit und Wehmut zu rahmen, so daß die verborgenen Kräfte in aller Ordnung und Helligkeit dennoch zu ihrem Rechte kamen. 108

War es aber erst völlig Abend geworden, dann konnte er es sich nicht versagen, die Hauptstraße oftmals auf und nieder zu gehen, ja sie erst als einer der letzten der Spaziergänger zu verlassen. In Kürze traten ihm etliche Gesichter aus deren Menge heraus, die er bald schon wie Bekannte empfing. Er prägte sich die ständigen abendlichen Kunden einiger Kaufladen ein und war mit mehreren Kleidern und Anzügen bald ganz vertraut, so daß der erste Sonntag mit geschlossenen Laden, völlig veränderter Kleidung und neuen Gesichtern eine entschiedene Störung in seinen Spaziergang brachte, zumal er sich an jene aufgespeicherte Gehässigkeit des Großstädters gegen die Sonntage wandte, an jenes wehrlose Preisgegebensein an die große Arbeitslosigkeit, an das Verfolgtsein von Nichtstun ohne Begabung, ja gegen die Überzeugung von Hunderttausenden, die, aus ihrem Rhythmus gebracht, gezwungen sind, die Genießer zu spielen.

Dies war der erste Abend in der Stadt, an dem er sich wieder nach seinen Büchern sehnte, nach Versenkung in irgendeine lebensferne Gedankenkette, nach Scholastischem, das sich hochmütig von der Materie abkehrt. An diesem Abend ging er früher als gewöhnlich nach Hause, fand die Wohnung leer und ein längst vorbereitetes kaltes Abendessen auf seinem Tische, das ihm nicht schmecken wollte und ihn wegen des brackig welken Salats von Mittag her lebhaft verdroß. Die veränderte Straße lärmte ein wenig in sein Zimmer und der Sonntag kroch durch das heftig geschlossene Fenster. Eine leichte Übelkeit wandelte ihn an. 109 »Triste langueur« sagte er. »Die Deutschen haben gar kein Wort für diesen neurasthenischen Zustand. Man sollte einen Besuch machen, zu Freunden, in ein Kaffeehaus gehen. Jetzt verstehe ich, warum man als Nichtstuer zuweilen ganz manisch in das Kaffeehaus gezogen werden kann. Man müßte eine wunderbare Geliebte haben, die man die ganze Woche nicht sehen kann, damit man in seinem eignen Festtage eine Konsonanz mit dem willkürlichen da draußen findet. Aber man hat keine Geliebte, mindestens keine wunderbare, nach der man sich sehnen könnte. Die Freunde sind ferne und – wären sie nahe, so wäre damit auch noch kein vollkommenes Glück gemacht. Es scheint, daß man im Alter von dreißig Jahren eben ernsthaft anfangen muß, irgendwohin zu gehören, wenn man nicht in einer Genialität oder ohnehin überall zu Hause ist.«

Er versuchte, Zigarettenhülsen zu füllen. Aber der Tabak war feucht, ballte sich und zerriß das Papier. Fast zornig schob Feiler das Begonnene von sich. Es war noch nicht acht Uhr. Man konnte unmöglich schon schlafen gehen. Ohne recht zu denken sprang er auf, nahm Mantel und Hut vom Haken und trug die Lampe in das Vorzimmer. Im Begriffe die Tür zu öffnen, merkte er auf dem Boden ein Papier liegen, hob es auf und las seinen Namen auf dem Umschlage. Erschrocken riß er ihn auf. Der Advokat schrieb: »Sehr geehrter Herr Doktor, da Sie sich sicherlich in unsrer Stadt sehr langweilen, glaube ich in Ihrem Sinne zu handeln, wenn ich Ihnen eine Karte zu unserm 110 Musikabend sende, der heute stattfindet. Falls Sie den Abend mit meiner Familie verbringen wollen, würde dies unsre Freude über Ihr Kommen noch verdoppeln. Doch bitte ich Sie, in dieser Einladung keineswegs einen Zwang hierzu zu empfinden. Hochachtend Doktor Rosenberg.«

Feiler merkte sich augenblicklich, gleichsam a priori entschlossen, dem Briefe zu folgen. Er kehrte in leichter Erregung in sein Zimmer zurück und brachte den einzigen Anzug, den, in dem er gekommen war, in die bestmögliche Verfassung. Auch sonst verbesserte er an seinem Äußern, was nur sein geringer Toilettenvorrat hergeben mochte, und fand sich dann vor dem Spiegel leidlich aussehend. Er pflegte trotz seiner mäßigen Geselligkeit und der beschränkten Mittel einiges auf Kleidung zu halten, was ihm eine gute Statur, an der auch die übelste Haltung nicht allzuviel verderben konnte, erleichterte.

Auf der Straße angekommen, ließ er sich den Ort der Veranstaltung weisen, den ansehnlichsten Gasthof der Stadt. Wie es ihm aus dem Gedränge auf der Treppe erschien, war er eben zu rechter Zeit angelangt. Obwohl durchaus nicht schüchtern, befand er sich doch in einiger Unruhe, als er in seinem weichen Hute und dem weiten modelosen Mantel im Vorraume auf das Ablegenkönnen der Überkleider warten mußte und sich allgemein beobachtet fühlte. Einige beieinanderstehende Frauen betrachteten ihn unverhohlen und schienen über ihn zu sprechen. Als er endlich den Mantel abtun konnte und sich dem 111 Saaleingang zu bewegte, machte er trotz seines einfachen, doch dunklen Straßenanzugs unter den festlich und meist übertrieben Gekleideten, reichlich groß und mit ruhigen Bewegungen, merklich Figur. Zu eben der Gruppe, die früher über ihn gesprochen zu haben schien, merkte er seinen kleingestalteten Advokaten und dermaligen Gönner hinzutreten und ging langsamer, sah, daß man den Doktor Rosenberg, der in Frack war und ein Komiteeabzeichen trug, auf ihn aufmerksam machte, und grüßte. Darauf eilte der bewegliche eifrige Mann mit auffallenden und überaus herzlichen Gesten auf ihn zu und begrüßte ihn so, daß er sich einen Augenblick lang beschämt und schuldig fühlte. Nach kurzem erfreuten Reden zog ihn der Advokat zu seiner Gruppe, wo er ihn zuerst einer großen üppigen Frau, seiner Gemahlin, vorstellte und, plötzlich hinweggerufen, seinen neuen Freund, wie er sagte, der Gattin empfahl, die ihn weiter vorstellen und einführen möge, solange er selbst sozusagen der Allgemeinheit dienen müsse. Nun wurde Feilers Name einigen älteren und jüngeren Damen genannt, darunter sich auch die Tochter der Vorstellerin befand, die, neben ihm stehend, in einem Augenblick, da sich die Gruppe auflösen zu wollen schien, indem durch Neuankommende eine jähe Bewegung entstand, mit angenehmer Sicherheit die Charakterisierung der neuen Bekannten, kaum merklich lächelnd, unternahm. Er hörte von großen Vermögen sprechen, gedachte der ungeheuren Zuckerfabrik, vor der er oft gestanden war und gewaltige Eisenbrücken, Krane, das unendliche Zuwandern der 112 Rübenwagen bestaunt hatte, als ihm deren Besitzerin, eine pfauenhafte und lärmende Frau, gezeigt wurde. Als deren Sohn gesellte sich nun ein schon bemerkter, krankhaft aussehender junger Mensch zu ihnen, der eine himbeerfarbene Weste zum Abendanzug trug, über der seine schlaffen, fast hängenden Wangen vollends leichenhaft erschienen.

Feilers Art, Fragen zu stellen, mochte der Führerin zu ihrer eigenen, bisher verborgen gewesenen Weise Mut machen; denn bei jedem Neuumrissenen mengte sich mehr von Spott in die Aufzählung seiner äußern Umstände. In Kürze fand er eine gewisse artistische Begabung an ihr, wie sie unter Vermeidung jeder Kritik eben in der Nennung fast statistischer Tatsachen am Ende Figuren zu Grotesken erschaffen hatte. Als eine Weile lang keine neuen Menschen vorübergingen, bat er sie, doch auch von sich selbst eine Schilderung zu entwerfen. Sie sagte auffällig lächelnd: Er habe natürlich recht, die Räsoneuse als mit zur Komödie gehörend zu betrachten, und sie habe Stilgefühl genug, auch noch das Groteske ihrer eignen Person, die, sich überhebend, doch mitten drinnen stehe, erkennen und darstellen zu können. Immerhin aber sei es von einem Mädchen etwas viel verlangt, daß es schon nach so kurzer Bekanntschaft auf die gewisse Aureole von rätselhafter Mädchenhaftigkeit verzichten solle. Aber jetzt nütze kein Einwand mehr, wehrte sie ihm, da er verwundert, belustigt und ein wenig beunruhigt reden wollte. Das schlanke, anscheinend sehr junge Mädchen (obwohl diesem Eindruck ihr Gebaren, die 113 pudergewohnte Haut des Gesichts und die pompöse Art ihrer Kleidung widersprachen) sah ihn mit hochgezogenen Brauen, so daß diese die in die Stirn gekämmten abgeschnittenen Haare berührten, und unruhig zuckenden Lidern an. Die Winkel ihres großen, dünnen Mundes tanzten von Lachen zu Verzerrtheit. Jetzt erst merkte er, daß dieses stark jüdische, ein wenig kokottenhaft aussehende Mädchen voll abgerissener Bewegungen und steter Unruhe war, und fragte sich, woher sein erster Eindruck, der sie ihm in ruhiger Sicherheit gezeigt hatte, habe kommen können.

»Sie müssen denken,« sagte sie unvermittelt nach der betrachtenden Pause, »was man hier von wilder, qualvoller Dummheit um sich hat, dann werden Sie meine Vertraulichkeit nicht mehr besonders persönlich nehmen. Ich glaube, daß Sie ein intelligenter, betrachtender Mensch, eher zu meiner als zu jener Art gehörig, sind – obzwar man sich bei etwas älteren Leuten, die schon die gewissen Garantien haben, nie recht auskennt. Also ich nehme an, es ist mir angenehm anzunehmen, daß Sie irgendwie bedeutend sind . . . ich werde Sie zeichnen. Sie haben schöne tiefe Augen,« sagte sie ohne Betonung. »Aber Sie warten auf meine Selbstironie. Also: Ich bin ein großes Genie. Ich habe einen Nerv, der unmittelbar mit Gott zusammenhängt. Aber ich bin die Farce eines Genies, das aus schlechtestem Material verfertigte Abbild irgendeiner unfaßbaren Größe. Haben Sie meine Mutter gesehen, die schöne, verwelkte, untadelige Frau? Wenn die gestohlen hätte, verkommen, 114 in einem Bordell gestorben wäre, dann wäre ich alles das geworden, was der Gott mir versprochen hat. Später werden Sie das alles schon verstehen. Ich bin achtzehn Jahre alt. Ich muß schon nicht mehr sterben, ich habe meinen Tod schon hinter mir.«

In diesem Augenblick trat die Mutter zu den beiden und fragte, sich vor sie hinstellend, voll betonter Überlegenheit die Tochter: »Nun, Judith, haben sich die Großstädter schon gefunden?« Rudolf Feiler sah jetzt, wie edel ihr Hals noch war, während unter dem Kinn schon wellige Fettpolster lagen, wie sehr ihre gelben Wangen den Blättern später Rosen glichen und wie vollendet die Brauen gezeichnet waren über den völlig dunklen Augen, indes die Lider gebräunt sich falteten ebenso wie der Ring unter den Augen, auf den sich die langen Wimpern gerne senkten und damit oben hervortreten ließen, was sie unten verbargen. Volles schwarzes Haar, ganz schweres, lag ein wenig lastend auf ihrem Kopf, den sie zuweilen fast theatralisch in den Nacken warf. Im ganzen mochte sie noch immer für eine Schönheit gelten, neben der die Tochter sich dürftig ausnahm.

Der wiederkehrende Advokat drängte die drei, ihren Tisch aufzusuchen, da die Musik nun bald beginnen würde. Sie fanden ihren Platz nahe dem Podium. Schon standen einige Bekannte, der Sohn der Zuckerfabrikantin, eine ältere, ungesprächige, ein wenig verwachsene Verwandte der Rosenbergschen Familie und etliche andre dort. Rudolf Feiler bekam seinen Sitz an der Seite der Judith und erwartete 115 eine Fortsetzung des Begonnenen, indessen er, soweit es ohne bemerkt zu werden möglich war, ihren Bewegungen, ihren an andre gerichteten Worten und den barocken gewollten Linien ihres Gesichtes folgte. Sie trug ein pfirsichfarbenes bauschiges Seidenkleid, das mit weiten Ärmeln und verbreiterten Hüften den schon Historie und Stil werdenden Geschmack der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nachahmte. Unter mehreren hellen, farbigen und blühenden Frauen sah er sie aller eigentlichen Farben entbehren. Ihr glatt der Kopfrundung angepreßtes Haar, zwischen Blond und Braun, war stumpf und unlebendig. Die Haut des bloßen Halses war matt, fast von einem lila Ton. Das Gesicht zeigte den blausilberigen Schimmer von Puder. Die schmalen Lippen nur waren stark rot, doch von einer künstlichen Zinnoberröte. Da sie sich ihm wieder zuwandte, erregte ihn der Gegensatz des fast frechen Blickes ihrer grauen Augen zu dem ihm eben erst deutlich werdenden kindlichen Oval des Gesichtes, das ihm in Augenblicken des Schweigens und Verschlossenseins häßlich und gefährlich vorkam.

Fragen, die Art und Dauer seines Aufenthaltes betreffend, unterbrachen immer wieder das bereite Gespräch. Während er höflich und unbestimmt antwortete, fühlte er froh und fast stolz seine eben noch ins Leere treibende Existenz plötzlich von den Geheimnissen eines unbekannten Lebens gesucht.

Die ersten Musiker betraten das Podium. Das Programm, das Feiler spottbereit öffnete, zeigte dem 116 Erstaunten die adligsten Namen der Musik, freilich in ihren gangbarsten Schöpfungen, für den Abend versprochen. Judith fand nun Zeit, zu sagen: »Sie müssen nämlich wissen, daß mir Musik höchst antipathisch ist, daß ich schon als Kind Übelkeiten bekam, wenn meine Mutter ›Auf Flügeln des Gesanges‹ sang oder Schumannstücke spielte. Meiner Meinung nach ist Musik für die Leute da, die sich eine Stunde im Monat ein Innenleben gestatten und dafür dreißig Stunden üben müssen. Sie ist für die gewissen Idealisten ein Erlaubnisschein zu den unsaubersten Sentimentalitäten und zu jeder unklaren dumpfen Duselei. Nein, nein . . . was ich ausstehe bei dem Augenverdrehen! Selbst die besten von den angeblich wirklich musikalischen Leuten sind ganz verworren oder gründlich kulturlos. Ich glaube, weil sie es mit ihren Äußerungen so einfach haben, dazu nur gerade ein Handwerk erlernen müssen. Na, Sie werden im Laufe dieses Abends so ein Exemplar kennenlernen, den Dirigenten, der sicher kommt, um sich loben zu lassen.«

Feiler horchte. Er wehrte sich nicht einmal, seiner geheimen tiefen Zärtlichkeit zu reiner großer Musik zuliebe, sondern war schon entschlossen, vor diesem Mädchen, soweit er sich dazu vermögen würde, nur ein Anlaß zu ihren selbstischen Mitteilungen, nur eine Atmosphäre zu sein, in der sie zu reden wagen könne. Da er in sich schaute, fand er verwundert keine Regung von Begierde nach ihr, obwohl seine wenig zahlreichen Beziehungen zu Frauen stets mit der Begierde begonnen hatten und, wenn sie sich weiter und höher 117 in das Geistige hinein hatten entwickeln wollen, sich zuletzt doch als eine schillerndere und reicher gezierte Weise der Begehrlichkeit erwiesen hatten. Wohl vertraut mit der Eitelkeit des Werbenden, verstand er aus dieser seiner verwunderlichen Ungeschlechtlichkeit sein Zurückhaltenkönnen mit Ichlichem.

»Vielleicht meinen Sie aber, daß ich intellektuell und im Grunde unbegabt bin,« sagte sie ihm fast heftig in sein Denken, während von oben ein paar Klarinettenläufe und die Stimmtöne der Geigen den Saal zu füllen begannen. »Ich werde mich Ihnen schon beweisen. Bisher habe ich nie einen Ehrgeiz gehabt, zu beweisen, was ich mit dem tiefsten Blute weiß. Aber Sie sehen geistig aus, nach einem bedeutenden Vorleben oder . . . was weiß ich . . . ich habe das Bedürfnis, gerade Sie von meiner ganzen Gewalt zu überzeugen. Wehe Ihnen, wenn Sie nicht der sind, den Ihr Gesicht verspricht. Aber dann haben Sie vielleicht auch so sympathische Eltern gehabt – und sind gestraft genug . . . Ich werde Sie hinreißen.«

In diesem Augenblick betrat ein breiter, fast beleibter Mann laufenden Schrittes das Podium, und ehe noch ein Applaus Zeit gehabt hatte, sich auszubreiten, rief sein lautes Klopfen die hellen Streichertöne einer Schubertschen Ouvertüre wach. Ein silberig rieselndes Allegro bereitete sich, dem Feilers Herz sich nicht entziehen konnte, während sein Verstand das Mädchen, das sich ihm jetzt ganz zugewandt hatte, sprechen hörte. Ihre unakzentuierten oder jäh und absonderlich betonten Geständnisse trieben wolkig und 118 in irdisch grellen Beleuchtungen über der elysischen Tanzheiterkeit eines wirbelnden Geigenthemas dahin, das Augenblicke lang zu ein paar andächtigen, selig besinnlichen Akkorden innehielt. Judith redete indessen mit kaum gebändigter Stimme: »Berühmte Maler haben meine für offiziell gemachten Zeichnungen genial gefunden, obwohl es meine schlechtesten waren – denn die wirklichen, echten kann ich niemandem zeigen, vorläufig wenigstens nicht. Vielleicht einmal Ihnen, wenn Sie sind, was Sie mir scheinen. Aber das ist es noch nicht, was mich ausmacht, daß ich ein bestimmtes Talent habe. Das hindert mich eher. Was geheimnisvoll und Kraft in mir ist, geht ins Allgemeine. Ich habe Visionen von Menschen in einer solchen Weisheit und Tiefe, so voll von Unaussprechlichem, daß mein bürgerliches Mädchenleben schauernd danebensteht und sich vernichten möchte vor Ehrfurcht. Doch es vernichtet sich nicht, sondern steht ganz geordnet und mit einem anständigen Rufe da und ist imstande, noch einmal kochen zu lernen oder zu heiraten. Geht Ihnen die Posse auf, daß eine wahrhaft kosmische Organisation von einer ältern enttäuschten Frau erzogen werden soll? Was kann das Reden von dem allen bringen? Ihnen werde ich vorspielen, was es für Ungeheuerlichkeiten gibt, vorleben.«

Ein herbstlich süßes, irdisch versöhntes Adagio, das in andern Stunden für Rudolf Feiler aller ungestandenen Klage Stimme gewesen wäre, vor dem sich die Härte, das Unentrinnbare eines schon bestimmten 119 Lebens oktoberlich besonnt gestillt hätte, war jetzt Begleitmusik des neuentrollten, etwas fratzenhaften Spieles, das es mit Nähe und Wärme tönte. Irgendein fremdes Armsein und Hilfesuchen schien sich in einem Näherneigen des Kopfes, einem Lichterwechsel der eben noch höhnend wissenden und nun fast schönen grauen Augen zu gestehen. Mit einem unvermittelten Zucken des Mundes und der Schultern fragte sie: »Hören Sie mir aber auch ganz zu? Beschäftigen Sie sich nicht derweil vielleicht mit dieser Musik?« Er lächelte beruhigend: »Ich kann nicht leugnen, daß ich die Musik bemerke. Ich habe irgendwo gelesen, daß vermöge der Musik die Leidenschaften sich selbst genießen. Das lasse ich geschehen, ohne dabei zu sein, soweit es meine Leidenschaften ohne mich gibt, und höre Ihnen zu.«

Mit einer versprechensvollen artigen Verneigung schloß die Ouvertüre. Feiler sah sich von dem Advokaten und von andern ins Gespräch gezogen und mußte die Musik loben, mit der alle sehr verwandt taten. Er fühlte, während er sprach, das Mädchen neben sich höchst unruhig, so daß es ihn erleichterte, als sie sich in einer ungezogenen Wendung offen gegen die Begeisterung stellte. Das Aufstehen des Vaters, der sich zu dem in der untern Saaltüre erschienenen Dirigenten begab, benützte Judith, um sich so unverhohlen ihrem Nachbar zuzukehren, daß dieser dann, damit völlig von den allgemeinen Gesprächen abgezogen, sich ihrer noch gewachsenen Gier, sich mitzuteilen, zuneigen konnte. »Ich beneide Sie, weil alles das Sie 120 nichts angehen muß. Sie könnten jetzt zum Beispiel mit der Faust auf den Tisch schlagen und sagen: ›Lügt euch nichts vor, ihr Gesichter, tut den gestohlenen Ausdruck weg und gewöhnt euch endlich aneinander, da doch wirklich gar kein Unterschied ist!‹ Aber Sie haben eine Methode, zu allem höflich ja zu sagen, die auch nicht schlecht ist. Womit beschäftigen Sie sich denn eigentlich besonders? Sicher mit etwas sehr Entlegenem, Hochmütigem, dessen bloßer Name die da schon beleidigen müßte.« »Mit naturwissenschaftlichen Arbeiten,« sagte er, obwohl das lange nicht mehr wahr war. Sie hastete weiter, ohne seine Antwort zu beachten: »Ich will oft mit Ihnen sprechen können, solange Sie hier sind. Dieses Jahr kann ich nicht wegreisen und werde oft ein wenig wahnsinnig. Man wird Ihnen morgen schon erzählen, was für Dinge ich tue. Wenn meine Eltern nicht Geld hätten und der Vater ein weniger tüchtiger Advokat wäre, ließe man mich wahrscheinlich gar nicht hier am Tische sitzen. Ich glaube, die Leute ahnen, was ich von ihnen weiß. Ja, hören Sie, ich habe eine Freundin! Sie werden es aber nicht komisch finden, wenn Sie sehen, wie ich sie habe. Sie kommt diesen Abend her. Sie ist sehr hübsch und voll von meinen Talenten, was Sie hoffentlich ja selbst bemerken werden. Ich habe sie erfunden, angefertigt. Ich habe dieses hübsche rosige Material so weit gebracht, daß es seine Organe für mich entwickelte. Jetzt kann sie schon Verschiedenes. Wenn Sie sich nicht verzücken lassen, weil sie so lieblich scheint, wird es lustig sein 121 für Sie, mit anzusehen, wie sie zu stehlen meint, was ich für sie hingelegt habe . . . und noch vieles andre. Dabei habe ich sie gern. Meine Erdgebundenheit ist befreundet mit ihrer. Das Geschlecht, dem ich allzu unzweifelhaft angehöre, begrüßt sie doch immer wieder augurisch. Schließlich ist mir ein Hund zu unappetitlich und ein Mann irgendwo zu dumm, zu leichtgläubig, ich muß mir vor ihm zu wenig Mühe machen.«

Er horchte, schaute, horchte. Sein Verstand, die Lust an den geheimnisvollsten, weitestführenden Wegen des Denkens, sah erregt die schon verzichtverschleiert gewesene Möglichkeit neuer, ganz im Geiste geschehender Abenteuer, empfand ein jähes Aufblitzen einer äußersten fremdesten Lust, da er in sich eine Form bereit fand: sich aufzugeben, klar und klug von sich abzusehen, sich zu beweisen, daß der Geist sogar über die absolute Existenz etwas vermöge. Es schillerte ihm eine Zeit relativen Lebens vor, ein höchster, künstlerischester, weisester Genuß darin, daß er sein würde, was im Geiste und Instinkte dieses Mädchens von ihm vorhanden wäre, nichts, nichts mehr. Herauszutreten aus dem Leben des Doktors Rudolf Feiler gelüstete es ihn und wahrhaftige Ferien von sich zu haben, indem er durch eine immerhin objektive Welt als ein neu entstehendes Wesen, aus dem Gehirn einer Fremden genährt, spazierte. Ein nie gelachtes Lachen genoß er im Vorgefühl von Augenblicken, da der spirituelle Fötus sich seiner materiellen Idee vergleichen kommen würde. Mit einer lächerlich wilden Willensanstrengung schob er sich fort von seinen 122 Organen, sog alle Erfahrung aus ihnen aus, um also sich empfangen zu können aus dem überfüllten Denken dieses Mädchens.

Sie setzte fort: »Man muß denken, daß ich lasterhaft sei. Denn eigentlich interessiert mich im letzten Grunde nur meine eigene Stimme. Aber um die zu rufen bedarf ich zuweilen des Geschmackes aus einer andern Menschlichkeit in mir, den ich mir ja manchmal auch zu erfinden imstande bin. Ich benütze die Vorspiegelung eines fremden Gehirns, um zu mir zu gelangen. Ich halte mir zeitweilig Gehirne, wie ich geneigt wäre, mir Geliebte zu halten . . . wenn ich . . .« Sie erschrak einen Augenblick und setzte eindringlich bittend, mit einer ganz ungemäßen Weichheit hinzu: »Bitte vergessen Sie, was ich jetzt gesagt habe. Ich versuche oft, mich zu übertreiben. Es ist störend und unschön. Sie wissen ja jetzt schon selbst, daß ich nicht so ichbeschränkt bin, Sie merken, wie ich nach Ihrem Boden taste, um . . .« Sie brach wieder unvermittelt ab. Er mußte trotz aller Beherrschung lächeln. Sie zeigte sich beschämt, riß aber sogleich wieder die eine Schulter hoch: »Logisch sein wäre das Leichteste.« Er fühlte sein Gesicht wieder als ein leeres, plastisches Oval, aus dem sie die erwünschten Züge bilden sollte. Tief unten aber, wo die Wurzeln knorrig und unverrückbar sind, stand ein noch junger Mensch erschrocken, daß es möglich sei, so auf sich verzichten zu wollen, und sei es auch nur für eine Stunde. Aus allem Besitze empörte sich Kraft und Lust in ihm gegen diesen spielerischen Tod. 123

Solchem Ich-Erwachen kam die Erscheinung entgegen, der Judith Rosenberg, plötzlich aufspringend, entgegeneilte. Es war dies ein junges Mädchen, an dem Rudolf Feiler erst viel blondes Haar auf einem fast zu kleinen Kopfe auffiel. Bald sah er dann ein klares, schön getöntes Gesicht und das Gehen eines jungen wohlgestalteten Körpers in dem nicht ganz langen Kleide voll Anmut. Staunen mußte er aber, wie das heitere, helle Gesicht sich in der Begrüßung Judiths vertiefte, ja einen Augenblick lang fast verzerrte, indem es sich mit einem Ausdruck überlud, der den Beschauer nicht unbekannt anmutete. Judith blieb mit der Freundin stehen, sicherlich, wie er dachte, um sie auf ihn vorzubereiten. Ihm hatte sie die Kommende so sehr vorgeformt, daß er sich schon bemühen mußte, die Erscheinung, die irgendwie merklich von ihm selbst begrüßt wurde, anzupassen an das, womit Judith sie ihm befohlen hatte.

Indessen führte der Doktor Rosenberg einen gebückten, mit einem Krückstocke gehenden alten Mann und einen großen, hübschen Marineoffizier an den Tisch, die Herren von Lärne, Vater und Bruder der eben gekommenen Blonden, die in der Stadtnähe begütert, doch arg verschuldet seien, wozu Vater und Sohn in gleichem Maße beigetragen hätten, wie man Rudolf Feiler sogleich zuraunte. Inzwischen wurden den beiden eifrigst und fast devot Plätze angeboten. Feiler betrachtete das schöne, leicht braune, heitere Gesicht des Offiziers, während dieser begrüßte und sich vorstellen ließ. Dann sah er die sich nähernde 124 Schwester, versuchte eine Wärme von jungenhafter Erwartung mit den neuen, geistigen Entschlüssen zu scheuchen und war jetzt zu Beginn dieses als lange berechneten Abends schon ein wenig müde, ungewohnt jener geselligen Ökonomie, die sich bis zu den wichtigsten und reichsten Augenblicken aufzusparen versteht. Er gestand sich, daß das immerhin Zuständliche dieses Einzellebens, zu dem er sich schon in eine, wenn auch fremdartige Form bequemt hatte, sich zu früh durch Handlung zu verwirren beginne, und sah, da er sich schon unfrisch und übernommen zu fühlen begann, die jetzt erst sich entwickelnde wirkliche Aufgabe. Dazu gab es diese verwunderliche neugierige Erregtheit, die sich übel mit der just erfundenen neuen Genese aus der Phantasie eines andern Menschen vertragen wollte. Er war daran, an die einfache tiefe Art menschlicher Beziehungen zu denken, die doch möglich sein mußte, an natürliche, geistferne Wechselwirkung zweier Menschlichkeiten, als Judith Rosenberg, herangetreten, ihn vor die Freundin und aus sich fortwies: »Da ist also das tiefe Wasser, das gleich verlockt, sich darin zu spiegeln.« Noch mit mehreren ähnlichen, völlig fernabliegenden Gleichnissen zog sie ihn fort aus der im Augenblicke alter Düfte vollen Luft eigenen Lebens in die dünne Helligkeit, in der er sich schauend aufgeben und gestalten lassen sollte. Indessen zog das blonde Mädchen im Lächeln, da es ihn betrachtete, die Brauen hoch, wie Judith es tat.

Das Orchester begann wieder und spielte nun irgendeine breite getragene Melodie, von der sich die 125 Vorgänge augenblicklich anders abhoben. Feiler sah Judith in gleicher Anspannung wie früher dennoch ruhig verharren, anscheinend auf ein sich entwickelndes Gespräch zwischen ihm und der Freundin wartend. Er wußte nichts zu sagen, wandte sich aber gehorsam der neben ihm an der Schmalseite des Tisches sitzenden Blonden zu, die gleich sagte: »Wir kennen einander also schon.« Das berührte ihn nicht gut aus ihrem Munde. Er war verlegen, gepeinigt durch jede wortlose Minute, da er nichts fühlte, das er mit ihr hätte schweigen können, und blickte endlich zu Judith mit einem gewollt hilflos-kindlichen Fragen hinüber. Aber auch sie hielt inne mit sich, schien sich in solcher Nähe der Freundin seiner Fremdheit zu besinnen – und zuckte ablehnend die Schultern. Da hörte er die Musik, erkannte, aus einer edlen Verschlingung sich eben lösend, ein reines, sehnsüchtiges Volkslied »Verstohlen geht der Mond auf . . .« und entdeckte sich von seinem abgerückten Leben zart beschienen darin, mit unbeirrbarer Zeit unterschichtet. Nun nannte er sich, ganz allein geworden, bei seinen vertraulichsten einsamsten und mitleidslosesten Namen. Die Stimme der Judith Rosenberg kam, um ihn zu holen: »Mir scheint gar, Sie lassen sich mit der Musik ein!« Da sie ihn diesem ihr unbekannten Schweigen nicht gönnen wollte, redete sie gegen ihr Bedürfnis und ein wenig mühsam: »Ich sehe ein, daß hier eine schlechte Szene ist. Ich werde bessere zu finden wissen. Sie sollen über meine Regiekünste staunen. Ich habe Ihnen etwas versprochen. Für mich ist das ein neuer 126 Genuß, ein Versprechen mehr als zu halten, den ich mir diesmal nicht versagen werde. Heute war noch zu viel Räsonnement in der Sache. Aber Sie werden sich bald vor so viel Tatsächlichkeiten finden und vor solchen, daß Sie selber am Ende darin wirbeln – was ich Ihnen aber wirklich nicht wünsche, weil Ihnen die Unberührbarkeit zugedacht ist.« Das war ihm wie ein Abschluß für den Abend. Als das Musikstück zu Ende ging, es war kaum zehn Uhr, warf er da und dorthin Fragen, hörte die Antworten nicht und dachte gierig an Fortgehen. Der Kapellmeister, ein Professor der Mathematik am städtischen Gymnasium, wurde von dem Advokaten an den Tisch geführt, nahm, breit und ungelenk sich verbeugend, die Lobsprüche entgegen und sagte nach einigen mit Feiler gewechselten Worten zu ihm: »Sie sind sicher musikalisch.« Ein kleines unverschämtes Lachen der Judith huschte zwischen die zwei Männer. Der Musiker suchte recht umständlich zu erklären, daß er beim ersten Blick auf Feiler den Eindruck von einem musikalischen Menschen gehabt habe, verwickelte sich aber recht ungelenk, fing neue Sätze an, hielt erschrocken inne und sah zuletzt den Fremden so offen und gütig an, daß dieser in aller Überfüllung seines Herzens ein freundliches Gefühl zu dem großen, dicken Mann in sich entdeckte und ihm sagte, er erwarte sich viel von der hoffentlich bald fortzusetzenden Bekanntschaft mit einem Musiker von solchem Range, was ihm übrigens Ernst sein mochte, da er in dem dicken, großen Kopfe schöne und bedeutsame Linien und aus dem 127 zusammengerafften Eindruck des wenigen, das er von der Musik gehört hatte, einen reinen Klang leise durch die Stimme der Judith Rosenberg hindurch vernahm.

Man schien mit einer längeren Pause zu rechnen. Die Grenzen der einzelnen Gruppen begannen sich zu verwischen. Den Augenblick, da die beiden Mädchen sich ganz dem laut lachenden Marineoffizier zugekehrt hatten, benützte Feiler, um mit dem aufgestandenen Advokaten aus dem Saale zu gehen und, Kopfschmerzen vorschützend, ihn zu bitten, er möge das Verabschieden für ihn übernehmen. Schon im Mantel und auf der Stiege mußte er noch einen baldigen Besuch bei Rosenbergs versprechen.

Einige Minuten lang überließ er sich, auf dem Platze stehend, völlig dem Atmen der Nachtluft, der Stille und dem Dunkel. Dann kehrte er sich rasch zu der Gasse, die vom Kirchenplatze ins Freie führt. Sternhimmel war über und neben seinem Wege, der durch die weiten, überschwemmten Wiesen ging. Leichte Kühle und kleiner Geruch untragischer Verwesung standen zwischen Himmel und Erde still. Feiler wanderte an feierlichen Wäldern vorbei so weit, bis die Stadt nur mehr ein ferner dunklerer Fleck im Dunkeln der großen Ebene war, von ein paar Fünkchen umgrenzt. Ein Eisenbahnzug kam und verging im Dunkeln. Rudolf Feiler redete nachtwandlerisch mit sich, hielt alte Not an die neuen Stunden und suchte sich mit Ungesühntem zu schrecken. Dann dachte er an seine Arbeit, die Jahre treu gehütet gewachsen war – und die er heute in derselben Welt fand, 128 in der diese Nacht stand, darin ein verworrenes Mädchen gesprochen hatte und er jetzt ging, nichts müssend, seiner selbst gewärtig.

 

 

Des andern Morgens war Feiler überwacht und weichlich und eilte, ins Freie zu kommen. »Das Ekstatische verführt mich und bekommt mir nicht,« redete er mit sich, »sei es nun Plotinos oder Simeon, sei es das Bekennen des Letzten – oder zeige es sich schon über den ersten Dingen des Lebens als überwucherte Gegensätzlichkeit zum eigenen Schicksal.« Der frühe geklärte Tag war dazu angetan, ihn selbstisch an eine Diätetik des Geistigen denken zu machen, die helfen sollte, die natürlich erwachsenen eigenen Aufgaben weiterführen zu können. Freilich mußte sich jetzt jeder solcherart ökonomische Gedanke durch eine Schicht gebliebener Erregung an neuen Fernen, Versucherlust und Formengeschmack hindurcharbeiten – und war am Ziel nicht heil und nicht froh. Judith Rosenberg, deren Bild im Tage ganz unwahrscheinlich und wie erfunden war, hatte um so mehr Gegenwart in allem Spielerischen der Tiefen und war im ganzen genommen erschrecklich wegereich, zeigte Möglichkeiten unabgebrauchter menschlicher Beziehungen und wußte sich überhaupt zu behaupten. Bedenklich schön ergriff ihn dann das Bild der Freundin, deren Namen er nicht auffinden konnte, o wie schön, sündig vergeistigt und unbekannte Weiblichkeit versprechend, die schon Erregungen brachte, da er nur den Begriff davon weit in gekühlten Denksphären 129 versuchte. Am Ende verglich er sich mit sich selbst vom Morgen vorher und fand sich zweifellos erweitert, von Spannungen und Erwartungen erfüllt, die nicht wegzuleugnen waren. Ein weiterer Vergleich, der um etliche Jahre zurückgriff, glich mit einer nachträglichen Naivität die Unzulänglichkeit geistiger Selbstbestimmung aus zu voller eingestandener Erwartung. Nun tauchten auch die Nebenfiguren in ihm empor, die Mutter, der Kapellmeister und der, wie ihm plötzlich vorkam, von ihm viel zu wenig beachtete Marineoffizier. Er spielte mit Betrachtung, Lächeln, Ernst und allerlei Wissen darum, hütete sich aber, darin erfahren genug, sie an einen festen Platz zu stellen oder gänzlich einzureihen. Endlich konnte er des Spazierengehens froh werden und sich wieder ein schlenderndes Denken gestatten, in dem im wechselnden Lichte sich Bilder von Personen in die freundliche Anschauung von Bäumen gesellten. Heiter von sich erfüllt begann er sogar wieder, von etlichen Lieblingsideen zu kosten, und glaubte endlich zu fühlen, daß in jenen Bereichen, wo Werk und Tat unbeirrbares Wachstum haben, gute Regung sei – und hatte Vertrauen.

 

Da Rudolf Feiler in der Dämmerung seinen Gymnasiastenweg betrat, der ihm heute in der Ähnlichkeit des Erwartens wirklich als eine Fortsetzung jenes zwölf Jahre lang ununterbrochenen erschien, kamen ihm die beiden Mädchen entgegen, noch ehe er das Erwarten recht genießen konnte. Er erkannte sie im 130 Augenblick, obwohl sie im Dunkel in schlanken Schneiderkleidern und modischen Hüten sehr verändert waren. Es nebelte und braune Wolken dampften zwischen Lampe und Lampe. Die Straße sah ganz anders drein, als er nun mit den beiden ging, selbstverständlich und erwartet.

»Ich habe heute gezeichnet, acht große Blätter voll. In der Nacht bin ich aus dem Schlafe aufgeschreckt. Denken Sie, ich habe ein schneeweißes Jungfrauenzimmer mit einem himmelblauen Plumeau und lieblichen ovalen Blumenstücken in Goldrahmen an der Wand. So bin ich. In diesem Zimmer habe ich gesehen, vernommen und am Ende, als der Tag da war, die Abfälle gezeichnet. Mein Freundin Erika ist sehr erschrocken vor ihrem Gesichte, das auch mit hineingeschehen ist in die Blätter.«

Jetzt hörte Feiler zum ersten Male die Stimme der Erika, die, von unvermutetem Lachen getragen, mit einem glasklaren Klange einsetzte, spielte, gebogen wurde und sich schnellen ließ, und deren eigener Klang nicht zu fassen war, so daß er auch später noch davon völlig überrascht werden konnte. Erika von Lärne sagte jetzt: »Judith holt ihre Urteile und Vorurteile aus Bereichen, die sich aller Prüfung entziehen. Ich nehme Sie hin als ein Urteil Judiths.«

Sie bogen bei der Brücke nach rechts ab und gingen an ein paar Arbeiterhäusern vorbei ins Freie, neben dem Flusse hin. Immer dichter wuchs der Nebel um sie. In ihrem Schweigen ergab sich das Schattenhafte ihrer Wechselseitigkeiten sehr bald so stark, daß 131 die drei fast gleichzeitig zu reden begannen. Judiths bestimmte Stimme aber erzwang sich Schweigen und Horchen: »Endlich gibt die Welt eine Form, in der man sprechen kann und sich durch Dunkel und Schleier die Herzen und Gesichter der Hörenden selber völlig rein bilden kann. Jetzt müßte man nur noch etwas Großes und Entscheidendes zu sagen haben und könnte dann zum Beispiel im Reden eine Pause machen und – unvermerkt im Flusse verschwinden. Denkt: man meint, die Pause sei ein Gedankenstrich gewesen – und was sich vorbereitet hat, käme nie! O unterzutauchen in ein wissenloses tiefes Schweigen! Erlöst zu sein von dem Redenmüssen vor andern Einsamkeiten!«

Mit einem wehevollen Laute brach sie ab, tastete nach den beiden und hielt sie im Weitergehen an den Händen. Erika begann plötzlich zu weinen. Der fremde Mensch hörte in dem Schluchzen den abgerissenen Laut aus Judith weiterklingen. Sie mußten einen Bach überschreiten und blieben, an das Geländer des Holzsteges gelehnt, stehen. Feiler war nun zwischen den beiden Mädchen. Er fühlte ihre nahe Wärme, empfand von beiden einen schwachen Heliotropengeruch kommen und dachte plötzlich: Sie hat viel Gewalt! Sie läßt ihr notwendiges Weinen an einem andern Körper geschehen und horcht schon wieder, holt es zurück, betrachtet es und macht es vielleicht schon ungeschehen!

Links von ihm stand die Blonde, Arm an Arm mit ihm lehnend. Er vermochte es nicht, auch nur den 132 schwächsten Umriß von ihr in sich zu entdecken. Sooft er sprechen wollte, verwies es ihm ein plötzliches Vagwerden seines ganzen Ich-Gefühles. Eine kleine Weile mußte er erschrocken denken, ob er, williger Schauspieler Judiths, nicht eben im Begriffe sei, eine Not zum Willen zu machen.

Jäh sich aufrichtend, drängte Judith zum Heimgehen. Sie gingen. Als sie in die Helle der Straße wiederkehrten, entdeckte Feiler einige Gesichter von steten Abendspaziergängern und empfand sie wie ersehnte Freunde. Die beiden wohlgekleideten Mädchen neben ihm nannten jetzt Namen und sprachen von Menschen, die ihm völlig fremd waren. Als er sich in der Nähe seines Hauses rasch verabschieden wollte, trat der Marineoffizier zu den Mädchen, stellte sich Feiler nochmals vor und ging mit. Unfroh sah Feiler sich zum Bleiben gezwungen, um so mehr, als Judith sich eben jetzt übereifrig, oftmals grell auflachend, ihm zugewendet hatte und zu erzählen begann. Sie sprach überaus laut und in einem Idiom, das ihm nicht ganz verständlich war, voll von Bezügen auf Anschauungen, die er nicht kannte, so daß ein Zuhörer sehr wohl den Eindruck von einer besonderen Einverständlichkeit und Vertraulichkeit aus diesem Gespräche haben konnte. Der Offizier, der mit seiner Schwester hinter ihnen ging, machte mehrmals den Versuch, zu fragen oder mitzusprechen. Da aber Judith nicht besonders darauf achten wollte, ging er noch eine Zeitlang in betonter Gleichmütigkeit neben der schweigenden Schwester her, zog dann 133 plötzlich die Uhr und bemerkte zu Erika, er habe einen sehr fröhlichen Abend vor sich und man möge ihn daher nicht daheim zum Abendessen erwarten. Bei einem Hervornehmen des Taschentuches schob sich ihm ein größeres Briefkuwert aus der Manteltasche hervor, das er wie spielend eine Weile vor sich hinhielt und dann sorgfältig zu zerreißen begann, Stückchen um Stückchen dahin und dorthin streuend. Als das letzte flatterte, blieb er stehen, salutierte höflich, murmelte, daß er jetzt gehen müsse, und entfernte sich ohne große Eile. Nach einigen Schritten konnte man ihn ein wenig pfeifen hören.

Erika sagte halblaut zu Judith: »Er spielt sicher wieder. Papa hat so viele Sorgen um ihn!« Feiler ansehend, der sich eben wieder zum Fortgehen anschickte, wollte sie von dem Bruder zu sprechen beginnen: »Sie müssen ihn erzählen hören, vom Orient oder von China! Wie ursprünglich er sieht, wie wunderbar, geradezu gewalttätig.« Judith aber schien nicht zu hören, daß sie redete, machte wilde, höhnische Bemerkungen über die Vorübergehenden und lachte einige Male so laut auf, daß auch die entfernteren Spaziergänger sich eilig nach ihr umwandten.

Plötzlich aber hielt die nun immer hastiger gehende Judith mitten in einem solchen recht übermütig tuenden Satze ein und sagte, daß sie jetzt nach Hause gehe. Feiler zog den Hut. Während Erika ihm die Hand reichte, hastete Judith unachtsam »Guten Abend« hervor und lief fast weiter. 134

Feiler fand in seinem Zimmer eine Kiste angekommen, nahm sich kaum Zeit zum Abendessen und begann sie auszuräumen. Er ließ sich von Büchern verführen, schnell die eine oder andre Seite aufzuschlagen, ehe er sie zum Bücherbrette trug, und von sauber verschnürten Schriftenpäckchen, sie aufzubinden und ein weniges zu lesen, ehe er sie auf den Schreibtisch schichtete. Kaum fertig geworden, in dem Armstuhle, überkam ihn Vergessen und Heimlichkeit, und er entschloß sich zu arbeiten. Schnell suchte er Notizen hervor, legte Hefte zurecht und witterte in sich nach der Lust, die sich nie versagt hatte: zu fühlen, wie es zu arbeiten beginne in ihm und aufsteige in die Organe – die Funktion dieser wohlgeübten Handwerker zu genießen und aus ihrem Wohlfunktionieren die abgestuftesten und geheimsten Freuden an sich selber zu empfinden, in denen alles anderswo Versagte dennoch sein Besitzerglück und Machtgefühl erleben darf.

Doch es gab nun abendrote Fernen des Blutes, die glühen konnten in gekühltester Welt und Rede hatten von Unbesessenem und dunkler Hörigkeit. Zwischen Prämisse und Schluß stierte das eigene fragende Antlitz heimatlos erschrocken. In den heiligen Formen gingen menschlichere Gezeiten, und am Ende verlosch alle Göttlichkeit des Wissens in das schlechte Gefühl ungebändigter Gegenwart.

 

Am frühen Vormittag, einem trüben und regnerischen, da Rudolf Feiler fröstelnd und im mißmutigen Nachgeschmacke eines unfruchtbaren Vortages 135 aufgestanden war, wurde ihm ein Brief überbracht. Darin bat Judith Rosenberg in fast flehenden und übertriebenen Worten um Verzeihung für eine am letzten Abend begangene Unfreundlichkeit, ja Bosheit, wie sie es nannte, und bat ihn, nachmittags zu ihr zu kommen. Sie würde es schon möglich machen können, daß er nach kurzer Zeit von dem damit verbundenen Familienbesuche erlöst sei. Er mußte sich erst den Abend zurückrufen, was ihm neue Unlust brachte, um Judiths ein wenig schroffen Abschied als Gegenstand ihrer Entschuldigung erkennen zu können. Während er den großen, heliotropriechenden Brief, die krausen, verzogenen, oftmals fast zittrigen Buchstaben betrachtete, vermochte er es plötzlich, sich ruhig und kühl über die letzten Tage bei sich auszulassen. Die bannhafte Hinnahme alles mit Judith Gegebenen, Unbewiesenen wollte ihn jetzt fast lächerlich anmuten und seine artistische Entschlossenheit zu spirituell hochgezüchteten Erlebnissen ihm als die Ergebnisse nichtstuerischen Schlenderns vorkommen, das allen möglichen, lange niedergehaltenen Gelüsten nach Seitengassen und geheimnisvollen Umtrieben nur allzusehr entgegenkam. Fast wollte er wünschen, seine Erbschaftsangelegenheit wäre geordnet und er könnte wieder heimfahren. Richtig wünschen konnte er es jedoch nicht und das Heimfahren hatte ein stark ausgeblaßtes Heimatsgefühl unter sich, dem man keine Sehnsucht anvertrauen durfte. Er ertappte sich bei kläglich energischen Kopfbewegungen, dürftigen Ansätzen zu Entschlüssen und endlich bei der zu 136 negierenden und nunmehr neuerdings zu Recht kommenden Einsicht, daß sein Aufenthalt in der kleinen Stadt einem Einschnitte in seinem Leben höchst ähnlich sähe, obwohl er keine rechten Gründe dafür zu entdecken vermochte. Er wünschte den Nachmittag herbei und nahm sich vor, einmal recht klar und streng und ohne die Brille seines Bedürfnisses nach Menschen und Erregungen Judith zu betrachten, ja sie direkt zu fragen, wenn es nötig sein sollte, um sie ein wenig aus ihrer Gottesverwandtschaft fortzudemütigen. Hierauf lief er in einer gewissen Gehobenheit durch den verregneten Wald, wo mit jedem Guß und Wind ein gelber aufklatschender Regen von Blättern niederwehte, und kam hernach naß und erfrischt zum Mittagessen. Allerdings legte er sich dann nach kurzem Überlegen schlafen, was er sonst doch nie zu tun gewohnt war.

Aus einem tief gewordenen Schlafe aufschreckend, sah er nach der Uhr und begann sich hastig umzukleiden. Pünktlich um die Stunde, die Judith genannt hatte, schellte er an der Tür der Rosenberg. Hinter dem öffnenden Dienstmädchen erschien Judith und sagte ihm, daß er vorerst ein wenig zu ihr kommen könne, und zog ihn in ihr Zimmer. Sie war heiter, lachte viel und dachte nicht an Entschuldigungen. Im bleichen Lichte des Zimmers sah er sie fast schön, in einem weiten blaugrauen weichen Kleide, das um die Hüften von einer dicken Seidenschnur gegürtet wurde. Aus dem tiefen spitzen Ausschnitte kam eine zarte Wolke reicher Spitzen. Mit einer Art Sprung warf sie sich in ihren Diwan, nachdem sie für Feiler einen weißen, 137 blaubezogenen Sessel nahegerückt hatte, wies auf das Zimmer, das war, wie sie es beschrieben hatte, und lachte herzlich. Geschwind sprang sie wieder auf, brachte Zigaretten, warf ihm Bonbons zu, lag halb und redete abgerissen, kauend und rauchend. Er wehrte sich gegen sie, war aber bald entzückt, lachte mit ihr und hatte alle Entschlüsse vergessen. Ihr Kleid verschob sich bei einer ihrer jähen Bewegungen und enthüllte ihre ganz schlanken Beine in grauen Seidenstrümpfen. Sie merkte seinen Blick darauf und fragte mit einem kleinen frivolen Lächeln: »Hübsch?« Erstaunt und erschrocken fast sah er jetzt das denkensvolle und auch kokottenhafte Gesicht unter den Haarfransen erröten. Da sprang sie von neuem auf und streifte im Vorübergehen seine Wange mit etwas wie einem kleinen Kusse. Ihn schwindelte ein wenig; er wandte sich nach ihr und sah sie, eine Papierrolle auf der Fingerspitze balancierend, beim Schreibtisch stehen. Eine harte Frage in seinem Blicke scheuchte sie mit fast treuherzigem, einfachem Lächeln und wies ihn in seine Schattenhaftigkeit zurück. Schnell wieder in ihre Unruhe geratend, sagte sie ihm, halb flüsternd, sie hätte den Abend vorher noch mit Erika beraten, ob sie ihn in ihr Geheimnis aufnehmen sollten. Nun sei sie dazu entschlossen. Er solle sich recht magische und außerordentliche Dinge vorstellen; abends beim Spazierengehen würde er eingeweiht werden. Doch jetzt müsse man hinüber zu den Eltern. Enttäuscht und neu erregt wollte er um Zeichnungen oder andres Persönliches bitten, aber sie öffnete schon die Tür 138 ein wenig und lehnte einen Augenblick, während drüben die Mutter ihren Namen rief, trotzig sich ihm nähernd, hastig Körper an Körper mit ihm.

Da sie in das große lärmerfüllte Zimmer traten, kam die Mutter mit harten Augen auf Judith zu, die sie auch in der Grimasse der Begrüßung des Gastes behielt, und fragte das Mädchen, ob es nicht wisse, daß sie Gäste hätten. Judith lachte laut heraus, ging zu dem Kapellmeister, vor dem sie einen spöttischen Knicks machte, und gleich weiter zu dem weißbärtigen, halblahmen Herrn von Lärne. Dieser ließ seine ganzen recht schwierigen Geschäfte durch den Doktor Rosenberg besorgen und hatte ihm, wie man sagte, die noch gebliebenen Reste von Reichtum zu danken. Jetzt mochte er es als eine Art von Erkenntlichkeit auffassen, daß er in die Familie kam und sie einlud. Ein gewisser Hochmut war indessen an ihm unverkennbar. Judith schien er jedoch gern zu haben und ließ sich lächelnd ihre, plötzlich Mädchenhaftigkeit nachahmenden, Aufmerksamkeiten gefallen, duzte sie und rief sie öfter zu sich, wenn sie sich für länger entfernte.

Rudolf Feiler saß mit der Mutter, die in einer selbstsicheren Weise über Judith als etwas Unfertiges, noch der Erziehung Zugängliches sprach. Doch ließ sich deutlich eine Grundstimmung von Resignation und Enttäuschung durchfühlen, daß Judith, die keine Schönheit war, noch gesellschaftlich es zu einem Ansehen bringen konnte, ihre sicher vorhandenen Talente künstlerischer Art nicht in einer Richtung betätigen wollte, die eine Entschädigung für das Fehlende 139 bringen konnten. Sie sprach wie ein König, der bereit ist, die Last der Regierung und der Repräsentation dem Sohne zu überlassen, diesen aber unreif und ungeeignet findet und sich entschließen muß, weiter Purpur und Hermelin zu tragen. Ihre weißen, arbeitfremden Hände gefielen sich in müden Bewegungen, streiften das stolze, prunkhafte Nachmittagskleid entlang, und in den Redepausen stand in ihrem Gesichte eine lässige Mattheit, die zu sagen hatte: »Man wäre ja lieber alt – aber es gibt auch den Zwang, Jugend festhalten zu müssen.«

Rudolf Feiler erschrak vor dem Wechsel in ihrem Tone, als sie zu der kleinen geduckten Verwandten, die etwas fragen kam, redete, und dachte an Judiths Worte vom ersten Abend. Der Doktor Rosenberg ging händereibend durch das Zimmer, sagte seiner Frau »wie geht's, Schatz?« und ließ sich mit einem vergnügten Stöhnen nieder: »Na, was sagen Sie zu unsrer mißratenen Tochter? Mir scheint, Sie haben sich angefreundet. Ein Wunder, wenn ein vernünftiger Mensch mit dem Mädel auskommt. Aber wir sind moderne Eltern, das müssen Sie doch zugeben. Wir lassen sie in Ruh, weil wir nicht anders können. Aber es wird schon noch was aus ihr werden, schließlich ist sie doch erst achtzehn Jahre alt.« Er erörterte nun kurz den Stand der Erbschaftsangelegenheit und erneuerte sein Versprechen besten Bemühens, mit dem Zusatze, daß sie doch jetzt Freunde seien und man für einen Freund sicher alles tue. Aber es sei genug von Geschäften; die Hausfrau liebe es nicht, wenn man 140 etwas davon in das Haus mittrüge. Er tat feierlich, wobei ihn seine geblümte Samtweste und das zwischen den Bartkoteletten sauber rasierte Kinn sehr unterstützen mochten. Als der Marineoffizier eintrat, ging er mit devoter Vertraulichkeit auf ihn zu und fragte, wie lange der Urlaub denn noch dauern werde und ob man nicht etwa beim Ministerium etwas unternehmen solle, wo man doch auch seine Verbindungen habe. Herbert von Lärne zeigte schneeweiße gesunde Zähne beim Lachen, verzog erschrocken tuend das hübsche rasierte Gesicht und sagte schließlich, der Urlaub dauere ihm jetzt schon zu lang. Sicherlich würde ihn in vier Wochen, wenn er zu Ende sein werde, das Leben eben gar nicht mehr freuen; dann werde just der Moment sein, in dem nur mehr eine eiligste Einschiffung ihn der Mitwelt erhalten könne.

Erika war gekommen, blütenhaft schön und hell. Sie stand mit dem Bruder und Rudolf Feiler in einer Fensternische und freute sich sichtlich, daß die beiden Berührungspunkte, ja gemeinsame Bekannte entdeckten, als Feiler von einem halbjährigen Aufenthalte in einer südlichen Seestadt erzählte, wo er an einer biologischen Anstalt gearbeitet hätte. Sie versuchte, dem Bruder Stichworte von Anekdoten zu bringen, ihn überhaupt zum Erzählen zu bewegen und gebrauchte halbverstandene Matrosenflüche in seiner Betonung, was ihn sehr lachen machte. Als er, von der vorbeigehenden Hausfrau angesprochen, sich zu ihr setzte, fuhr Erika in des Bruders unterbrochener 141 Erzählung fort, eifrig, hastig, ganz in seinen Ton geratend, nachlässig und etwas nasal, mit einem künstlichen ausländischen Akzente redend, rauchte seine am Fensterbrette liegen gebliebene Zigarette weiter, während sie fortgerissen erzählte und endlich Sätze zuweilen mit »ich« begann, die vom Leben auf Schiffen und in Hafenstädten handelten. Das Hinzutreten Judiths verwirrte sie im Augenblicke. Sie begann zu stammeln und Judith fragte leicht spöttisch: »Ah, Dein Bruder hat hier erzählt!« Nun stand Erika wie gescholten, plötzlich ermattet, und es war, als ob selbst ihre Farben gelitten hätten. Da strich ihr Judith voll Zärtlichkeit über die Wange und – ging fort.

Weil es nun in ihr nichts gab, woran er sich zu wenden wußte, mußte Rudolf Feiler warten, bis wieder irgendein Leben in die schöne Erika gekommen war. Dies äußerte sich auf eine seltsame Weise; nach einem langen und hilfesuchenden Blick ihrer klaren Augen sagte sie leise: »Jetzt kennen Sie mich ganz.« In all der gelinden Benommenheit, die das Mädchen unzweifelhaft über seine animalische Existenz schleierte, konnte er sich doch des Gedankens nicht erwehren: »O du Weib, du sagst, ›jetzt kennen Sie mich ganz,‹ um mich auf dieser Vorstufe endgültig festzuhalten!«

Sie standen noch beim Fenster, auf den großen, verwilderten Garten blickend, darüber der ausgeregnete Tag im Vergehen sich erhellte und ein Stück hohen weißen Himmels hinter den tiefschwarzen Bäumen und schon geäderten Buschgruppen stand. 142 Erika seufzte im Wegblicken mit zuviel Ausdruck »wie schön!« und sah wieder versöhnt und erwartend auf den Mann. Der aber suchte ihre Lieblichkeit und helle Schönheit jeden Augenblick aus Verzerrungen zu erlösen und konnte in diesem ziehenden Wolkenspiel von Denken zu keiner Empfängnis ihrer Tatsächlichkeit aus seinen Sinnen gelangen. Ihre leicht und immer wieder dargebotene Vertraulichkeit vermochte er nicht zu nehmen, weil sich ihr ein schon vorgebildetes anders geartetes Verlangen nach einer solchen entgegenstellte. So fand er sich im wunderlichsten, nie erlebten Zustande vor ihr, der ihm Judiths Gegenwart als etwas Bestimmendes, einen unbedingten Katalysator, wie er sich bei sich ausdrückte, höchst erwünscht sein ließ, zumal ihm an ihr alles Rätselnde als ursprünglicher, leichter erratbar zu sein schien. Das Erraten aber lag ihm nach den Ungewißheiten des frühern Alleinseins genug am Herzen. Einen Augenblick lang mochte Judith sich nähern wollen, huschte aber dann, mit einer plötzlichen zärtlichen Grimasse leicht über seine Hand hinstreichelnd, vorüber. Er mußte sich also wieder Erika zuwenden, die auf seine eben liebkoste Hand, wie Judiths Geste nachstarrend, den Blick geheftet hatte und erst durch seine Anrede erweckt wurde. Er hatte nun die Absicht, sie über Judith reden zu machen. Er wußte von sich, wie gut und tief man sich verrät, indem man seine Vorbilder lobt oder tadelt. Aber sie verstand ihn. Unter der Maske halber Traumhaftigkeit wandte sie unbewegten Gesichtes ihren Kopf Judith nach, vergaß seine 143 Anrede und strich plötzlich auf die gleiche Weise, wie die Vorübereilende es eben getan hatte, über seine Hand hin. Obwohl er davon empfand, was sie sich erwartete, hatte er Mühe, sich ihres eben bewiesenen Scharfsinns zu erinnern, der seinem Verstande einiges zuzutrauen schien, und mußte sich alsogleich über die Leichtgläubigkeit, die vielleicht ein wenig verächtlich war, wundern, sobald sie die Region der Instinkte und Sinnlichkeiten streifte. Sie verließ ihn ganz unvermittelt, wohl unsicher geworden, und begab sich zu Berthold Sonntag, dem Kapellmeister, hinüber, der mit der kleinen Verwachsenen saß. Dort entzog sie sich durch eine Wendung seinem Blicke.

Feiler sah Judith neben dem Lehnsessel des alten Herrn von Lärne stehen, ging hin und horchte mit ihr den Geschichtchen, die er aus früheren Jahren, aus seiner Offizierszeit erzählte, die von vergessenen Theatersternen unschuldig tuende laszive Kleinigkeiten berichteten, die Judith herzlich belachte. Sie brachte Tee und, vom Vater des Marineoffiziers aufgefordert, von Wien zu erzählen, wo sie einige Jahre in Malschulen gewesen war, mimte sie Lehrer, verzerrte Kolleginnen, schrie selber fast auf vor Lachen, so daß das ganze Zimmer sich wieder, wie auf der Straße, nach ihr umsah, und konnte sich nicht genug tun in Spott und Darstellung von Lächerlichkeiten, was dem alten Manne ersichtlich wohl tat, der im übrigen selbst als ein harter Spötter und güteloser Kritiker galt. Die Mitbürger suchten zwar ein gebrochenes Herz unter seiner Schärfe, weil ihm doch vor vielen Jahren 144 seine Frau, die Mutter Erikas und Herberts, eine gewesene kleine Schauspielerin, fortgelaufen war, vergaßen aber, daß er daraufhin, damals schon um die Fünfzig, durchaus nicht melancholisch getan hatte. Während Judith aus ihren Zügen die erschrecklichsten Tierhaftigkeiten hervorholte und das kranke verwitternde Kavaliersgesicht über dem viereckig geschnittenen weißen Vollbarte ihr mit vielerlei Lächeln folgte, sah Rudolf Feiler kurz nach Erika hinüber, die sich ihnen wieder zugekehrt hatte, den Kopf jedoch wie horchend zu dem Musiker geneigt hatte, während über ihr Gesicht leichte Spuren von Judiths Mienenspiel hinwegzogen, gemildert auf der weichen Rundung ihrer Wangen, wie ganz fernes Wetterleuchten über einen sanften See geht.

Aus der Gruppe in der Ecke, wo Frau Rosenberg leitend herrschte, stand Herbert von Lärne langsam auf, fast sich streckend, und kam zum Vater herüber. Eine ungemäße Härte, die sich eher trotzig ausnahm, entstellte sein wohlgezeichnetes Gesicht. Zwei Falten von den Mundwinkeln nach abwärts schienen gelegt und mühsam gehalten. Als er sich einen Sessel herbeizog, trieb es Judith noch lauter, so daß die Mutter drüben hörbar die Stimme erhob. Gleich darauf hielt das Mädchen ein, ließ sich von Feiler eine Zigarette reichen und anzünden, obwohl die Zigarettenkassette neben ihr auf dem Tische stand, mußte husten und machte eine unbeteiligte Miene. Der Marineur schien nicht auf sie zu achten und begann ohne Einleitung, als ob er eben aufgehört hätte, von seiner letzten 145 Reise zu erzählen. Er sprach von der Eleganz und Weltgewandtheit der Damen in Smyrna, wobei er übermäßig viele fremde Worte verwendete, steigerte Tempo und Ton der Erzählung bei jedem Aussprechen des Namens Smyrna und gelangte endlich dahin, mit einer großen Geste zu sagen, daß dieses Smyrna die hinreißendste Stadt der Welt sei, an die zu denken ihm schon eine Fülle von Genüssen bringe. Man müßte die europäischen Damen, die Ambition haben, nach Smyrna in die Schule schicken. Die europäische Gesellschaft gehe rettungslos einer Sintflut der Langweile entgegen. Dort aber könne man leben, die Politesse des verfeinerten Europas genießen und darunter die couleur étrange alter unzugänglicher Kulturen und schrecklich schöner tropischer Wildheiten immer neu erregt erleben. Von dort habe er mehr als die übliche Landverliebtheit heimgebracht. Er liebe jetzt eine ganze Stadt, küsse täglich die Ansichtskarten, die er mitgenommen habe, und sei überhaupt entschlossen, Smyrna zu heiraten.

Judith tat allerlei, was Unaufmerksamkeit ausdrücken konnte, während er sprach, rief mehrmals laut das Dienstmädchen herbei und gab Anordnungen, die schon gegeben und erfüllt waren, und stand endlich auf, als ob sie Haustochterpflichten hätte. Sie verschwand aber sehr bald mit Erika im Nebenzimmer. Herbert von Lärne fragte den Vater, ob er den Wagen bestellt habe, erfuhr die Stunde und meinte, daß es schon Zeit sei zu gehen. Der Höflichkeit und dem Vergnügen sei Genüge getan. Er half dem 146 Halbgelähmten beim Aufstehen, was augenblicklich Herrn und Frau Rosenberg herbeirief. Sie begleiteten die beiden bis zur Treppe, Erika, hieß es, würde noch bleiben.

Rudolf Feiler wechselte derweil einige Worte mit dem Kapellmeister, drückte sein Bedauern aus, daß sie immer erst am Ende einer vorgesetzten Zeitspanne zueinander kämen, und empfahl sich dann rasch, ohne das Wiederkommen der Mädchen abzuwarten, zumal er sicher war, ihnen heute noch zu begegnen. Die Art der Mitteilung und Vorbereitung jenes versprochenen Geheimnisses versprach ihm irgendeine rechte Weiblichkeit und Kinderei, und er wußte, daß das Bedürfnis nach völligem Erzählen in den Mädchen zum mindesten ebenso groß sei wie die Neugierde in ihm.

 

Der aufgehellte Abend hätte einen Gang ins Freie angenehm und wünschenswert erscheinen lassen; doch dem dazu Willigen zeigten sich die Straßen gänzlich ungangbar, erweicht und zerfahren von unzähligen Rübenwagen, so daß er es vorzog, die gepflasterte Zeile neben dem Flusse mehrmals auf und nieder zu gehen, von vulkanischem Grollen und grellen Metallauten der ungeheuren Fabrik begleitet. In den hohen Bogenfenstern wechselte rhythmisch roter Lichtschein mit Verdunklungen, feuriger Rauch scheuchte den Sternhimmel noch ferner aus aller Menschennähe, und der angeschwollene laute Fluß spielte in seiner Weise die riesigen Gebärden mit. Als es Feiler Zeit zu sein schien, zur Hauptstraße zurückzukehren, fand er 147 sich auch weiterhin ohne geformte innere Vorbereitung, die zu brauen er seiner Natur auf diesem unbesinnlichen Gange anvertraut hatte. Er sah Erika allein herankommen, hatte fast Lust, ihr auszuweichen, stand aber dennoch schnell neben ihr und erfuhr, daß Judith durch eine unaufschiebliche Beschäftigung ferngehalten werde und Erika beauftragt sei, ihn in das Geheimnis einzuweihen.

Dieses bestand, wie sie nun ohne weitere Vorbereitung und Feierlichkeit erklärte, darin, daß die beiden Mädchen sich an einer Waldlisiere auf Lärneschem Boden einen zugrunde gehenden Pavillon, der aus gastlicheren Jägerzeiten her das Frühstückschlößchen genannt wurde, eingerichtet hätten. Darin hielten sie sich nun sehr häufig ohne Wissen irgendeines Menschen auf. Freiheit genössen sie ja hinlänglich. Aber nun wollten sie ihn mit aufnehmen in ihre Gemeinschaft. Sie hatten einen neuen Schlüssel anfertigen lassen, den Erika ihm übergab, indem sie ihn ermahnte, zu bedenken, was für ein Beweis von Vertrauen dies sei. Nun müsse er es auch verstehen, das Geheimnis zu bewahren, das für sie von solcher Wichtigkeit sei, weil es ihnen auf eigenem Boden eine gewisse Unabhängigkeit gewähre. Ein kindlicher Eifer begann sich in ihr zu regen. Sie sprach lebendig, schilderte die Mühe, die es gemacht hatte, Stück für Stück des geringen Mobiliars hinauszuschaffen, die nötigen Säuberungen und Ausbesserungen vornehmen zu lassen und bei alledem jeden Anschein irgendwelchen Bewohntseins zu vermeiden. Als Judith im 148 letzten Frühling nach längerm Fernsein wieder nach Hause gekommen sei und sie beide augenblicklich die alte Freundschaft und Zusammengehörigkeit entdeckt hätten, sei ihnen gleichzeitig das Bedürfnis nach einem solchen Orte gekommen, wo sie ein gemeinsames Zuhause hätten und wohin nichts dringen könne von der häuslichen Sphäre. Dann hätten sie, mitten in der Landschaft heimisch, unvergeßliche Frühlingstage dort genossen. Damals habe Judith es zustande gebracht, Bäume zu zeichnen, habe ein Bild von ihr selbst gemalt, das so einfach und klar sei, wie sie einander gewesen in diesen kristallenen Tagen, die ihr nun, jahreweit liegend, unter unverständlichen Strömungen des Lebens, zuweilen noch tröstlich heraufleuchteten und sie im Erinnern lehrten, sich selber einfach zu genießen.

Der kindliche Ton hatte sich nach den ersten Sätzen bald verloren. Feiler empfand sie zum ersten Male menschlich rührend, als ein Unterton sanfter Klage, verwunderter Schwermut und irgendein überreifes Wissen sich ihre schöne reiche Stimme zum Instrumente nahm. Gärten blühender Melancholie, aus denen die klugen redenden Vögel der Gedanken verflogen waren, hoben zu duften an, und eine milde bereite Gläubigkeit ging eine Stunde neben ihr hin. Jenes Schemen, das bisher den Namen Erika getragen hatte, benannte sich nun ferne mit dem Judiths. Sie bat ihn, von sich zu erzählen, und er tat es, voll Staunens, daß seine Zunge gelöst war. Er malte ihr in Farben, die er neu und schlafwandlerisch sicher auffand, mit großem Violett und schwerem Goldbraun, 149 vergiftetem Augenblau und entsagungssüßem Glanze von Kirchenfenstern die Geschichte seiner Jugend, einer kurzen bitterlichen Ehe und von Jahren dann der Arbeit, aus der er seine gewordene Seele in Farben von Bergmorgenfrühen hob und überhellte. Als seine Rede einhielt, sah er sein Schicksal einen Augenblick lang schön, gefährlich und aller Gewalt großen Lebens voll vor sich – und er fühlte sich in der nächsten Minute um sich selber, um seine paar armen Siege und alles Wollen nach aufwärts betrogen, fand sein Geheimstes verfälscht, mit Namen genannt, deren wenn auch geringe Ähnlichkeit mit seiner Wirklichkeit in diesem Legendenscheine doch eine Verlockung enthielt, sich ihrer auch künftig zu bedienen. Plötzlich wie sündig geworden, hatte er nun ein Stück schmerzlich-süßer Gemeinsamkeit mit dem Mädchen da – und vielen Willen dazu.

In ihrem Gesichte (sie lehnten im Sprechen an einem Gartenzaune beim Flusse, und Licht der Brückenlampen schien auf sie) hielt Hingabe mit halbgeschlossenen Augen und offenen, ein wenig zitternden Lippen still. Da er verstummt war und das Erschrecken über seine Erzählung seine Augen starr machte und seinen weichen und leidenschaftlichen Mund bös verhärtete, nahm sie seine Hand in ihre beiden Hände. Aber da mußte er zu ihr zurückkehren und als sie ihn nun solcherart als den Ihrigen sah, begann ihr Gesicht wieder das alte verzerrende, allzu willkürliche Rätseln mit Emporziehen der Brauen, Zucken des Mundes und allerlei Mienenzierat. Endlich schien sie 150 zu schauern, ließ hastig seine Hände los und bat, nach Hause gehen zu dürfen. Als er sich verabschiedete, getrübt und blicklos, war ihr Gesicht schön, glatt und gesättigt.

 

 

Widerwillens voll betrat er sein Zimmer, zündete die Lampe an und stand im Mantel noch still: »Wie ekelhaft, wie ekelhaft!« schrie er sich an, »wie niedrig ist diese Geisteskomödie, wie schmutzig sentimental! Kann man nicht eine schöne Frau einfach gewinnen, sie verführen, sie rauben? Aber, verlange ich wirklich nach ihr? Hat mich die andre nicht auch erregt? Was für ein Wahnsinn ist das . . .« Er war voll Schuldgefühls. Nach langer Zeit mußte er wieder an seine Frau denken, die nicht hatte mit ihm leben können. Jetzt empfand er fast Sehnsucht nach ihren geraden wilden Instinkten, ihrer Lebenssicherheit, mußte sich aber gleich darauf schamvoll erinnern, wie es sein Leid des Auseinandergehens schlecht und bitter gemacht hatte, zu denken, daß sie wenig leiden würde. Nun war er plötzlich mitten in allem Trüben, lange Verwundengewesenen seines Lebens. Sein Gefühl von Unreinheit wuchs, und er wiederholte sich, daß man nur eine neue Lücke schlagen müsse und alles Armselige, Unerträgliche und Verwerfliche steige daraus empor und mache die kleinste Sünde gegen das eigene Gesetz zu aller Sündigkeit. Er hatte eine üble Nacht mit vielerlei Art von Sehnsucht und Anklagen, Entschlüssen, die von Begierden getrübt und Verlangen, das vom Denken ermattet wurde. 151

 

Allzuzeitig morgens erwacht, unfähig, weiterzuschlafen, da der Tag kaum graute und die blaue urweltliche Stadt draußen sich mählich erst zurückfand in sein Leben, erhob er sich und versuchte zu arbeiten. Das Bild eines tätigen Lebens, seiner vielen harrenden Anfänge, war mit ihm erwacht. Er nahm ein schwieriges methodologisches Kapitel seiner großen, auf Jahre hinaus berechneten Arbeit vor, überlas flüchtig einige Notizen und begann zu schreiben. Es ging um die Forderung, Methoden als etwas physisch Bedingtes aufzufassen. Er war bald im Dichten, schilderte einen Charakter, umriß sein Triebfundament und dessen Wechselwirkung mit der Außenwelt, um endlich daraus eine der einfachen Denkmethoden abzuleiten. Als er aber eben daran war, die langwierige Vorbereitung mit der Darlegung des resultierenden Denkweges zu schließen, hielt er in einer erhellten Erregung, einem Gefühl von Ertapptsein inne, da er gewahr wurde, daß die eben vorgenommene konstruktive Analyse aus Quellen seines eigenen Abgrundes gespeist, ihm Eigenes mit nach oben gerissen habe und daß er sich also eben selber bewiesen habe. Aufatmend legte er die Feder fort, ging im Zimmer auf und nieder und besprach morgendlich und unverzagt mit seiner Einsicht in die Kräfte alles Lebens zuletzt das Eigene, an dem nun nichts Böses mehr war, da auch der verspielte und abwegsüchtigste Geist noch heimkommen und ein Daheim haben konnte dort, wo tief und unverrückbar Gesetz und Ordnung harrte, ihn aufzunehmen, ihn dem Tage und Lichte zu 152 entziehen und als Mittel und Baustein festzufügen. Lächelnd dachte er der beiden Mädchen, zärtlich lächelnd. Der Morgen war rein, und auf ein paar Dächern gab es schon Sonne. Die Hausfrau kam mit dem Frühstück, leise und unwandelbar freundlich. Aus dem zarten dämmerigen Wohlgefühle löste sich voller Tag. In ihn hinaustretend durchdrang den großen, jungen Mann so viele Frische, daß er in besserer Haltung, mit kräftigern Schritten die Straße hinunter und gegen die Eisenbahn zu schritt, wo er, nachdem er eine Zeitlang den Geleisen gefolgt war, wie Erika es ihm beschrieben hatte, einen Wiesenweg gegen die großen Auwälder zu einschlug. Im feuchten Grase bückte er sich zuweilen nach ein paar späten Blumen und freute sich ihrer reifen Heiterkeit ohne Melancholie und Oktoberlichkeiten. Im Walde mußte er zuweilen einhalten und dem schmalen Jagdsteige, der sich unter einer neuen Decke von Buchenlaub verbarg, nachtasten. Als der Wald sich lichtete und an die sauberen Stämme sich manches grellfarbene oder schon ein wenig verwaiste Gebüsch lehnte, sah Feiler Wasser schimmern, ging eine weite, nur zum Teil überschwemmte Lichtung entlang und erblickte an ihrer oberen Schmalseite, neben ein paar Pappeln und zartgelb überglänzten Birken einen niedrigen Bau, der jenes Frühstückschlößchen sein mußte. Näher kommend fand er es verwahrlost, mit abgefallenem Bewurf, so daß stellenweise das Ziegelwerk hervorkam, gelblichem Grün der Fensterladen und verwelkten Farben etlicher bemalter Girlanden, die über Türen und Fenstern gewunden 153 waren. Doch es lag weit aus der Welt, und er dünkte sich glücklich, den Schlüssel in der Tasche zu tragen. Er schritt die Stufen empor, schloß auf und fand sich in dem Zimmer, das den größten Teil des Pavillons einnahm. Während er zögerte, ob er die Fensterladen öffnen dürfe und sich endlich nur entschloß, die Brettchen der Rouleaux so weit zu verschieben, daß der Raum gerade etwas Licht habe, merkte er den starken und etwas makabren Heliotropgeruch Judiths und Erikas um sich. In der nun geschaffenen Dreiviertelhelle sah das Zimmer bewohnt und lebendig aus. Es gab reichlich Stoffe, Teppiche und starkfarbige Polster; ein ungestrichener Holztisch inmitten voll von Farbflecken, ein Zeichenbrett darauf, eine Staffelei und ein ganz niederer überbreiter Diwan in der Ecke füllten den Raum. Dem Eingange gegenüber war eine kleinere Tür in der Querwand, die in ein dunkles, anscheinend ehedem Küche und Kammer gewesenes Gemach führte. Die Wand zu beiden Seiten dieser Tür war auf das lebhafteste und wunderlichste bemalt. Feiler begann die Vielfalt von Figuren und Formen zu durchforschen und entdeckte darin abgeschlossene Gebilde verschiedenster Entstehungszeit und Laune ineinander verzogen. Er sah ernste, rührende, byzantinische Engel gemalt, strengen Faltenfalls der Gewande, Steintafeln in den unirdischen Händen. Daneben starrten fratzenhaft verzerrte Gestalten in neuzeitlicher Kleidung, von einfachen Emblemen aller Laster umrahmt, darüber war wie in einer fernen Perspektive ein antiker bacchischer Zug in göttlicher 154 Ausgelassenheit gebildet. Daran schloß sich in graziöser Verderbtheit eine pastorale Szene in Kleidung und Geschmack des achtzehnten Jahrhunderts, der wieder zahlreiche verliebte, buhlerische und lasterhafte, ja wahnsinnig verzerrte Darstellungen folgten, die, bis an die Decke reichend, allesamt eilig hingeworfen erschienen auf dem Kalke, der seine Vergänglichkeit in langen Sprüngen und Buckeln offen zur Schau trug. Gegen die linke Ecke zu war als eine Art Rahmen ein Streifen der ursprünglichen Wand freigelassen, rund um eine einzelne, bildmäßig wirkende lebensgroße Figur, die alle die andern weit überragte. Es war dies ein nackter Jüngling, der, die Arme verschränkt, die Beine gespreizt, mit stark hervortretenden Muskeln stand und den Kopf hart nach rückwärts gebogen hatte. Auf seinen Armen saß eine kleine weibliche Gestalt nackten Leibes und in Strümpfen und zierlichen Schuhen, mit peinlich damenhaft frisiertem Haar. Sie legte spielerisch die Hände an des Mannes Kehle und unter ihren Fingern kam ein bißchen blutiges Rot hervor. Das Gesicht des Mannes sowohl wie das der Frau waren mit größter Sorgfalt gebildet und zeigte hier eine etwas schmollende preziöse Lieblichkeit, dort den Ausdruck prometheischer Verzweiflung und hilflosester Lust.

Obwohl Feiler zu Anfang etwas belustigt auf dieses Malwerk eingegangen war, das Groteske belächelnd und im ganzen nur an die Malerin zu denken beabsichtigend, konnte er sich doch einer gewissen Erregung nicht entziehen, die ihm bei der Betrachtung der 155 letzten Darstellung völlig den Humor verdarb. Er sah sich genötigt, diese hingeworfenen Szenen als Tagebuchnotizen und erzählte Träume zu nehmen, und so fühlte er die Judith aus seiner willentlich erhellten, als begrifflich angestrebten Welt niedergezogen werden in Dunkelheiten, die er als seine eigenen hinzunehmen sich bequemen mußte und worin diese Erregtheit der Malerin Nöte und Schrecken an seinen eigenen maß. Er lag halb schauend noch auf dem Diwan, als er sich endlich besann, daß er wartete. Indessen entdeckte er mehrere Züge an den Figuren, die ihm bekannten Menschen anzugehören schienen, durchforschte die Zierate neben ihnen, worin sich Sanduhren, Gorgonenhäupter, eine Wage und vielerlei Schlangen und ähnliches Getier fanden, und las endlich, was auf der Tafel des Engels stand:

Ich bin durch tausend Tode geglüht.
Jeder machte mich einer Lust rein.
Nun hinter allen Lüsten blüht
Die eine noch: wissend zu sein.

Des Lesers eigene, lange übertäubte Stimme wollte sich plötzlich zu sprechen anschicken. Eine Erinnerung an die schon ferne Morgensicherheit kam ihr zu Hilfe – da liefen draußen Schritte, die Tür wurde aufgerissen und Judith stand atemlos im Zimmer, warf Mantel und Hut von sich und begrüßte Rudolf Feiler auf eine Art, die der skurrilen Feierlichkeit einer ihrer Figuren hätte entnommen sein können. Sie streifte ihre Malereien mit einem Blicke, verstummte einen Augenblick fast schamhaft, lachte aber dann schnell und 156 laut auf: »Sie wissen doch hoffentlich, wie das mit der Keuschheit gegen die Gefühle ist. Die grundeinsamen Dinge, die das Ich ausmachen, kommen doch nicht zutag und zu Herzen . . . richten Sie es sich nur ein wenig ein in dem hier Gebotenen, soweit wenigstens, als Sie nicht denken müssen.« Sie lachte ihm eine vieldeutige unnahbare Fröhlichkeit entgegen. Aber sie konnte ihm damit nicht verhehlen, daß sie übernächtig und im ganzen ermattet war, trotzdem sie in Eile, Beweglichkeit und Unruhe flackerte. Er hatte sie an den Armen gefaßt und blickte in ihr Gesicht, von Frage ganz bedrängt. In ihren grauen Augen ging Schrecken, Hohn und Gier auf und nieder. Sie zuckte ein wenig und machte sich los. Er griff nach ihr, wollte sie umschlingen, küssen. Sie schüttelte sich, stand im Augenblick in der aufgerissenen Tür und lachte gequält und schreiend. Er schämte sich, wund und allen Wissens um sich voll. »Hübscher Anfang,« sagte Judith, noch immer in der Türe stehend, »aber natürlich, selbstverständlich . . .« Da wurde Erika sichtbar, wie sie am untern Waldrande hineilte. Der weiße Streif aus ihrem offenen Mantel flog über das unbewegte Wasser hin. Judith zog die Tür zu, trat zu dem Manne und sprach leise: »Mensch, Mensch, mich kann man nicht versuchen!« Als Erikas Schritte schon nahe hörbar wurden, beugte sie sich über ihn und küßte ihn, wühlte sich in seinen Mund ein, gierig und suchend, indes kein Zug ihres nachdenklichen Gesichtes sich bewegte. Erst als die Schritte schon auf den Stufen klangen, erhob sie sich, 157 blieb aber bei ihm mit zusammengezogenen Brauen stehen.

Erika kam voll Frische, mit leichtgeröteten Wangen, und streckte den beiden, ihre versunkene Art nicht achtend, beide Hände voll Weintrauben entgegen. Sie setzte sich auf einen Polster, zog Judith neben sich und vor Rudolf Feiler nieder und begann Beeren von den Trauben zu zupfen, die sie den beiden mit spitzen, rosigen Fingern zwischen die Lippen schob. Ihr mochte vorkommen, daß jetzt Kindlichkeit nottue, und sie war kindlich. Judith senkte das Gesicht, in dessen kleiner Rundung sich jetzt eine solche Fülle von Not, Ringen und Beladensein breitete, daß sie eine Weile lang jenem von ihr gemalten Manne, der mit seiner Last und seinem Schicksal hinter ihr stand, ein wenig ähnlich war. Erika empfand ihre Unzugänglichkeit und kehrte sich Rudolf Feiler zu. Sie berührte beim Reichen einer neuen Beere so seinen Mund, daß er sie anblickte und einen Blick zärtlicher Frage und Zugehörigkeit von ihr empfing. Hiervon ward sie ruhig, sog Trauben vom Stengel und wartete, daß man zu ihr erwache. Der Mann sann sich nach, ward grauenvoll verlockt, das eben angerührte Geheimnis zu der Blonden zu vertiefen, sah die gequälte Judith und war von Rätselangesichten angestarrt. Er trieb sich in eine begehrliche Gedankenlosigkeit und gedachte endlich seiner selbst, da er sich also schwebend und verschwommen war, als wäre er dort an der Wand zusammen mit dieser Blonden gemalt. 158

Judith stand mit schweren Gliedern auf, schleppte sich zum Tische und holte ein Buch aus der Lade, in dem sie halblaut zu lesen begann: »Auch nicht dem Schönen gehörte er mehr an, sondern auch das Schöne schon hatte er unter sich; auch über den Reigen der Tugenden ist er hinweggeschritten, wie einer, der in das innere Heiligtum eingedrungen ist und die Götterbilder hinter sich im Tempel gelassen hat, sie, die ihm zuerst wieder begegnen, wenn er aus dem Heiligtume tritt, wo er geschaut hat und sich vereinigt hat mit dem, was nicht Bild noch Gestalt, sondern es selber ist. Nunmehr werden jene ihm ein zweiter Anblick. Es war aber wohl gar kein Schauen, sondern eine andre Art des Gewahrens, ein Hinaustreten und Einfachwerden und sich Weggeben und ein Verlangen nach Berührung, und eine Ruhe und ein Sinnen auf Vereinigung: wenn wirklich einer das Seiende im innern Heiligtume schauen wird.« Die Attitüde verzehrte sich, und ihr Gesicht wuchs aus ihrer Gewalt, alterte, allen Mächten preisgegeben, füllte sich mit Undeutbarem und Schicksal an, über das die Zeichen ihres Wollens und ihrer Gier nur mehr gehaucht waren wie das Bläuliche von Puder. Erika stierte in dieses Geschehen, wußte sich klein werden und suchte nach Mienen und Gesten, die sie verbergen könnten. Der Mann saß zwischen ihnen, von den Blöcken seines losgerissenen Verlangens überlastet, und sehnte sich klagend nach der klaren Welt des Denkens, in deren hellen Wellen er jetzt kadaverhaft untersank. »Was wollen sie von sich?« fragte er und wiederholte sich 159 die Frage immer wieder. Der Frage, was er von sich wolle, ging er zur Stunde völlig aus dem Wege, da die Antwort sich diesmal sicher nicht in das tragisch verbrämte Kleid bequemt hätte.

Erika spielte und zog, hin und wieder schauend, ob niemand sie beleben wolle, an ihrem vielen Haar, bis da und dort ein Strähn sich lockerte und es tiefer sank, und endlich, von einer heftigen Kopfwendung des schon schwachen Haltes entledigt, in großen Wellen niederfiel und sie, mit dem Wissen ihrer goldnen Hülle, alsogleich verwandelte, indem sie kauernd sich einer Beata Beatrix oder einer ähnlichen umrissenen, schwermütig verklärten Gestalt zu erinnern schien und sich innere Form aus ihrer zufälligen äußern holte. Judith entdeckte sie zuerst und verstand sie in einem nicht zu unterdrückenden wilden, höhnischen Lachen. Doch aus demselben Verstande glättete sich die verzweifelte Verachtung ihrer aufgerissenen Lippen. Sie ließ das Buch, das sie noch immer festgehalten hatte, fallen und ging langsam zu Erika, von einer mitleidensvollen Wandlung durchglüht. Bei ihr angelangt, holte sie die Freundin mit einer wunderbar zärtlichen, tiefstverstehenden, urverwandten Bewegung aus der Maske zu sich, wo diese in einem kleinen, unsicher flatternden Lachen sich gehalten fand und – früher als die andern – Worte besaß, augenblickliche, ohne Tiefe und Erinnerung, voll jener verführerischesten Vergeßlichkeit, die Judith oft selbst gerufen hatte, wenn sie Verlangen nach einem Satyrspiel trug, darin sie tanzen und über überlebte Abgründe 160 hinwegkichern könnte. Judith zuckte ein paarmal die Achseln und zog die äußere Gegenwart, die es nun wieder gab, in die innere ein. Nur der Mann schwankte noch durch das brünstige und entstellende Lichtspiel am Horizonte fremder Finsternisse, und war matt und mutlos. Der Gedanke, daß Mittag nahe sei und die Mädchen jetzt gehen und ihn allein lassen würden, erschreckte ihn mit der drohenden Pflicht, Ordnung in das Verworrene zu bringen, wie es sich bisher geziemt hatte, wenn man zum Alleinsein zurückkehrte. Wirklich besann sich Judith bald des Heimgehens und fragte ihn, ob er mit einem geringen kalten Mittagessen vorliebnehmen wolle, in welchem Falle er hier bleiben und ihr nachmittägiges Wiederkommen abwarten könne. Sie holte einige Eßwaren aus der Kammer, während Feiler fieberhaft dachte, ob es besser sei zu bleiben oder zu gehen. Als sie hörte, daß er bleiben wolle, dankte sie mit einem guten Blicke. Erika begann ohne Eifer ihr Haar zu ordnen, ließ die schon gehobenen Flechten mehrmals wieder sinken, hielt sie in die Sonnenstreifen aus den Ladenritzen und mußte durch Judith zur Eile angetrieben werden. Eine schöne ruhige Tierhaftigkeit der Bewegungen wurde jetzt, da es keinen verwandelnden Gedanken in ihr gab, an ihr deutlich. Die Mädchen gingen, wie man in ein Nebenzimmer geht.

Feiler streckte sich auf den Diwan hin, müde und im Gefühle, eine große Aufgabe vor sich zu haben. Als er diese aber zu prüfen begann, entdeckte er, daß sie mit dem Fortgehen der Mädchen merkwürdig 161 geschrumpft sei und sich eigentlich nur noch in einem Flackern und einer ungewöhnlichen Farbigkeit der Empfindungen auffinden lasse. Nach etwa einer Stunde matten Liegens spürte er Hunger und verzehrte alles, was Judith ihm zurückgelassen hatte, Obst und einige trockne Kuchenstücke. Ein Herabsinken des Gefühls ließ ihn in dem Raume neuerdings um sich blicken, der unter der bunten Unordnung jetzt sogar Zeichen von Unsauberkeit aufwies. In der Ecke neben dem Diwan gab es ein Häufchen von Papierschnitzeln, Traubenresten und Apfelschalen, ja auch eine halbausgerauchte Zigarre lag da. Sein Wirklichkeitssinn erwachte und fragte, woher die kommen könne, wenn dieser Raum nur den Eigentümerinnen und ihm bekannt sei. Ein dumpfes Mißtrauen, augenblicklich durch die tausend Unsicherheiten seiner Beziehung zu den Mädchen genährt, holte ihn aus seiner Rolle des erwählten Vertrauten, des verlockenden Fremden, in der er sich doch zu gefallen begonnen hatte, und stellte ihn vor die Möglichkeit, die übelste Komödienfigur zu sein. Nun war alle Eitelkeit wach, machte ihn zu einem eiligen Fortgehen bereit und trieb ihn aus Warten und Verlangen. Dem bißchen Herzklopfen zum Trotze bemühte er sich, klar zu denken und recht wahrhaft zu sein, als er so in Hut und Mantel im Zimmer stand. Doch da aus ihm eine Bewegung zur Tür geschah, erschrak er und verstand die junge, eifersüchtige und gründlich unbedachte Verfassung, in der er sich befand, und begann sich nun alle vorgefaßte und betonte Geistigkeit dieses Verhältnisses 162 klarzumachen, die von jeder Ursprünglichkeit ferne Art der beiden Mädchen, endlich das Ungemäße, ja Lächerliche eines solchen, bürgerlichen Forderungen ähnelnden Verhaltens. »Freilich habe ich mich in diesen letzten Tagen vielfältig entdecken gelernt und habe erfahren müssen, daß ich mich in den paar Jahren der Ungeselligkeit und des bißchen Verzichtens gründlich vergessen habe, während ich meinte, in alle meine Tiefen gelangt zu sein. Ich muß mich wirklich schämen, im Elementaren und Anfänglichen noch solche Fehler zu begehen. Es scheint, daß ich einiger ordentlicher Nachschulen des Instinktes bedarf und daß mich weder die teuer bezahlte Liebe noch die billigen Liebeleien genug erzogen haben. Die Gymnasiastenhaftigkeit, die ich täglich beim Abendspaziergange sentimental und genießerisch vorfinde, muß doch tiefer in mir wohnen als die Helligkeit und Reife, mit der ich mir meine Existenz so gerne rechtfertige. Mögen sie hier Orgien gefeiert haben! Habe ich mich denn bisher um ihre Vergangenheit gekümmert und etwa ihre notwendige Jungfräulichkeit berechnet? Ein bißchen Blamage und ein tüchtiges Frauengelächter täte mir jetzt sehr not, damit ich mich ordentlich schämen lernte. Die zwei Mädchen haben keine Zeit, mich als unfertig zu nehmen und in meine Defekte hineinzulachen. Die wohlfeile Erwachsenheit, das Selbstverständlich-genommen-werden hat mich verwöhnt. Darum habe ich mich gestern plötzlich mit den wildesten Wasserfarben ausgemalt und mir selber geglaubt, weil niemand mir mißtraut hat.« Ruhig tat er Mantel 163 und Hut von sich, ließ sich wieder nieder und betrachtete den Zigarrenstummel jetzt mit einer gebändigten Neugierde und mit ein wenig jenes bösen Gewissens, das er selten genug zu fühlen bekam und das bitterer schmeckt als jedes aus Moralen und Göttereien redende, weil es dorthin weist, wo kein Gebet und kein Bußweihrauch versöhnen und beschwichtigen kann. Die Gegenwirkung dieser Selbstbelehrung blieb nicht aus. Es gab da nämlich plötzlich eine Entschlossenheit und wärmende Bereitheit, sich zu verlieben, die Instinkte, denen er eben in die scheuen Augen geblickt hatte, einen Taumel und Tanz tun zu lassen, das Ganze freilich schlecht aufgeputzt, voll Lehrhaftigkeit und einem Willen zur Wahrheit über sich selbst, dem er allzuschnell unter die Maske sehen konnte. »Am klügsten wäre es,« dachte er, »sich so leichthin geschehen zu lassen, wenn man solche Entdeckungen gemacht hat, daß zum Beispiel ein blutjunger Entschluß zu wunderbar vergeistigten Abenteuern so schnell von einem neuen, der wahrhaftiglich das Gegenteil will, abgelöst werden kann. Aber wie sollte man das anfangen, wenn man also als Zuschauer und Horcher an der eigenen Wand erzogen ist, sich jetzt zurückzubilden zu der nötigen Unbefangenheit? Am Ende ist es noch ein Glück, daß man so unvollkommene Sinne hat und sich entgeht – und trotzdem sich werden lassen muß, indem man, sich formulierend, von der nächsten Stunde und der nächsten Begierde überholt wird.« Und er formulierte lächelnd vor sich hin: »Das Ich ist der Koinzidenzpunkt all der psychischen 164 Erscheinungen, welche als bereits geschehen registriert werden können und somit keine eigentliche Bedeutung für den Ablauf haben, ein größenwahnsinniges Präteritum . . .«

Als Judith bald darauf kam, fand sie ihn wohlgelaunt in seiner von Mißtrauen gewürzten Heiterkeit und war allem Anscheine nach gleichfalls fast fröhlich. Er bemerkte eine rasche Helle in ihr Gesicht schimmern, als sie ihn allein vorfand. »Ich habe Erika verfehlt,« sagte sie, seiner Frage zuvorkommend, sah ihn fast zärtlich an und kramte aus einem Paketchen, das sie gebracht hatte, allerlei Eßbares. Dann aßen sie, nebeneinandersitzend, Torte und genossen fraglos Augenblicke voll flüchtigen Naheseins, mit jungen hellen Blicken einander suchend. Da aber dem Manne sich die alte schwere Gloriole von Liebe um sie legen wollte, entwand sie sich und kehrte in ihr Sichsuchen, Sichzeigen zurück. Nach einer kurzen Zeit kam sie mit einer Mappe voll Zeichnungen wieder zu ihm und hielt ihm, ohne erst etwas zu sagen, wilde inbrünstige Bilder einer Passion des Weibes vor, in denen tiefer und leidenschaftlicher noch als an jenem gequälten Manne die natürlichsten und einsamsten Schauer der Geschlechtsdämone gestaltet waren. Mehrere Blätter zuletzt wies sie erst nach einigem Zögern. Auf dem ersten unter diesen war eine furchtbare Vision haßvoll und gierig verschlungener Leiber zu sehen, fast zu einem Ornament geschlungen um eine aufrechte, ruhigblickende, wohlgekleidete Frauengestalt, welche die Züge wie die Haltung der Mutter, 165 in das Kälteste und Unlebendigste verzerrt, trug. Die übrigen Zeichnungen scharten um ein Mädchen, das einmal Erika, ein andermal Judith selber sein konnte, allerlei Zeichen des Leidens, der Sehnsucht in einer höchst schwanken und unfaßbaren Welt. Das letzte Blatt umriß karg eine wüste Landschaft, über der das alte Gleichnis des heiligen Geistes schwebend stand. Doch an der Brust der Taube hing, mit zahlreichen Armen sich anklammernd und mit etlichen Rüsseln festgesogen, ein spinnenähnliches, grauenhaftes Tier, das mit den längsten und stärksten seiner Fangarme unten an der Erde verankert war. Die Deutung könne nicht schwer sein, sagte Judith mit einer unsichern Stimme und von neuem sehr unruhig. Im Bergen der Mappe fügte sie hinzu, sie wolle diese Blätter keinesfalls einer kunstgemäßen Beurteilung unterzogen wissen, da gerade diese kaum andres seien als das eben aus dem Blute gehobene Material zu Kunst. Sie wisse aus sich genau, was Kunst bedeute, wie das Wesentlichste daran die Bändigung sei. Da sie aber diese Zeichnungen gezeigt habe, sei ihr doch noch um ein andres zu tun gewesen. Sie lief ein paarmal das Zimmer auf und nieder, ehe sie wieder zu Feiler zurückkam, der sich seiner ihm wesensfremden Vergeßlichkeit in dem Augenblick bewußt wurde, als sie aufhörte, willentlich zu wirken. Er wollte eben hastig und gierig aus aller Kraft Zusammenhängen nachjagen, stillte sich jedoch, als sie sich von neuem näherte, in dem Gedanken, daß er vielleicht unwissentlich, auf diese Weise vergeßlich, die einzige Spontaneität und 166 Unwillkürlichkeit finde, die in dem Verhältnisse überhaupt möglich sei, nachdem ja unzweifelhafte Regungen das vorgefaßte rein Spirituelle längst verseucht hatten. Ein plötzliches liebkosendes Streicheln, unvermutete lange gierige Küsse und ein jähes Leib-an-Leib-Liegen verwirrten ihn vollends. Da Judith sich von ihm ein weniges entfernte, trat Erika in die Tür. Wie am Vormittag schien sie auf die fassungslose Unruhe der beiden gar nicht zu achten. Sie fragte gleich Judith, wieso sie nicht verabredungsgemäß sie erwartet hätte, was diese, verwundert scheinend, mit einer Unklarheit in ihrer Vereinbarung zu erklären suchte. Indessen besann sich Rudolf Feiler, ob Judith die Freundin kommen gesehen haben konnte, ob ihre nun schon ein zweites Mal kurz vor dem Erscheinen der andern aufflammende wilde Zärtlichkeit eine besondere Bedeutung habe, ob sie etwa ein Versuch sei, eine geheime Zusammengehörigkeit aus seinen Sinnen zu holen, die die Gegenwart Erikas überdauern könne, oder ob sie als ein Mittel beabsichtigt sei, die Wirkung der Blonden abzuschwächen. Sie sprachen nun, sich zurechtfindend. Feiler wurde über den Stand seiner Angelegenheit, die vermutliche Dauer seines Bleibens und seine weiteren Pläne gefragt. Er mußte lachend gestehen, daß er, der doch im allgemeinen höchst ordnungsliebend sei, keine Ahnung habe, wie weit sein Prozeß gediehen wäre, und daß er keineswegs über die Begrenztheit seines Hierseins nachdenke noch irgendwie besondere Pläne mit sich habe. Er sei seit Jahren zum erstenmal für längere Zeit 167 aus seinen Arbeiten aufgewacht und wisse noch nicht klar, wo eigentlich seine Wirklichkeit, wo der Traum sei. Im Sinne der beabsichtigten Beziehung zu Judith hatte er es bisher stets vermieden, von sich zu sprechen. Nun erzählte er das erstemal vor ihr über seine Lebeneinrichtung der letzten Jahre, scherzend freilich und in einer Art, die, obgleich er wahrhaft und alles berichtete, den Anschein von vielem Verschweigen erweckte. Erika sah der nicht gewöhnlichen Aufmerksamkeit zu, in der Judith folgte; das willige Lauschen der allem Lauschen fremd Gewesenen schien sie zu erregen. Sie versuchte, in das Gespräch einzugreifen und brüstete sich mit ihrem Wissen um Feilers Vergangenheit, fand aber keine Aufmerksamkeit. Als der Erzähler, sich besinnend, einhielt, fing sie plötzlich zu kichern an, unterdrückte ein Auflachen auffällig und berichtete, endlich befragt, sie könne sich der Komik nicht erwehren: man stelle sich vor, daß sie, als sie von zu Hause fortgegangen sei, auf ihrer Treppe das Dienstmädchen der Petrini gefunden habe, das sicherlich auf ihren Bruder gewartet habe und, ihrer ansichtig geworden, einen bereitgehaltenen Brief eiligst versteckt hätte. Man wisse ja genau, daß Herbert nach dem Essen in das Kaffeehaus zu gehen pflege; und die Sprachlehrerin sei eine unternehmende Dame. Übrigens werde dem Bruder diese Abwechslung sicher willkommen sein. Feiler erklärte sie nun kurz, wer jene Petrini sei. Ein wenig von oben herab schilderte sie ein Mädchen nahe den Dreißig, das sich vor einem Jahre in der Stadt niedergelassen habe und hier 168 seither das Italienische und Französische lehre. Sie wechsle ihre Schüler und Schülerinnen sehr häufig, sei es, weil ihre Lebensführung etwelchen Müttern nicht behage oder weil sie selbst der Sache immer bald überdrüssig werde. Sie könne indessen für eine hübsche und kluge Person gelten, die über eine Menge weiblichster Begabungen verfügen müsse, die den klügsten Leuten der Stadt es wert erscheinen ließen, sich um Lektionen bei ihr zu mühen. Hübsch sei sie wirklich, mit dem weißen Gesichte und dem ganz schwarzen Haare, der graziösen Gestalt mit den langen, noblen Beinen. Sie fügte noch allerlei über das Äußere der Petrini hinzu, zum Schlusse überaus anerkennend. Judith schien sie mehrmals hart unterbrechen zu wollen, kam aber nie über das erste Wort hinaus, und gab sich schließlich einem ganz unaufmerksamen Nachdenken hin, aus dem sie auch eine spätere herzliche Anrede des Mannes nicht erwecken konnte. Als er dann neuerdings zu ihr zu sprechen versuchte, sah sie gereizt, mit bös verzogenen Brauen flüchtig auf und ging zum Fenster, durch dessen Spalten sie in die tiefstehende Sonne über dem Walde blinzte. Das Zimmer, von schrägen, grellen Streifen durchzogen, dunkelte schon gegen die Ecken zu. Erika ging, die Tür zu öffnen, was man, wie sie sagte, so nahe dem Abend ruhig wagen könne. Plötzlich war trauriger Herbstgeruch in dem Raume. Über dem Wasser ballte sich weißer Rauch, gegen den untern Waldrand zu sich höhend, so daß dort nur mehr die äußersten lohenden Baumkronen vor dem überaus reinen, tiefen Himmel 169 schönster Herbstabende zu sehen waren. Erika sah still, wie überglänzt lächelnd hinüber. Von Judith aber kam ein solcher Hauch von Unruhe und Verstörtheit hergeweht, daß man fühlen konnte, wie über ihr abgewandtes Gesicht die vielen bittern und suchenden Bewegungen dahingingen. Als die Sonne den Waldrand berührte und die roten Lichter aus dem Zimmer fortnahm, kam Judith zu Feiler und sagte sehr beherrscht, sie wolle nach Hause, sie müsse, weil man sie erwarte, und ging eilig fort, indem sie erst im Gehen ihren Hut aufnahm und die Jacke anzog. Die beiden Bleibenden sahen ihr nach, bis sie in den Nebelwall, der, nun nicht mehr erleuchtet, grau und blau dunkelte, untertauchte.

Erika hielt ein geheimnisvolles Lächeln auf ihren Lippen, als sie sich von Feiler angeschaut merkte. Er hatte, obwohl er ihre Absicht wußte, keinen Mut zu fragen. Ihm war nicht wohl. Die Besinnlichkeit der Dämmerung hatte er zu fürchten, da Judith, die ihn vergeßlich und gegenwärtig machen konnte, fort war und er sich vor der Blonden da als zu Gefühlsseligkeit und allerlei Arien und Seelenzierat allzu verführbar erwiesen hatte. Da sie sich aus der Nachschau zurückkehrten, fanden sie das Zimmer hinter sich schon völlig dunkel geworden und noch lauer Wärme voll, indes von draußen herbe, feuchte Kühle kam, so daß Erika in ihrem leichten weißen Kleide ein paarmal sichtlich schauerte. Ihre Gesichter standen, weiß im Dunkeln, maskenhaft, nahe beieinander, und ihr weiches wartete auf Züge, die seines ihr schenken sollte. 170 Er aber hielt sich fest und zwang sich, an Judith zu denken, während schon der verwandelte Augenblick ihn durchdrang, Flügelschlagen wunderlicher Sehnsuchtsvögel in ihm rauschte und das nahe Antlitz da auch den geschlossenen Augen erschien. Endlich war er wieder wie als Knabe in der Kirche, da er sich an den Gedanken zu Gott geklammert hatte und doch immer wieder an Schauen, Horchen und Gegenwart verfallen war. In ihr dachte es: »Wenn ich meine ersehnte Kraft hätte, ließe ich mich jetzt blühen, aus aller Menschentiefe empor mich treiben, so daß mein Hierstehen schon ihm paradiesisch duftete. O meine Schönheit, wie hat die Nacht über dich Gewalt. Meine Macht weht wie Sommerfäden weit irgendwo und mein Leben rührt einen an, den ich nicht kenne, dessen Sehnsucht mich nicht erreicht . . . Mein Körper ist Euch eine Äolsharfe, Euer Geheimstes noch wundervoll klingend. Was, hört Ihr sie nicht? Oh meine tiefen, großen Klänge . . .«

Als er ihrer Gegenwart gewahr wurde, weinte sie schon, tief einsam und unerfüllbar, und erschöpfte alles, was ihr eigen war an Leben, in einem keuschen, verhaltenen, abgewandten Schluchzen. Seine aufwallende Zärtlichkeit und sein heißestes Helfenwollen kamen zu spät. Als unter seinen geflüsterten innigen Trostworten, die zu allem Weh flehten, und unter seinen streichelnden Händen ihre Tränen einhielten, nahm sie seine Nähe, seine Liebkosungen und endlich seine Küsse ohne Wachsein und Antwort hin, suchte im Wissen nach unauffindbarer Lust und schauderte 171 in leerer Neugierde. Er hatte sie, die nicht widerstrebte, auf das Sofa gebettet und hauchte viele Sehnsucht über sie hin. Doch nach langen, glühenden und kindlichen, betenden und lustheißen Worten lag sie doch traumweit, in einer andern Welt an seinen Händen, die mit einem Male, wie vor der Berührung einer Toten, erschraken und in das Dunkel flüchteten. Wahnsinnige verworfenste Einsamkeit stürzte sich dort auf ihn und trieb ihn in alle Wüsten, die bereit sich breiteten, wo jede Schmach, alle verstoßene Werbung seines Lebens ihn in Gestalten, denen der glühende, höhnende Schatten seiner Frau vorauseilte, anfielen und peitschten.

Dann gingen sie wieder zusammen hin durch Abend und tiefen Nebel, ein Phantom und eine tiefe Not. Es gab keine Worte auf Erden, die einen Weg gefunden hätten aus ihrem Weh zu seinem. Da sie die Straße betraten, verschwand sie wortlos von seiner Seite. Er ging getrieben seinen gewohnten Weg auf und nieder. Nach einiger Zeit gesellte sich ohne weiteres Fragen ein Mann zu ihm, den er als den Kapellmeister erkannte. Eine kleine, uneingestandene, hilfsbedürftige Erwartung wagte einen scheuen Blick zu dem breiten sichern Manne, ehe, was Feiler sonst war, sich bereit machen konnte, ihm zu horchen. »Mir scheint, Herr Doktor, Sie haben heute einen unguten Tag,« sagte der nun mit einem guten Klange. Lange hatte niemand gefragt, wie es um ihn stehe. Feiler fühlte einen linderen Wind durch seine Wüsten streichen. Er verstand sich jedoch nicht darauf, sich trösten zu 172 lassen. Daß es einer wollte, schien viel. Eine heiß aufströmende Dankbarkeit machte ihn sehnsüchtig, schenken zu können. Er sagte anfangs noch stockend: »Ich bin sehr froh, Sie getroffen zu haben. Heute bin ich besonders empfänglich, Sie erzählen zu hören, Herr Professor. Ich habe kaum je einen Menschen getroffen, in dem ich so viel Kunst geahnt hätte wie in Ihnen.« Das bäuerlich rasierte, faltenreiche und doch junge Gesicht lächelte verlegen: »Die gescheiten Leute sind gefährlich für unsereinen, lieber Herr Doktor, weil sie unsern bescheidenen Sachen gleich solche Namen geben, daß wir uns selber nicht mehr erkennen. Mit der Kunst in mir ist es halt so, daß mich die Musik freut, furchtbar freut und aufregt, daß sie mich immer mehr und mehr beschäftigt, so daß ich am Ende noch ein schlechter Mathematiklehrer sein werde und meine Burschen wegen meiner Musik keine ordentliche Analytik erlernen.« Die Redeweise des Mannes, der jedes Wort, langsam es auf seine Vollwertigkeit wägend, hervorholte, zwang Feiler, der erst zu einem dankbaren Opfer bereit gewesen war, ehrlich zu horchen: »Daß mein Vater ein Bauer ist, sehen Sie mir doch an. Ich bin wie so viele Bauernbuben durch den Pfarrer zum Studieren gekommen. Der hat mich auch das Orgelspielen gelehrt, und so hat mein Musizieren angefangen. Was für ein guter, heiliger Mann der alte Pfarrer war! Sein Leben müßte man beschreiben. Das täte so manchem gut, wenn er von so einem saubern Dasein was erfahren könnte. Ich werde Ihnen schon noch einmal von ihm erzählen. 173 Also dann in der Großstadt habe ich eben das studiert, was ich im Gymnasium am besten gekonnt habe, die Mathematik. Ein richtiger Mathematiker bin ich ja nicht geworden. Aber was ich früher gelernt habe, hat sich doch vertieft, und so habe ich mich ruhig trauen können, zu unterrichten. Aber das Musizieren hat mich nicht losgelassen. Ich habe gelernt und zugehorcht, wo nur Gelegenheit war. Ein Jahr habe ich mir's absparen können, Stunden zu nehmen. Das war ein Glück! Derweil habe ich auch zu komponieren angefangen, es hat mir nicht Ruhe gelassen, aufzuschreiben, was mir eingefallen ist, wenn ich an eine Orgel gedacht habe. Jetzt dirigiere ich hier schon zwei Jahre und lerne das Orchester ein bißchen kennen und schreibe auch schon Partituren. Meinem Lehrer, der ein berühmter Mann ist, habe ich neulich einmal eine Messe geschickt und ein Orgelkonzert. Vorgestern ist der Brief von ihm gekommen, ich habe ihn da bei mir, er ist mein Stolz und meine Freude. Er schreibt mir, daß er glücklich ist über seinen Schüler, und verspricht mir ein bißchen geheimnisvoll allerlei. Hier im Orchester haben sie mir angetragen, etwas von mir zu spielen. Aber wissen Sie, das mag ich nicht. Die Leute da in der Stadt, die nicht einmal einen Schubert und Beethoven noch richtig kennen, die brauchen meine Sachen wirklich nicht. Hören möcht ich's wohl gerne, aber dazu muß schon ein Wunder geschehen.« Rudolf Feiler horchte zuletzt fast mit Andacht. Ein Leben ruhiger und klarer Ziele und Wünsche lagerte sich über seinen dumpfen Kummer, 174 der nun auch nicht mehr mit voller Gewalt aufsteigen konnte. Da schreckte ihn die Stimme Erikas empor, die hell und biegsam auflachte. Drüben auf der andern Straßenseite ging sie mit dem Bruder und einer schlanken Frau, die der frühern Beschreibung nach jene Sprachlehrerin sein konnte. Bertold Sonntag sah gleichfalls hinüber und sagte: »Der Bursch steckt voll Schlechtigkeiten. Wenn das Mädel daneben nicht seine Schwester wäre, täten sie sich sicher ineinander verlieben. So eine falsche Schönheit! Neulich beim Doktor Rosenberg habe ich mir sie und ihre Freundin Judith ordentlich angeschaut. Die Judith geht mir noch mehr gegen das Gefühl, nicht nur, weil sie so unmusikalisch ist. Das sind sie übrigens alle drei, der Bursch besonders, der alleweil seine Operetten pfeift. Der paßt vielleicht mit seiner sentimental aufgeputzten Muskelmenschenschönheit noch besser zu der Judith als zu seiner Schwester. Aber was geht's mich denn an? Nur erbittert mich immer wieder, daß diese gerade, gescheite und gute Frau Rosenberg so unter der Tochter zu leiden hat. Die ist einer der besten Menschen in der Stadt, glauben Sie mir!« Rudolf Feiler fühlte in diesen Urteilen den eben noch empfundenen reinen und echten Menschen weit fort in eine Atmosphäre von kleinem Leben, geringen Ansprüchen und niedriggearteter Geselligkeit rücken, wohin er nicht mehr zu folgen vermochte. Seine geistige Zucht lehnte sich auf, und gleichzeitig kehrte das Bewußtsein um eben verratene Schmerzen wieder, vertieft und wehevoll durch den jetzt erst klaren Anblick 175 Erikas, der viele Fragen brachte, die den schon ferne Lachenden nacheilten. Er verabschiedete sich schnell von Bertold Sonntag, mußte ihm aber versprechen, ihn demnächst zu einem längeren Spaziergange abzuholen, und eilte von dem Kirchenplatze, wohin er ihn noch begleitet hatte, seinem Hause zu.

Kurz vor seinem Tore hörte er seinen Namen rufen. Er wandte sich und erblickte Judith, die ihm nachgekommen sein mußte, und jetzt mit einem fremden Gesichte voll stiller Klage zu ihm trat und ihn anredete: »Ich bin sehr unglücklich!« Noch ehe er sich voll zu ihr besinnen konnte, sagte sie hart und böse: »Aber Sie wollen nach Hause gehen. Gehen Sie doch, so gehen Sie!« Und sie lief vor seiner erschrockenen und stammelnden Antwort davon.

 

Gewohnheiten folgend, die, in das übervolle Denken nicht weitergeleitet, ihm nichts von der Heimlichkeit eines im eigenen Leben Zuhauseseins schenken konnten, saß Feiler endlich vor dem kleinen Schreibtische. Das arbeitsvolle Dasein von Jahren, das sich gern an einer kleinen Umgebung gütlich getan und mit allerlei Idyllen jeden Ausblick belohnt hatte, verleugnete ihn, seit eine neue Jugendwirrnis ihn in tödliche Gesichte des Begehrens hatte blicken lassen. Die Lust, die mitwohnte, wo er war, das Verlangen, das ein im Grunde Außer-Sich schafft, machten ihn, der viel und gern allein gewesen war, einsam. Heiß und schmerzlich gewahr wurde er dieser Verlassenheit, als die verspätet heimkommende Hausfrau ihm einen im 176 Briefkasten vergessenen Brief überbrachte, dem augenblicklich alle Kräfte seines Daseins, wirrer Hoffnungen voll, entgegentaumelten. Das hastig aufgerissene Schreiben enthielt nur eine Mitteilung, daß Feilers Erscheinen vor Gericht für den folgenden Tag gewünscht würde. Er stürzte in seine Abgründe zurück, wo müd gejagte Wünsche zu einer unerreichbar Leidenden betteln kamen und sich vor schönen blinden Augen geißelten. Das ruhige Bauerngesicht Bertold Sonntags gesellte sich zu ihm und verwies ihm durch sein Dasein jeden Weg, der zu einem Ausruhen, einem Leben in mindern Ansprüchen und in einer andern Luft als in der des eigenen Geistes hätte führen können. Ein erschöpfter Schlaf trug ihn endlich fort aus Wünschen und Fragen, nachdem er sich beschämt und kampfmüde diese Flucht der Sieglosen und Matten gestattet hatte.

 

Dem früh Erwachten kam der Tag zu spät. Wie gut hatte er früher immer geschlafen! Noch im Bette liegend suchte er nach irgendeinem Versprechen in dem steigenden Lichte, erhob sich endlich und dachte, daß man das neue Stück Leben um des Lebens willen wagen müsse. Aber es ist sehr schwer, schon am Morgen zu verzichten, da sich noch alle Zukunft gern als dieser eben erwachte Tag darstellen möchte.

Rudolf Feiler erschien viel zu früh in dem Gerichtsgebäude. Er ging lange, bis zur körperlichen Ermüdung, den weißen, leeren, schläfrigen Gang auf und nieder, ehe einiges Gehen und Sprechen die 177 Hoffnung auf eine Augenblicksausfüllung zu ihm trug. Der Anwalt kam in Begleitung einer ältern Frau, auf die er, während er sie in ein Zimmer führte, eifrig einredete. Er kehrte nach kurzer Zeit wieder um und rief Feiler entgegen, daß schon der Teufel mit dabei sein müsse, wenn der heutige Verhandlungstag nicht bereits eine tüchtige Entscheidung brächte. Er habe alles getan, eine solche herbeizuführen, und sei seinerseits von der günstigsten Lösung überzeugt. Rudolf Feiler wurde von einem Gerichtsdiener aufgerufen, und sie folgten in ein entfernteres Zimmer, wo er karg auf schwerverständliche, fernliegende Fragen antwortete, wo allerlei Reden hin und wider gingen, der Doktor Rosenberg sich endlich mit einer überraschenden Feierlichkeit erhob und andauernd sprach, ohne daß Feiler lange zu folgen imstande gewesen wäre, da ihm plötzlich einfiel, daß dieser Verteidiger seiner wunderlichen und traumhaften Rechte der Vater Judiths sei. Ein Familiengemälde errichtete sich vor ihm. Eine kürzlich gehörte Bemerkung des arbeitsamen Sprechers dort malte diesen ganz in der engen Heiterkeit seines Lebens. Gelegentlich einiger anerkennender Worte nämlich, die Rudolf Feiler während seines Besuches über schöne und besondere Teppiche, die er sah, äußerte, hatte Doktor Rosenberg gesagt, daß ihm gar kein Lob gebühre, das sich auf Annehmlichkeiten des Lebens beziehe. Er arbeite, so gut er könne. Die höhern Funktionen hätte er seiner Frau überlassen, die für ihn schön, geschmackvoll, künstlerisch, alles was man nur wolle, sei. Diese Frau 178 nun stellte er neben ihn, besessen von ihrem untadeligen Leben, ihrer Schönheit, deren Sinnlosigkeit das Altern zerfraß, und in der hochmütigen Enttäuschung über die Tochter, in der sie nichts ihr Bewußtes weiterleben sehen konnte. Dazu gesellte er Judith, verwirrt und gequält, versuchte sie aus seinen Wünschen zu lösen, und ging den Beziehungen der drei Menschen zueinander nach. Das Bild war höchst unscharf und flackerte, und der Gestalter sagte sich eben, daß er diese Welten werde neu erschaffen müssen, als statt der bisherigen eine neue Stimme seinen Namen nannte. Der nun stehende Richter verkündigte, daß das mobile Vermögen der Verstorbenen, wie es aus dem Testamente unzweifelhaft hervorgehe, dem Doktor Rudolf Feiler zufalle, während über die Liegenschaften ein Zweifel bestehe, zu dessen Behebung noch einige Vernehmungen nötig seien, da die Verstorbene sich mündlich über diesen Punkt geäußert haben solle und der Wortlaut des Testaments nicht völlig eindeutig sei.

Es bedurfte einer längern Zeit, bis sich Feiler auch nur berührt fand von dem Gedanken, daß er nunmehr Besitzer eines beträchtlichen Vermögens sei. Eine längere Erziehung zur Lust am Haushalten jeder Art hatte seine Wünsche zumeist nach innen gerichtet, so daß eben dieser neue Gedanke wenig Fernen und Abenteuerlichkeiten, wie sie sich für Jüngere gern an Geld und Besitz knüpfen, aufschließen konnte. Im Gegenteil empfand er sich in der ersten Stunde des Alleinseins mit diesem Wissen, als auch die Last und die irrlichternden Ziele seines Begehrens wieder 179 auftauchten, ein wenig wie ein Reicher, der in Gegenden fremder Währung und Wertschätzung gelangt, mit all seinen Schätzen auch nicht das kümmerlichste Brücklein schlagen kann zu den Dingen und Menschen dieser andern Welt.

 

Der Tag war nun tiefer im Herbste als die vorhergegangenen. In seinen hellsten Stunden zeigte er sich von einer kühlen, schleiernden Weiße, in welcher verhangenen Welt alles Innerliche, jede vage Trunkenheit aus verhüllten Bechern sonderlich wohl gedieh. Mitten im Mittage stand Feiler also auf einer ungewissen Wiese, pochte mit seinem oft ersehnten Reichtum an alle Türen, hinter denen die geheimnisvollste und entlegenste Melancholie zu Hause tat, und fand keinen Einlaß. Was sich herauswagte, war ein bitterliches, durch allen Stolz sich stehlendes Verlangen nach dem Frühstücksschlößchen, das eigensinnig immer wiederkehrte, während er mit dem Denken an Abreise spielte und sich alle guten und beglückenden Orte der Welt in das Gedächtnis rufen wollte. Er ging trotzig nach Hause und verbrachte einen trübseligen Nachmittag, indem er seinen liebsten Büchern Unrecht tat, eilig inzwischen vielerlei phantastische Sünden mit gleichgültigen Frauen beging und sich in jedem tiefer besinnlichen Augenblicke die klägliche Phase vorhielt, die sein Ausflug in die Vergeistigung eigener Beziehungen und seine Feriensüchtigkeit nunmehr durchlaufe. Die frühe Dämmerung kam tröstlich, und die nebelnde Straße draußen begann wieder zu 180 versprechen, aller Einsicht zum Trotz. Da Feiler schon entschlossen war, zu gehen und die Straße zu versuchen, mengte sich eine neue Erinnerung in die jungenhafte der sehnlichen Gymnasiastengänge; ein leichtes Grauen überschlich ihn, weil die so tief vergessen gewesene nun doch ins Leben zurückfand. Das Angesicht fremder Städte erschien ihm, wie es gewesen war, als er dereinst nichts darauf gesucht hatte als die Züge der Wollust. Unruhig werdende Arbeitsstunden von einst kamen wieder, darin die Stadt, die Welt draußen sich beklemmend an ihn gedrängt hatte, bis er gegangen war, suchen gegangen. Wie war er stundenlang getrieben durch bekannte und doch verwandelte Gassen gerast, von der noch kaum wahrgenommenen Gestalt einer ferne gehenden Frau hingerissen, wie hatte er zu laufen begonnen, wie war er einer irgendwo erklungenen weiblichen Stimme zu Tode erregt nachgegangen. Plötzlich wußte er wieder, wie es gewesen war, mit taumelndem Herzen an der Treppe eines fremden Hauses zu stehen, emporzustarren, wie eine verfolgte Gestalt hinanschritt, zu warten, o so zu warten, daß sie sich umwende und sage: »Komm, ich suche dich, wie du mich suchst!« Große Städte kamen zum Leben, in die er fiebernd hineingeschritten war wie in den Geruch von Frauen. Die Nächte der Seestädte, durch die er getaumelt war, ohne Rast, den ungeheuren Abenteuern seines Blutes nach. All dieses plötzliche Gehenmüssen, Gehen, das glühend auferstehende Draußen, in dem die Füße nach neuen unerbittlichen Gesetzen sich bewegen lernen, 181 bis man nach vielen Stunden, an einer Mauer oder auf dem Bette einer todfremden grauenhaften Frau lehnend, alle Kraft aus sich gesogen fühlte und die Besinnung wie der Sterbemorgen hereinbrach. Wie weit fort war all das gewesen! In den verschollensten Gründen des Gelebten hatte es gewohnt, bis diese Stunde es wieder emporreißen konnte und er, schon auf der Stiege zu neuem Gehen bereit, daraus alles Gehen, alles Draußen, alle Ferne in einem neuen, tiefen und schrecklichen Sinn verstand. Zugleich überkam ihn die Hoffnungslosigkeit aller Einsicht so verzweiflungsvoll, daß sein Leben Augenblicke lang in eine völlige Leere flüchtete, ehe er das Unerbittliche und das Dennoch betreten konnte, das sich als eine schwachbelebte Kleinstadtstraße tragisch vor ihm auftat.

Der Doktor Rosenberg, der aus seiner nahegelegenen Kanzlei kommend nach Hause ging, erschreckte ihn, indem er den Arm unvermutet in seinen schob und ihn fragte, wie so einem Erben zumute sei. Das kühl Weitergehende in ihm besann sich, daß er es unterlassen habe, dem Advokaten zu danken, und nun tat er es in übertriebenen Worten. Voll Genugtuung wehrte dieser ab und fragte dann beiläufig, ob der neue Krösus nun abreisen oder noch den endgültigen Verlauf der Sache in der Stadt abwarten werde. Als Feiler, von unverständlichen Absichten erschreckt, nicht sofort zu antworten wußte, begann der Anwalt nach der Versicherung, wie erfreulich es ihm sei, den lieb gewordenen neuen Freund, wenn er so sagen dürfe, 182 weiter in der Stadt zu wissen, ein bißchen gutmütig spottend zu fragen, wer die Schöne denn sei, die ihn hier zurückhalte. Wenn einer so ein geheimnisvolles Leben führe, versteckten sich sicher zärtliche Dinge dahinter. Eigentlich sei ja gerade jetzt der rechte Augenblick, das Herz sprechen zu lassen, da sich vor ihm eine gänzlich sorgenlose Zukunft auftue. Bei seinem Hause angelangt, bat er Rudolf Feiler, doch recht bald zu ihnen zu kommen, forderte ihn plötzlich drängend auf, doch heute abend noch zu kommen und bei ihnen zu Abend zu essen. Feiler wehrte sich bestürzt, er habe gerade heute wieder einen Anfall seiner Kopfschmerzen und tauge dadurch gar nicht zu Geselligkeit. Doch der Advokat ließ sich nicht abbringen und sagte, ein Spaziergang vorher werde die Kopfschmerzen schon vertreiben und er müsse später wenigstens unbedingt kommen. Es würde ein netter intimer Abend werden, außer Frau und Tochter seien nur die Geschwister von Lärne da, mit denen Feiler ja augenscheinlich aufs herzlichste stehe. Der Fregattenleutnant habe nämlich die Nachricht erhalten, daß sein Urlaub abgekürzt worden sei, und erwarte seine baldige Rückberufung. Ihm persönlich käme das komisch und unwahrscheinlich vor. Sicher habe der junge Herr die Kleinstadt satt und wolle nun den Rest des Urlaubes an einem fröhlicheren Orte verbringen und habe diesen unwiderleglichen Vorwand gewählt. Schon im Verabschieden, nachdem Feiler nochmals hatte versprechen müssen, sicher zu kommen, wenn er sich nicht ganz schlecht fühle, rief ihm der Advokat mit einer 183 wichtigtuenden Betonung nach, Judith werde sich sicher besonders über sein Kommen freuen.

Immer geringer wurde die Aussicht, daß die Straße heute noch eines ihrer Versprechen halten würde. Ein feiner Sprühregen ging nieder. Ein paar Jungen schritten still und wie enttäuscht. Die Sprachlehrerin eilte, von zwei lärmenden Hunden gefolgt, an ihm vorbei und ließ eine Sekunde lang einen vollen Blick ihrer großen, lebensvollen Augen auf ihm ruhen. Bald begegnete er ihr wieder. Sie ging langsamer, schien nun ohne Erwartung zu sein und sah ihn diesmal in einer Art von Einverständlichkeit an. Später konnte er sie auf dem leeren Stadtplatze hin und wieder laufen sehen, ihre Hunde jagend, deren Bellen und Geheul die ganze Straße hinabhallte, besonders, wenn die flinken und fröhlichen kleinen Tiere einen träg dahintrottenden Bürgershund überrannten und sich mit dem empört keifenden balgten. Es schlug sieben und bimmelte ein kurzes, unfrommes Ave über die Stadt hin, die jetzt schon nur mehr mit erleuchteten und schattendurchschnittenen Fenstern zu ihren vernebelten feuchten Gassen sprach.

»In meinen dreißig Jahren ist viel von den zwanzig, aber auch schon genug von den vierzig – sonst ging ich jetzt in das trübe Kaffeehaus da oder zu irgendeiner Frau, die man ja ganz leicht finden könnte. Aber ich weiß grauenvoll genau, wie es wäre . . . Wenn ich mich aber doch jetzt überraschte und vor die Tatsache des Abgereistseins stellte?« Er redete sich auf die Mühe und Verwirrung eines plötzlichen 184 Packens aus, er fand hundert Hindernisse und stand indessen lange Zeit in seinem Hausflure, bis ihn die Furcht befiel, von seiner Hausfrau hier ertappt zu werden. Er begann sich umständliche Rechtfertigungen für diesen Fall zurechtzulegen. Die Turmuhr schlug wieder. Er trat hinaus, kam zurück und stand nun in dem Geruche vollen Herbstes aus den nassen, verwesenden Gärten hinter den Häusern. Er hatte Sehnsucht nach einem Zimmer, das nicht seines wäre. Ein bald als unnütz erkannter Gang, dessen Anfang sich scheu an der Mauer des Rosenbergschen Hauses entlang gedrückt hatte, führte ihn in einen abgelegenen, nie betretenen Teil der Stadt, in eine dürftig erleuchtete Gasse aus kleinen, gänzlich gleichförmigen Häusern, wo sein übereiltes Gehen schnell wieder zur Ruhe kam. Es regnete jetzt. Nasse Kälte strich seinen Körper entlang. Eine Ziehharmonika klang aus einem Hause. Eine aufgerissene Tür gab einen Augenblick langgezogene und grollende Worte einer fremden Sprache in einem widerlichen Singsang frei. Sonst war alles weithin zugeschlossen, kaum, daß ein wenig Rötliches von Petroleumlampen aus den niedern Fenstern drang.

Der Entschluß war lange fertig, und es galt nur noch, ihn anzuerkennen, wogegen sich vielerlei wehrte. Als Feiler endlich, halb traumhaft dahingelangt, die Treppe des Rosenbergschen Hauses emporstieg, entdeckte und erblickte er sich selber mit allen Tugenden, die innerhalb seines eigenen Lebens gegolten hatten, Verständigkeit, Großmut, heiteres Verzichtenkönnen, 185 was alles nun überdeckt, verwölkt und fast verloren war, obwohl kein großer Sturm über ihn dahingegangen war. Aber gab es denn die großen Stürme? War Schicksal nicht stets eine solche Verseuchung mit unbezwinglichen Gegenwärtigkeiten und kriechenden Trieben? Immerhin gab dieser kurze Blick auf ehedem Unzweifelhaftes einen gewissen Stolz her, der sich jetzt in einer aufrechteren Haltung ausdrückte. Als Feiler an der Tür klingelte, stand er ganz aufgerichtet und dachte: »Jetzt bin ich einer, der sich seine größten Schwächen schon erlaubt hat, um sich zu befreien, und jetzt trage ich eine Entschlossenheit mit, standzuhalten, keiner Erkenntnis auszuweichen, wach zu sein, soweit es mein Blut nur gestattet.« Aber der Gedanke machte ihn nicht sicherer.

Man war noch beim Abendessen, als er kam, und er wurde von dem Advokaten eifrigst gebeten, sich mit zu Tisch zu setzen. Er hatte noch nichts gegessen und war froh über diesen einfachen und entgegenkommenden Anfang. Er kam neben die Hausfrau zu sitzen. In zahlreichen Andeutungen und Offenheiten wurde seines neuen Reichtums Erwähnung getan, was er immer wieder mit einer dankenden Beziehung auf seinen Anwalt beantwortete. Die Mutter Judiths versuchte mehrmals, etwas über seine Zukunftspläne zu erfahren, worauf er, heiter gestimmt, weil eine schwer erwartete Sache sich so leicht anließ, scherzend entgegnete, er habe allerlei Absichten, zum Beispiel eine riesige Kaninchenzucht anzulegen oder am Ende gar Aviatiker zu werden. Ja auch daran habe er schon 186 gedacht, eine geordnete Existenz mit einer Gemahlin, Kindern und einem Hund anzufangen. Den Hund wisse er schon und werde demnächst um ihn anhalten. Ein unzugängliches Lächeln antwortete seiner Lebhaftigkeit. Judith rief herüber, ob er ihr etwa jetzt gar ein Bild abkaufen werde. Sie sei bereit, den Hund gefühlvoll zu porträtieren. Der Fregattenleutnant entblößte laut lachend seine schönen weißen Zähne. Erika sah auf und suchte Feilers Blick. Der Doktor Rosenberg sagte vergnügt, daß jetzt noch die Besitzungen, die er sich doch endlich anschauen solle, zu erben seien, dann könne er sich in ihrer Stadt niederlassen und ein wenig Leben und Geist herbringen. Rudolf Feiler fragte unschuldig, ob er Bürgermeister werden könne. Doch da wandte sich die Hausfrau wieder zu ihm und forschte völlig ernsthaft neuerdings in ihm, so daß ihm unbehaglich wurde und er unter andern Gedanken plötzlich den seltsamen haschte, daß sie etwa einen Gatten für Judith in ihm sähe, eine Vorstellung, die ihn ebensosehr belustigte als dunkel entsetzte, da ihm sogleich das Traumhafte und ohne Entschluß Geschehene, das seine Ehe gewesen war, in das Gefühl kam. Die erste Gelegenheit, da wieder von der Erbschaft gesprochen wurde, benutzte er, um allgemein vernehmlich dem Advokaten zu sagen, er werde noch eine geschäftliche Frage zu stellen haben, nämlich, was die veränderten Vermögensverhältnisse auf die pekuniären Beziehungen zu seiner ehemaligen Frau für einen Einfluß hätten. Seine Nachbarin sah ihn hart verwundert an, der Doktor Rosenberg schwieg 187 nachdenklich. Judith schien unbekümmert und unterbrach ihr Lächeln nicht. Feiler meinte daraus schließen zu können, daß Erika, die ja von seiner Ehe und deren Trennung wußte, der Freundin davon erzählt haben mußte, und folgerte weiter, daß Judith sicherlich alles erfahren habe, was neben ihr vorgegangen sei. Nach einer kurzen beschämten und ertappten Beklommenheit begann er sich dieser Möglichkeit zu freuen, die ein wenig Klarheit in die verwirrten Beziehungen bringen konnte. Das Essen war inzwischen zu Ende gekommen, die Hausfrau stand förmlich auf. Sie rief dann Judith zu sich und sagte ihr so, daß Feiler es hören konnte, sie solle jetzt eilig in ihr Zimmer gehen und ein Kleid anziehen, da es sich wirklich nicht schicke, in der Straßenkleidung mit Gästen zu sein. Das Mädchen ging ohne Widerspruch. Zu Feiler, der sich jetzt wegen seines nicht entsprechenden Anzuges getadelt fühlte, bemerkte die Frau, sich entfernend und ein wenig hochmütig, Judith sei erst kurz vor dem Abendessen vom Spaziergange nach Hause gekommen. Übrigens wisse der Herr Doktor ja davon und befinde sich vermutlich in gleicher Lage, da er ja mit Judith gegangen sei. Peinlich berührt, bedachte er, daß er mit seiner Ahnung von der Ehehoffnung der Mutter recht gehabt haben dürfte, und dann, daß Judith ihn anscheinend zum Vorwande für ihr spätes Nachhausekommen genommen habe. Er war, trotz alles Widerstrebens, ein wenig beleidigt, kam sich ausgeschaltet vor aus Judiths Leben und war im Begriff, mancherlei, wie gelegentlich jener Zigarre im 188 Frühstücksschlößchen, zu folgern, als er Erika neben sich fühlte als eine Frage an sein Blut, die Antwort forderte.

Sie war schön wie nie noch, ungetrübt rein, und hatte im Gefühle einer Überlegenheit aus jenem letzten Zusammensein eine frohe Sicherheit im Blick, die tausend zärtliche Knospen aller ungelebten Frühlinge in ihm aufbrechen machte. Magischer Kräfte voll quoll das Blut in die schwachen Helligkeiten des Urteilenden, und da er seine tiefliegenden, meist verdeckten Augen zu ihr erhob, war es der Blick eines Liebenden, der sie strahlen machte. Sie zog ihn zu einem Ecktischchen, brachte ihm Kaffee, sprach nicht, suchte die Spitzen seiner Finger zu berühren und holte alle Schönheit aus seiner Sehnsucht und schmückte sich damit, bis sie in der Herrlichkeit einer großen Geliebten thronte und sich liebend fühlte, weil die Stunde es verlangte. Judith war weit fort, und die beiden genossen einander fraglos, er hinabsteigend in die Welt alles Unerfüllten und die Blonde krönend mit alten und nie gewagten süßesten Wünschen und Heimlichkeiten – sie in ihrer goldensten und reichsten Maske, die fast eine Heimat war, rätsellos ruhend in dem Glanze seines Herzens, das wie ihr Glanz war.

Die Besitzerin der Zuckerfabrik mit ihrem verlebten Sohne war gekommen. Während sie überlaut sich zu dem Doktor Rosenberg und seiner Frau gesellte, suchte der hängebackige Elegant Anschluß an die Jüngern zu finden, was ihm aber so wenig gelang, daß er in kürzester Zeit zu dem Hausherrn zurückkam und fragte, ob man denn heute gar nicht Karten spielen 189 werde, welche Frage die Mutter wiederholte, worauf sich die Vier alsbald um den Spieltisch niederließen. Judith stand mit dem Fregattenleutnant in einer Fensternische, für Erika und Feiler kaum sichtbar. Diese beiden aber waren nun in den äußersten blauesten Grenzen ihres Herzens angelangt, ebendort, wo Mensch und Mensch sich in der Sehnsucht ähnlich zu werden beginnt; sie genossen Empfindungen, die von der Liebe das Außer-Sich hatten und vom Traume die lächelnde und völlige Einsichtslosigkeit. Erika erlebte ihre reine Lieblichkeit, verklärt von einem vermeintlichen ganzen Begehren. Ihre Schönheit glühte, sinnvoll geworden, wie Liebkosung an ihr, und sie ließ ihre Blicke geschehen, die alles versprachen, was ihr Mädchenleben unter Denken und Selbstverlorenheit zu tragen hatte. Er aber fand die verschollensten geheiligtsten Worte seiner Jugend wieder, um die Stunde, sein Gefühl und ihre Schönheit zu benennen. Sein Herzschlag ging in der Knabenmelodie, warf tausend Liebesmärchen in das schon einsam gewesene Blut und sang ihn selber über die Schönheit, die Blonde hin, deren Mund nun alle Süße der Welt barg, aus deren blauen Blicken sein Leben glorreich wiederkam, von deren kleinen hochatmenden Brüsten seine Hände paradiesisch und wie immer leer gewesen träumten.

Von Judith kam plötzlich ein gellendes und böses Auflachen herüber. Kurz danach trat sie aus der Fensternische und ging auf die beiden zu, die mit jedem ihrer sich nähernden Schritte in eine neue Tiefe 190 erschraken. Judith kam ganz langsam und schien zu warten, daß ihr eine Miene entgegenblicke, in der sich ihr Besitztum heimatlich und sie erwartend ankündige. Aber nur die drohende Ferne sie verratenden Gefühles barg sich in halbabgewandten und verlegenen Gesichtern. Da wandte sich die ganz nahe Gekommene, wie sich besinnend, schnell ab und ging zu dem Tisch der Kartenspieler, wo der Fregattenleutnant sich indessen niedergelassen hatte, und setzte sich ihm gegenüber neben den Vater.

Solange Erika und Rudolf Feiler in jenem reinen Leuchten vereint gewesen waren, hatte kein Gedanke an Künftiges und Tatsächlichkeiten sie angerührt. Nun aber Judiths Schatten zwischen ihnen hindurchgeschritten war, begehrten sie beide nach Beweisen und Bekräftigungen des schon Getrübten. Erika war es, die zuerst zu sprechen anfing: »Ich will mich dir beweisen. Ich frage nichts, weil ich alles, alles weiß. Ich will dir schön sein, wie nie eine Frau es war. Nichts hält mich mehr. Alle schlafenden Zärtlichkeiten will ich bis morgen aus den Schauern erlösen und dir bringen. Hörst du, morgen schon . . .« Sie neigte sich näher zu ihm und rief ihm in seine geheimsten Gluten hinein: »Morgen nachmittag bin ich allein mit dir und hole dich ganz in mein Leben. Morgen . . .« Ihr Kopf bog sich zurück, wie die Erlösung liebendster Küsse erwartend. Noch ein Augenblick lauterster Glut beschenkte sie mit der Göttlichkeit erfüllungsbereiter Sinne. Ob auch bald wieder Denken und Erinnerung in ihr erleuchtetes Blut schattig und bitterlich kam, 191 blieb sie doch gesegnet von diesem Augenblick ihrer Erhöhung. Sie flüsterte nun, daß sie es möglich machen werde, das Schlößchen morgen nachmittags ihnen allein zu erhalten. Auf seine Frage, wie das geschehen solle, antwortete eine ungute Heiterkeit, daß sie doch eine Frau sei und er Schwierigkeiten solcher Art getrost ihr überlassen möge. Er war durch eine sündige Unlauterkeit mit ihr verbunden. Doch das große Versprechen ließ ihn nicht mehr urteilen, und ihre Nähe säte so viele Verheißung in ihn, daß er seiner alten und neuen Wesenheit vergessen konnte und also ohne Bewußtsein sein kommendes ersehntestes Abenteuer genoß.

Erikas Bruder erhob sich vom Spieltisch, ging einigemal das große Zimmer auf und nieder und machte endlich nachlässig vor seiner Schwester halt: »Mir scheint, du flirtest, Mäderl? Ich habe Erfahrung und rate dir ab davon!« Er lachte etwas künstlich, was auf seinem einfachen Gesichte nahezu komische Falten zog, und begann dann ein leichtfertig angelegtes Gespräch mit Feiler, der darin, sich durch die goldne Wolke Erika hindurch seines frühern Entschlusses zur Wachsamkeit erinnernd, knapp eine fluchtartige Verstellung und eine ungemäße Schwere zu erkennen vermochte, ohne mit seinen überfüllten Sinnen weiter ahnen zu können. Eben wollte er sein Bild von der schönen Sprachlehrerin herantragen, als eine Pause in dem Spiele drüben Judith von der Seite des Vaters scheuchte und sie, sichtlich wider ihren Willen, zu den Dreien brachte. Sie trug wieder 192 das pomphafte Kleid jenes ersten Konzertabends und sah darin müde und verzehrt aus. Niemand von den Dreien entging einer Ergriffenheit von ihrem eigentümlichen, besessenen und leidenden Leben, obwohl in jedem die eigenen Wünsche ihrem Kommen einen Wall entgegengestellt hatten. Sie merkte die geschehende Verwandlung und barg ihre Erwartung in einem oft geübten dirnenhaften Lächeln, das sie vor ihrem und fremdem Ernste bewahren sollte. Herbert von Lärne sah sich als erster zum Sprechen gezwungen und begann, hilflos sich verratend, ohne Anlaß von der Petrini zu reden und rühmte ihren unabhängigen Verstand und ihre wissende Sicherheit. Judith knüpfte an sein erstes Einhalten eine Erzählung von einem Modell, das sie gehabt habe, einem jungen Proletariermädchen, das von der wundervollsten Hemmungslosigkeit gewesen sei, unabhängig bis zu jedem Verbrechen, sicher aus vollkommener Bewußtseinslosigkeit. Sie sei neugierig und wolle sich umtun, was aus diesem Mädchen geworden sei, welchen jungen Bourgeois es sich verlockt habe.

Erika verlor in der Gereiztheit des Gesprächs alle Sicherheit und fühlte ihr aufstehendes Flehen von Freundin und Bruder verworfen. Der Fregattenleutnant war jetzt ein wenig errötet, bildete aus seinem Gesichte, was Knaben sich unter hochmütigen Zügen vorstellen, und versuchte dann recht gleichgültig zu bemerken, daß jener Bourgeois sicher zu beneiden sei, wenn das Mädchen sehr schön und wirklich von Grund aus seelenlos sei. Die Seele sei eine üble Zutat zur 193 Erotik und für den wirklichen Mann etwas, mit dem man sich im besten Falle aussöhnen könne. Er legte den Arm um seine Schwester und lachte: »Mäderl, dir möchte ich die Seele abgewöhnen können. Schad', daß ich keine Zeit zur Erziehung habe. Übrigens hast du sicher gute Anlagen.« Er zog Erika mit sich fort, zu Frau Rosenberg, die eben Likör in die Gläser goß, und zwang ihr Kuchen und süße Liköre auf. Judith stand eine Weile gesenkten Kopfes neben Rudolf Feiler. Dann ließ sie sich in den von Erika verlassenen Sessel nieder, winkte ihm, sah nach einem durchwogten Schweigen zu ihm auf und prüfte ihre Macht. Als sie ihn beklommen fand, begannen die Quellen ihres Lebens wieder zu fließen. Ganz plötzlich überfiel sie ihn mit einem Blicke schrankenloser Vertraulichkeit und fragte völlig ruhig: »Sagen Sie mir, wollen Sie mich haben? Ich schenke mich Ihnen gern, wenn Sie mich wirklich wollen. Denken Sie nach darüber und sagen Sie es mir noch heute. Ich glaube nämlich, daß Sie doch mich meinen . . .« Leicht und froh stand sie dann auf und ging zur Mutter, deren abweisende Miene sie durch eine leise Bemerkung aufhellte.

Es war spät geworden, Herbert von Lärne verabschiedete sich als erster, während Erika zu Judith ging und einige leise Worte mit ihr wechselte. Der Offizier nahm eine steife, feierliche Haltung an, betonte die Wahrscheinlichkeit, ja Sicherheit eines Abschieds für lange Zeit und weckte damit einen lauten und auffälligen Protest von seiten des Ehepaares. Feiler sah erstaunt, daß Judith sich an die zum Gehen sich 194 bereitende Zuckerfabrikantin heranschmeichelte, den schläfrigen, gelangweilten Sohn zu einem Lächeln brachte, und fragte sich vergeblich nach ihrer Absicht. Erika kam schon in einem großen, weißen Abendmantel in das Zimmer zurück, sich in ihrer noblen Damenhaftigkeit nochmals bewundern zu lassen, und fand noch Gelegenheit, Rudolf Feiler mit einem bedeutungsvollen Händedruck, der ihn erschrecken, zögern und sehnen machte, zu sagen, daß sie morgen um drei Uhr im Frühstücksschlößchen sein werde. Gleich darauf verhieß Judith mit einer erschrecklichen Ähnlichkeit des Ausdrucks dem Fortgehenden für den kommenden Vormittag in einem Briefe Nachricht.

Die Nacht, in die er hinaustrat, befiel ihn wie eine Krankheit, nahm Licht und Ton fort und gab seine Sinne den übertäubten Fiebern und dem aufschreienden Blute preis. Er ging so schnell er es vermochte nach Hause. Im Öffnen des Tores und Emportasten über die dunkle Treppe ermaß er an den aufsteigenden Erinnerungen aus jedem hier Nachts-Heimkommen, was alles geschehen sei. Das viele Unerratbare der beiden Mädchen, die absonderliche Verbindung zwischen ihnen, die zweifelhaft erscheinen ließ, was der einen, was der andern angehörte, da jede stärkere Hinneigung zu einem der beiden Bilder auch schon das Urteil des vorigen Augenblicks verwarf, erfüllten seine zwiespältige Leidenschaft mit so viel Hast und Qual, daß kein naher Besitz Trost und Lösung verheißen konnte. Das Nachdenken flüchtete sich zuletzt aus dem notwendigen Weh in eine furchtbar und 195 blasphemische Heiterkeit, die, ohne die große Freiheit zu einem solchen Entschlusse zu haben, den Gedanken wagte, beide zu besitzen, beide sich völlig eigen zu machen, und endlich damit spielte, das Gewagte durch eine spätere Aufrichtigkeit zu rechtfertigen, ja vor den zwischen ihnen notwendigen Gesetzen zu legitimieren. Schon vergiftet von diesem Gedanken, verfiel er wieder der Unruhe, in der noch die Süße der Liebesstunde mit Erika und zugleich die Macht Judiths wirkte, und einem Leiden, das seiner bisherigen Art, austragend das Schwere zu Ende zu bringen, entsprach, während der kürzlich erfaßte Gedanke mit seiner Lockung von höherer reiferer Geistigkeit und heller Amoralität ihn über seine Icherfahrung gern hinweggezaubert hätte. Einige Stunden saß er vor dem Schreibtisch, aufglühend und kühler werdend, zuweilen aus argen Erbärmlichkeiten sich aufreißend, und mußte endlich doch wieder sich bittend dem Schlafe nahen, welcher der vielen Jugend in ihm immer noch gnädig war. Verwundert lag der Ermattete in der sich über ihn breitenden Güte und fühlte in ruhigen Vergehen sein Tiefes und Entscheidendes noch einmal sicher wie Sterngang über die Verstörtheit emporwachsen und sich dann ruhig in der letzten Weisheit des Bewußtlosen an den Schlaf schmiegen.

 

 

Die Segnung des Schlafes währte bis zum Morgengrauen. Mit dem ersten kühlen Atmen des neuen Tages erwachte Rudolf Feiler aus einem Traum, der allzu schwer sein mochte, um zu Ende geträumt 196 werden zu können. Heiß von einer ungeheuern Erregung, dazu von Schaudern überlaufen, saß er im matten Grauen auf und drängte das zu furchtbarem Grübeln verzogene Gesicht der Judith von sich, zwischen deren Brauen eine Furche so schmerzvoll tief stand, daß alle Not eines einsamen und scheuen Lebens wie aus einem Abgrunde daraus zu steigen schien. Noch hatte der Traum über ihn Gewalt. Ein bleiern grauer, wolkenverhangner, felsenumstellter See schauerte unter der anklagenden Maske Judiths. Er ging über die Wasserfläche hin, einem blutroten Streifen zu, der quer über die Wasserfläche zog und den er würde überspringen müssen, da dieser ihn nicht zu tragen vermögen würde. Aber vor dem Näherkommenden wuchs der Streifen und breitete sich in wahnsinniger Schnelligkeit aus, bis er auf einer winzigen, grauen Insel in dem entsetzlichen dünnen Rot stand, in das er tief hinuntersah, voll Übelkeiten und Vorgefühls nahen Sturzes in widerstandslose Tiefen. Weit, weit unten lagen Gärten und aus verschollenem Vorleben bekannte Wege, auf denen er seine rötliche Gestalt hinter einer andern laufenden herhasten gewahrte, welche ein Kleid trug, wie seine Frau es getragen hatte. Dann kam eine Bewegung in die Fläche, daß er zu taumeln begann. Judiths Gesicht neigte sich tiefer, nun von vielem blonden Haar gekrönt, das eine plötzliche Hoffnung schenken zu wollen schien. Aber da schoben sich die Felswände näher, taten Menschenmienen aus ihren Schroffen auf, und darüber stieg ein drohender reiner Engel überleuchtet 197 empor. Die Stimme der Erika bog sich irgendwo selig, hell und unerreichbar. Im Augenblicke des entsetzensvollen Sturzes saß er wieder in seinem Bett, von Grauen geschüttelt. Die erste Besinnung befiel ihn, als ob Größtes und Unwiderrufliches geschehen wäre.

In der scharfen Kühle und einem erbarmungslos steigenden Tage erfroren die letzten Liebeshände, die durchglühte Schleier über das Unabweisliche gehalten hatten. Zum ersten Male stand er, Rudolf Feiler, ein geistig gewesener und nunmehr beirrter Mensch, vor etwelchen andern Menschen, deren Leben er mit Lust und Begierde ehedem auf sich bezogen hatte. Was Duft, Schönheit, Zierat an diesen Geweben war, bot sich jetzt in der schauerlichen Ferne fremden Lebens dar, umgewandelt in andres Schicksal, ausgedrückt in den einsamen Sprachen völlig unfaßbarer Menschlichkeit, denen die Lust ein übler Dolmetsch gewesen war. Zu Urwäldern verwuchsen die durchschrittenen Gänge, die die Zärtlichkeit aufgerissen hatte, und er stand vor dem ungedeuteten wilden Wachstume, fiebrig und verstoßen. Da zwei Leiber ihm das tiefste Geheimnis der Aufnahme in ihr Leben geboten hatten, gab es, bei versagender Gier, nicht einen geringsten Weg mehr, Besitz zu ergreifen von dem Dargebrachten, ließ sich keine Göttlichkeit erfinden, die Opfer hätte hinnehmen dürfen, und keine Menschlichkeit, die Geschenk gegen Geschenk tauschte. Verflucht lag er in diesem Morgen. Seine Vernunft hatte keine Gewalt über jenen Traumrest, der immer wieder 198 kam, zu melden, daß das Größte jetzt geschehen sei, in immer neue Ahnungen von Ereignissen und Wirklichkeiten gekleidet.

Ein perlmutterfarbiger Himmel, der ebensoviel von Blau als von Nebel und Regengrau in sich trug, empfing ihn, da er sich spät und müde erhob, am Fenster. Die Straße war belebt. Bäuerinnen, in dunkelgraue Tücher mit breitem zyklamenfarbigen Rand gehüllt, kamen und gingen. Ländliches Fuhrwerk, mit Obst und Gemüsen hochauf beladen, stand in langer Reihe bis an Feilers Haus. Große Körbe voll Pflaumen wurden von den Wagen gehoben, summender Lärm stieg auf und nieder. Gesichter, die für Feiler in Abendlichkeit und suchendem Gehen bestimmt gewesen waren, hatten plötzlich in Helle und Geschäftigkeit ein tägliches Leben, das ihm jedoch, der diesem ferner war als jener halben Traumhaftigkeit in Abendgängen, noch bildhafter, sehnsuchtsferner und unzugänglicher Idyllen voll sich wies. Die kleine Stadt besann sich an diesem Vormittage ihrer Ländlichkeit aufs beste, ließ ihre Bedürfnisse gewähren, die nach kräftigen Mählern und vollen Vorratskammern gingen, und nun im eifrigen Kaufen durch die Fabriken und die bescheidene Weltläufigkeit ihres Handels hindurch die rüstig und genießerisch gewesenen Großeltern und alle vormalige Erntelust verspürte. Eine fröhliche Begierde und Zärtlichkeit zu den goldgelben und großen Birnen, den kräftigbraunen, sauberen Kartoffeln, den weißgrünen, fleischigen Krautköpfen, wiederum zu den vielen über und über blühenden, 199 vollfarbigen Asternstöcken und zu all dem Reifen, Genüßlichen spiegelte sich in vielerlei Gesichtern, groben und zarten, und holte sie alle in dieselbe gesundriechende und nahrhafte Welt. Dazu kam ein wenig Sonne hervor und wies nun die allerkräftigsten Farben, so daß der oben Stehende die guten Gerüche alle plötzlich zu riechen vermeinte und sich eilig ankleidete, um hinauszukommen. Er drängte sich schnell durch die Menge recht nahe an das von oben Gesehene heran, als ob all dieses Gesunde, Sichere das angebahnte Vergessen durch seine Nähe hätte fördern können, roch, atmete, kaufte mehr Obst, als ihm zu tragen bequem war, und verschenkte das meiste nach kurzer Entfernung von dem Verkäufer, beschämt sich umblickend, an gierig lungernde Kinder. Er spielte mit seidengrauen, großen Kaninchen, die geruhig nüsternd in den engen Körben saßen. Er stand vor einem kleinen Affen still, der widerwillig auf seinem Postamentchen exerzierte, ein Gewehr abschoß und auf einem winzigen Leierkasten, der gläsern und zirpend klang, das Sextett aus »Lucia di Lammermoor« spielte. Ein bißchen Frische wehte durch ihn, und allmählich begann er ruhiger und ein wenig froh an seinen neuen Besitz zu denken, der schnell an Geltung zunahm. Ja, er erinnerte sich jener Liegenschaften, die er vielleicht noch erben würde und die sich mit einem Male aus einem dürren gerichtlichen Begriffe in allerlei Gärten voll von fruchtschweren Apfelbäumen, in braune, duftende Sturzäcker, Ställe, Scheunen und den wunderbarsten Besitz verwandelten, aus dem 200 Heimlichkeiten und zufriedene Gerüche mit einem Beglücktsein stiegen, das dem aus den Märchenbüchern der Kindheit auf ein Düftlein glich.

Der große, fast hübsche junge Mann wurde von Bekannten und Unbekannten freundlich bemerkt. Ein frisches, helles, vollbusiges Dienstmädchen, an das er anstieß, lachte ihm glucksend zu. Eben dieses Mädchen wurde aber im Augenblicke, da er sich abwandte, von einer ihm bekannten Stimme gerufen, die seinen Kopf herumriß. Er sah die Mutter Judiths, die, halb ihm zugekehrt, eben glänzende Paradeisäpfel von einer Wagschale in den großen Korb ihres Mädchens fallen ließ. Er verbarg seine Obstsäckchen hastig in der Manteltasche und ging grüßend auf die Frau zu, die ihn zu erwarten schien. Er ging beklommen, weil er überzeugt war, daß sie ihm die Veränderung ansehen müsse, die während der wenigen Schritte in ihm geschah, diesen schnellen Sturz aus einer sonnigen frischen Herbststadt tief hinunter in eine traumbefangene, verwirrte, und doch dieser eben verlassenen ähnelnde Stadt, über der nun glühendes und fürchterliches Gewölke hing. Die Frau begrüßte ihn in ihrer ruhigen und hochmütigen Weise und sagte, die Begegnung käme ihr nicht ungelegen. Sie sei mit ihren Einkäufen fertig und er würde auch später noch den Markt wiederfinden. Sie bitte ihn, sie ein Stück zu begleiten, da sie ihm einiges mitteilen wolle. Sie gingen nach der ruhigen Seite des Platzes hinüber und von dort langsam die Straße hinunter gegen die Brücke zu. Frau Rosenberg begann nach einigem 201 Zögern, es sei sonst nicht ihre Art, mit neuen Bekannten ihre Familienangelegenheiten zu besprechen. Sie betrachte ihn jedoch ein wenig als den Vertrauten Judiths, halte ihn für einen klugen Mann und käme daher um einen etwaigen Rat oder eine Erklärung zu ihm, falls er eine solche geben könne. Judith benehme sich in den letzten Tagen so auffällig, sie sei völlig zerstreut und nervöser denn je. Ganz und gar unzugänglich weise sie jede gütige Anrede zurück, so daß sie, die doch an Extravaganzen von seiten der Tochter nur allzu gewöhnt sei, sich ernsthaft zu sorgen beginne. Heute zum Beispiel sei Judith im Bett geblieben, habe höchst unfreundlich erklärt, sie fühle sich nicht wohl und bedürfe der Ruhe, und habe das Zimmer abgeschlossen. Sie sei zuerst der Meinung gewesen, daß das Mädchen sich erkältet habe, da es in der vorhergehenden Nacht, so spät es war, noch die Fabrikbesitzerin begleitet habe. Bekannte aus dem dem ihren gegenüberliegenden Hause hätten ihr aber eben erzählt, daß Judith dann die ganze Nacht Licht gebrannt habe. Es sei traurig genug, daß eine Mutter fremde Menschen über ihr Kind befragen müsse. Dennoch habe sie sich also notgedrungen dazu entschlossen und bitte um eine Aufklärung oder einen Rat. Ohne Vertraulichkeit, kühl und fordernd sah sie den grübelnden Mann an, der lächerlich heftig aufschreckte, als ihr Sprechen einhielt, und ungeordnet endlich hervorbrachte, daß er sich gewöhnt habe, sich Judiths Betragen ohne jeden Nebengedanken aus ihrem eigentümlichen Wesen zu erklären, und daß er aus diesem 202 Grunde auch nichts Erschreckendes in dem eben Gehörten finden könne. Er meine, daß eine so stark künstlerische Natur eben mit andern Maßen gemessen werden müsse. Wenn die gnädige Frau seinen Rat wünsche, könne er nur sagen, daß es ihm am besten dünke, das Mädchen gewähren zu lassen, da Judiths Unzugänglichkeit nicht Hilfe, nur Störung aus jeder noch so herzlichen Annäherung zu erfahren geneigt sei. Sie näherten sich dem Rosenbergschen Hause. Die Mutter sagte jetzt mit kaum mehr verhehltem Mißmute, daß Judith sicherlich eine beruhigende Gesellschaft dringend nottue. Sich besinnend, schon vor dem Tore, bat sie in einer plötzlichen unguten Freundlichkeit, Rudolf Feiler möge doch im Laufe des Tages einen Besuch wagen; vielleicht gelinge es gerade ihm, das Mädchen umzustimmen. Die Betonung war falsch und das verabschiedende Lächeln voll Härte. Kaum hatte er sich ein wenig von dem Hause, das ihn erregte und ergriff, entfernt, als laufende Schritte sich ihm nahten und das rosige Dienstmädchen ihm kichernd einen Brief zuschob, worauf es eilig in einem Laden verschwand.

Da er das Kuwert zur Brusttasche hob, roch er schon den müden, kranken Geruch, der Judith umgab. Bei der Brücke bog er von der Straße ab und las. Sie schrieb: »Ich bitte Sie, vergessen Sie alles Lächerliche, das wir getrieben haben. Holen Sie ihre kühle Vernunft wieder empor und lassen Sie sich nicht von einem hysterischen Mädchen in diese wahnsinnige Übertreibung und 203 Überschätzung des Geschlechtlichen hetzen, die menschenunwürdig ist!«

Ein aufhellendes Rechtgeben und Zustimmen genügte nicht, um die beladene Frage fernzuhalten, was seit gestern vorgegangen sein mochte. Sein Morgengefühl, daß viel geschehen sei, schien recht behalten zu wollen. Daß Judith nachts außer Haus gewesen, ferner ihre auffallende Art, mit dem Marineoffizier umzugehen, gesellte sich zu allen unterdrückten Fragen und machte ihn schwer. Er kehrte zum Markte, der sich gut gelichtet hatte, zurück, konnte aber in sich nichts von dem kürzlich Genossenen wieder auffinden und schlich sich aus der Stadt.

Er folgte oberhalb des Wehrs einer Biegung des Flusses, der nun angeschwollen und lehmig dahintrieb; über schlammige Wiesen, durch welkendes Schilf ging er dem Walde zu. Mit Ziegelmauern, Schlöten, armseligen Randhäusern stellte sich von dem Waldrande aus die Stadt dar, ohne Schönheit, die weite silbrige, von hellen Wolken überwanderte Ebene befleckend. Eine große Empörung stieg in der Erinnerung an andre Stadtbilder in Feiler auf. Aber er konnte sich nicht entziehen und beschied sich mit dem Gedanken, daß doch das Menschliche an Gegenden und Orten das Entscheidende sei. In diesem entzaubernden Vormittag betrachtet, zeigte sich alle Gier und Not, des Sehnsuchtsmantels entkleidet, doch tief im Geistigen wirkend, und wehrte eine Annäherung mit bittern Unlustgefühlen ab. Nachdenken frommte nicht viel. Zwar hatte Judith, obwohl sie es sicher 204 nicht gewollt hatte, recht und all das Begonnene war Übertreibung. Aber es war begonnen, war da, mitten in seinem Leben und mußte herausgeholt – oder ausgeglichen werden. Jener in Erfahrung und Wissen verkleidete Fatalismus sprach so zu ihm, und er begann das Denken von neuem, nur daß es jetzt Erika anrief. Ein Versuch, mit dem verheißenen Nachmittag Judith zu entkräften, mißlang kläglich, ja führte ihn dahin, die ausgeglühten Stunden des letzten Abends zu verleugnen. Dennoch gab es Unterirdisches in seinem Wachsein. Als er, von einem dünnen Mittagsläuten gerufen, unter den vielen Arbeitern in die Stadt zurückkehrte, dachte er immer wieder an Erikas Bruder, verhöhnte ihn in sich, nannte ihn mit übelster Betonung »Offizier« – und wünschte doch, ihm zu begegnen, ja er ging darum mehrmals die Straße auf und nieder und hoffte gegen alle Vernunft, der Fregattenleutnant würde ihm jetzt im hellen Mittag mit der Sprachlehrerin entgegenkommen. Endlich betrat er schnell das große Gasthaus auf dem Platze und bestellte ein Mittagessen. Alsbald kam ein Herr zu ihm, gab sich als Richter zu erkennen und teilte ihm übermäßig vertraulich mit, daß er alsbald sein Vermögen in Empfang nehmen könne, wovon er übrigens schon schriftlich verständigt worden sei. Da Feiler etwas fremd und ohne Freundlichkeit antwortete, unterließ es der Richter, sich an seinem Tische niederzulassen, wozu er bereit gewesen war.

Während Feiler wenig achtsam zu essen begann, bemerkte er nicht unfroh das Eintreten Bertold 205 Sonntags, der, obwohl er von einem vollbesetzten Nachbartische lebhaft begrüßt wurde, gleich zu ihm kam und sich an seinen Tisch setzte. Zwar hatte Feiler nicht mehr den Wunsch, gesellig sich zu entgehen. Doch fand sich ein Restchen der lang geübten Gewohnheit wieder, bei den Mahlzeiten in Gesellschaft zu sein, worin er, wie es das Leben in einem Gasthause ergab, nie sehr wählerisch gewesen war und sich häufig sogar mit der ungenützten Möglichkeit zu reden begnügt hatte. Er begrüßte den Angekommenen also freundlich und ließ sich dessen ein wenig derbe Vertraulichkeit gern gefallen. Wieder tat ihm das unverhohlene Gesicht des Mannes wohl, und er beeilte sich, Fragen zuvorkommend, für den übernächsten Tag einen längeren Spaziergang mit ihm zu verabreden. Der andre versicherte, daß er sich von Herzen daraus freue, lachte gütig und verlegen, wie unvermutet beschenkt, und murmelte endlich, daß er schon jetzt glücklich sei, weil er ein schönes Gespräch zu erwarten habe. Er wolle dem Herrn Doktor als bescheidenes Gegengeschenk etwas zeigen, was man nicht oft in der Welt zu sehen bekomme. Befragt, was das sein könne, entgegnete er nach einem Überlegen, er sei mit Worten zu ungeschickt und müsse darum um Geduld bitten, weil seine Erzählung eine recht dürftige Vorbereitung auf das Beabsichtigte wäre. Rudolf Feiler erkundigte sich nun über seine musikalische Tätigkeit, worauf augenblicklich ein Ausdruck kindlicher Verklärung in Sonntags Gesicht kam, der in schamhaft verhaltener Begeisterung erzählte, er habe eine Sache entdeckt, 206 die ihn ganz glücklich mache. Er studiere sie seit gestern mit dem Orchester, diese Herrlichkeit. Es sei eine wenig bekannte Suite von Bach; die schülerhafte, nachträgliche Instrumentation habe er zu verbessern versucht. Er bitte nun, Feiler möge doch diesen Abend zu ihm hinaufkommen und anhören, wie schön die Suite sei. Er versprach es ihm. Kurz danach bemerkte er, daß von dem Nachbartische Sonntag lebhaft zugewinkt wurde, und machte ihn darauf aufmerksam, was diesen mit vieler Verlegenheit erfüllte. Es sei sein Direktor, der ihn rufe. Er müsse wohl hinübergehen. Feiler sah dem dicken Mann in das gequollene blaurote Gesicht, bedachte aber die Situation des Professors und bezwang sich, wegblickend, zu einem herzlichen Abschiede. Bald darauf verließ er eilig das Gasthaus und hatte auf dem Platze draußen schon die ganze Unterbrechung vergessen. Er ging nach Hause. Es war ein Uhr, zwei Stunden später sollte er Erika im Frühstücksschlößchen erwarten. Er rief alles Drohende und Verbotene, das eine Jungfrau schützen soll, und konnte Erika dennoch nicht beschirmen. Er hielt sich vor, daß Judith es sei, die ihn errege und aufwühle. Doch jetzt hatte er wieder die gefügige Waffe jenes Liebesgefühls zu Erika und gebrauchte sie. Viele Entbehrung stürzte sich auf die ihn erwartende Schönheit. Als er sich Judiths Verwarnung von neuem ins Gedächtnis rufen mußte, sagte er sich fast wohlgemut, daß er sich ja auf dem besten Wege befinde, auf eine gemäße und männliche Art die wirren Dinge zu ordnen und ihrer Herr zu werden. 207

 

Den ganzen langsam zurückgelegten Weg tat Feiler leichtsinnig und erobererhaft. Eine gute Weile vor drei Uhr angekommen, beschäftigte er sich damit, das Zimmer ein wenig in Ordnung und Sauberkeit zu bringen, indem er Umhergestreutes aufhob, den Boden fegte, verwelkte Blumen fortwarf und Möbel zurechtrückte. Dann lag er wieder auf dem Sofa, das Gesicht den schon fremd gewordenen Gestalten an der Wand zugekehrt. Wieder kamen Sonnenstreifen durch die Laden. Wieder war es Nachmittag, und er wartete. Mit halbgeschlossenen Augen, ein wenig dämmerig, hatte er vergessen, ob Judith oder Erika kommen würde. Schnelle Schritte klangen draußen, er sprang mit hochaufklopfendem Herzen empor. Ein Schlüssel versuchte sich an der unversperrten Tür – und Judith trat ein. Da sie ihn erblickte, stand sie unbeherrscht, mit aufgerissenen Augen, völlig fassungslos. Er sagte ihren Namen. Da fuhr sie auf und schrie fast: »Sie sind hier? Dann muß ich fortgehen.« Und sie ging und riß die Tür auf. Stehen bleibend, die Unterlippe zwischen den Zähnen, sagte sie dann: »Verzeihen Sie, ich wollte hier allein sein,« und lief fort, ohne auf sein Rufen zu hören. Ihn riß es auf, ihr nachzustürzen, sie einzuholen, festzuhalten, zu fragen. Aber sie lief wie gehetzt und verschwand bald im Walde. »Sie wird Erika begegnen,« dachte er hilflos verzweifelt. Die Vorstellung davon stieß ihn so tief in Schuldgefühl, daß er keinen der Gedanken, die über das Verhalten Judiths und ihr Kommen redeten, hören noch verstehen konnte. Er hastete durch das 208 Zimmer, die Fratzen starrten ihn an, und er konnte sich kaum bezähmen, davonzulaufen, um Erika zu entgehen. Leichtsinn und Verlangen waren verscheucht und sinnlose Angst an ihre Statt in sein Blut gekommen.

Als Erika nach einer längern Zeit, große Chrysanthemen im Arm, eintrat, zitterte er vor ihrer Schönheit. Er hätte sie gern angebetet, sie erhoben, sie unberührbar gemacht. Aber ihr Lächeln war voll süßester und blühendster Erwartungen. Aus ihren Bewegungen, da sie die vielen Blumen zu ihm brachte und Mantel und Hut von sich tat, redete ein so tiefes Vertrauen, jeder Schritt und jede Regung der Hand war völlig sinnvoll und ohne Zierat wie nie noch zuvor. Sie setzte sich zu ihm und erwartete seine Anrede. Er suchte, suchte, und da ihm das Schweigen zu lang wurde, sagte er aufs Geratewohl ihren Namen. Seine Stimme und sein Tonfall erschreckten ihn, wie wenn ein beabsichtigtes Flüstern in einer Kirche plötzlich laut widerhallt. Sie kehrte ihr Gesicht ihm zu, zärtlich fragend, voll Glück noch. Er aber fand eine furchtbare Lieblichkeit darin, die er nicht erreichen konnte. Er mühte sich, den Abend mit ihr in sich aufzufinden, doch Judith kam ihm in das Gefühl. Abgebrauchte Gedanken gab es, die ihm alle Schönheiten anpriesen, die da auf ihn warteten. Etwas riet ihm, das viele weiche mattgoldne Haar zu küssen und seinen unschuldigen Duft zu atmen, es erzählte ihm von ihren Händen, die in seinen liegen sollten, und benannte alles Scheue und Zärtliche mit erfahrenen Namen. Er 209 tat, wie ihm geheißen wurde, nahm ihre Hände, neigte sich auf ihr Haar – und dachte: Ich habe es gewußt!

Sie entzog sich ihm mit einem verwunderten und furchtsamen Blicke, hielt ihr Gesicht, in dem nun alles ihr eigen war, vor seines und näherte sich von neuem, bis ein Kuß ihren Mund mit seinem verband und sie glauben und glühen ließ einer Erfüllung entgegen, die kommen mußte. Heimatlich schmiegte sie sich hinein in die Umarmung, die aus ihrer Kraft und Sehnsucht nun schön war. Da sie einen Augenblick ermattete, ließen sie einander los. Ihm war, daß er reden müsse, ihr sagen, wie es um ihn stehe, daß er sie vor sich warnen müsse. Er fand nicht den Mut, da er wußte, wie sie verarmen konnte. Eine nüchterne begriffliche Zärtlichkeit fand sich zuletzt in ihm und näherte sich Erika. Doch in ihren Zügen breitete sich Ahnung und Gericht. Ihre oft gequälten Sinne kamen ihm zuvor. Ihr Außergewöhnliches, das keinem gleichen in ihm begegnet war, verließ sie. Da saß ein fremder, lügnerischer Mensch neben ihr, und sie harrte erstarrt, wie sie sich nun wieder würde ertragen können. Seine sich nähernde Gebärde zerriß vor ihrem sich zuschließenden Blicke. Er beugte den Kopf und fühlte sich verurteilt. Als er wieder aufsah, war sie unhörbar von ihm fortgerückt und hatte das Gesicht abgewandt. Sein Blick streifte Judiths Gestalten an der Wand, die in dem späten Lichte in eine furchtbare Wirklichkeit wuchsen und den Raum mit allen Schauern aus Judith so sehr erfüllten, daß ein Augenblick kam, da 210 Rudolf Feiler, aus dem Besitze selbst dieses eben qualvoll Gelebten verwiesen, sich samt diesem leidenden, einsamen, schönen Mädchen dort als ein geheimnisvolles und schreckliches Paar gemalt fühlte, nur mehr Wesenheit besitzend in diesem Zimmer und vor Judith, deren höhnender Fluch ihn in das Erstarren dieses Augenblicks gebannt hatte.

Eine Bewegung von Erika erweckte ihn, und er sah voll Leidens, wie sie die schönen Blumen Stück um Stück zur Erde streute und langsam, langsam zertrat. Es dunkelte in dem Zimmer. Wo das Mädchen saß, vertiefte sich der Schatten schnell. Der Mann fühlte sich, umstellt von bitterlichstem Dunkel, tränenlos vereinsamen. Da blühte Erika noch einmal zart in ihm auf. Ein reiner Ton trug seinen Anruf zu ihr, den er mit der klagenden Innigkeit, wie sie in allem Zuspät und Unwiederbringlichen erstehen kann, immer wieder zu ihr sandte. Es verging eine längere Weile, bis sie zu weinen begann. Da konnte er plötzlich zu ihr hingerissen sein, sich ihr nähern. Sie ließ sein Nahekommen geschehen, stand aber, da er nach ihrer Hand griff, ohne Abwehr auf und sagte endlich mit einer ruhig-schmerzlichen Stimme, wie nach allem Verzeihen: »Ich bin ein bißchen traurig. Heute abend fährt mein Bruder fort. Niemand weiß, wie lieb ich ihn habe, wie ich zu ihm gehöre. Er selbst weiß es nicht, sonst hätte er mir nicht verboten, ihn zur Bahn zu begleiten. Er ist viel besser als ich, aber er hat doch Blut in sich, das ich ohne Denken verstehen kann. Früher wenigstens hab ich das geglaubt. 211 Jetzt . . .« Sie verstummte plötzlich, trat in die geöffnete Tür und holte nach kurzem Zögern den Mantel, Feiler fragend, ob er bleiben oder mit ihr gehen wolle. Sie gingen.

Kein Nebel war gefallen, und ein reiner Sternhimmel stand über der Lichtung. Das weite Wasser regte sich kaum, leichter Wind strich ohne Herbstgeruch durch das zeitlose Dunkel. Da sie die Stelle erreichten, wo der kleine Pfad, die überschwemmte Senke verlassend, in den Wald führt, kehrte sich Erika noch einmal um und warf mit einer heftigen Bewegung etwas auf das Wasser hinaus. Schweigend gingen sie durch den Wald. Die Worte, die Erika von ihrem Bruder gesagt hatte, schienen ein wenig Möglichkeit zu bergen, Erikas stumme Anklage zu entkräften. Das geheimnisvolle Fortgeworfene erregte Feiler nun von neuem mit einer unfaßbaren Gleichnishaftigkeit.

Wo der Steig den Wald verläßt, nähert er sich der Böschung der Bahngeleise und führt neben ihr weiter. Grelles Bogenlicht kam von oben und zeigte Erikas Gesicht, das sich ihm auf dem dunklen Wege wieder mit der furchtbaren Zärtlichkeit ihres Kommens und dem unerträglichen Frühling ihres Lächelns hatte beglänzen wollen, völlig still und unbewegt. Willig ließ er sich beruhigen, ja, er war daran, allerlei Bemerkungen, die er früher an Erika gemacht hatte, emporzurufen und zu seinem Troste und Schutze gegen sie zu lächeln, als sie, da das Weglein in eine breite, stadtnahe Straße mündete, stehenblieb, ihm die Hand reichte und voll einer wunderbaren Güte sagte: »Ich 212 glaube Ihnen, daß Sie es auch schwer haben. Aber denken Sie einmal von Ihrem Leben losgelöst an mich! Leben Sie wohl . . .« Sie tat ein paar Schritte, stand still, ließ sich von ihm einholen und küßte ihn schnell. Er fühlte ein paar Tränen an seinem Gesichte. Er folgte ihr, bis sie die erste Weggabelung vor der Stadt völlig auseinander führte.

 

Rudolf Feiler betrat die Stadt und seine Straße das erstemal ohne Empfindung des Gleichnis gewesenen Abendganges. Selbst die Möglichkeit einer Begegnung mit Judith erreichte sein Gefühl nicht. Sein Zimmer hatte er fürchten gelernt. Es schlug sieben, als ihn ein leichtes Grauen von seinem Tore weitertrieb. Die entschlossene Abendlichkeit des Läutens stellte ihn vor die Notwendigkeit, über den Abend etwas zu bestimmen. Da fiel ihm Bertold Sonntag ein. Schnell erstand er in einem Laden einiges zu einem Abendessen und trug es dem Hause des Musikers zu. Er fand Sonntag in seiner großen vollgeräumten Stube mit Notenschreiben beschäftigt, wurde herzlich und wie erwartet begrüßt und gleich zu dem Kanapee geführt, vor das der Kapellmeister, wunderlich genug anzusehen in seinem großblumigen, etwas verschossenen Schlafrocke und gestickten roten Pantoffeln, den Tisch schob, den er selbst deckte. Sie aßen zusammen, tauschten und teilten, was sie besaßen. Endlich holte Sonntag mit wichtiger Gebärde und fast feierlichen Worten Obst herbei, große säuerliche Äpfel und kleine Weinbergpfirsiche mit festem, grünlichem 213 Fleische, die er verklärt genoß und empfahl, erwartend, daß der andre wie er in den von der Mutter aus dem eigenen Garten gesandten Früchten das Herrlichste und Besonderste genießen werde. Die Rührung, die den großen Menschen da aus seinem unverlierbaren Zuhause ergriff, kam auch Feiler ein wenig an. Das behäbige Zimmer mit grünen Polstermöbeln, großen, ovalen, goldgerahmten Bildern, Klavier, Harmonium und Notenständern sah freundlich und mit einem seßhaften Lächeln in seine Friedlosigkeit. Als sie, kaum mit dem Essen zu Ende gekommen, zum Harmonium gingen, erblickte er aus seinem geruhsamen Armstuhle das nun über Notenblätter geneigte Gesicht des neuen Kameraden so unbeirrbar voll Sammlung, daß eine vergessene Heimatlichkeit sanft die sich bereitende Stunde tönte. Die große, weit vorgebaute Stirn, das gleichweit vortretende rundliche Kinn, dazwischen die schattige Einsinkung der ganz tiefliegenden Augen, die wenig vorspringende breite Nase, all das, was ihn kurz zuvor an den Reiter im Bamberger Dome gemahnte, wurde jetzt aus seiner holzgeschnitzten Ruhe geholt, von kleinen, zärtlichen Fältchen verzogen, und war nach allerlei wunderlichster Bewegtheit völlig groß erhellt, da Sonntag die Notenblätter vor sich aufstellte und zu spielen begann.

Was Rudolf Feiler in diesem gläubigen beseligten Musizieren geschah, mußte er oft und oft wieder bedenken und wagte spät, es seine große Musik zu benennen, da nie vorher noch nachher sein Leben so tief in die Welt der Töne gereicht hatte, noch darin 214 solcherart angeordnet wurde. Bertold Sonntag spielte jene Suite von Bach. Ein betendes großes Präludium sandte kindheitsschöne Engel tief in dieses Leben, das kurz zuvor von Lust und Geist verraten worden war und sich in dem Geschehen nicht zu verstehen vermochte. Sie nahmen das Schwere, Schuldige und Verworrene in ihre Hände und trugen es empor, dorthin, wo immer hellere Akkorde sich in ein andres Leben befreiten, in das er jetzt eingehen durfte mit dem lieblich ernsthaft fragenden Thema der Fuge. Vielleicht war es eine geheimste Benennung aller Liebe, was diesen wenigen Takten nacheilte, sie überholte und im nunmehrigen Zusammenklingen ihn bis zum Weinen ergriff. Wieder fragte es hell hochauf und ward ein Zusammenhallen statt aller Antwort. Schneller und schneller folgte Ineinandergehen den kurzen Einsamkeiten. Lauterste Höhen und verstoßenste Tiefen sangen in verbundenem Auseinanderstreben, näherten sich einander mehr und mehr, verzögert, eilend, verhalten und wieder in glückselig schnelleren Schritten und einten sich nach der Dissonanz eines einzigen Akkordes fraglos erfüllt im Ausklange.

Der Hörer suchte nicht mehr nach Beziehungen, weder im Gefühl noch in dessen Formen. Er ließ sich geschehen, und die große erlöste Seele Johann Sebastian Bachs hatte Raum und Gesetz für all das Seine, so sonderlich es sich gebärdet hatte. Schwerelose Tänze gottgewordener Form, für den Tanzplan der Seligen erschaffen, Gigue, Allemande und 215 Sarabande, nahmen ihn mit sich, eine jagende Chaconne gab ihn elysisch goldnen Stürmen preis, darin viel Abgewelktes aufflog und eines späten Tanzens ohne Melancholie und Abschiedlichkeit genoß.

Da ein paar mächtige Takte und vollste Klänge abendschön aus den Tänzen sich hoben und groß heimkehrten in die ewige Entrückung, und dann die darauf folgende Stille zergehen wollte, mieden es die beiden Männer voll Scham, einander anzuschauen, der Spieler, weil er von seinem Heiligsten geredet hatte, der Hörer, weil nun wirklich vieles geschehen war. Sie saßen eine längere Zeit noch, rauchten und schwiegen. Als Rudolf Feiler sich erhob, hielt Sonntag ihn nicht zurück. Doch mahnte er ihn in der Tür noch, des für den kommenden Vormittag verabredeten Spaziergangs eingedenk zu sein. Feiler nickte ja, drückte ihm die Hand und ging langsam die Treppe hinunter. Schon im Flur angelangt, hörte er Sonntag die Stufen heruntereilen und erhielt im Dunkeln einen kleinen Korb in die Arme gedrückt, worauf der Geber sich vor jeder Frage entfernte. Im schwachen Straßenlichte sah er, daß es die geliebten Früchte aus Sonntags Heimatsdorf waren, die er mit sich trug. Er ging heim. Das Zimmer hatte nichts Drohendes noch Ängstigendes mehr. »Musik,« sagte er zu sich, »Musik« und vieles redete er noch, in wirren Worten, die er doch verstand. Kaum hatte er Platz bei seinem Schreibtisch gefunden, zog er schon ein Blatt Papier zu sich und begann zu schreiben, wie wenn es ein Brief wäre, mit einem ordentlichen Datum oben, und dachte nicht, an wen 216 er schriebe, noch, ob nicht für lange nur er selber übriggeblieben sei, dem er einen Brief zu schreiben hätte. Das große Blatt legte er bald vollbeschrieben zur Seite, ein andres gleiches noch ebenso – und dann lehnte er sich aufatmend nach schweren Geständnissen zurück und meinte zu wissen, wo seine Welt sei, wo er ihrem Rande zu nah gekommen und wie ihm Sünde noch beschaffen sein könne. Da war er eigentlich ein wirklich sehr einsamer Mensch. Aber es tat ihm nicht weh, er bedachte es gar nicht, noch suchte er es zu einem Glücke aufzubauschen. Nicht einmal an Abreisen dachte er jetzt. Es war ein langer stiller Abend mit ihm, in dem auch alle Klugheiten und Einsichten vor dem Anscheine einer ganz tiefen Erkenntnis ein gütiges Schweigen hielten. Lange später redeten sie erst, da schon Hohn und Lust am Quälen vergessen war, nahmen dem Abend seine scheinbare Bedeutung und gaben ihm eine, die wieder für eine Zeit als wirklich gelten konnte. Ehe Rudolf Feiler sich zu Bett legte, brachte er seinen Schreibtisch zur Ordnung, wobei er eine vorher übersehene kurze Aufforderung, sich andern Tags zur Übernahme seines Erbes einzufinden, bemerkte. Dann machte er seine längere Zeit unterlassenen Turnübungen. Er schlief bald und tief.

 

 

Als Rudolf Feiler vor dem Gymnasium Sonntag erwartete, hatte er bereits jenes nunmehr sein gewordene Vermögen in Besitz genommen. Dann, im Betrachten der Banknoten und Ordnen der Wertpapiere, mancher schwer getragenen Entbehrung von 217 ehedem gedenkend, hatte er sich ohne die erwartete Erregung sagen müssen, daß es sonderbar genug zugegangen sei mit diesem reichen Besitztume, das er nun plötzlich als ihm gehörig betrachten lernen sollte. Er nahm es hin und vermißte selbst das rechte Denken darüber. Das Unleugbare dieses Geschehens konnte ihn nicht überwältigen, nicht dazu hinreißen, im Denken wenigstens die Möglichkeiten zu erlösen, die in Besitz beschlossen sind. Etwas war zwischen ihm und dem Reichtume, wie etwas zwischen ihm und den Frauen zu stehen schien.

Er war zu früh vor dem Schulgebäude angelangt, ging längs des gegenüberliegenden Parkes auf und nieder, durchschaute den herbstlich gewordenen völlig, sah über seine gering gewordene Breite hinweg die Häuser an seiner andern Grenze und erinnerte sich, daß hier ein dichter, großer Garten gewesen war, als er das erstemal durch diese Allee gegangen war. Von dem Nahen eines Menschen berührt, blickte er auf und sah in ein unbekanntes Gesicht, das gespannt und heiß fast von der Gier, etwas mitzuteilen, auf ihn zukam. Er erwiderte den Gruß nicht und wandte sich so plötzlich ab, daß der magere, krank aussehende Mensch mit vorgesetztem Beine einhielt und sich dann dürftig mit umgewandelten, erschlafften Mienen entfernte. Rudolf Feiler dachte kaum darüber nach, was ihm der Mann hatte sagen wollen. Er besann sich weiter des Gartens da, der irgend etwas bedeutet zu haben schien, etwas Wesentliches noch im Augenblick vorher, das er nun doch nicht in sich auffinden 218 konnte. Dabei ging sein Nachdenken so vorsichtig tastend, eher vermeidend denn suchend. Als Sonntag schon aus dem Tore trat, fiel ihm ein, daß er vergeßlich geworden sei, und er erschrak vor dem Gedanken, weil darunter sich schon ein andrer erhob, groß und bedeutungsvoll: daß er es immer gewesen sei. Daß alle Geistigkeit und Selbstbetrachtung nur ein Weg gewesen sei, von seinem eigenen Leben fortzusehen.

Sonntag kam heiter wie ein schulfrei gewordener Junge. Sie gingen die Allee hinunter, folgten der Eisenbahn und waren bald an der Stelle, wo der Steig vom Frühstücksschlößchen her über die Wiese kommt und wo Rudolf Feiler gestern erst mit Erika gegangen war, was unter dem Gespräche aufglomm wie eine jahreferne Schuld, traumhaft groß, doch in einem andern Leben. Er folgte eiligst aufmerksam der Rede Sonntags, der ihn jetzt auf seine Überraschung, seinen Sonderling von einem Freunde, vorzubereiten suchte. Sie seien im Begriffe, erklärte er, dem Friedhofe ihren Besuch abzustatten. Dort nämlich wohne der Mensch, der ihm so lieb sei, der Friedhofsgärtner. Es sei dies ein noch nicht alter Mann, der viele Jahre im Auslande gelebt habe, auf Plantagen, Gütern und in den vornehmsten Badeorten des Südens, der ein kümmerlicher Arbeiter und später der gesuchteste modische Blumenbinder der großen Damen und Dandys in Nizza und Biarritz gewesen sei, und der, wenn man ihn in einer seiner seltenen mitteilsamen Stunden antreffe, prächtig von Menschen und Verhältnissen zu erzählen wisse. Seiner Frau zuliebe, die 219 aus der Stadt gestammt habe, sei er hieher gekommen. Seine Pläne, eine Gärtnerei und einen größern Blumenhandel zu beginnen, habe er dann, als die Frau im Kindbette gestorben sei, schnell aufgegeben und die Stelle eines Friedhofsgärtners angenommen. Nun pflege er hier seit etlichen Jahren schon die Gräber, halb auch schon Totengräber geworden, verkaufe wenig ansehnliche übliche Blumen und beschäftige sich in der Hauptsache und mit einer gewissen Leidenschaft, soweit dieses Wort auf einen so ruhigen Menschen angewandt werden dürfe, in einem Glashause, das er sich selber erbaut habe, und mit ein paar Beeten. Da ziehe er die wunderbarsten Pflanzen, die außer seinem Freunde Sonntag nur noch einige Fremde, die ihn von Zeit zu Zeit besuchten, zu sehen bekämen.

Als Feiler sich nach kurzem Hören über das Ungestillte und Unentwirrte hinweggeholfen hatte, hatte all dies schon Wege gefunden, sich auch des Neuen zu bemächtigen, was sich in Fragen, die das kaum gewordene Bild heimsuchten, nur allzudeutlich bewies. Er mußte der einfachen Tatsache, daß er einen Gärtner kennen lernen würde, solcherart entgegen reden: »Was soll ich überhaupt mit Menschen anfangen? Was will ich mit dem da? Spielen kann ich ja wirklich nicht – und Ernst? Redet einer fremde Dinge, dann werde ich ihm doch nicht folgen mögen. Und gäbe es das Wunder, daß er von meinen spräche, dann müßte ich mich verschließen und gehen. Denn aus dem Munde eines andern könnte ich sie nicht ertragen.« 220

Fern schon der Stadt, in der großen Ebene, tauchte die weiße Mauer empor, bald von Obelisken, Zypressenspitzen und einer Kapelle überragt. Auf einem Brachfelde davor war Zigeunern ein Lager eingeräumt worden. Feuer rauchten, Schreie einer unfaßbaren Sprache schollen herüber. Halbnackte Kinder drängten aus den großen, grünen Wagen den Vorübergehenden zu und liefen mit, sie mit heischend offenen Handtellern umflatternd. Ein halbwüchsiges Mädchen, in eine weite, offen hängende Husarenattila gekleidet, aus der goldigbraun die hemdlose Brust hervorsah, schaute mit einem großen, alten, wissenden Blicke, der Feiler jäh und furchtbar an Judith mahnte, die Männer an, wandte sich dann gleichmütig und stand laß neben der Straße, an einem Halme kauend. Die Kinder folgten den Männern bis an das Tor, über dem in Goldbuchstaben »Stätte des Friedens« stand. Hier hielten sie verstummt und schauten in den großen Garten den beiden Schreitenden auf den schönen Kieswegen nach, bis die seitab bogen und hinter Heckenzäunen, über denen ein rotes, niederes Dach eben noch zu sehen war, verschwanden.

Die Türe des saubern kleinen Hauses, auf das die beiden nun zuschritten, stand offen. Sonntag trat ein und kam alsbald wieder. Gunsam, der Gärtner, sei nicht im Hause, man müsse ihn suchen gehen. Sie gingen also den Hauptweg entlang, an dem die ordentlichen Bürgergräber mit ansehnlichem Steine und wohlgehaltenen Gärtchen sich breitmachten, lasen Sprüche und Namen, sahen da und dort ein 221 photographiertes Gesicht aus einem Medaillon blicken, in dem die Züge selbstzufriedenen Lebens sich von der Endgültigkeit der nunmehrigen Stätte nicht anfechten ließen. Da die Suchenden nach einigem Gehen den Gärtner nicht entdecken konnten, wandten sie sich vom Hauptwege ab und kamen in Bezirke, wo der Blumenschmuck dürftiger, die Hügelchen schmäler und niedriger waren und wo eine winzige Steinplatte oder ein Kreuzchen die Unvergeßlichkeit für zwanzig Jahre verbürgen mußte.

Sonntag rief den Namen des Gärtners über die Gräber hin. Fernher kam Antwort. Sie gingen dem Klange nach, der andern Seite des Friedhofs zu, an der kleinen Einsegnungskirche vorbei, und kamen in den Bereich etlicher Gruftkapellen. Im Eingange der stattlichsten fanden sie einen großgewachsenen Menschen mit rötlichem, stark gilbendem Barte und einer hohen hellen Stirn, der Sonntag aufs herzlichste begrüßte und auch Feiler die Hand reichte. Sie könnten in das Haus gehen, sagte er, hier sei er eben fertig geworden. Er schloß das schöne schmiedeeiserne Tor der Kapelle. Da sie sich zum Gehen wandten, sah Feiler über der dunklen Türe geschrieben: Ruhestätte der Familie von Lärne. Während die beiden sich schon entfernten, blickte er scheu hinein und gewahrte an der Wand eine kniende weibliche Statue, die ihn erschütterte, noch ehe sein Bewußtsein Namen und Beziehung auffinden konnte.

Er betrat mit den beiden Männern den sauber umhegten Besitz des Gärtners. Während sie sich der Türe 222 näherten, blieb Gunsam oftmals auf dem kleinen Weglein stehen, hob da und dort eine Ranke auf, bückte sich schauend nach etlichen Wasserpflanzen über einen winzigen Teich und fragte endlich, Feiler plötzlich voll in das Antlitz blickend, Sonntag: »Hatten Sie eine Absicht damit, daß Sie Ihren neuen Freund zu mir brachten, Herr Professor?« Dieser antwortete ohne Verwirrung, er sei nur dem natürlichen Triebe gefolgt, eine Vereinigung zu versuchen zwischen den zweien Menschen, die ihm nahegingen. Der Friedhofsgärtner führte sie zu einer runden Bank, brachte Obst aus dem Hause und stellte die geblümte Schüssel auf den Tisch vor sich, wischte die Hände an dem Schurz ab und biß in einen Apfel. Eine Stille unausgeglichner Erwartung verband und trennte sie. Der Ruhigste nahm das Wort: »Sehen Sie, so kann man auch ganz schön leben. Das ist mein Haus, mein Garten, dort hinten mein Treibhaus. Draußen arbeite ich, hier bin ich vergnügt, schau dem Wachsen zu und mach mir meine Gedanken. Und wenn wer Rechter kommt und sie hören will, sag ich sie ihm auch. Derweil wird man alt und die Stauden werden groß, das Wachsen kümmert sich doch nicht um uns.« Der Musiker suchte eine Brücke zu schlagen: »Der Herr Doktor war oder ist ein bißchen ein gelehrter Kollege von Ihnen, Gunsam. Er hat Naturwissenschaft studiert, sich mit den ganz kleinen Tieren und Pflanzen im Meere abgegeben und könnte Ihnen manches erzählen, was Sie freuen würde.« Feiler ging nicht über die Brücke. Der apostelhaft aussehende Mann drüben sah 223 angestrengt nachdenkend drein und sagte endlich: »Ich glaube wohl, daß der Herr Doktor vieles versteht und gelernt hat. Aber ich weiß, daß er mir davon nicht viel sagen könnte, was ich aufzunehmen imstande wäre. Das Grundsätzliche verstehe ich nicht – und das andre brauch ich nicht. Da drinnen habe ich fünfzig Bücher über Pflanzen und Naturgeschichte. Besser hat mich keines gemacht. Was ich wissen kann, muß ich mir schon selber verdienen. Denn ich kann's nur mit dem Gefühle, mit der Teilnahme wissen. Wie ich noch recht unglücklich war, hab ich die Bücher gelesen und gelesen. Nachdem ich mich aber an mein Leben zu gewöhnen angefangen hab, hab ich erlernt, daß ich gar keine Antworten brauche, weil ich ja um nichts Eigentliches gefragt habe. Daß nur etwas sein muß, was ich gern haben kann, was ich anschauen mag, was mir warm macht im Herzen, denn Wärme muß man doch von außen bekommen. Mir scheint, Sie glauben zu viel von mir, Herr Professor! Ich bedenke nichts andres, als was ich sehe.«

Bertold Sonntag mochte ungern von dem Gedanken lassen, den Freund, den er als unglücklich empfand, beschenkt zu sehen aus dem ruhigen einfachen Leben des Gärtners. Seinem wachsenden Mißbehagen zum Trotze hielt er daran fest, obwohl er es schon vermeiden mußte, Rudolf Feilers Gesicht anzusehen. Eine gute Möglichkeit schien es ihm noch, Gunsam unter der Wirkung seines Treibhauses zu zeigen, und er bat ihn, sie dahin zu führen. Dieser schlug es ab, freundlich, doch ohne besondere Rechtfertigung. 224

Feiler empfand ein weniges von dem, was in Sonntag vorging, und wandte sein Gesicht entschlossen von den beiden Männern ab. Doch im Umherblicken wurde das Interesse des einstmaligen Biologen wachgerufen. Er sah auf dem Teiche die Vallisneria spiralis, an die sich die mythoshafte Erinnerung an ihren tödlichen Liebesakt knüpft, sah die unheimlichen Fleischfresser, Sonnentau, Fettkraut und mehrere Pflanzen, die um ihrer eigentümlichen Bewegungsfähigkeit willen neuerdings stets als Argument und Beispiel für allerlei Theorien von einer Pflanzenseele angeführt werden. Da er eben diese Verbindung zu einem, wenn auch schon fernen Interesse gefunden hatte, kam die Ablehnung des Gärtners, ihn in sein Treibhaus zu führen. Ein wenig verächtlich gewordenes Ertapptsein drang in jene Tiefen, wo es allzuviel von solchen Beschämungen gab. Er wehrte sich: »Was sollen mir diese Bauern da, diese animalischen Seelen, die vielleicht füreinander etwas bedeuten können mit ihren vegetativen Einsichten – mitteilen können sie nichts. Und wenn sie es selbst treffen, wenn sie sich musizieren, ich höre meine Musik . . . Man muß sehr reich sein, sehr hoch im Leben . . .« Er stand fast brüsk auf und sagte, daß er noch Lust habe zu gehen. Die beiden blieben sitzen, und Feiler wußte nun, daß er Bertold Sonntag vor eine Wahl gestellt habe – und daß Sonntag den andern gewählt habe. Zwar erhob er sich dann doch, um den Mann, mit dem er gekommen war, zu begleiten, doch das geschah nur mehr aus jener Redlichkeit, die sich durch ein 225 Versprechen gebunden fühlt. Trotzig verzichtete Rudolf Feiler, ließ sich durch kein Abwehren noch Bitten bewegen und ging allein fort. Es war ihm nicht wohl zumute. Er schrie die neuerdings herandrängenden Zigeunerkinder böse an und empfand den sich schnell von ihm abwendenden Blick des am Straßenende hingekauerten hübschen Mädchens von früher als eine Geringschätzung. Da griff er in die Tasche und warf ihr alles Silbergeld zu, das er bei sich hatte. Sie hob es gierig auf, ohne ihn anzusehen, und ging dann sehr eilig den grünen Wagen zu. Die Straße war, da es gegen Mittag ging, völlig leer, und er erschrak nach längerem Gehen davor, daß er laut mit sich sprach. Er mußte seines Schauderns gedenken, da er in der Kindheit häufig einem Manne begegnet war, der also mit sich sprach und von dem er gewußt hatte, daß es ein von den Seinen verlassener Bankrotteur und entlassener Sträfling sei. Er hielt eine herankommende leere Kutsche an und ließ sich von ihr in die Stadt bringen. Er erzählte sich von seinem Vermögen, von seinen anerkannt gewesenen Arbeiten, den erwartungsvollen Aussprüchen, die über seine Fähigkeiten getan worden waren, und den Möglichkeiten, die er jetzt zu sorgloser Arbeit habe. Er hielt sich die Frauen vor, die er besessen hatte. Indessen fuhr er vor seinem Hause vor. Er bezahlte den Kutscher mit einer Banknote, die den geforderten Fahrpreis hoch überstieg, und lief die Treppe empor. Seine Hausfrau empfing ihn im Vorzimmer und berichtete, daß eine junge Dame, das Fräulein Rosenberg, wenn sie nicht irre, 226 hier gewesen sei und den Herrn Doktor gesucht, ja eine Weile erwartet habe. Sie habe einen Brief geschrieben, der auf dem Schreibtische liege.

Feiler zündete eine Zigarette an und ging oftmals durch das Zimmer, ehe er den Brief öffnete. Er las: »Heute morgens ist Erika gestorben. Sie hat sich die Adern geöffnet. Ich verstehe jetzt alles. Sie hat mir alle meine Träume fortgeträumt. Jetzt ist sie meinen mir gehörigen Tod gestorben. Was werde ich nun tun? Erst meinte ich noch, bei Ihnen hätte ich was zu hoffen. Ich lief hierher. Hier habe ich eine meiner guten Gemeinheiten begangen: unter Ihren Zetteln lag da ein zugeschlossener Brief ohne Adresse. Ich spürte, daß er mich anging – und hab ihn aufgemacht. Jetzt werden Sie wohl abreisen? Tun Sie's! Kleine Städte sind furchtbar. Man ist so zur Schau gestellt, daß man entdeckt wird oder sich selbst entdeckt. Reisen Sie also! Judith.«

Unter ein paar Blättern lag geöffnet der Brief, den er den Abend zuvor sich selber geschrieben und in einer seiner sonstigen Art völlig widersprechenden Vergeßlichkeit, wie sie zuweilen gerade die Sorglichsten in wichtigen Augenblicken überkommt und zu Selbstverrat zwingt, auf dem Tische hatte liegen lassen.

Viel zu denken blieb Rudolf Feiler nicht übrig. Er warf sich auf das Bett, mit den schmutzigen Schuhen auf die saubere weiße Decke, und verkroch sich in seinen paar Wirklichkeiten, denen er nun eine neue zugesellen mußte. Langsam wuchs in all das Wirre hinein eine 227 öde Übelkeit in seinem Körper. Er sprang auf von dem Bette, stand mit angespannten Muskeln im Zimmer und durchwühlte sich, bis ein Gedanke sich umriß in ihm, in den sich gierig alles Leben flüchtete: der an Abreise. Er riß die Schranktüren auf und warf heftig die sauber geschlichteten Wäschereihen heraus und trug sie dahin und dorthin. Dann ging er zum Schreibtisch zurück und schrieb neben Judiths Brief an ihren Vater, daß er jetzt plötzlich abzureisen genötigt sei und ihn um die Weiterführung seiner Angelegenheit bitte, über deren Stand er gelegentlich an die Wiener Adresse Bericht erwarte. Er bedaure, daß die eilig notwendige Abreise es ihm nicht mehr erlaube, sich von einer Familie, von der er so viele Freundlichkeiten erfahren habe, persönlich zu verabschieden. Er müsse sich also begnügen, brieflich aufs herzlichste zu danken, und sich mit der Hoffnung auf Gelegenheit zu künftigen Gegendiensten trösten. Den Brief gab er der Hausfrau zur Beförderung und rief ihr noch nach, daß Eile höchst not tue. Dann begann er wieder, planlos zu packen, warf und stopfte Schriftenbündel zwischen Kleider und Wäsche und konnte sich zuletzt, da er mehrmals ein Buch oder Päckchen als ein ehedem besonders wertvoll gewesenes erkannte und ihm einen geschütztern Ort suchen wollte, vor dieser treibenden Hast nicht mehr retten, in der es ihn Augenblicke lang emporriß und ihn zum Schreibtische trieb und in die Besinnung, daß er Judith schreiben müsse, viel schreiben. Haß und Sehnsucht freilich durchglühten ihn mit gleicher Macht. Mit Judiths 228 Brief in der Hand verließ er das Zimmer, und schon auf der Straße, auf die verurteilenden Zeilen starrend, kam ihm der Gedanken an sein Vermögen, das schlecht verwahrt oben im Zimmer lag, und er eilte zurück und nahm die kleine Handtasche mit sich. Er begegnete dem Sohne der Zuckerfabrikantin, der schleppend die Straße entlang ging und einen Wagen mit einem livrierten Bedienten auf dem Kutschbocke neben sich herfahren ließ. Feiler sah ihm in das gelbliche, tagfremde Gesicht und wartete gierig auf einen Gruß, noch als der matt und gleichgültig vor sich Hinblickende schon ein gut Stück vorüber war.

Feiler schlenkerte mit seinem Täschchen und ging, bald eilig, bald zögernd, dem Gasthofe zu, wo er zu essen beabsichtigte. Plötzlich wurde ihm die sonnenhelle Stadt deutlich; Dahlien und Georginensträuße in Fenstern auf dem stillen Platze, über den nun wieder eine Ahnung von Bäumen, von großen Wäldern hinstrich, stimmten ihn weich. In die halbdunkle, lärmende Gaststube nahm er einen kleinen, süßaufblühenden Gedanken an Erika als an etwas sehr Schönes mit. Aber schon schloß sich daran versucherisch das Wort, daß Erika tot sei.

An dem großen Tische saß wieder der gedunsene Gymnasialdirektor und sah anscheinend feindselig herüber. Feiler bestellte ein reiches Mittagessen, wählte sorgfältig die besondersten Dinge der Speisekarte und verlangte eine Flasche des als am teuersten bezeichneten Weines, der ihm in einem Kühler aufgetragen wurde und mehrere Blicke auf sich zog. Er nörgelte 229 laut an den Speisen, begrüßte den eintretenden Sonntag mit einem hallenden Zurufe und redete über zwei Tische fort mit einem älteren Offizier, den er sich über einen Braten beklagen gehört hatte. Sonntag kam nicht an Feilers Tisch, sondern ließ sich drüben bei den Professoren neben seinem Direktor nieder. Feiler empfand dies als Feindseligkeit und wandte sich ganz ab von ihm, trank dem Offizier zu, der etwas verwundert nickte, und benützte jedes Kommen eines Kellners, um hochmütige Beschwerden vorzubringen. Indessen trank er, der sonst fast ängstlich jedes Getränk vermieden hatte, die Flasche fast leer und aß viel ohne Genuß. Als er sich etwas trunken werden fühlte, wurde er augenblicklich still. Er wäre jetzt am liebsten fortgegangen. Aber ein gieriger Trotz begann sich gegen Sonntag aufzurichten und hieß ihn, eine Gelegenheit zu einer Aussprache abzuwarten. An dem Tische, wo der Musiker saß, wurde mehrmals der Name Lärne genannt. Feiler empfing ihn als eine jähe Glut, mußte an die Gruftkapelle denken, die Botin gewesen war, und meinte, daß nunmehr nur noch die verzerrende Wirkung des Weines ihn an einem Erfassen alles Notwendigen hindere. Er rauchte, stierte vor sich hin, und Judith erschien ihm wieder, nun völlig dirnenhaft im Gebaren. Sie schien vor ihm herzuschreiten, in einem unverminderbaren Abstande, und seine Füße erkannten das untersinkende Gefühl aus jenem kürzlich erlebten Traume wieder. Wenn sie zurückblickte, war es ihm, als ob sie irgendeine Miene auf sein Gesicht drückte, irgendeinen Zug mit sich 230 fortnähme – und plötzlich dann trug sie seine Maske in der Hand, warf sie empor und fing sie wieder. Ruckweise fuhr er auf, griff nach der Geldtasche, kehrte sich unklar einem Geräusche von Sesselrücken zu und sah Berthold Sonntag aufgestanden und den Direktor sich verabschiedend. Er rief einen Kellner und ließ Sonntag, just ehe der Blaurote, Gedunsene ging, zu sich bitten. Er ermunterte sich mit aller Willensanstrengung und wartete fast fiebernd, vielerlei Flecken und schwebende Farben vor den starr gehaltenen Augen, ob der Gerufene kommen würde.

Sonntag kam, etwas verlegen, stützte sich auf eine Sessellehne und fragte, was Feiler wünsche. Dieser zögerte eine Weile, bat ihn dann in dringendem Tone, sich zu setzen, und sagte endlich schnell, in Angst, alles zu gestehen, er werde heute abreisen. Im Gefühle des Fortgehens habe er nur bedacht, in welcher Abhängigkeit ein so begabter Mensch wie Sonntag sich befinde, und wolle ihm ein Anerbieten machen: er sei jetzt ziemlich reich, während sich seine Bedürfnisse gar nicht geändert hätten . . . Sonntag unterbrach ihn mit der Frage, ob er stets Liebfrauenmilch getrunken und sechs Gänge zu Mittag gegessen habe. Der beabsichtigt scherzende Ton mißlang ihm völlig. Feiler stockte, raffte sich aber dann heftig auf und hastete das Weitere ungeschickt hervor: er biete also dem ihm Liebgewordenen eine größere Summe, die ihm Unabhängigkeit vom Gelde auf Jahre hinaus gewähren könne oder, wenn er das vorziehe, eine Rente bis zu den sicherlichen künftigen Erfolgen, die es ihm 231 gestatten werde, in Ruhe zu arbeiten, sich eine würdige Dirigentenstellung schaffen und in einer entsprechenden Umgebung leben zu können. In einem unsichern Stolz sah er jetzt an dem andern auf, der rot und heiß geworden war, mit seinen sonst so ruhigen, großen Händen arbeitete, die Finger ineinander drückte, bis wächsernes Weiß neben grellroten Flecken darauf stand, und mehrmals Ansätze zu sprechen wie in Atemlosigkeit unterdrückte. Die Pause war lang, zu lang für das Siegergefühl Rudolf Feilers, und er wollte sein Angebot von neuem beginnen, prächtiger und medizeischer. Da kam der Blick des vor ihm Ringenden, der in diesen Minuten alle seine einsamen Wünsche und Hoffnungen wunderbar aufglühen gefühlt hatte, zu ihm zurück, und der sonst wenig sicher und stockend Redende sprach jetzt ganz klar und fast froh: »Lieber Herr Doktor, ich kann Ihr schönes und so gutgemeintes Anerbieten nicht annehmen. Ich weiß nicht einmal rechte Gründe. Vielleicht kann ich keine neue Dankesschuld auf mich nehmen, weil ich die alte an meinen Wundermann, den toten Pfarrer, nicht abgetragen habe, weil ich noch immer nichts Rechtes geworden bin. So wie ich jetzt bin, darf ich nur das genießen, was ich mir selber geschaffen habe. Andern ist es viel schlechter gegangen, und sie haben es zu etwas gebracht. Ich kann's nicht annehmen – weil ich nicht kann. Andres weiß ich nicht zu sagen. Denken Sie, daß mich das Wohlleben, zu dem sie mir verhelfen wollten, vielleicht zugrunde gerichtet hätte, und trösten Sie sich damit, wenn Sie wirklich einen Trost 232 brauchen, daß so ein Bauer wie ich einen harten Schädel hat, dem nicht so leicht was geschehen kann und aus dem schon noch das herauskommen wird, was drin ist – wenn was drin ist. Herzlichen Dank. Seien Sie nicht böse!«

Sonntag hielt ihm nun völlig freundlich die Hand hin, und Rudolf Feiler legte seine etwas feucht gewordene schlaffe hinein, während er dachte, daß man erstaunlich viel ertragen könne. Das habe er ja überhaupt erlernt in dieser Zeit und vielleicht sei sie gar darum noch irgendwie gut gewesen. Freilich, wenn man so eine Schwerfälligkeit und Dürftigkeit der Aufnahmsorgane habe, daß alles nur ein wenig und langsam hineinsickere . . . Da zog der andre die Hand fort und fragte, wann Feiler zu fahren gedenke. Heute noch, antwortete er, doch könne er die Stunde noch nicht angeben. Ob er schon vom Selbstmord des Lärnemädchens erfahren habe, fragte nun Sonntag und fügte hinzu, das sei noch ein glimpflicher Ausgang geworden. Er habe der Unnatürlichkeit und Geheimtuerei immer mißtraut. Schade sei es freilich um ein junges, hübsches Geschöpf. Aber Gott wisse sich schon zu helfen. Was die Freundin jetzt anfangen würde, sei er neugierig, die ja sicher was davon auf dem Gewissen habe. Zum Glück werde der alte Lärne sich die Sache nicht sehr zu Herzen nehmen. Es sei ja allbekannt, daß er das Mädel wegen der Ähnlichkeit mit der fortgelaufenen Frau nie habe recht leiden können. Rudolf Feiler hörte erregt und voll Widerwillens das Gerede des bäurischen Mannes, der 233 seine ganze dumme Ruhe wiedergefunden hatte. Sie hatten einander nichts zu sagen. Dennoch fragte Sonntag, wohin Rudolf Feiler zu reisen gedenke und ob er etwas von sich hören lassen werde. Feiler nannte unverzüglich als nächsten Aufenthaltsort Braunschweig, eine Stadt, von der er wenig mehr als den Namen wußte und an die er nie vorher gedacht hatte.

Er bezahlte seine Mahlzeit und fühlte die Wirkung des Weines wieder stärker in sich, der er auch eine aufsteigende Rührung zuzuschreiben geneigt war, die sich unter dem kurzen, absichtlich flüchtigen Abschiede breitmachte. Er nahm also hastig seine Tasche an sich und ging nicht sehr sicher aus dem Zimmer; beim Schließen der Tür merkte er, daß Sonntag noch immer neben dem Sessel stand und ihm nachsah. Er mußte sich jetzt um jeden Schritt bekümmern, an seine Haltung denken, die ihm in Hinsicht auf einige Vorübergehende als recht stolz nötig erschien, und langte in seinem Zimmer doch ganz schlaff an, ekelte sich vor dem halb gepackten Korbe und warf sich gleich wieder auf das Bett, wo er bald einschlief.

Er fühlte sich nicht sehr gut im Aufwachen, wusch sich kalt und machte sich mißmutig an das Packen, zu dem ihn ein dunkles Pflichtgefühl rief. Erst allmählich, besonders von einigen Gegenständen erregt, wurden die Gründe und Notwendigkeiten dieser Abreise, die noch immer vag genug vor ihm stand, lebendig. Einer heftigen Übelkeit konnte er nur mit dem stärksten Willensaufwand und mühsamster Ordentlichkeit im neuerlichen Legen und Schlichten der 234 Bücher und Papiere Herr werden. Als er den großen Korb und die Bücherkiste abschloß, brannte schon die Lampe im Zimmer.

Feiler saß vor dem Schreibtische, einem leeren, wenig hübschen Möbel, und sagte sich mehrmals: »Also jetzt gehe ich wieder fort.« Er versuchte einen Humor in die Überblicke zu bringen, die unaufhörlich und gegen seinen Willen in ihm geschahen, und meinte, sich nun einmal wirklich würdelos nehmen zu können und ruhig alle Namen aussprechen zu dürfen: »Ja gut, ich bin da als ein ordentlicher Mensch hergekommen, auf Ferien, wie es mir schien, wollte meine hochgezüchtete Geistigkeit in Abenteuern erproben, habe in der Erotik dilettiert – und derweil ist eine Menge geschehen, wovon ich nichts recht verstanden habe. Und jetzt werde ich fortgeschickt. Ein junges Mädchen, ein schönes, das ich anscheinend doch nicht geliebt habe, hat sich getötet. Und ich habe die dümmsten Dinge meines Lebens getan. Ich bin dreißig Jahre alt, trage ein recht anständiges Vermögen mit mir fort und kann mir davon keine Illusionen machen lassen. Kurz und gut, es steht um vieles übler mit mir als an dem Tage, da ich diese Stadt betrat. Es scheint, daß ich mich nach dem ersten Malheur mit meiner Ehe schon ganz gut, ja sehr gut zurecht gemacht hatte. Damals war ich freilich viel jünger. Was ist mir denn jetzt so übel bekommen? Am Ende gar mein Selbst und Ich in den neuen Beleuchtungen?« Aber da begann das Bitterliche in dem Spiele mit der Einsicht. Er beeilte sich, nach 235 lichten Punkten zu forschen, worauf man hätte eine Vorläufigkeit von bessern Ausblicken und Zuversichten errichten können. Aber es gab davon durchaus nichts. Er mußte sich dazu bequemen, sich um einen Zug zur Abreise zu bekümmern, und ließ sich ein Kursbuch kommen, bei dessen Durchsicht er auf Namen stieß, die fröhlicheren Fahrten angehört hatten. Er entschloß sich zu dem letzten Zuge, der kurz vor Mitternacht abging, wofür er sich damit rechtfertigte, daß dieser die kürzeste Fahrzeit habe, was jedoch keineswegs der Wahrheit entsprach. Er beauftragte die Hausfrau, die seine Abreise freundlich wie ehedem sein Kommen entgegennahm, sein Gepäck zur Bahn schaffen zu lassen, und vergnügte sich damit, das leer gewordene Zimmer zu allerlei Vergleichen heranzuziehen.

Indessen wurden mit der Sicherheit des Fortgehens die Erinnerungen an die letzten Wochen wieder stärker, ja es rundeten sich Bilder und färbten sich in mancher fremden und tiefen Farbe, bis ein schmerzlich dunkles Grollen ihn in Unruhe und zu Stimme gekommener Armut durch das Zimmer trieb, auf und nieder, und die Unwiederbringlichkeit leise ihren bitteren Spruch begann. Da er mit heftigen und abwehrenden Gesten sein Gehen begleitete, verstand er bei einer Wendung plötzlich, daß Erika mit jener unerklärlich gewesenen Bewegung am Waldrande den Schlüssel zum Frühstücksschlößchen hinter sich geworfen hatte. Er fand den seinen in der Tasche auf und zögerte ein letztes Mal, ob er nicht, den Schlüssel zum 236 Vorwand nehmend, an Judith schreiben solle. Was dachte sie von ihm? Wie würde sie jetzt leben? Was konnte das bedeuten, daß Erika ihren Tod gestorben sei? Der geistige Mensch empörte sich zuerst, daß er nicht wußte, während doch alles um des Wissens willen begonnen worden zu sein schien. Eine Verstörtheit wie nach einer sehr schlecht getanen, inkorrigiblen Arbeit durchdrang seine Vernunft, die allzulang dem Denken an das Denken gedient hatte. Eine noch immer vorhandene Geschicklichkeit im Ausbalancieren verteilte schon jetzt ein gutes Gewicht von Schuld und Not an die Vernunft, die ja ehedem das Beweglichste und Lebensfähigste gewesen war, und nahm damit dieses Stück Last schon fort aus den Regionen, wo das Blut leiden, sühnen und sich aussöhnen muß. Noch schien das Blutdurchwandernde schwer genug.

 

Die Stunde des abendlichen Gehens war wieder gekommen. Trotz allem rief sie ihn, und er gehorchte ihr und dem armseligen Vielleichtdoch eines letzten Males. Da Rudolf Feiler in das Gehen der Spaziergänger eintrat, geschah es, daß er in sich das Wort vernahm, das Sonntag gesagt hatte, das Wort Selbstmord und daß er, in die unbiegsamen, unerbittlichen Grenzen dieses Wortes gezwungen, mit einem krampfähnlichen Gefühle im Herzen den Tod Erikas erfaßte.

Nun hatten die Gesichter tief und fremd ihr eigenes Leben. Die nun für immer abgelebte Verwandtschaft zu den Gruppen der Gymnasiasten fand den Weg nicht mehr zu ihren sehnsüchtigen Hoffnungen, 237 da sie allzu verwandelt durch die Schichte von Abschied und Tod, die um sein Herz war, hindurchtrat. In diesem Gehen litt er einfach und rein den Schmerz an seinem Leben. Der Abendgang war zu gleichnishaft in ihm gewachsen, als daß dieser letzte nicht hätte die letzte Sphäre von Wirklichkeit und Besinnung sein müssen. Es war ein gepeinigtes Kommen und Kehren, da eine verzweifelte Erwartung auf und nieder wogte, sich hundertmal an ferne Gestalten heftete und, von der schon fertigen Hoffnungslosigkeit verhöhnt, dennoch Ausschau halten mußte.

Schon schlossen sich einige Laden. In der Konditorei vor der Brücke standen ein paar Frauen wählend vor dem Pulte wie immer, wenn es spät wurde und gegen das Abendessen ging. Dienstmädchen traten aus den Häusern, der unförmige Direktor schleppte sich dem Gasthofe zu, und Rudolf Feiler sah schaudernd in das zunehmende Leerwerden der Straße. Er erblickte von weitem den Doktor Rosenberg und verbarg sich, noch ehe er sich bedenken konnte, im Dunkel seitab der Brücke, wo er sich dann damit rechtfertigte, daß er ja seine eilige Abreise brieflich angezeigt habe und schon nicht mehr in der Stadt sein dürfe. Als der Advokat lange vorüber war, kehrte er scheu in die ihm verboten gewordene Straße zurück, die nun leer war. Er ging dennoch auf und nieder und vermied es nur, sich dem Hause der Rosenberg zu nähern. Es schlug acht Uhr und sagte ihm mit jedem Schlage das zu Späte und Sinnlose seines Gehens. Er verteidigte sich, daß er ja kein Zimmer mehr habe und keine 238 Lust, zum Abendessen zu gehen. Er rief die Schatten Judiths und Erikas, ihn zu begleiten, hielt ihnen vor, daß er leide, bat sie, ihn noch tiefer leiden zu machen, zwang sich zu Erinnerungen, die klug verwichen waren, und vergaß, was er um sich wußte.

Ein schönes Gesicht erschien dem Gehenden, der sich dessen kaum entsonnen hatte und wie aus sehr fernen Tagen die Sprachlehrerin erkannte, als diese ihm schon von neuem entgegenkam und ihn anredete. In einem wortarmen Deutsch bat sie um Entschuldigung, daß sie ihn störe. Aber eigentlich glaube sie das gar nicht. Sie seien doch, ohne einander vorgestellt zu sein, gute Bekannte. Und sie hätte auch mit ihm zu sprechen. Feiler war tiefer noch beunruhigt und ging doch leichter, da er neben ihr herschritt. Er sagte ihr italienisch, welche Sprache er ehedem völlig beherrscht hatte, daß er sich freue, endlich ihre Bekanntschaft zu machen, die er längst gewünscht habe. Leider komme das Vergnügen spät, da er diese Nacht abreisen werde. Sie zeigte sich wenig verwundert und erwiderte lachend, es komme alles zu rechter Zeit. Zudem meine sie, er sei vor dem Reisen und vielleicht auch aus andern Gründen in einer ungemütlichen Stimmung, in der er sich schon die Gesellschaft einer stets vergnügten Frau gefallen lassen könne. »Povera Erika,« fing sie dann unvermittelt an, »so ein armer kleiner Vogel. Man war sicher nicht gut zu ihr. Aber man konnte es gar nicht sein. Sie hat das Traurigsein gern gehabt und es aufgesucht. Dazu noch diese Jüdin mit ihrem kranken Verstande! Ich könnte 239 Ihnen alles erzählen, Herr Doktor, aber ich mag schon nicht mehr gehen. Wenn Sie noch nicht zu Abend gegessen haben, können Sie es mit mir tun. Ich werde Sie führen, wir werden angenehm sitzen, an einem Orte, wohin Sie ohne mich sicher nicht gekommen wären. In so einer kleinen Stadt hat jeder sein Geheimnis.« Er war gern bereit zu folgen. Er fühlte sich müde nach dem vielen Gehen und dem kleinen Exzesse von mittags. Sie schritten also vom Platz her die Straße hinunter, sprachen nun völlig italienisch, häufig von ihrem etwas gutturalen Auflachen unterbrochen, das keines besondern Anlasses bedurfte, um aufzusteigen. Als sie an Feilers Haus vorbeikamen, sah er eine Gestalt in den Torschatten zurücktreten. Nach einigen Schritten wandte er sich plötzlicher Ahnung voll und erkannte Judith, die schräg von ihnen fort über die Straße lief. Er machte eine heftige Bewegung. Die Petrini sah sich gleichfalls um, lachte noch lauter in seinen zagen Entschluß hinein und zog ihn mit sich.

Sie bogen von der Straße ab und kamen durch jenes Arbeiterviertel, in dem Feiler nur einmal gewesen war, an jenem Abend, bevor er dann doch zu Judith gegangen war. Ein erstes Mal entsann er sich jetzt in seinem Blute der Erika, die damals in süßester Jugend geblüht haben mußte. Die Petrini führte ihn durch einen branntweindünstenden Hausflur. Von der trüb erleuchteten Treppe herunter scholl gellend italienisches Keifen. Sie durchschritten einen mit Handwagen und Maurergerät vollgeräumten Hof, kamen 240 an Fenstern vorbei, hinter denen sie übertriebene Gesten von Trinkenden und Spielenden sahen und langten vor einem Hinterhause an, an dessen Tür die Petrini klopfte und rief: »Madre Venturini, Giulia xe quà!« Es wurde geöffnet. Sie gingen durch ein ungelüftetes Schlafzimmer und durch die nach Öl riechende Küche und kamen in eine leidlich eingerichtete Stube. Die Petrini legte Hut und Jacke ab: »Sehr hübsch ist der Zugang ja nicht, aber vielleicht macht er mich ein wenig mysteriös . . . Das erwartet man doch von uns Frauen – und ich bin so schrecklich geheimnislos.« Feiler setzte sich zu ihr an den Tisch. Von der Küche her rief die Frau »Subito, signorina!« »Magari,« antwortete die Petrini, neigte sich dem Manne zu und sah ihn lächelnd und ein wenig prüfend an. Er schämte sich des unbeherrschten Gesichtes, dachte sehnlich und erschrocken an Alleinsein und empfand indessen ein bißchen Wohligkeit in sich aufkommen. Ein übliches italienisches Abendessen nebst einer Korbflasche Weines wurde von der krank und gelb aussehenden Alten hereingebracht, die verschwand, ohne den fremden Gast auch nur mit einem Blicke gestreift zu haben. Der Wein war schwarz und bitter und mahnte an Chianti. Die Wohligkeit begann unleugbar zu werden, und trotz allem tat sich innerhalb des schon verzerrten Gefühls von Reise ein neues und frisches auf, stützte sich und pochte auf vielerlei Fahrt und Fremde von ehedem und hätte gern gleich mit Erinnerungen in der neuen bescheidenen Weite der Welt geschaltet wie kurz zuvor noch mit dieser ganzen 241 Stadt da, die eben in dem kaum aufgestandenen dürftigen Stürmlein ein wenig untersinken wollte. Freilich hatte dieses ausflüchtige Genießerische keine Dauer, und in kleinen Rucken keilte sich wieder das Fortgehen zwischen alle Gedanken.

Sie aßen und tranken dazu den Wein ferner Inseln. Giulia Petrini sah oftmals auf zu Feiler und behielt ihr stetes und starkes Lächeln selbst im Kauen noch. Während sie schon meinte, in seinem Gefühle zu lächeln, bedurfte er noch ihrer Rede, um sie als gegenwärtig empfinden zu können. Wenn sie schwieg, strichen seine Gedanken augenblicklich um diese Abreise da, die nun wieder ihre volle Gewalt erlangt hatte, und er meinte sich genötigt, sich oftmals Dinge zu sagen wie: »Man müßte doch Konsequenzen aus all dem ziehen . . .« und ähnliches.

Kaum mit dem Essen zu Ende gekommen, begann die Frau oder das Mädchen da gurrend zu lachen und zwang ihn damit, sie anzuschauen, die jetzt gesättigt zurückgelehnt saß und wartete, wie sie sich zeigen solle. Erikas Worte über die Schönheit der Petrini kamen Feiler in das Gedächtnis. Sie mochte wohl dreißig Jahre alt sein. Aber nur ihr Gehaben, das Wissende und Sichere ließen darauf raten. Ihr Körper wies in jeder Bewegung junge Muskelkraft und tierische Behendigkeit. Ihr Gesicht mit den starken Farbengegensätzen des schwarzen Haares, der hellen Haut und des brennenden Rots der etwas zu üppigen Lippen war völlig jung, wiewohl es Augenblicke lang, zumal, wenn ein intensiveres 242 Schauen die Bewegung daraus nahm, jäh verfallen konnte.

Da Feiler nicht reden mochte, begann sie, während sie sich aufrichtete und des öftern über die weiche Seidenbluse strich, so daß sie sich faltenlos über die hohen kleinen Brüste legte, zu sprechen: »Wir Frauen wissen natürlich viel mehr voneinander. Wir müssen nicht erst nach den Beweggründen fragen. Wir verklären einander auch nicht, wie Ihr Männer es mit uns tut, im Gegenteil. Sehen Sie, darum kommt es mir gar nicht so furchtbar tragisch vor, daß ein junges Mädchen sich getötet hat, denn ich weiß zu gut, wie so ein Tod zustande kommt. Ganz erzählen werde ich Ihnen das doch nicht, ich halte in dieser Art von Geheimnissen etwas auf Solidarität. Und vielleicht können Sie meine Erzählung auch gar nicht brauchen. Haben Sie diese Blondine vielleicht geliebt?« fragte sie plötzlich und sah ihm voll in den Blick. Er erschrak und stammelte: »Ich? Warum glauben Sie das?« »Dann ist's gut. Es geht mich ja auch gar nichts an. Hören Sie, was ich gestern abend Merkwürdiges gesehen habe! Sie wissen, daß der Bruder gestern abgereist ist!? Ich habe gesehen, daß die Schwester heimlich, in einen großen Mantel und ein Kopftuch versteckt – denken Sie doch, was das bedeutet, daß eine hübsche Frau ein Kopftuch nimmt! –, also, daß die Erika so kostümiert zum Bahnhof geschlichen ist. Dann stand sie oben auf der Brücke, die über die Geleise führt, bis der Zug abgefahren war und die kleine Rosenberg, die derweil dem hübschen Offizier bis zur 243 Abfahrt Gesellschaft geleistet hatte, vom Bahnsteige verschwunden war. Das ist das letzte, was ich von der Toten weiß. Ich glaube, nur wir beide, nur Sie und ich, wissen von dieser Sache.«

Erika hatte im Frühstücksschlößchen davon gesprochen, daß der Bruder sich ihre Begleitung zur Bahn verbeten habe. Die milde Beschämtheit darüber, daß er nicht wisse um das, was ihm so nahe geschehen war, daß er blind gewesen war vor Ichlichkeit, jagte wieder durch sein Blut. Unglücklich sein zu müssen, Schuld zu tragen – und nicht zu wissen, wie schwer seine Sünde gewesen sei, schrie in ihm auf, daß er die Gewalt über seine Mienen von neuem verlor. Die Petrini sah ihm kindlich neugierig in das Zucken und die Verzerrung. Heißer Haß zerriß ihm das Bild der Lächelnden und holte alles Hämische und Böse daraus hervor. Plötzlich war sie Mitwisserin um alle Geheimnisse geworden, und Grausamkeit hatte sie geheißen, ihn zu suchen und völlig zu demütigen. Rachsüchtig durchforschte er sich, bis er die Frage in sich auffand: »Wie konnten Sie sehen, wovon Sie eben erzählt haben? Was hatten Sie bei dieser Abreise im Bahnhofe zu tun?« Ein kleiner melancholischer Schatten ging über ihr Gesicht und verwich schnell. Ein wenig wehmütig heiter entgegnete sie, das sei nicht schwer zu erraten. Sie habe übrigens sehr wohl gewußt, daß sie mit dieser ihrer Erzählung ihrerseits ein Geständnis mache.

Der hübsche Offizier nahm zu an Realität, da Spiegelbilder aus mehreren Herzen ihn immer mehr 244 bestimmen wollten; schon war er wesenhafter als seine Schwester, zumal sehr verstörte Eitelkeit, Neid und fast Haß ihn umgrenzen halfen. Feiler hütete sich jedoch, zu höhnen, da er sich kaum Vergleichen entziehen konnte und kleinmütig auf seine Abreise verwiesen wurde, die sich neben der des Marineurs gar übel ausnahm. Indessen konnte er in den Augen der Petrini kaum mehr andres sehen als geduckte, lauernde und sprungbereite Fragen. Sklavisch befangen übertrieb sein Gefühl ihre Mitwisserschaft und Feiler wäre in diesen Augenblicken kaum noch erschrocken, wenn sie etwa von Judiths Brief zu reden begonnen hätte.

Die Wanduhr schlug neun. Noch blieben Rudolf Feiler drei Stunden Lebens in der Stadt. Das Halbgelebte und Unbezwungene überwuchs ihn wieder, verwischte ihm Haß und Gestalt und Gegenwart und ging in seinem Herzschlage als Zwang und Befehl: zu wissen, zu wissen. Aber Giulia Petrini ließ es nicht zu, daß man sie nicht beachtete und spürte. Sie suchte die Augen des gebeugt sitzenden Mannes. Da sie keinen Blick empfing, stand sie auf, goß ihm Wein ein, brachte ihm das Glas, ließ es auf gute Freundschaft, wie sie sagte, an seines klingen und trank es leer. Sie blieb neben Feilers Sessel stehen: »Was schauen Sie denn so unglücklich? Ein Mensch, der fortgeht, muß doch froh sein! Ich geh auch bald wieder. Das Leben ist doch so furchtbar lustig! Wenn einem ein jeder Abschied auch einiges Erfreuliche fortnimmt, er befreit doch vor allem von einer Last und einem Gebundensein. Sogar der Tod ist nicht 245 so arg, wenn man nicht selber stirbt . . . und dann erst recht nicht. Aber so gescheit habe ich schon lange nicht geredet!« lachte sie auf, tätschelte seine Wange und verlangte eine Zigarette, die sie an seiner anzündete. Dann zog sie sich einen Sessel ganz zu seinem, drehte mit einem kräftigen Ruck seinen Kopf ganz sich zu und ahmte sein Gesicht nach, grimassierte und sagte endlich mit einem sehr kräftigen Griffe nach seinem Arm: »Eine hübsche Frau nicht zu beachten ist eine Todsünde!« Sie neigte sich noch näher und summte ihm jene lachendste Weisheit ihrer Sprache zu:

Bellissimo xe el mondo,
Perchè xe motto vario –
Nè omo ghe xe profondo,
Che dir possa el contrario.

In einem guten und warmen Tone fuhr sie dann, da sie ihn aufmerken fühlte, fort: »Sie sind eigentlich ein schöner Mensch. Wieso haben Sie denn nicht sehr viel Glück? Verstehen Sie sich nicht darauf? Mir scheint es fast so. Sonst müßten Sie doch jede Frau haben können. Reich sind Sie ja auch und klug dazu. Wo sitzt denn das Unglück? Ich möchte Sie gern froh und toll sehen, wenn auch nur für zwei Stunden. Für Sie müßte es heilsam sein. Soll ich Sie verführen?« Ihn schauderte ein wenig vor ihren Worten. Zwar wagte er nicht mehr, die darin enthaltene Verurteilung als ihr bewußt oder gar beabsichtigt anzunehmen, denn eine leise furchtsame Wärme ahnte schon die Frau, aber sie gehörte noch zu sehr zu jenem Richterlichen, vor das nun sein Leben gestellt 246 worden war. Scheu und etwas heiser sagte er der nahen Frau: »Versuchen Sie es. Ich wäre glücklich, wenn es gelänge.«

Sie wußte, daß es gelingen werde, da sie dicht bei seinem Ohre in ihrem nun völlig wiedergefundenen zischelnden Dialekte fröhlichen Unsinn flüsterte, wie scherzhaft noch ihren Arm auf seine Schulter legte und ihn dann hier ließ, warm und körperlich werden ließ. Sie wußte schon, daß es ein ganz leichtes Ding sein werde, zu leicht für ihren Wunsch, viel zu leicht. In seinen ersten Küssen spürte sie sich erkalten. Aber sie fand ihn hübsch und wurde des Denkens bald Herrin. Sie sprang auf und schloß die Türe ab, kam laufend zurück, strich ihm in kleinen Rucken über die Haare, das Gesicht und die Arme, schmiegte sich und entzog sich, bot ihren Mund und warf den Kopf zurück und lachte leise und tief, daß die Laute ihre glatte weiße Kehle wellten. Sie war heiß und geschickt zugleich.

Als Giulia Petrini vor dem Spiegel stand und ihr Haar in Ordnung brachte, spähte sie, auf welche Art er sie ansehe. Sie kam langsam wieder zurück, warf sich in einen Sessel, ließ sich Wein eingießen und nannte ihn du und mit Kosenamen, die recht gewöhnlich waren und ihr ohne besondern Ausdruck von den Lippen gingen. Feiler lag schwebend zwischen Lust und Elend, sank mit jeder Minute tiefer, und da er sein Leben wieder berührte, graute ihm ein wenig. »Es ist Ihnen doch nicht ganz gelungen . . .« sagte er ihr ganz leise. »Was wollen Sie mehr?« fragte sie laut und ein bißchen lachend. Sie hielt ihm ihre 247 eben angezündete Zigarette zwischen die Lippen: »Schade, daß Sie nicht bleiben. Sie hätte ich erziehen können.« Er glaubte ihr und ihm graute noch tiefer. »Wie komisch Männer doch eigentlich sind,« redete sie nun halblaut und wie zu sich, »die hübschen und begabten am meisten! Wir Frauen sollten werben dürfen, um sie von ihren ewigen Verirrungen fernzuhalten! Dann gäbe es viel weniger Unglück in der Welt.« Rudolf Feiler bedachte diese Frau, die er eben noch umarmt gehalten hatte und nun schon tief in dem Ängstigenden von allen Frauen fühlte. Und da er wieder im Denken war, wußte er bald, was alles dem Denken, dem Wollen und selbst dem Rausche trotzen kann.

Mit neuen Stundenschlägen, nun war es halb elf vorüber, drang wieder die Abreise auf ihn ein, das schlechte Fortgehenmüssen, an dem vielleicht jetzt noch ein wenig mehr verdorben war. Feiler stand auf und sagte, daß seine Zeit zum Abschied gekommen sei. Die Alte wurde zum Bezahlen gerufen. Er mußte ihr eine Banknote übergeben, und während sie damit hinausging, schaute die Petrini in das offene Portefeuille und sagte mit einem unsicheren Lachen: »Wieviel Geld Sie haben!« Furchtbar überfiel ihn die Versuchung, ihr Geld anzubieten. Sein Herz klopfte ganz stark. Er konnte nicht widerstehen. Er nahm eine Anzahl höherer Scheine hervor, hielt sie ihr mit einer ganz schnellen Bewegung hin und fragte: »Wollen Sie?« Noch vor der Frage hatte sie zuckend danach gegriffen und sie hastig in ihr Täschchen 248 geschoben. »Wer hat, gibt,« sagte sie, ein wenig erregt atmend.

Er hatte sich gierig jede Möglichkeit, dieses Abenteuer in sich zu erklären, genommen und fragte sich jetzt unaufhörlich, ob nicht diese ganze Zusammenkunft seinem Gelde gegolten habe. Da er doch fortging, konnte man von ihm nehmen, ohne Scheu haben müssen, daß man ins Gerede kommen könnte.

Die elende Umgebung, die sie nun durchschreiten mußten, ließ ihm das eben verlassene Zimmer noch dirnenmäßiger erscheinen. Er antwortete seiner Begleiterin nicht mehr, bis sie ihn hart beim Arme ergriff: »Herr, was ist das für ein Benehmen! Man ist doch eine Dame, auch wenn man einmal eine schwache Stunde gehabt hat!« Obwohl er sich betrogen wußte, obwohl ihm scharfe und gehässige Worte aufstiegen, hörte er sich Gleichgültiges reden. Er war müde. Er wünschte sie fort. Aber in diesen Wunsch hinein spürte er die Angst vor dem ersten Augenblicke des Alleinseins.

Sie näherten sich dem Lärneschen Hause. Ein Wagen stand davor. Das Tor war trotz der späten Stunde offen. Ein Diener kam die Treppe hinuntergelaufen, sprang auf den Kutschbock und der Wagen rollte laut hallend durch die leere Gasse dem Bahnhofe zu. Rudolf Feiler sah empor zu den Fenstern, von denen zwei erleuchtet waren. »Dort liegt jetzt ein weißer Leichnam, ausgeblutet, ganz fort aus allem. Das war Erika. Erika . . .« Er konnte nicht Qual noch Todesweh auffinden in sich, das ihn hätte entsühnen können. 249

Die Petrini ging mit bis zum Bahnhofe. Da sie sich den Stufen vor dem Eingange näherten, kamen etwelche Leute herab. Ein paar Wagen fuhren vor, und Träger schrien nach anderm Fuhrwerk, das es nicht mehr gab. Nun stand auch der Lärnesche Wagen im Lichte. Der Fregattenleutnant trat aus der Bahnhofstüre und rief nach seinem Gepäck, das der Diener indessen schon in den Wagen hob. Die Petrini sah den Offizier und lief auf ihn zu, ohne Wort und Gruß an Rudolf Feiler. Der stand einen Augenblick still, wutblind, mit sausendem Herzen, Gier in den Händen nach Schlagen und Würgen. Da trat in die Empörung seines Blutes der Gedanke ein, daß dieser Offizier ja Erikas Bruder sei und nun wohl zu dem Begräbnis zurückkäme. Und er schlich in das Dunkle, lehnte sich an einen Baum im Vorgarten des Bahnhofs und barg sein Gesicht an dem nassen Stamme. Hier konnte ihn niemand sehen. Erst als der Wagen schon eine längere Zeit davongefahren war, trat Rudolf Feiler hervor. Er versuchte zu denken: »Das ist der rechte Abschied. Du einsames Tier, verkriech dich, schlechtes Raubtier.« Aber das war kein wirklicher Gedanke. Rudolf Feiler stand schon auf dem Bahnsteige, hatte sein Gepäck versorgt und die Karte gelöst, als er in einem plötzlichen Verlöschen der Bogenlampen die Stadt dunkel umrissen emportauchen sah. »Der Offizier ist zurückgekommen,« dachte er. »Hat Judith wirklich auf mich gewartet? Warum habe ich sie nicht gerufen? Warum bin ich ihr nicht nachgeeilt? Warum, warum?« Fern glühten die Lichter seines Zuges 250 auf. Die großen Lampen flammten wieder empor, weiße schmerzliche Helle verbreitend. Er stand also allein und wurde dessen ganz gewahr, als der Zug vor ihm hielt und aus den aufgerissenen Türen ihn das Überall und Nirgends sinnloser Fahrt anfiel. Er mußte also fortgehen. Doch in den ersten Augenblicken der Fahrt, die ihn hätte zurückbringen sollen aus Ferien nach Hause, bog er sich, als ob alles daran hinge, aus dem Fenster und schaute, ob niemand auf der Brücke stünde, die über das Geleise führt. Niemand stand dort.

 

Ende

 


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