Emil Alphons Rheinhardt
Das Abenteuer im Geiste
Emil Alphons Rheinhardt

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Der Prophet und die Liebe

Am Tage Petri und Pauli schlich Marko Kossali aus dem Kreise, der um ihn zu sein pflegte und nun, wie alle Bewohner der Stadt, gegen den Palast der Rektoren zu drängte, und ging in die Berge. Am Nachmittage kamen Jünglinge aus dem gesegneten Brenotale, die er kommen geheißen hatte, und harrten seiner und der erwarteten Lehren. Maria und Giorgio Montefiori trieben wieder, wie in der Kindheit, Hand in Hand die steilen Gassen gegen die Stadtmauer zu auf und nieder, fragten und suchten nach dem Meister. Abends standen sie hilflos, nach Francesco Bratanić, dem Fischer, forschend, im Hafen. Langsam kam ein großes Levantinerschiff mit wunderbar erleuchteten Segeln heran. Barken lösten sich, flatterten zurück, Abendsonne strahlte aus Antlitzen auf die schattigen der Geschwister. Da neigte Giorgio sich weit hinaus; Maria, die noch nichts sah, klammerte sich an den Arm des Bruders, und beide lehnten sich der Segelbarke entgegen, die nun gemach, von Zurufen wie bewimpelt, in den Hafen trieb. Der Meister steuerte, ruhigen Blickes, zog dann die Segel ein und glitt schräg an den Molo heran, wo die Hände der Montefiori ihn erwarteten. Dennoch fragte er fast 10 rauh: »Wer sagte euch, daß ich auf dem Meere den Tag hingebracht habe?« »Wir wußten es nicht, Meister,« entgegneten sie beide zag, »wir haben deinen Freund Francesco gesucht, daß er uns sage, wo du seist.« »Ich habe keinen Freund, ihr Kinder. Francesco wußte nicht, wohin ich gegangen war. Mein Herz war es müde, Worte zu hören, und wollte sich selber lauschen, ob die Stimme nicht zu reden anhebe und mich begnade.« Scheu schritten sie an seiner Seite. Doch als sie den Stradone erreichten, drängten aus der letzten Helle der Straße schreiende Menschen auf Marko Kossali zu: »Marko, das Haus deines Vaters brennt.« »Marko, dein Vater ist bei seinem Leisten geblieben,« brüllte ein Matrose dem Sohne des alten Brandlegers Kossali zu. Der Meister fragte gelassen, was an der Sache sei. Man berichtete ihm, ein Segler, der eben von Norden her angekommen sei, habe den Feuerschein auf dem Berge gesehen. Und außerhalb der Porta Pile könne man, wenn man etwas bergauf gehe, den Berg brennend gerändert erblicken. Zudem wüßte man, daß der Alte sich am Vormittage nach der Messe zusamt seinem Weibe arg vollgetrunken habe. Man hätte ja Hilfe gesendet, aber es sei gewiß zu spät gewesen, als man davon erfahren habe. Maria sah mit einem Blicke solchen Leidens zu ihm auf, daß er ungeduldig wurde und weiterdrängte. »Ob er seine Eltern sehr geliebt hat?« fragte sie den Bruder. Giorgio durchforschte sein schwaches Wissen um ihn und fand nichts, das sich auf Eltern und Heimat bezog, außer dem oft gehörten 11 Spotte, den die Adligen über den Meister seiner geringen Abstammung wegen gelacht hatten. Vom Dome seitab führen Stufen aufwärts. Dort ließ Marko Kossali sich nieder, und zaghaft setzten sich die Geschwister zu seinen Füßen. Frische Feigen und weißes Brot holte er aus seinem Kleide und teilte mit den beiden. »Wir pflücken Feigen, ihr Kinder, und da die Früchte in unserm Munde vergehen, haben wir einen Augenblick Heimat in ihnen. Auch unsre Zunge noch ist voll des Erdenheimwehs, zu dem ihr eben wachset, da euch das Paradies verlorengehen mag. Ich kann es euch nicht bewahren, wie ich es mir selbst nicht festhalten konnte, der ich wild und krank fast danach rang. Aber ich kann Gott helfen, euch verstoßen zu machen, daß ihr in Heimatlosigkeit irret und also zu euch selber gelanget, zu dem, was in euch geleget ist und nichts gemein hat mit jener Kindheitssüße, mit dem kleinen Paradiese. Seliges Elend der Besinnung möchte ich euch erwerben. Euch werben zu neuer Küste, daran Gottes Wellen schäumen, zu neuer Seele, darin Gott sich neuer Ewigkeit besinnen kann. Denn wisset: Auch ihm entgleitet das Wissen, durch welches er der Menschenwelt gemäß ist, so ihm nicht immer bereitet wird Zone und Land neuer Herzen, daß er sie zu seines Wissens Werkzeug mache.« Giorgio trank die Worte ein, erleuchtete ein jedes aus seiner immer bereiten Helle, die noch keine Erde gefunden hatte, ihr Sonne zu sein. Maria, blumenhaft und betaut von Ersehntem, schauerte sich sanft in den Abend und des Meisters Nähe 12 hinein, offenen Mundes, dessen kindlich geschwungene Lippen die Worte lieblich und töricht in leichtem Zittern echoten. Die Schatten, veilchenfarben, braun und dunkelblutfarben, zogen sich die Steinstufen hinan und nahmen die drei in sich auf. Doch da Marko Kossali hager und schmal sich erhob, fing sich in seinem Haar eine schwache Spur späten Lichtes, bunt wie ein Kirchenfenster, und verklärte die Geschwister zur Andacht.

Iwan Sorkočević, der die Stadtwache hatte, trat unerwartet auf den Meister zu und fragte böse, wie es käme, daß der Sohn unberührt vom Schicksale des väterlichen Hauses, unwissend um Leben und Tod der Eltern, in der Stadt lungere, und setzte mit einem Seitenblick auf die Geschwister hinzu, daß Adel und Abkunft im Freistaate schon allem Übelwollen preisgegeben sei und die Bösen immer zuerst an der Jugend ihr Werk begonnen hätten. Ein Wort aus dem Plutarch, das solches bekräftigen sollte, wurde von der Stimme des Kossali unterbrochen, die anschwellend bald zu einer Menge zu reden schien: Da sich der Staat zum Hüter der Gefühle mache, frage er, Schüler der Weisheit, wohl jung noch, doch ernst genug, ob eben dieser Staat die Herzen derer, durch die er zu forschen beliebe, genugsam geprüft habe. Macht über Bürgerliches und Staatliches sei durch Waffen und Reichtum, sowie durch die Erfahrung in diesen Dingen wohlgestützt. Aber wo sei die Erfahrung in Dingen der Herzenstiefen? Er bequeme sich, ihm zu antworten, weil eine Gemeinsamkeit ihrer 13 Jugend, die er fürder preisgeben wolle, ihn ein letztes Mal berede, Dingen der Person Beachtung zu schenken. Und so sage er jetzt dem dereinstigen Bruder in litteris, nicht dem Werkzeuge weltlicher Macht, daß es hoch an der Zeit sei für die Herzen, sich zu öffnen und zu fühlen, was um sie geschehe. Einer sei also gesegnet worden, daß Gottes Stimme und Geheimnis ihm näher sei als Menschenklang. Was gelte da noch Heimat, Vater, Tod oder Leben, wenn es darum gehe, jede Stunde bereit zu sein im Hören und Gehorchen. Wieder hätte sich die Güte aufgetan, die verratene Einsamkeit des Menschenschicksals dem Hohen, Allgemeinen, Göttlichen zuzuführen. Ob er nicht lächeln müsse vor dem Gedanken, daß ein Begnadeter durch den törichten Wahn eines Geschehnisses sich auch nur für einen Augenblick von dem Ewigen abkehren könne. Und eben solches verlange man von ihm.

Indessen hatte sich mancherlei Volk um die vier versammelt, Fischer, Soldaten, etliche heimkehrende Bürger mit ihren Frauen. Kossalis Stimme und Gestalt wuchs mit jedem Worte. Die Kinder aber duckten sich unter dem Sprecher, der ihnen ein heiliger Sturm war, während Ivan Sorkočević sich langsam, übel berührt, abwandte und, ein hartes Wort mit einem mitleidigen Blicke auf die Montefiori unterdrückend, gemach in eine schon dunkle Gasse hineinschritt.

Zwei Läufer tänzelten den Stradone entlang. Der Schein ihrer Windlichter hob die Gestalt einer großen, gelassen schreitenden Frau aus dem Dunkel. Die Menge um die drei begann sich zu zerstreuen. Eine 14 genuesische Buhldirne in einer grellen Seidenperücke stieß den Meister an, lachte grölend auf und trippelte erst weg, als ein Soldat ihr winkte. »Immer noch sind irdische Gewalten bereit. Aber ich wachse mit jedem Tage, seit ich entsonnen bin. Und Gott wird mich als einen Sturm gegen sie schicken. Schon spüren sie mein Wehen. Aber es wird sein wie am Tage des Gerichtes, wenn ich ausgesandt bin. Ein großer Herbst und Hinfall der Abgewelkten, die nicht Frucht tragen.« »Meister, ich bitte Gott jede Stunde, daß er mich beseele, dein Werkzeug zu sein, dein Schwert gegen das Böse,« sagte Giorgio. Da bogen die Lichtträger um die Ecke. Mit einer raschen Bewegung suchte Kossali die Kinder in den Schatten einer schmalen Gasse zu ziehen. Aber Diana Lorides hatte schon Maria erblickt, sprach ihren Namen, und das Mädchen eilte ihr zu. Marko Kossali würgte an dem Rufe, den er schnell als vergeblich erkannt hatte, wandte sich ab und gebot Giorgio mit einer Bewegung Schweigen. Diana küßte Maria auf die Stirn und sagte dann leichthin, das Mädchen möge doch jetzt nach Hause gehen. Im übrigen wünsche sie, den folgenden Tag ihre kleine Freundin bei sich zu sehen. Es gäbe manches zu besprechen, und es sei an der Zeit, daß dies geschehe. Sie nahm einem Läufer die Fackel aus der Hand, beleuchtete Maria und bemerkte, daß es einem jungen Weibe übel anstehe, sich in solchem Zustande der Kleidung zu zeigen. Mit einer liebkosenden Bewegung wandte sie sich, hieß ihre Lichtträger gegen jede Erwartung in jene schmale Gasse treten, winkte 15 Giorgio zu und sah über Marko Kossali hinweg. Dieser machte einen jähen Schritt und hastete einige Silben, doch die Dame ging vorüber, und er stand noch mit schrittbereitem Fuße, als schon der Schein ihrer Fackeln hinter einer Biegung der Gasse verschwand. Maria stand Hand in Hand mit dem Bruder, suchte ein rechtfertigendes Wort und blieb doch im Schweigen. Der Meister war verstört, zog die Kinder hinter sich her, aufwärts, zur Stadtmauer, wo er sich niederließ. Angesichts des Meeres, das schwachleuchtend späteren Mond versprach, sog er an sich, suchte Größe, Gewalt, Hinreißendes, um die Beiden edlen Stammes vor sich kniend zu sehen. Aber er fand sich ohne Schwung. Eine Last beschwerte seine Stimme. Dazu roch abendlich der Hafen her, Teer-, Öl- und Fischgeruch. Aus Schenken kam Gesang. Und Verlassenheit des Bergknaben, der abends in der Stadt irrt, auf einem Haufen von Tauen nächtigt, ängstlich sich in den Schlaf kauernd, vor jedem Schifferschritte auffahrend, beschlich sein Herz. Maria lehnte abgewandt an der Mauerbrüstung, ihre Hände krochen vor das Gesicht, und als der Mond kam, lag ihr Kopf weinend in den Armen. Giorgio suchte in sich nach Fragen. Aber das Haus fiel ihm ein, der kleine Oheim, der krank war, gelb und einsam. Und er begann zu beten. Da sprang der Meister mit einem heiseren Laute, aus sich verjagt, auf. Heimat stürzte sich auf ihn, Himmel wies Süßen, die für immer verloren waren. Schlechte Not sprach darein; und unerträglich gärte das Ich, irdisch, bitterlich und ohne Versprechen. Brandgeruch 16 eines Schornsteins trieb her. Da faßte er Maria hart an dem dünnen Arme und schrie fast: »Habe ich Euch dazu erlesen, daß die Torheit Euch hinwirft, wenn eine gering gewandelte Stunde ein neues Antlitz weist? Die Kindheit ist verloren. Jetzt gilt es, ein Leben zu erwerben!« Sie schluchzte auf. Er wütete: »Hüte dich! Wenn ich nicht segne, zerstöre ich! Ich habe die Gewalt! Wenn ich einziehe dereinst in die Stadt, werden die Seiden und seidenen Arme, so die Palmen hinlegen vor mich, die Härte meines Gesetzes nicht mildern. Mein Schwert wird den Paraklet feurig ausstrahlen, daß manches Herz und manches Haus auflodern wird. Gott, Gott,« brüllte er, »laß bald meinen Tag sein. Denke der Zeitlichkeit deines Knechtes. Laß deinen Sämann auch Früchte anschauen!« Giorgio hatte wieder ein Feuerlein in sich, nahte der verweinten Schwester und sagte: »Du bist irdisch. Aber du mußt erwählt sein! Unser Blut soll erhöht sein in Gnade. Der Meister wird uns um der Liebe willen nicht verstoßen.«

Dennoch gab es ein Heimgehen, indes sie in andern Nächten bis zum Kommen der Sonne zusammen der Stimme gelauscht hatten, die aus Marko Kossali redete. Dieser führte die Kinder selbst zum Tore des Hauses der Montefiori, darin nun nur der kranke Oheim und die Diener schliefen. Da Giorgio die Hand an den schweren Riegel legte, erschraken die drei gemeinsam, spürten ein Andres verstört in sich und sprachen den gewohnten Gruß: »Gottes Morgen in Gnade,« den der Meister gelehrt hatte, unsicher 17 und wie ein Fremdes aus. Das zuschlagende Tor ließ ihn vereinsamt, ausgeschlossen und kindlich traurig zurück.

An der mondlichten, hohen Mauer der Franziskaner lehnend und die Stirn an dem Stein kühlend, versuchte er zu beten. Aber Gott fühlte sich nah an, klein, mit einem Geruch verbrannter Heimat umgeben. Die Gassen waren leer. Er irrte zehnmal an dem Hafentore vorbei, wo der Mond Mastlaternen ermattete und grell der Laut der Schenken in die reinliche Weiße eintrat. Unruhe unverständlichen Wartens, Durst, Erinnerungen und Ekel bewegten ihn, da er sich auf einer Wassertreppe niederließ. Hundertmal war er nahe daran, sich zu erheben, zwang sich aber nieder und blieb. Als es elf schlug, erkannte er die Barke, vor der er saß, und in diesem Augenblick klangen Frauenstimmen rund um eine männliche hallend im Tore. Vier Schatten zerschnitten den Platz, und Marko Kossali legte das Gesicht auf die Knie. Dann sahen sie den Gebückten da am Wasserrande. Danika Drasković lachte mit tiefen Kehllauten gurrend über ihn hin, und ihr Bruder Mato faßte die langen Haare an und zog den Kopf empor. Doch als sie das erbleichende Gesicht und die irr aufgerissenen, großen Augen erkannten, verstummten sie, traten verschüchtert zurück, und Mato begann leise: »Verzeihe, Marko, wir glaubten einen trunkenen Schiffer hier!« Marko Kossali stand langsam auf, gebot ihnen, wieder näherzutreten und sagte, er sei geneigt, in ihrem Boote bis San Giacomo mitzufahren. Er blieb auf den 18 Stufen stehen, die Mädchen traten in das Boot, und der Geruch reinen Leinens beschwerte seine Traurigkeit süßer und weher. Abstoßend sprang Mato zu dem schon Sitzenden und trieb die Barke behutsam aus dem Hafen. Von dem Levantiner riefen sie eine zärtliche Zote zu den Mädchen hinüber. Anka kämpfte mit einem Kichern. Lakroma dehnte sich geduckt, wie von langer Fahrt ausruhend und schnitt eine menschlichere Wirklichkeit in die silberne, stille, entrückende ein. Der Meister stand auf, um zum Hintersitze zu gelangen, schwankte, fühlte einen Augenblick die festen Brüste Danikas an seinen Händen und taumelte nieder auf jenes Brett. Langsam tauchte Mato das Ruder ein, kräuselte weißen Zierat auf dem Meere und hielt, da die Stadt nun völlig vor ihnen lag, die Zinnen von Mincetta und Lorenzo emporgetaucht waren, inne, etwas beklommen von dem Schweigen, dem von seiner Seite fröhlicher Trunk vorangegangen war. Der andere dachte: »Wenn ich sie entzauberte, wenn mein Leib sie hinrisse zu verzücktem Stöhnen! Und ich schüttelte mich in Grauen vor dem Fleische. – – Dennoch, ihre Hüften sind geschwungen wie eine Laute – vielleicht wäre ihr Klang der süße, große –«. Sie hatte die Berührung empfunden und dämmerte pflanzenhaft in sich hinein, mit einem leichten Empfinden des ganzen Leibes, der hingelehnt und außer dem Willen war. Wieder versuchte Marko Kossali Gott. Und wieder ward ihm Leiblichkeit dawider. Da riß er sich auf, rief seine Worte wach, alle großen, grollenden, süßen und geheimnisvollen, griff in sie, 19 wühlte darin, bis, was von Gefühl an ihnen hing, sich zu spiegeln begann in ihm. Und das Gespiegelte hob zu reden an: »Mein Schweigen beklemmt euch, da meine vierzig Tage Wüste darin euch vereinsamen. Ihr kommt aus Menschenglück, warm, lüstern, weindunstig und friert ein wenig? O, daß ich ein Norden wäre, euch vereiste, eine Wüstenglut, euch austrocknete, euer menschlich Teil mit Frost und Feuer alsolange läuterte, bis es würdig ist, dem Großen zu dienen, das sich unter euch bereitet. Wahrlich, ihr ahnt, daß es sich bereitet, daß ich Gottes Anfang bin unter euch. Und darum sage ich euch: Folget diesem Anfange. Mein Gott lohnt auch auf Erden noch. Und es ist keine Lust, die jene aufwöge, so er entzünden wird in euch, wenn ihr ihn wahrgenommen habt.« Schon waren sie gebeugt und sein Eigen. Und weil der Rausch nicht süß und der Klang nicht voll war, endete er mit einem großen, grollenden Laute, wies dem fast entrückten Mato mit einem gebieterischen Zeichen der Hand die Küste, wohin dieser, alsogleich erwachend, die Barke trieb. Die Mädchen wagten es nicht mehr, den Blick zu ihm zu heben. Beschwert und wie bereit, Frucht zu tragen, ruhten ihre großen, jungen Leiber unter den Worten. Als er ans Land stieg und sie mit einem segnenden Zeichen grüßte, neigten sie sich noch tiefer hinein in die Fernen ihres Blutes, voll Wachstumes und reifer Schwermut.

Langsam, ohne sich umzuwenden, noch im Gefühle der Geneigten, schritt er die Küste hinan. Dann bückte er sich und suchte im Mondlicht nach glatten 20 Steinen. Als er deren vier gefunden hatte, tat er sie in den Gürtel, wo heute noch keiner war, um sie zu den andern zu tragen, die er aufgehäuft hatte. Er kehrte zurück bis nahe zu Porta Ploce, fand halbgeschlossenenen Auges den schmalen Steig bergan und trat bald in das Haus der Brattanić, dessen Türe, ihn erwartend, offen geblieben war. Er hob den Deckel der Truhe hinter seinem Lager, holte die Steine hervor und schrieb mit einem Bleistäbchen einen Namen darauf, ehe er sie barg. Dann stand er an der Fensterluke. Sein Herz pochte unruhig, und kein Triumph mochte sich genießen lassen, wiewohl dieser Tag ein großer Schritt in das Große sein sollte, aus dem nichts mehr in ein Gestern noch eine Heimat zurückweisen durfte.

 

Da Marko Kossalis Tage in einem tieferen Verstande als durch Erlebnisse neuerer Erinnerung miteinander verbunden waren, durch das Feuer und die Flämmlein einer Idee, konnte es geschehen, daß er des folgenden Morgens mitten in sein Leben hinein aufwachte, in jenes Heiße und Verworrene, das er als solches ansprach. Gleich war die neue Bläue des Himmels und Meeres nur mehr eine Dimension, in welcher sich jene inneren Dinge, die ihm und seiner Welt die Zukunft bereiten sollten, abspielten. Kaum huschte noch ein Schatten von gestern, aus dem Tage der ersten Tat, in das Gleichmütige, Weiterbauende an einem Schicksale. Freilich, als er unten am Meere nach einem klaren Morgenbade seinen hageren 21 Fischerleib der Sonne zum Trocknen überließ und das rötliche Gold durch die Augenlider drang, wollte sich jenes seiner Heimat tief eigene goldene Dämmern in sein Herz schleichen und ihn verlocken, wieder zu liegen am Meere, nur mehr der Sonne überantwortet; glanzstill die goldenen Funken der Tage hingehen zu lassen und auszulöschen am Ende wie die andern. Ein Schiff der Republik Venedig kam ihm in den Sinn, das in einer Nacht seiner Kindheit einen feurigen Regen von seinen Masten gespien hatte und sein friedliches Weinen, als das letzte Fünklein im Hafenwasser erloschen war. Da raffte er sich auf, hüllte seinen noch stark und tierisch atmenden Körper in die Kleider und ging dem Stadttore zu, das eben aufgeschlossen wurde. Vor dem Hause der Montefiori begrüßte ihn ein älterer Diener mit einer spöttischen Verbeugung, und er ließ das Fragen nach den Kindern. Den erhobenen Hauptes Dahinschreitenden redete ein bäuerliches Weib an, das neben seinem Esel zum Markte zog. Unlustig erkannte er es und erfuhr, daß man den alten Kossali in einem Hause der Omblabucht wisse. Er sei, wohl übel angebrannt, aus dem brennenden Hause getragen worden. Auch habe ihm ein fallender Balken die Besinnung so sehr geraubt, daß er sich für lange den Genuß des Weines leichtlich zu versagen vermöchte. Jedoch könne Gott, wie er ja so oft an den anscheinend Verlorenen seine Wunder tue, sich auch dieses zähen Bratens erbarmen. Ohne Wort wandte Marko Kossali sich ab, sein Haupt senkte sich ein wenig und alsbald trug er eine sichtliche 22 Schwermut durch die wachsende Menge der Straße, die sich bunt, frisch und laut dem Markte zuschob, dennoch ein Inselchen von Leere um ihn lassend, welches er tröstlich in das neue Meer seines Grames pflanzte, wo es in Kürze wieder festes Land gab, um Hoffnungen und Kräfte des Herzens darauf zu hegen. Er stellte sich an einer Ecke auf, sein Haupt nickte Grüßenden zu, seine Augen, die versonnen schienen, wehrten Näherkommende ab und waren in der Folgezeit ziemlich unverwandt auf ein Stückchen Straße gerichtet, das man durchschreiten mußte, wenn man aus dem Hause der Montefiori kam. Er hatte nicht allzulange zu warten. Das grüne Gewand eines Dieners trat in jenen Straßenstreifen, schnell folgte eine Sänfte und ein gleichgewandeter Diener, dem wiederum zwei Mädchen mit einem Korbe nachschritten. Halb sich bergend, stand er hinter seiner Ecke, sah den kleinen Zug zum Marktplatz biegen und ein gelbes krankes Gesicht unter einer wunderlichen grünen Seidenmütze sich aus dem Fenster der Sänfte neigen über Hügelchen von Rosenkohl, wohlriechenden Kräutern und ersten Melanzani, und eine rechte Schau beginnen. Alsbald schickten die Frauen und Fischer sich an, das Beste ihrer Waren zu oberst zu tun, seien es nun Früchte oder die goldroten Barboni, einen mächtigen Hummer oder zarte, junge, ängstlich geduckte Hühner. Während nun der Herr Montefiori seine langsame, langwierige Wahl begann, schritt Marko Kossali, den Kopf zurückwerfend, dem Tore des Hauses Montefiori zu und stieg, den Diener, der 23 ihn erstaunt nicht zu behindern wagte, nicht beachtend, die Treppe hinan. Als er den ersten Absatz erreicht hatte, tat sich eine Türe auf und Maria begegnete ihm, so feierlich und schön, daß er sich des zagen Kindes andrer Tage besinnen mußte, um nicht verletzt und beraubt zu sein. Dennoch musterte er das veilchenfarbene Seidenkleid, die Saphirenkette um den dünnen Hals und einiges Geschmeide in den breitabstehenden, mittens gescheitelten Wellen ihres fahlblonden Haares unwillig. Ein wenig befangen sprach sie den gebräuchlichen Gruß, dessen Sinn sie heute kaum empfand, und stand dann vor ihm, seine Ermahnung erwartend, indes ihr erschrocken zumute ward, da ihr sein Hiersein klar zu sein begann. Wenn der Oheim doch heimkäme? Wieder war ihr das Weinen nahe. Angst des gehüteten Kindes sprach auf die scheu Liebende ein, die sich Verrates zeihen mußte, Preisgebens des Göttlichen und doch mit nüchternen Augen die Gestalt des Meisters übel angebracht auf der Treppe ihres Hauses fand. Sie wolle Giorgio rufen, sagte Maria. Aber er wehrte ihr. Er wollte die Gelegenheit festhalten, sie wieder endgültig an sich zu ziehen, dem Hause und der Pracht zu trotzen, und fragte überlaut, so daß seine Stimme sich hallend im Gange fing: »Was ist mit dir, Mädchen?« Da wußte sie vollends nicht Antwort noch Rat, begann an ihren großen Ärmeln zu nesteln und sah hilflos zu ihm auf. Er griff nach ihrer Hand. Da neigte sie sich ganz demütig und sagte: »Meister, ich warte jede Stunde auf Gottes Geheiß.« Er strich, ruhig geworden, leicht 24 über ihr Haar, und Giorgio kam die obere Treppe heruntergelaufen. Beunruhigt stand er vor den beiden.. Das Mädchen wandte sich leise der Türe zu, aus der es getreten war, hielt in der schon halbgeöffneten, jammervoll auf den Bruder blickend, und gab im Eintreten dem Blicke Marko Kossalis ein Stückchen eines erlesenen Gemaches und ein übergroßes Bild einer Magdalena frei, die in wollüstiger Trauer kniend das Antlitz zum Himmel hob. Giorgio aber sagte stockend: »Meister, du weißt, daß wir mit dir gehen, wohin du uns zu gehen heißt, daß wir um deinet- und des Glaubens willen alles zu verlassen bereit sind, du weißt es Aber solange du unser irdisch Teil dem gemeinen Leben überlässest und wir in diesem Hause wohnen, müssen wir uns scheuen, einige Dinge zu tun. Und darum bitte ich dich, zürne mir nicht: Aber du sollst das Haus nicht betreten. Heiß' es uns für immer verlassen und wir gehen. Aber komm nicht hierher.« Er hatte den Arm des andern ergriffen, sprach solchen Flehens voll, daß jener die Beleidigung für einen Augenblick vergaß, wiewohl er den Jüngling nach den ersten Worten gerne geschlagen und gequält hätte. Er wandte sich langsam zum Gehen. »Meister,« bettelte Giorgio, »versteh mich. Sie haben dreihundert Jahre in diesem Hause gelebt, Sohn auf Sohn. Wie sollten wir uns dieser Macht entziehen können! Halb sind wir entwachsen, wenn wir dich sehen, ganz, wenn dein Wort uns über uns und alles hinaushebt. Aber noch sind wir nicht aller alten Macht genesen.« Da ermannte Kossali sich. Neben Giorgio gemach die 25 Treppe hinabschreitend, gedachte er alles mühsam Erbauten, das ein unbedachtes Wort zerstören könne, und sagte leichthin: »Ich kam nur, um euch zu sagen, daß ich euch nachmittags zu sehen wünsche, um künftige Dinge zu besprechen. Und da ich vorbeiging . . .« Gelassen grüßte er Giorgio und trat auf die Straße. Der alten Zora Stanković, die seine Hand küssen wollte, entzog er diese hart und ging hochmütig und zerrissen dem Hause der Brattanić zu. Hinter der Truhe lag ein langes, gerades Schwert. Das holte er hervor und hielt es zärtlich im Arm, als er von neuem die Steine zählte und trotzig die der Montefiori zu oberst legte.

 

Das Zimmer, in dem Diana Lorides sich aufzuhalten pflegte, war den kleinen Gassen zugekehrt, dem gedrängten Viertel, das vom Stradone gegen die Mauer hinaufreicht. Die drei Fenster waren mit dichten Seiden verhangen, so daß nur wenig Licht, stark violett und grün getönt, bis an das Lager drang, worauf Diana die Tage verbrachte. Sie mied den lauten Tag der Stadt. Abends flogen ihre Windlichter durch die wunderlichsten Gegenden, in alle Ölwälder hinauf, in die Dörfer der Hörigen. Dem Range ihres verstorbenen Gatten hatte sie es zu danken, daß zu allen Zeiten sich die Tore vor ihr öffneten. Wenn sie heimkehrte, lag sie mit Büchern und Schriften die Nacht hin und schlief oft bis in den Nachmittag. Immer waren die Dienerinnen gewärtig, daß ihre Herrin plötzlich abreisen möchte. Bei jedem 26 Aufwachen mußte ihr Bericht erstattet werden, wie es mit den Schiffen stünde, die diesen Tag auslaufen würden, wo man anzulegen gedächte und welches Fahrtziel gesetzt sei. Dann redete sie die Namen der fernen Städte: Tunis, Cadix, Neapel, Smyrna, der vielen, vor sich hin, langsam Klang und Aufsteigendes genießend, und die Dienerinnen, die kaum wieder sich in die Heimat gefunden hatten, bangten jedem Erwachen entgegen, das neue Fahrt und Fremde bringen konnte. Ein bedrohliches Zeichen erschien es ihnen zu sein, daß die Herrin diesen Tag am Morgen schon nach dem Bade begehrte, dann lange gelösten Haares vor dem Silberspiegel stand, mit einer kleinen Falte zwischen den hohen, runden Brauen. Als sie endlich hingestreckt lag, atmeten sie draußen befreit. Kaum hatte aber die alte Frana die Kämme zurechtgelegt und war hinausgeschlichen, als Diana wieder aufsprang und vor dem Spiegel neuerdings den großen reichen Knoten braunen Haares prüfte und endlich langsam das lange, fließende, gelbliche Seitengewand öffnete und hinabgleiten ließ, das zarte Brabanter Linnen von ihren Schultern zurückschlug und alsbald ihren entblößten Leib im Spiegel zu prüfen begann. Sie trat zuletzt auch aus dem Hemde, holte aus einer Mappe etliche Kupferstiche und stellte dieselben neben der Platte auf, in der sie ihre Schultern, Brüste und die schmalen, kaum geschwungenen Hüften nun neben den Abbildern griechischer Statuen besah. Eine Wechselrede von Stimmen flatterte von unten zu ihr, und in die linde 27 Seide sich hüllend, barg sie die Stiche rasch am alten Ort, indes das Hemd schneeig vor dem Spiegeltische liegen blieb.

Als Maria Montefiori schüchtern und ungelenk hinter dem schweren Vorhang hervortrat, lag Diana wieder ausgestreckt und ruhig, fast schläfrig auf dem Lager. »Gut, daß du kommst, Kind,« sagte sie leichthin, »ich habe mit dir zu reden.« Maria saß am Rande des Lagers, Diana nahm ihre Hand. »Lang ist es her, seit wir zuletzt zusammen waren. Derweil bist du groß und schön geworden, ein Fräulein – – – Ich habe oft an dich gedacht. Dann will ich dir die Spitzen geben, das Haarband und andres, das ich im Gedenken an dich aus fremden Städten mitgebracht habe.« »Du bist so gut zu mir, Diana, – – – indes ich dich fast vergessen hatte. Freilich hat mich die Nachricht von deinem Wiederkommen froh gemacht, mich erregt. Ich wollte zu dir laufen, hatte aber nicht den Mut.« »Wärst du gekommen! In diesen Wochen hat man mir manches von dir berichtet, obwohl ich nicht gefragt habe. Zuweilen mußte ich schon denken, daß ich dich diesmal kaum mehr sehen würde. Du hast dein Leben recht sonderlich angefangen, Kind. Daß du besondere Dinge tun würdest, habe ich gewußt, geahnt. als du an meinem Vermählungstage bei mir saßest und mit mir redetest. Aber was konnte ich damals wissen! Zehn Jahre warst du alt. Verzeih, daß ich jetzt erst die Saphirenkette sehe, die ich dir damals gegeben habe. Aber wenn man dich ansieht, denkt man nicht so bald an das, was nicht 28 mitgewachsen ist mit dir.« »Und doch hast du gestern gleich mein schlechtes Gewand gerügt, Diana,« sagte Maria leise. »Das ist eine andre Sache, Mädchen! Dieses Kleid war ein Gleichnis, eine Brücke von dir zu etwas andrem, die ich gerne nicht geschlagen wüßte.« Maria errötete. Diana erhob sich. »Eh wir von so ernsten Dingen reden, will ich meine kleine Maria ein wenig milder gegen mich stimmen.« Sie holte eine kleine Truhe aus einem andern Gemache herbei, auf deren Deckel in kunstvoller Arbeit der Name Maria Montefiori stand, setzte sich neben das Mädchen, mit einem lächelnden Blicke die staunenden erregten Kinderaugen streifend und hob einen kleinen Ballen türkisfarbener Seide hervor: »Siehst du, wie ich an deine Haare gedacht habe!« Edelgeschnittenen roten und gelben Bernstein, Ringe aus geflochtenem Golde, hohe Ebenholzsandalen, wie sie die Griechinnen zu tragen pflegten, mit Perlmutter eingelegt, törichte kleine Dinge, die ein vergessenes Lachen aufbewahren, all das holte sie aus der Truhe, breitete es vor Maria aus, und ihr Gesicht tönte sich mit in dem Reichtum von huschenden Farben und Mienen des Mädchengesichtes vor ihr. Unversehens griff sie nach der Spiegelplatte, schob sie näher und sah sich nun neben das Blonde da geneigt; und das kluge reife Ich hob sich, schwebte, besah die beiden Sitzenden und redete: »Was bist du für ein erfüllter Mensch, Diana, nicht Liebe mehr neigt dich zu solcher jungen Zukunft: Zuflucht ist es dir, was du deine Lust heißest. Wenn du ›süße kleine Maria‹ sagen wirst, meinst du ›süße kleine 29 Diana‹, hingegangene, unwiederbringliche. Du wehmütig Liebende. Du Wehmütige! Wie schwer sinkt deine reife Heiterkeit unter in diesem Herzen. Versuche dein tiefstes Lächeln!« Und ihr Mund bog sich oval, und in ihre bestimmten Augen wagte sich etwas Ungewisses. Aber Marias hilfloser Blick nahm ihr das aus dem Gesicht und wies sie zurück in Begehren, das lange schon als einziger Weg erkannt gewesen war. »Jetzt werde ich bald eine alte Frau sein, mein Liebling,« sagte sie. »Was redest du für Dinge, Diana? Du bist siebenundzwanzig Jahre– und wenn du fünfzig sein wirst, bist du noch ebenso schön. Du bist die Schönste –« Und sie griff nach Dianas Hand und küßte sie mit einem kleinen zagen Kinderkuß. »Du hast mich so reich beschenkt. Du hast mich lieb. Ich will nie wieder traurig sein.« Dianas Augen kehrten aus dem Spiegel zurück. Klugheit beredete die Hand, die um Marias Hüfte lag, zur Geduld. Sich erhebend, sagte sie: »Du mußt jetzt oft zu mir kommen. Ich will dir erzählen, will deine Freundin sein – du mußt so oft zu mir kommen, als es dein Herr und Meister, wie heißt er nur, dieses Volk hat so spaßhafte Namen – also so oft er es dir nur gestatten will. Jetzt geb ich dir zwei Dienerinnen mit, die dir die Truhe tragen werden. Komm bald, liebes Kind. Für dich bin ich immer zu Hause.« Maria stand errötet, gesenkten Hauptes da und wagte nicht zu sprechen. Sie schämte sich, zieh sich zum zweiten Male an diesem Tage des Verrates an der Lehre. Doch in ihrem Zimmer stieg Duft von Diana, Beherrschung der Welt, altes Aufrechtsein aus den 30 Geschenken in der Truhe, dahinein mit den Stoffen auch ein wenig Brabanter Linnen, das auf dem Boden gelegen hatte, Dianas Hemd, geraten war und nun mit dem Geruch fremder, aromatischer Hölzer die große sichere verwirrende Frau in das Zimmer duftete.

 

In dem breiter werdenden Streifen Gartenhanges, der sich zwischen das Meer und die ansteigende Straße, die in das Brenotal zieht, schiebt, lag Marko Kossali am Nachmittage. Der schlechte Geschmack von Demütigung wollte nicht von ihm weichen. Das Haus oben war niedergebrannt. Aber der Alte fieberte unten in der Bucht und redete den Namen des Sohnes. Und jenes harte Mädchen, das seine Kindheit kannte, die Armut und Niedrigkeit seiner Kindheit, das seine erste Sünde gewesen war, war heute gekommen, ihn zum Vater zu rufen. Als er ihr gesagt hatte, daß es nun keinen Vater mehr gebe, daß Gottes Flammenzeichen das Letzte getilgt hätte, hatte sie schwere Worte gegen ihn geworfen, Anklage über ihn gerufen. Zwar hatte im rechten Augenblick der Geist recht aus ihm gesprochen, so daß sie am Ende doch zu seinen Füßen gelegen war und er vergeben und segnen hatte können. Aber das wuchs zu dem Morgen im Hause Montefiori und gab ein übles Nachmittagslied. – – Ameisen eilten über den grell beschienenen Stein. Er schob sich vor und sah am Fuße des Blockes einen Ameisenbau. Während das Zweckvolle in ihm seine Anschauung in ein Gleichnis ordnete, überschichtete ein 31 langvergangener Augenblick den jetzigen, und der Ziegenhirt, der Knabe von einst, schaute den Ameisen zu. Da aber empörte er sich. Aus einem Trichterchen schleppten sie kleine Leichen hervor, eine nach der andern, viele, trugen sie an den Rand der winzigen Hochebene, darauf ihr Reich errichtet war, und stürzten sie hinunter auf die Steine, die das Meer schon erreicht. Da empörte er sich, weil er eben noch zu nahe an die Kindheit geraten war und das dumpfe Hinsterben, das Leben da oben in den Bergen, von wo er niedergestiegen war, ihn wieder berührte. Die armen Leichenzüge von einst, als er abends aus der Schule der Franziskaner heimkehrte, sah er wieder, es erschien ihm, daß man die Hingegangenen da oben wie hier über einen Felsrand geschleudert hätte – und die wilde Angst vor dem Sterben, die ihn weinend nachts aus der Stube getrieben hatte, war wieder da und ihre Wandlung: die Sehnsucht, dem Tode Unvergängliches abzutrotzen, und da sein Gefühl schon wieder einschrumpfte, bequemte es sich, wie das des Knaben, auch so ein hohes, hochmütiges Grabdenkmal, wie es die Adligen da unten einander errichteten, als erstrebenswerte Ewigkeit anzuschauen. Da trat sein Fuß hart, unvorbedacht in den Ameisenhaufen. Er erschrak, besann sich, stand auf und hätte es nicht ungeschehen gemacht, wenn er auch gekonnt hätte. Langsam ging er durch Gärten und unter Weinarkaden und stieg der Straße zu. Ein ganz kleiner Esel zupfte an einer Hecke. Seine Mutter trabte den Hang auf und nieder. Marko Kossali griff in das 32 violette, lange seidige Fell des jungen Tieres, ließ die weiche zärtliche Oberlippe über seine Hand spielen, kniete zuletzt zu dem Esel nieder, streichelte ihn, liebkoste ihn, zog ihn an seine Brust und küßte die milchriechende Haut. Und tröstlich, Kreatur an Kreatur, freundlicher Wärme voll, rettete sein Blut sich zurück in die goldene Dämmerung seines Volkes, die seine Kraft war.

 

Alice Sorkočević ging langsam, zuweilen zu der ihr folgenden Dienerin sich wendend, der Stadt zu. Marko Kossali erkannte sie alsbald am Gehen und der hohen schlanken Gestalt und zögerte, ob er ihr vorzukommen suchen oder verweilen sollte, bis sie genügenden Vorsprung hätte. Er entsann sich des Wortwechsels mit dem Bruder und dachte dieses Mädchens, wie es dereinst dem armen Schulgenossen des Bruders manches Schüsselchen Milch in den Flur getragen hatte. Da ihm aber in den Sinn kam, wie sie ihre kleine Verwandte Maria Montefiori kürzlich von ihm so verächtlich weggerufen hatte, daß das Mädchen zwei Tage lang nicht zu ihm gekommen war, begann er auszuschreiten, holte aus seinem Herzen alle Tröstung und Macht und erreichte alsbald die Dienerin, bei der er den Schritt verlangsamte, so daß er ganz gemach neben Alice Sorkočević kam und einige Augenblicke neben ihr ging, ehe er sie zu überholen gedachte. Und da sah er ruhig in ihr weißes Gesicht, die steingrauen Augen, die ihm ein ganz klein wenig zu schielen schienen. So nahe ging er, 33 daß er die Lilien roch, die sie trug. Erst wollte sie die Augen abwenden, ihn nicht bemerken, und er erschrak, weil er diese Möglichkeit nicht bedacht hatte. Aber dann kam etwas Rosa in das lange Oval ihres Gesichtes unter den gemeißelten blonden Haarwellen, eine schwache Röte der Empörung, und ein Lilienstengel in ihrer rechten Hand brach ab. Sie schrie ihrer Magd zu (und sie erschrak über die Stimme): »Frag ihn, ob ihn die Wache lehren soll, wie breit die Straße ist. Geh, frag, schau mich nicht an.« Sie hielt ein, ihre Brauen verwuchsen und ihre Augen wurden ganz dunkel. »Kossali – –« rief die Magd verwirrt – – Da wandte er sich voll Triumphes herum: »Was ruft man mich!« und er hätte aufjubeln mögen, hätte sich dieses Mädchen da aus Granit wünschen mögen – denn seine Stimme war da. Er spürte ihre Wellen anschwellen, tausend Farben waren bereit. Und unter den Farben stand Gott der Knecht mit dem Hammer vor erzenen Bergen, bereit, Worte daraus zu schlagen, unwandelbare, ragende, endgültige Worte, die nicht Sturm noch Brandung des Blutes mehr zu verrücken vermochte. Da sagte er: »Es ist an der Zeit, daß man mich ruft.« Er stand Alice Sorkočević, der Tochter des Türkenbesiegers, gegenüber. Ihre eisgrauen Augen kehrten sich zu ihm, und der Rand ihrer Brauen stand an dem schwarzen Haarbande. »Sprichst du etwa zu mir?« fragte sie. »Das tue ich – und Ihr sollt Gott preisen, daß ich es tue! Ihr empört Euch, weil ich Euch auf dieser Menschenstraße zu nahe getreten zu sein schien . . . 34 Hört, Alice Sorkočević, jetzt müßt Ihr mich hören, denn jetzt geschieht das Große, das Euer kaltes einsames Leben blühen machen wird in roten Blutblüten, daß Ihr Euch duften werdet und heimatlich sein in Eurem Blute, zum ersten Male – Sehe ich nicht Euer Herz? . . . Jetzt dürft Ihr Euch nicht abwenden . . .« Seine Stimme kam weither aus aller Sehnsucht, sommernächtig, wie eines Pirols Stimme, vor der auch die Keuschheit des Einsamen zu weinen wagt. »Er redet irr . . . wir wollen weiter, Mara . . .« Aber ihre Hand stützte sich auf das Steingeländer der Straße, und sie stand bereit, ein wenig verächtlich die Lippen verzogen. »Ich, der ich Euch beleidigt zu haben scheine, wage zu bitten, eine kühne Bitte: Schickt die Magd weg, nur dorthin zur Wegbiegung – Ihr könnt unbesorgt sein, Ihr seid nicht Weib vor mir, nur ein wunder Mensch, und was ich Euch zu sagen habe, gilt nur der Alice Sorkočević, von der niemand wissen soll.« Als sie sich daraufhin zum Gehen wenden wollte, stellte er sich vor sie, hob die Hände und strahlte die ganze Kraft seines Verlangens auf sie, dieses Verlangens, das sich zu keiner Lust bekannte, und bat wieder. Da wies sie die Dienerin an, unten an der Biegung der Straße zu warten, aber eines Rufes gewärtig zu sein. Hinter der Weggehenden lehnte sie sich ganz an die Steinbrüstung und fragte kühl: »Also, was habt Ihr mir zu sagen?« Nun stand er ganz nahe. Der Geruch der Lilien an ihrer Brust und in ihrer Hand, die singende Stille des Nachmittags und die Kühle dieser Frau strichen über seine Haut. 35 Da riß er sich auf, und alles Getretene, Sehnsüchtige, Liebende, Machtheiße begann zu reden. Seine Stimme schwoll an wie eine Orgel. Und orgelhaft stieg die Frage, mit der er einsetzte, dunkelbleibend, durch alles Lockende, Hinreißende, Geschlechtliche und Erhabene seiner Rede wieder empor: »Was verschließet Ihr Euch der Gnade, deren Sternenregen nun in Euren Nächten, Euren armen Menschennächten erwacht ist?« Die Sehnsucht, die jeder Frau in ihr Einsamstes gefolgt war, hatte ihn wissend gemacht. Und dieses Wissen um jede Frau schrie er ihr zu. Sein willentliches Entbehren gab ihm Flügel. Wenn sie abwehrte, brüllte er seinen Gott um sie, seinen heißen Gott, der ihren kaltgeglühten Leib berührte, bis Marko Kossali an einem sanft steigenden Wellen sah, daß sie Brüste hatte. Da hob er ihre schamhafteste Sehnsucht aus ihr, und vor ihren sich schließenden Augen tötete er ihr den künftigen Geliebten, riß die Einzigartigkeit von ihren Träumen und schleuderte ihren weißen Leib und ihre tauende Seele, wiewohl er sie in diesem Augenblicke als allein und herrlichst in der Welt empfand, in einen Strom von sehnsüchtigen Leibern und Seelen, der in ihn münden müßte, den Gott mit dem Meere der Gnade gesegnet habe. Nun stand sie, gefalteter Hände, daraus die Lilien gefallen waren, hob das weichgewordene Gesicht und fragte in scheuer Einfalt: »Was soll ich mit all dem, auch wenn mich manches betrifft? Nun ich so geartet bin für immer?« »Ich und Artung ist für die Stunde und wird hingeweht werden an das Allgemeine, das 36 Ein-Ich, darin sich Gott den Menschen wieder vermählen kann. Denn darauf wartet die geistliche Hochzeit, daß eine Braut aus der Vielheit geworden sei, wie ein Bräutigam ist. An erlauchtes Geschlecht verfallen wir aus Geist, damit der eine Geist am Ende auferstehen könne aus dem Geschlechte.« »Was soll ich tun?« »Warten und glauben. Die Zeichen werden täglich an dir geschehen. Das Große ist nahe. Die Zimbeln der Hochzeit werden dich rufen aus Ich und Einsamkeit, und ich werde dich hinführen zu Mahl und Umarmung. Merk dieses Wort: Gottes Morgen in Gnade!« Und sie ging, langsam, zart, tastend fast, so daß die Magd auf sie zutrat und sie stützen wollte. Marko Kossali holte einen rosenfarbenen Stein aus dem Gewande, küßte ihn und schrieb ihren Namen darauf.

 

Eines Abends ging Francesco Brattanić mit einem Korbe voll Fischen in viele Häuser. Der Meister saß daheim, zählte die Steine und fand, daß deren genug seien. Und ehe der Mond aufging, trieb Barke nach Barke aus dem Hafen. Der Wächter rief sie nicht an, und sie schwärmten hinaus auf dem unbewegten Meere, zogen viele grüne Bahnen hinter sich und näherten sich einander draußen in der Kiellinie des großen Schiffes Lakroma. Leise Rufe schwirrten hin und wieder, ein wenig Knirschen, wenn zwei Barken sich aneinander legten, und zuweilen ein verwundert genannter Name, wenn solche, die in mancherlei Bezügen einander zu begegnen pflegten, hier nun einer 37 des andern gewahr wurden. Marko Kossali stand aufrecht in dem Boote der Brattanić und versuchte gierig, in dem ungewissen Sternlichte die Fahrzeuge zu zählen, die auf seinen Ruf gekommen waren. Weithin war das Meer von ihnen bedeckt. Die Fischerboote waren in der Überzahl. Aber da und dort glitt auch eine schlanke Gondel zwischen ihnen. Nach diesen schaute er am meisten aus. Ein stolzes großes Gefühl weitete sein Herz, er öffnete sein Gewand ein wenig und zog das starke gerade Schwert, darauf er sich stützte, an seine nackte Brust. Nun war Unwiderrufliches geschehen, und eine Lobpreisung an das Schicksal stieg aus ihm. Mit seinem ganzen Blute betete er Dank. Giorgio, der nicht gewagt hatte, den Bootsmann zu rufen, führte selbst die Gondel der Montefiori. Maria kauerte zu seinen Füßen, erregt und ängstlich. Eine andre Gondel trieb heran, da Fahrzeug sich an Fahrzeug zu schließen begann, um die kurzen Stunden der Dunkelheit bis zum Aufgehen des Mondes zu nützen, eine große, prunkvolle hochmütige Gondel.

Da sie Bord an Bord liegen blieben und der Bootsmann drüben sie aneinanderband, sah Maria auf. Ein Vorhang schob sich zur Seite, und sie schrie leise auf: »Alice Sorkočević!« Die neigte ihr neues Antlitz herüber: »Ja ich, Maria.« Sie hätte gern gelogen. Aber eine Sakramentheiligkeit beugte ihren Nacken in das andre Boot hinüber, und Maria empfing Tränen zum Gruße, da sie sie aufrichtete. Aber schon gab es eine Allgemeinheit von Schicksal, ehe noch die 38 ersten Worte des Meisters sie mit heißer Forderung entzündeten. Geruch einschlafender Gärten kam im Winde. Die neue Insel hatte sich gefestigt, und Boot lag an Boot, kaum schwankend. Die Erwartung der Vielen schlug an das Leben Marko Kossalis, und es begann zu reden. Vermenschlicht atmete das Meer auf, da die heiße männliche Stimme tastend durch die Menge kam. Francesco Brattanić kniete vor dem Meister. Wenn die Rede innehielt, sich zu neuer Gewalt zu sammeln, sagte er, flehte er: »Das Schwert!« Und da geschah es das erstemal, daß der Meister aus seiner glühenden Allgemeinheit sich zu Besonderem entschloß, vom Staat redete, von der Gewalt, bei der kein Gott mehr sei. Daß er seine Macht versuchte gegen die alte dort drüben im Palaste der Rektoren. Und daß sie bestand. Flüchtiges Licht einer Fackel, die Francesco entzündete, zeigte ihn den Lauschenden, angelisch mit gehobenem Schwerte, emporgerissen von der Nähe der Erfüllung. Und ein heißes Schauern drängte sie in den Booten aneinander. Wilde, klagende Laute stöhnten sich zu ihm. Er brüllte auf: »Zu mir ihr alle, ihr Sehnsüchtigen, ich bin Gottes Schwert und Gottes Liebe. Die alte Stadt zittert in euch. Bald, ihr Meinen, fällt die letzte Mauer, und wir gehen in Herrlichkeit ein, in Besitz und Herrschaft. Und wir werden herrschen in Ost und West um der Liebe willen, der lodernden, unstillbaren, der ewigen Glut Gottes, nach deren Ebenbild er uns erschaffen hat. – Ihr Schwelenden, meine Augen schauen eure Flammen aufschlagen in alle Himmel und den 39 Paraklet die glühende Straße wiederkehren zur Erde. O Menschheit!« schluchzte er auf. Die Dunkelheit umgriff ihn mit nie gehörten Lauten, umarmte ihn mit dem Gluthauch von Seelen. Klagendes, Lockendes, Verzweiflung und hinsterbende Lust erfüllte die Finsternis und die Boote ächzten wollüstig aneinander. Da stieg eine wilde Stimme: »Dein Reich soll bald kommen, sonst verschmachten wir!« Und hundert stöhnten ihr nach: »Bald, sonst verschmachten wir!«

Kühle stieg über das Meer; die Boote lösten sich aus der Umarmung und flatterten auseinander. Vor der riesigen aufsteigenden gelben Scheibe kniete Marko Kossali, in Inbrunst versteint.

 

Taubenflug rauschte beim Onofriobrunnen empor und ging über den Stradone hin unter dem schmerzlich hellen Abendhimmel. Unendlich rein lösten sich alle Formen aus der Sonnenverzauberung, ehe sie eintraten in das Braune und Blaue, das auch den Tag über in den Stiegengassen wartet. Die Handwerker, Goldschmiede, Seidenhändler traten vor ihre Laden. Weiße Dominikaner querten die Straße, und eine Glocke sang in großen Wellen den Abend über die schwefelgelben Mauern. Aufatmende standen in den Toren der Häuser still, taten den schläfrigen oder arbeitsvollen Tag mit dem ersten gekühlten Atemzuge von sich und betraten den Abend in einer kleinen ruhigen Feierlichkeit. Weißgekleidete Frauen, schlanke, gebräunten Antlitzes, begrüßten einander, und bald 40 kamen sie im Gleichmaß des Gehens und Wendens zwischen den Toren von Pile und Ploče.

Geruch bratender Fische mischte sich in den Meerhauch beim Hafentore. Eine Laterne wurde angezündet. Eine Dirne trat, eine Puppe auf dem Arm, in die Tür und sang mit einer kleinen heiseren Stimme: »Quando te vedo, tu . .« Sardellenfischer kamen, die schweren Netze von Schulter zu Schulter tragend. Hunde balgten sich aufheulend im Tore, und der eintönige Singsang tunesischer Rudersklaven lag gleichmäßig über den Lauten des Abends. Francesco Brattanić saß auf einer Taurolle mit zusammengezogenen Brauen, hart und unfroh. Aus dem Trabakel vor ihm kam ein Mann das Laufbrett herüber. »Gute Zeit, eh?« stellte er sich vor dem Fischer auf, »wie die lieben Heiligen lebt ihr da.« »Ihr scheint genug fremd zu sein, redet wie die Mohren, die ein paar Türme und das bunte Kleiderzeug blenden,« entgegnete Francesco, während der andre sich zu ihm niederließ. »Es gibt mancherlei Galeerensklaven, die einen haben die Eisenreifen sichtbar, die andern leben wie die lieben Heiligen. Trinkt unsern Inselwein, geht mit einem Dirnlein schlafen und erzählt daheim in Chioggia, oder woher Ihr seid, daß Ragusa, der Freistaat, von Gott begnadet sei mit allem.« Er wollte sich erheben. Der Chioggiote hielt ihn fest: »Ihr seid ein freundlicher Gesell. Ihr habt so etwas Anziehendes, Zutrauliches; besonders im Blick. Gott behüte mein schwangeres Weib, Euch zu begegnen! Hätt ich gesagt, Ragusa hätte die stinkende Pestilenz in 41 sich, Ihr hättet mich sicher angespien. Macht unsre hohe Signoria« – er spie aus – »Euch wieder Ohrensausen? Oder ist ein neuer Pascha unterwegs gegen den Freistaat? Oder trägt bloß Eure Tochter einen kleinen Rektoren unterm Nabel?« »Spottet nicht, Fremder. Uns ist nicht nach Heiterkeit zumute. Aber was bekümmert's Euch? Ihr fahrt über das Meer, und wenn Ihr heimkommt, ist die Heimatsstadt allemal schön und ohne Fehl und San Marko ein guter Freund – – Was soll ich Euch von unsern Nöten sagen? Habt Ihr im Blute gefühlt, was Knecht sein heißt? Und wißt Ihr dazu, daß es ein andres gibt? Vielleicht geht Ihr, wenn es dunkel ist, hin, mich zu verklagen – was kümmert's mich mehr. Mag noch ein Opfer fallen. Der Tag ist nahe, da diese Mauern zittern werden vor der Stimme des Gerichts. Das Schwert wird getragen werden durch die Gassen und Gott wird vor dem Volke einhergehen. In den Tränen werden sie ertränkt werden und in den alten Scheiterhaufen erstickt. Höre, fremder Mann, geh hin und erzähle, daß die Gnade nach Ragusa gekommen ist, daß Gott aus den Armen noch einmal aufgestanden ist. Erzähle.« Nun stand er, hager, bärtig, eckig die Arme erhoben vor dem Schiffer. »Und wenn Du wiederkommst, kehr ein in meinem Hause. Ich will Dich vor ein reinliches Mahl setzen, Dir heiter die Hände reichen und Dich dann durch die Stadt geleiten, unsre Stadt.« Damit wandte er sich und ging. Der Chioggiote stand nachdenklich, zuckte die Achseln und kehrte auf sein Schiff zurück. 42

 

In den Gärten der Cabogas, denen nur die Geschlechter der Saraca und Gozze ebenbürtig waren an Alter des Adels und der Herrschaft im Freistaate, wurde ein Fest gefeiert. Tische waren aufgestellt unter den Platanen. Florentinische Spielleute gab es, mit Gambe und Theorbe, und ein rühmlich bekannter Kastrat sollte am späteren Abend neue Gesänge darbieten. Was einen Namen trug in Ragusa, versammelte sich in den weiten, ansteigenden Gärten. Groß, hager, ein erstarrtes Lächeln unter der kunstvollen weißen Haartracht, begrüßte die Contessa ihre Gäste. Ein halbes Jahrhundert war sie Hausfrau, und ein quälend klares Gedächtnis verzerrte alles Wiederkommende, immer Wiederkommende zu einer unausweichlichen höhnenden Fratze des Lebens, dem sie mit der steigenden Müdigkeit der Jahre auch kein neues, kühnes, wahnsinnigstes Laster mehr mit dem Hohne eines eigenen Gesichtes unter dem erforderten entgegenwerfen konnte. Eine uralte Mohrin mit steinfarbiger, zerrissener Fratze stand hinter ihr. Wenn das Kommen der Gäste eine Weile einhielt, wandte sie sich zu ihr, ließ das Lächeln fallen, und grauenhaft zu Lachen verzerrt, tauschte das alte Gesicht Erinnerung mit der Vertrauten zweier Menschenalter, heftete die Lächerlichkeit, die Besessenheit oder die Torheit lange Verwester den Kindern und Enkeln an, die mit demselben Gruße sich vor ihr verbeugen kamen, wie es jene getan hatten, die ihr Gedächtnis bewahrte. Und die Mohrin trug zu jedem Namen eine giftige Arabeske neu hinzu, wie sie die Dienerschaft auszutauschen pflegt. 43

Gesichter, die schön waren, als sie schön war, der gelbe, winzig gewordene Kopf selbst Girolamo Montefioris, über dessen Marktgänge die ganze Stadt spottete, neigten sich vor ihr. Und der jahrzehntelang Kranke unterließ es nicht, nachdem die Bruderskinder vorangeeilt waren, einen wohlgesetzten Spruch muffiger Verehrung, mit einem winzigen Geschmacke von Erinnerung an weltweite Lust und Zärtlichkeit, vorzubringen, ehe er sich wieder an den Arm der Diener begab, die ihn weiterstützten.

Die geschminkten Gesichter der Fünfzigjährigen erschienen neben denen ihrer Töchter. Männer traten zu ihnen. Bald waren die Gruppen so angeordnet, wie es die Contessa ohne Nachdenken vorhergesehen und in der Aufstellung der Tische ausgedrückt hatte. Maria Montefiori saß mit Alice Sorkočević und sprach von gewöhnlichen Dingen. Die wenigen Jahre, die Alice älter war, die vor Tagen noch ein ganzes Menschenalter bedeutet hatten, gab es nicht mehr und eine dunkle, scheue Innigkeit ging unter dem winzigen Mädchengespräch hin und wider. Sie entsannen sich der oft vergessenen, weitliegenden Verwandtschaft ihrer Familien und empfanden glücklich daraus eine Zusammengehörigkeit des äußeren Lebens, da das innere in Not und Geheimnis in derselben Welt sich vollzog. – Wein wurde in venezianischem Kristall und deutschen Farbgläsern herumgereicht. Die Mächtigen des Staates, die Alten, hatten sich in einem Rundplatz großer, ungeheuer blühender Oleanderbäume zusammengefunden, besprachen Steuern und 44 den nahen Zahltag des Türkentributs, Bischofswahl und etliche Gerüchte über Unzufriedenheit im Volke, die neuerdings durch Angeber dem Rate mitgeteilt worden waren. Die Jungen, und was Anspruch machte, dafür zu gelten, saßen nahe den Musikanten, summten die Kantilenen mit und versuchten im Schatten der Rosenbüsche schon da und dort ein gewagtes Wort an die nächste Dame. Da kam Bewegung in den beginnenden Zustand, Aufstehen und Entgegeneilen. Diana Lorides hatte den Lichtkreis des großen Fanals betreten. Ein weißer Peplos, der die Arme bloß ließ, vereinsamte sie im Augenblick unter den Goldbrokaten und fremdfarbigen Seiden. Ein Band alter, besonders gefaßter Edelsteine über Stirn und Haarwellen war der einzige Schmuck, den sie zeigte. So eifrig man sie begrüßt hatte – alsbald wäre sie auf der Steinbank allein gewesen, wo sie sich niedergelassen hatte, wenn nicht Silvia Valcroce zu ihr geeilt wäre, noch ehe Maria Montefiori von ihrer Ankunft erfahren hatte. Da Paare und Gruppen nun wieder in ihrem Schatten sich zurechtgefunden hatten, begrüßte Diana das dunkelhaarige, bewegliche, kaum sechzehnjährige Mädchen mit einem schnellen Kusse, den Silvia, sich anschmiegend, erwiderte. Eine Viola begann süß und selig zu singen, der Theorbe dunkler, orgelhafter Ton lehnte sich daran, holte das eben begonnene Lied in ihre große Sphäre und wettstritt angelisch mit der aufjauchzenden Stimme der Viola, bis eine kleine girrende Laute den Gesang an sich riß, versinnlichte, vermenschlicht weitertrug, indes 45 die beiden nun in Klarheit des Gesetzes, schicksallos, außer Sehnsucht und Verzückung ihren Wechselgesang tauschten. Maria Montefiori ging zögernden Schrittes, Diana zu suchen, gewahrte sie neben der zärtlichen Silvia und irrte durch den Garten. Auf dem Meer stand ein stilles Boot mit einem stetigen Lichte. Sie begann zu beten: »Gott, erlöse mich von mir. Mache mich ganz bereit, daß ich Kindheit, Heimat und Freundschaft vergessen habe um Deinetwillen. Mach Deinen Boten stark, o Herr, gieß alle Gnade über ihn, damit er mein törichtes Herz anfülle mit Dir bis ans Ende. Ach Gott, was soll ich mit mir beginnen, wenn ich Dir nicht diene?« Sie kniete, schluchzte, und ihr schmaler Leib ging auf und nieder. Ein Zittern stand auf in ihrem Herzen, und sie griff in die Rosen, daß ihre Hände zu bluten begannen. Sie biß in die Rosen, die schwer von Duft und Sommer zur Erde gebeugt waren. »Herr, mein Gott, tilge mich aus, wirf mich in die Nacht, nimm mir mein Ich fort, meinen Namen, mein Herz. Fass' mich an, daß ich Dich fühle, schlag mich, zertritt mich, laß mich bluten, bluten . . .« Da sie zu Alice Sorkočević zurückkehrte, sagte sie: »Sei mit mir traurig bis zur Erlösung. Ich weiß, daß Dein Herz nicht im kleinsten anders geartet ist als meines, obwohl Du klug und stolz bist und alle Dich bewundern. Wenn wir jetzt das Herz tauschen, sind wir nicht anders. Komm, wir wollen es tauschen.« Und sie preßte ihren Leib, ihre kleinen Brüstlein an die Brust der andern, schauerte – und beide weinten, große, schwere Tränen, lautlos 46 erschüttert, als ob nun jede das doppelte Leben zu tragen hätte.

Der Kastrat, eine große breite Figur mit einer hohen violetten Mütze über dem glatten Gesicht, trat auf die vorbereitete Tribüne. Man kam näher, und er begann zu singen. Der Kardinal de Saraca, der ihn von Rom kannte, rief bis in den Anfang hinein laute Bewunderung des Sängers. Mit einem klaren Tone, wie die verruchten Glasflöten der Assassinen, setzte er ein, ließ seine Stimme ein wenig schweben, genießerisch, und wand sie dann zu einer durchsichtigen reichen Ranke, unter der, breiter werdend, ein altes feierliches Liebeslied emporstieg, groß, nur mehr um des Lautes willen und fortgehoben aus aller Liebe. Alsbald umwand er die weiten durchgestrichenen Akkorde der Theorbe mit tausendfachem Zierat, dessen Teilchen aus jenem Liede bestanden, kicherte in fast klirrenden Höhen, kehrte zu einer biegsamen schnellenden Sprechstimme zurück, sprang aus einem gehaltenen glockenhaften Laute wieder hoch, bog sich aus einer süßen, reifen Fermate ausholend in die Tiefe und verglänzte in einem langen Triller in den Grundton zurück. Ekstatischer Beifall umschrie ihn, der Kardinal umarmte ihn vor allen (aus Gewohnheit, wie die alte Contessa raunte), und er ließ sich in affektierter Müdigkeit in einen Sessel nieder, nippte von süßen Fruchtsäften und schien die Lobpreiser nicht zu beachten. Man beglückwünschte die Gastgeber zu dem Sänger, etwelche schlossen den Dank für den Abend an. Als sich endlich aus dem Zerstreuen und 47 Durcheinanderwogen der Gäste wieder der Kreis der Zuhörer zu ordnen begann, war dieser erheblich kleiner geworden. Nachdem der Kastrat noch einige Arien gesungen hatte, drängten die jungen Edelleute in ihn, auch einige von den neuen Liedchen, die derzeit in Rom beliebt seien, vorzutragen. Er blieb im Sessel sitzen, nahm die kleine Laute zur Hand und begann, sich selbst begleitend, Spottverse auf Zustände und Personen zu trällern. Das gierige Lauschen verklärte sich, da man Seine Heiligkeit, etwelche Fürsten und große Herren in den derben Allegorien erkannte. Ein jüngerer Ragusaer, dessen Verse damals eben in Schwung zu kommen begannen, schlich sich aus den Zuhörern, durchsuchte die Schattenplätze, kehrte befriedigt zurück und raunte dem Sänger etwas zu. Da sagte dieser in geziertestem Toskanisch, mit einer Stimme, die durchaus nicht zum Sprechen geeignet war, er wolle nun ein ganz neues Lied mitteilen. Es sei sozusagen die defloratio dieses Liedes, obwohl dieses Gleichnis, wie man alsbald sehen werde, für den Fall des folgenden Poems durchaus und wahrhaftig nicht am Orte sei – wahrhaftig nicht, wie er widerlich lachend hinzusetzte. Er sang:

O puellae Raguseae
Pulchrae: admirabile
Desiderium et deae,
Sicut Jovi Semele.
Sunt, qui dicant, et Dianam,
Silvarum venatricem,
Nunc ardentem et profanam
Factam veneratricem.
48

Cypron diu iam vitantem,
Vitae archipelago,
Lesbon calide flagrantem
Pervenisse video.
O puellae Raguseae -
Nunc pro silvis Silvia.
Superfluet amor deae:
Centum cras pro Silvia.

Johlender Beifall schrie durch den Garten, schreckte Zurückgezogene auf und rief die Alten herbei, die nach dem Mitgenuß solcher Heiterkeit verlangten. Da jedoch Lino Valcroce, der Vater Silvias, unter den Neugekommenen war, begann der gewarnte Sänger, als ob er wiederholte, ein ausgelassenes Lied des Aretmo.

Es war spät geworden. Mondkühle stieg vom Meere auf. Tücher wurden über bloße Schultern gezogen und manche liebkosende Hand verweilte einen Augenblick unter ihnen. Der Conte Caboga hieß wieder Wein reichen, den süßesten, schwersten, den es gab. Aber das nunmehr entstandene Zusammensein ohne Wahl ermüdete Heischende und Gewährende. Der Kastrat sang nicht mehr, trank unmäßig von den edelsten Getränken und stieß mit dem Fuße nach seinem Knaben, der ihn bediente, wenn nicht schon ein neuer Kelch wartete. Sein Gesicht wurde grau und die Wangen begannen überzuhängen. Der Kardinal redete ihn wieder an, aber er antwortete knurrend und gewöhnlich. Die Contessa trat für einen Augenblick in das Gartenhaus, griff in ihr Gesicht und schrie tierisch lachend auf, ehe sie sich zum Abschiede ihrer Gäste begab. Die Enkelin der Contessa löste sich verweint 49 und frierend aus den Armen ihres ersten Geliebten, ihre Mutter bettelte den letzten um ein Wiedersehen für den Tag, der am Meerrande zu atmen begann. Die Sänften standen aufgereiht an der Straße. Der Kastrat hielt den Seidenbeutel, den er eben erhalten hatte, an die Ohren und versöhnte sich mit dem Kardinal. Giorgio Montefiori suchte nach der Schwester, die längst daheim war, entwich ohne Abschied und begann zu laufen, als niemand ihn mehr sehen konnte, und lief, solang sein Atem reichte, und bog endlich neben der Porta Pila in die Straße, die außen um die Stadt führt, bis hinauf zum Hause der Brattanić. Aber kein Ruf erweckte den Meister, der in tiefem, großem Schlafe von einem Tage aufstehender Erfüllung in einen andern hinüberschlief, der wieder reicher und bestimmter sein mußte. Giorgio trat in das Gärtchen vor dem Hause, hüllte sich in seinen Mantel und schlief.

 

Diana stand nackt in ihrem Zimmer und drehte Steinkugeln, die an Riemen um ihr Handgelenk hingen, in den Armen, bis sie den Dienst versagten. Dann griff sie nach den Brustmuskeln, die sich von den Armen zu den Brüsten wie Bogensehnen spannten und diese hochtrugen. Hernach ließ sie sich im Bade von der Dienerin reiben und streichen. Die alte Frana aber zog lachend, sobald sie zu Ende war, ein Blatt hervor, auf dem jenes Spottgedicht der letzten Nacht stand, das nun schon selbst der mittlere Bürgerstand nachzuträllern begann. Diana las, lachte auf und sagte: 50 »Schade, daß es nicht besser ist. Es muß von einem Verschmähten kommen. Spottgedichte sollten die machen, welche an den Gegenständen nicht beteiligt sind.« Sie ließ sich in ein weiches, elfenbeinfarbiges Tuch hüllen und kehrte in ihr gewohntes Zimmer zurück. Einen Augenblick gedachte sie, jenes Gedicht, womit sich Carlotta Orsini wundervoll gegen den Spott verschmähter Bewerber gewehrt hatte, mit nötigen Veränderungen verbreiten zu lassen. »Wozu,« dachte sie aber weiter. »Morgen vielleicht ist diese Stadt wieder eine fremde Welt, über die ich von ferne lächle.« Sie kleidete sich an und begann, Maria, die diesen Mittag kommen sollte, erwartend, eine in diesen Tagen erschienene Sammlung alexandrinischer Schriften durchzusehen. Bald versenkte sie sich in einen Kanon weiblicher Schönheit, der darin enthalten war, ließ sich von dem Scholastizismus einer entlegenen Mathematik in eine Welt leiten, die Denken vortäuschte, indes sie darin die sublimere Bewunderung ihres Geschlechtes genoß. Ihre Frühstücksstunde war längst vorbei. Sie nahm zu sich, was die ungeduldig gewordene Frana brachte, und schickte sich zu schlafen an. »Wenn Maria Montefiori kommt, darf sie zu mir . . .« Aber Maria kam nicht. Als Diana am späteren Nachmittage erwachte und dessen gewahr wurde, daß das Mädchen sein Versprechen nicht gehalten habe, überlegte sie kurz, entsann sich des vergangenen Abends, der Silvia, an deren allzubereiter Zärtlichkeit ihr wenig gelegen war, und dessen, daß Maria sie nicht begrüßen gekommen war. Und sie 51 gab der Alten den Auftrag, Maria augenblicklich zu rufen, indem sie den Anschein einer wichtigen Sache erwecke, sie zu suchen, wenn sie nicht daheim sei, nach ihr zu fragen, sie auf jeden Fall mitzubringen, was sie mit hochgezogenen Brauen wiederholte.

Maria besprach mit ihrem Bruder ernsthaft, daß ein Abschied von ihm nicht zu ertragen wäre. An diesem Vormittage nämlich hatte der Oheim Giorgio zu sich beschieden und ihm mitgeteilt, daß er sich bereit machen solle zu einer größeren Reise. Er habe den vergangenen Abend nach langer Zeit wieder mit unterrichteten Männern gesprochen, die ihn gewarnt hätten, daß die Kinder in üble Gesellschaft gerieten, und ihn gemahnt hatten, den Jüngling, wie es sich zieme und dem Alter gemäß sei, nunmehr auf eine hohe Schule zu schicken. Noch schwanke er, welche zu wählen sei, ob Padua oder Florenz, die Sorbonne oder etwa gar Prag, wohin in letzter Zeit viele dalmatische Jünglinge gegangen wären. Giorgio werde beizeiten erfahren, wohin es ginge. Für jetzt solle er sich in den Autoren umtun, damit er vor den andern seines Alters bestehen könne. Was Maria anlange, so wolle er, wenn Giorgio abgereist sei, sich an eine Dame der Verwandtschaft wenden, die sich des Kindes, denn als solches pflegte der Oheim sie zu betrachten, mütterlich annehmen möchte. Nun saßen die Geschwister bei der Stadtmauer oben und suchten zu beraten. Aber ihre wirklichkeitsungewohnten Gedanken verstanden kaum die Tatsache recht zu erfassen; sie sehnten sich nach dem Meister, der sie beraten sollte. 52 Sie gingen, ihn zu suchen, und fanden ihn bei den Fischern stehen, die sich für den Abend bereit machten. Sein im Reden ausgestreckter Arm berührte sie aus der Ferne hart, ohne Wärme. Der eben Entflammte hielt, sie erblickend, ein, faßte sich in einem Satze und wandte sich den Geschwistern zu. Giorgio sagte eifrig, er habe ein Anliegen und bitte den Meister, ihnen zu sagen, wann er gesonnen wäre, sie anzuhören. Marko Kossali erklärte sich bereit, mit ihnen zu gehen. Giorgio erzählte, was ihm drohe. Kaum drang die Rede des Jünglings in den abgeirrten Gedankengang des Meisters ein, als dieser, die Gefahr für seine Pläne merkend, sich zu einer innigeren Anteilnahme bequemte und, an dem alten Platze an der Mauer angekommen, sagte: Wäre das Große schon geschehen, dann würde er nicht zögern, Giorgio in die Welt gehen zu heißen, damit er auch andern Ortes der Lehre Acker und Herzen erwerbe. Nun aber eben alles sich bereite, bedürfe es jedes einzelnen. Er selbst wolle diese Tatsache in seine Pläne einbeziehen und, soweit eine Beschleunigung möglich sei, eine solche erwägen, damit Giorgio eines vielleicht schweren Widerstandes daheim nicht gewärtig sein müsse, welcher, wenn ihn die Stunde der Erfüllung an seiner Stelle fände, überholt sei durch die gewonnene Macht, die ja auch in das Weltliche und die Familie reichen werde. Die eben getröstet Aufschauenden gewahrten die alte Frana, die Maria nicht daheim gefunden hatte, und nun, durch viele Fragen gewiesen, auch zu dieser Stelle geraten war. Sie bat das Mädchen zur Seite 53 und meldete, daß Diana sie sogleich zu sich bitte. Marko Kossali wurde unruhig, trat zu den beiden, erfuhr den Anlaß und ließ sich hinreißen, etwas heftig zu sagen, es gäbe jetzt eine so wichtige Sache zu besprechen, daß man Marias dabei nicht entraten könne. Da flüsterte die Alte, daß Diana sie beauftragt habe, Maria unbedingt mitzubringen; es hätte sich bei ihrer Herrin etwas zugetragen, das Maria im höchsten Maße betreffe. Und sie, Frana, meine, daß Maria Montefiori wirklich nicht zögern dürfe, zu Diana zu eilen. Es sei genug bekannt, daß die Dame nicht zu bitten pflege. Wenn sie es aber einmal tue, sei leicht einzusehen, was sich darunter verberge. Maria folgte nun, mit einem flehenden Augenaufschlage zu Marko Kossali, der weggehenden Dienerin, senkte den Kopf vor dem harten, unbarmherzigen Blicke des Meisters und ging. Lange schritt dieser vor dem erschreckten Giorgio auf und nieder, murmelnd, mit verwachsenen Brauen und tiefversenkten Augen. Endlich wandte er sich ihm zu: »So betreten sie freventlich die Heiligtümer unsers Rates. Und du Knabe, wehrst ihnen nicht; hündisch erschrickt dein Herz, doch du lässest geschehen, was verhängt wird über euch, obwohl du geahnt hast an die Lehre. Was empörst du dich nicht, was mahnest du dieses törichte Kind nicht, sich zu besinnen, was es verlasse, wenn es um eines Rufes der Sünde willen heraustrete aus dem Kreise, den ich um uns zu ziehen vermag! Denn Sünde lockt, Babylon. Aber mein Schwert schläft nicht mehr. Und ich sage dir, Knabe, es wird ein bitteres Gericht sein. Wenn du nicht die 54 Kraft und den Glanz, den ich in deiner Jugend vermeinte, wieder herrlich auffindest in dir, daß du auch sie, die deines Blutes ist, davon erleuchten kannst, dann ist euch besser, dein Oheim schickt dich morgen aus dieser Stadt an die Grenzen der Welt, auf daß nicht ein Blut fließe, das schon geweiht schien. Geh heim, wirf dich hin, quäle dein Herz, weine die Nacht durch – und wenn du morgen nicht lauter bist, geh aus der Stadt und nimm das Mädchen mit dir, eh ich euch preisgebe an Fluch und Not.« Giorgio wollte flehen, nach seiner Hand fassen in seines Herzens Qual und Hilflosigkeit. Aber er ging hinweg, hart und verzerrt.

 

Diana erhob sich, da Maria eintrat, gerührt von dem liebevollen Sträuben des trotzigen Mundes, strich ihr über die blonden Haare und wußte, beim ersten voll empfangenen Blicke der Abwehr und dem kleinen Zittern ihrer widerwillig gegebenen Hand, daß heute der Tag sei der Bereitschaft zu aller Zärtlichkeit. Fast schauerte sie selber vor der weihevollen Schönheit, die ein nicht zu ertötendes Wissen um alle Liebe aufstehend und unbändig genoß. Da gestattete sie sich ihr Ich: schwärmerische Lust, sich zu wandeln, unterzutauchen in den blonden Namen da und ein Auferstehen zu haben, Weib gespiegelt im Weibe, geliebt zu sein mit der eigenen Liebe, zu blühen in der aus einem hingegebenen Herzen heimkehrenden Bewunderung. Und aller erstrittene Entschluß, Welt zu sein in Ichlichkeit und doch nicht frieren zu müssen in 55 Icheinsamkeit, trat in die knospende Lust des Leibes ein, vertiefte sie zum Sakrament der Ichheiligkeit, versüßte sie mit aller alten Wehmut der Fremden in Mannesliebe und gewann aus der Tiefe der lasterhaften Heiligkeit das andre Herz durch den reifen Geschmack von Schicksal, in einem frühen, noch gehauchten Kusse. Da vergaß das Mädchen Groll und Eifersucht und schmiegte sich hinein in diesen Reichtum von Leben und wagte es, dem Morgenliede ihres Blutes zu lauschen, das nach vielen dunklen Fragen, bangem Stammeln, singen wollte. Die Reife, Kluge horchte in vertausendfachter Schönheit hinein und erschrak herrlich und bitter, da sie aus des Liedes Tiefe ihren verstummten Gesang hob. Mit wilden und sanften, verlockenden und hinreißenden Küssen drängte sie in die neue Schönheit hinein und empfing aus Zittern und Stammeln den Spiegel, in dem sie in letzter, glühendster, göttlichster Vereinsamung sich in dem hingegebenen Leibe genoß.

 

Marko Kossali ging ohnmächtig erzürnt, tausend flackernde Zukunftsfeuer im Herzen, durch die Gassen auf und nieder, Anrufen wehrend, unbestimmt dennoch und erschrocken. Da trat, an der Biegung des Torweges von Pile, einer vor ihn hin, den er nur von weitem kannte, aus jener andern Welt, die untergehen sollte. Mario Gozze, ein entfernter Verwandter jenes mächtigen Geschlechtes, mäßig reich, genugsam gereist, mit vielbespotteten Dingen des Geistes beschäftigt, im übrigen der Autor jenes Spottliedes auf Diana, 56 dessen er sich, da wirklich ein wenig verschmähte Verehrung darunter wohnte, schon gründlich zu schämen begann. Mit einem freundlichen Gruße blieb er vor Marko Kossali stehen, ohne den geringsten Hohn in seinem dunkelfarbigen großflächigen Gesichte, so daß dieser, wunderlich bezwungen, den Gruß sogleich aufs freundlichste erwiderte und gleichfalls etwas befangen stehenblieb. Mario Gozze sah ruhig nun, gesammelt in das Gesicht des um vieles Jüngeren, das unruhig und zerfurcht sich vor seinen stillen tiefliegenden Augen zu gliedern begann. Dann sagte er, mit einer für die mächtige Formung seines Kopfes viel zu linden und machtlosen Stimme: »Marko Kossali, man redet mancherlei von Euch in unserm Staate. Es sei einem, der nichts andres zu tun hat, als zu schauen und zu hören, nicht verwehrt, mit eigenen Sinnen sich Euer Bildnis anzuordnen. Ihr geht eben auf eine Weise, die vermuten läßt, daß Ihr die nächste Stunde kein Ziel habt. Macht mir ein Geschenk mit dieser Stunde. Wenn Eure Lobredner recht haben, wird Euch ein Gespräch mit einem Manne, der nicht unberaten ist in den Dingen des Geistes, ein kleines Gegengeschenk sein können.« Marko Kossali stand einen Augenblick unsicher vor der klaren Ruhe des Edelmannes, eine aufsteigende prunkvolle Wendung kroch, im Munde abgeschmackt geworden, zu den Wurzeln aller Rede zurück, und er sagte endlich, ohne Gewalt, daß er bereit sei, auf Fragen zu antworten. Doch seien im Augenblicke mannigfaltige Stimmen in ihm im Widerstreite, was ihm schwer 57 mache, einem Manne, der sich sicherlich nur mit Klarstem und Tiefstem zu bescheiden gewöhnt sei, sogleich von dem, was er zu hören erwarte, aus eigenem Antriebe zu reden. Sie befanden sich nun außer der Stadt, gingen ein weniges gegen das Meer hinunter, das hier, durch Inseln nicht allzu verengt, selbst einen Streifen Unendlichkeit darbietet, und ließen sich auf Blöcken, einander zugekehrt, nieder. Marko Kossali bedachte hastig, was er von diesem Manne wußte, von seiner ausgearteten Tierliebhaberei, den Hunden, Affen und Hasen, die er zärtlich hege und bei denen er seine Zeit verbringe, suchte die Bruchstücke von Mario Gozzes Gedichten, die zu ihm gelangt waren, in seinem Gedächtnis zusammen und erregte sich heiß und scheu an dem Gedanken, den Namen dieses Mannes auf den Stein schreiben zu können, den er wie spielend aufhob. Dieser aber strich, nachdenklich den andern betrachtend, mit der flachen Hand an dem schwarzen Samt seines Mantels auf und nieder, besah das mönchähnliche Gewand Marko Kossalis, dessen hagere braune Hände, die verstaubten nackten Füße in Sandalen und drang dann mit einem geraden Blicke ernsthafter Frage in das andre, von Leidenschaft zugeschlossene Gesicht ein: »Man sagt, es geschähen große Dinge in Eurer Seele, Marko Kossali. Es würde in Euch eine Lehre geboren, die flammend und groß sei. Man sagt sogar, daß vielleicht aus Euch eine Flamme aufstehen werde, die manches, das jetzt machtvoll rage, verzehren werde.« Das Gesicht des Befragten verzerrte sich jäh: »Haben Euch etwa die Herren im Rate 58 gesandt, mich auszuforschen, auf daß sie endlich Anklage erheben könnten gegen mich Gefahr?« Mario Gozze bog sich, unangenehm berührt, zurück; sein breiter, stark geschwungener Mund zog sich etwas nach abwärts. Dann sagte er mit der kühlen, weither kommenden Stimme jener andern, er habe einem solchen Manne immerhin weniger gewöhnliche Vermutungen und einen besseren Einblick in Herzen zugetraut. Ein wenig lächelnd setzte er hinzu, daß Marko Kossali sicherlich gehört haben müsse, wie er aus seinem procul negotiis das Drängen der Anverwandten, ein höheres, einflußreicheres Amt anzunehmen, erst kürzlich wieder von sich gewiesen habe. Wieder schwiegen beide, um den Abgrund, der zwischen ihnen stand, im Schweigen überschreiten zu können. Ein leichter Hauch war plötzlich aufgestanden, trug den gekühlten Atem der Gärten der kaum entwichenen Sonnenglut nach, vertiefte die Grenzenlosigkeit und umriß das Begrenzte bestimmter in heiterer Härte. Abendlicher, mit einem Lächeln und von neuem ganz bereit, wandte Mario Gozze sich wieder dem andern zu, den der nahende Abend zu verdüstern schien, indem nun übergangslos Zug neben Zug in seinem Gesichte stand; sein schmaler Mund, der also beschattet, eher nach innen geschwungen zu sein schien, preßte sich ganz aneinander, daß das Kinn vortrat und zwei Risse die Wangen, an denen noch ein wenig Weiche war, in eine andre Welt drängten. »Wenn ich nicht ein alter Platoniker wäre, Marko Kossali, und allzu erfahren in jenen Kreisen der Gedanken, könnte es mich jetzt locken, in der schönen Dämmerung Euch 59 Verführer, wie man Euch nennt, zu verführen zu einer meiner Art gemäßen Darstellung der Gedanken und dessen, was sie trägt und heiß ist von Wollen und Sehnsucht, so daß am Ende des Gespräches ein Bildnis da wäre und Ihr füglich nicht mehr sein müßtet für mich. Ihr glaubt es nicht? Ich könnte es, glaubt mir! Aber mich dünkt immer mehr, daß hinter der Welt der Ideen noch eine andre steht – ich nenne jene platonische in mir die gekühlte und die andre die blutende. Wir wollen, wenn Ihr es mir gewährt, die zwei Wege zusammen zu gehen suchen, die von der blutenden zum ersten Gesetze, dem gekühlten, und von diesem zum irdischen Widerbilde in Blut und Anamnesis führen. Dünkt Euch verworren, was ich rede? So nämlich würde es mich bedünken, wenn Ihr im Augenblicke zu reden begännet. Ich habe ein Destillatum meiner Welt Euch darzureichen mir Mühe gegeben. Und Ihr werdet mich nur mit einem Feuer zu entzünden suchen, das auf Eurem Gestirne brennt, bei mir aber gerade noch leuchtet. Bedenkt – und redet. Ich bin bereit.« Unwillig dem Spiele Mario Gozzes folgend, besann sich Marko Kossali. Wohl fand er sich ohne Fülle. Aber er verstand die Entschlossenheit dieses Mannes da, sich gewinnen zu lassen, verstand auch, daß die Einleitung eine Bitte um Form sein mußte und suchte vergeblich nach der sauberen Dialektik, darin er bei den Franziskanern geglänzt hatte. So mußte er sich entschließen, diesen Weisen da, der ihm sicherlich nicht viel Kraft entgegenzusetzen hatte, trotz Mahnung und Scheu vor Plumpheit, 60 mit den einfachen, vor diesem Geiste einfachen Mitteln zu versuchen, hoffend, daß der Reichtum und die Stimme sich einstellen würde, wenn die im Verstande vorhandene Erfahrung seiner Ekstasen nicht mehr reichen wollte: »In der Esse, darin im heißesten Feuer die Menschenherzen zu ihrer klarsten Glut geglüht werden, also, daß auch das ärmste, kümmerlichste und glanzloseste Leben einmal seinen heißen großen Augenblick hat, in dem es aus der Asche seiner Klugheit emporschlägt bis zu dem großen Feuer Gottes, in dieser Esse brennt mein Dasein. Wenn das Feuer einhält, zerfalle ich – und so ist keine Zeit, die ich zurücktreten kann von mir, ragt kein gekühlter Wartturm, von dem ich mich beschauen kann, um Bericht zu geben über dieses Sein, das hier Marko Kossali genannt ist und das, so es Gott gefällt, bald außer Namen gerückt nur mehr in Wirkung bestehen wird.« Mario Gozze sagte in den Abschnitt und das besinnliche Atmen hinein: »Ihr habt im Verneinen doch genug Einsicht und beschreibet Euch genug. Aber ich habe es so erwartet. Nun ich einen Blick in Eure Kräfte tun darf, sagt mir auch, wohin sie zielen, was Euch die Gnade soll, die Euer Willen und Gesetz ist. Da Ihr begonnen habt, Vertrauen zu zeigen, laßt mich auch in Euer, wie Ihr sagt, reifendes Werk schauen, auf daß ich vielleicht, in meinem Leben ohne Müssen und Gnade, erschüttert sei. Ich gestehe Euch, daß ich mich danach sehne, daß nur Alexander der Sechste und Savonarola, die Albigenser wie die Zeloten des wahren Glaubens, Apollonius von Tyana und der 61 Heilige von Assisi, die machtbesessenen Rektoren und Ihr auf eine gleiche Weise wert sind. Ich erwarte nur von Euch, hingerissen zu werden, auf daß ich Partei nehmen müsse, müsse, hört Ihr. Ich verzichte auf meine Klugheit, auf den Platonismus und die Vollkommenheit meiner Gesetze und verlange nichts dafür, als an Euer Müssen glauben zu dürfen und es damit zu meinem machen zu können.« Der andre indessen sog, halb nur horchend, an seiner Kraft, frohlockte bei den letzten Worten, reckte sich und redete: »Nun seid Ihr aller Weisheit der Welt voll und habt doch nicht das Eine, das jenes ungelehrte Volk, die Armen und Törichten besitzen: den großen Sturmwind, der ein Leben über das zum sinnlosen Selbstzweck entartete, gottfremde Denken hinwegzureißen vermag. Klar steht Euer Tasten, Suchen, Eure unfruchtbare Weisheit vor mir. Ihr tut gut, zu mir zu kommen. Denn ich habe den Sturm– denn ich bin der Sturm! Entsinnet Euch Eures Schauens in die Welt um Euch und erwäget mit Eurer ganzen Klugheit, wieviel Liebe in die Herzen gelegt ist und wie wenig davon zu einem letzten Ziel des Ausruhens in sich selbst, der Vergöttlichung und Erlösung gelangt ist, wie ein unermeßliches All der Liebe seit Gottes Offenbarung verlorengegangen ist dem Gotte. Euch muß ich nicht das bange Alter der Erwachenden, die Vereinsamung verlassener Eltern, die stammelnde Glut von Verliebten vor tauben und stolzen Herzen, das Frieren in prunkvoller erstarrter Gläubigkeit, das Taumeln von Geist zu Geist malen. Schauet in Euch, und Ihr 62 wisset, wie es steht um den Menschen. Ja, ich bin der Sturmwind, der die alte und neue Liebe sammeln wird, einen Hort aufbauen der Liebe, ein Pandaimonion, um in Eurer Sprache zu reden, darin Gottes vielfältige Liebesgesichte, aus der jahrtausendlangen Verzerrung erlöst, einkehren in die Besinnung, die Liebe ist ohne Sehnsucht, Liebe ohne Hoffnung, Liebe ohne Zukunft, die des Leibes entraten kann, weil sie ihn erfahren hat in der Entsinnung, die Gottes entraten kann, weil sie Gott geworden ist. Gnade, Menschenherz, ist erstanden. Deine verzweifelte, dunkle klagende Kindheit wird auferstehen und erlöst sein, süß und sehnsuchtslos erlöst. Aus den Kerkern, vom Grunde der Meere, aus den Friedhöfen der Elenden, aus den Betten der verseuchten Dirnen, aus Buckligen, erwürgten Kindern, verbrannten Ketzern, aus allen Mißhandelten und Untergehenden wird die Sintflut auferstehen in Liebe, aus deren unerbittlichen Wogen ein reines Eiland ersteht. Ohne Gnade wird die Liebe sein, das lehre ich. Und mein Werk muß sein, ihr den Weg zu bereiten. Heute und morgen noch ist dieser Weg ein menschlicher. Aber wahrlich, wer ihn geht mit mir, ist belohnt. Und wer ihn nicht mit mir geht, wird ein Sinnbild sein der vielen, der dunklen Macht, die allzeit mit Schwert und Gesetz den Weg gewehrt hat der Liebe. An diesem Sinnbilde wird noch einmal der Zorn Gottes geschehen, ehe Gott wieder ausruht in der Liebe, die er ist, sich mit Vergänglichkeit und blauen Todesnächten seine Ewigkeit vertiefend.« Er stand vor Mario 63 Gozze, emporgerissen von der Stimme, und dieser dunkelte im Sturme, der ihn angerührt hatte, wies Klugheit und Weisheit von sich und wartete auf das Große, das sich angekündigt hatte. Aber Marko Kossali kehrte sich allzufrüh von ihm ab und ging. Wie sehr auch der Erregte sein Blut im Sturme zu halten suchte, es ging am Ende doch wieder stiller, er hatte Flammen gesehen – und ein Bild ward ihm davon. Ein Laut stand auf in der tief gewordenen Nacht, ein dunkles, gleichmäßiges Schlagen. Die Luft war anders geworden und der Leib mit ihr, der schwer und müde atmete im Rhythmus des Meeres, das gequält und gierig gegen die kyklopischen Mauern und Felsen andrängte und wiederkam, des bedrängten Meeres, über dem nun Südwind war, wilder, verruchter Sommernachtswind. Als Mario Gozze sich erhob, taumelte er ein wenig. Die Augenlider waren ihm schwer. Da er sie sinken ließ, fand er sich mit einem völlig umrissenen reinen Bilde eines Menschen und eines Gespräches in der Qual der heißen Nacht. Noch einmal stand sein Blut gegen ihn auf und machte ihn stöhnen. Aber während er nur mehr dem Fluche des Windes gehorchte, nahm seine Seele aus einem tiefen Atemzuge von neuem das Bild hoch, hielt es vor das Denken, und dieses begann alsbald, nach einer neuen Schönheit suchend, das Gespräch noch einmal zu bilden, wie es im Philebos geschieht, es umzubilden. Er lehnte sein Gesicht, das sich ihm uralt und vergangen anfühlte, an die Quadern der Stadtmauer und sagte, als ein reines Gleichnis bestehen blieb, 64 sehnsüchtig und verzichtend: »Du Mensch . . .« Dann kehrte er heim. Seine Tiere klagten in der lastenden Nacht. Er ging zu jedem und tröstete.

 

In dieser Nacht, die schwer war und weltalter Bangnis voll, ging Maria nicht von Diana. Sie klagte verzückt vor sich hin und tat nicht die Augen auf; große Falter schlugen in der Schwüle gegen die verhängte Ampel und fielen matt nieder auf den Teppich. Sie dachten zuweilen auf ihrem Lager an Regen, an Tau in den Gärten. Und als Maria kindermüde einschlief, stand Diana auf, löschte das Licht und stöhnte vor sich hin: »Was soll mir alle Liebe . . . O mir!« Und sie kehrte zur kühl gebliebenen Haut des Mädchens zurück und glitt mit ihrer Wange über die Schlafende.

 

In dieser Nacht starb Alice Sorkočević. Die Anverwandten, die des andern Morgens die Tote anschauten, verwunderten sich, wohin das Gesicht gekommen sei, an dessen Stelle nur die winzige bläuliche Maske geblieben, mit offenem Munde fast töricht anzusehen unter dem vielen zerrütteten Haar, das jetzt beinahe weiß erschien. Ein elfenbeinernes Kruzifix lag zerbrochen auf den Steinfliesen des kleinen Gartenhauses, wo Alice ihre letzte Nacht verbracht hatte. Abends war sie hinausgegangen, wie sie es öfter tat, hatte dann die Magd zurückgeschickt, ihrem Bruder Iwan davon zu berichten und erst am Morgen wiederzukommen. Die Türe war offen geblieben, die halb von den großen Glyzinientrauben verhängte. 65 Und in diesem sanften Gemache hatte sie den Tod gerufen, das Unerhörte getan, das sich die Anverwandten alsbald weglogen. Das Haus stand ganz unten beim Meere, das in langem, klagendem, unerbittlichem Grollen gegen die Felsen stieß, heulend zerfiel und immer wieder kam. Menschenaugen erblindeten in der Schwärze, die nichts gewährte, darin nur Geruch, dumpfer Laut und die Schwüle war. Immer tiefer mußten die Wolken gekommen sein, und bald würde man ihren schwarzen, höllischen Dampf atmen. Atmen . . . nun war es schweres Werk geworden, das man mit Willen und verzweifelnder Kraft leisten mußte. Schweiß trat aus dem ganzen Leibe, und die Hand zu heben bedurfte eines langen Entschlusses. Alice schlich durch das Zimmer, bis sie nicht mehr konnte. Auf dem Bette liegend suchte sie nach einer kühlen Stelle, wo sie ausruhen konnte. Ihr Blut drängte in langem klagenden, unerbittlichem Grollen gegen die Küsten ihres Lebens. Ein Wetterleuchten geisterte als ein Gedenken auf. »Fünfundzwanzig Jahre hab' ich mich ertragen können. Wie konnte das geschehen?« Wie modernd lag sie weiter. Ein klebriges, langes Insekt kroch über ihre Hand, die es geschehen ließ. Wind schleppte sich heiß mit dem Geruche schlaffen, zersetzten Wassers durch die Türe. Sie betete. Aber Gott und sein Bote waren weit in der Welt der Kühle, in reinen Winden stehend. Sie tastete nach dem Namen in ihrem vergangenen Herzen, der eine Nacht lang süß und aller Wunder voll gewesen war. Aber der Name hing verwesend in dem, das ihr Leben war, 66 wo es Härte gegeben hatte, Stolz, Wollen und Entsagung. Ihre Hand riß das Kleid auf und grub sich über dem Herzen ein. Und sie kniete und murmelte stöhnend: »Mein Gott, Gott, Gott . . .« Da drängten sich ihre Brüste dirnenhaft gegen die Hände und Gott zerfiel vor ihrem feuchten Leibe. Sie merkte ihr Gesicht verarmen, wie ein sich rollendes Blatt werden, Übelkeit schüttelte sie, und ohne Gedanken trug sie sich zu dem Schranke, worin in einem Gefäße der Schlaftrank aufbewahrt war, dessen sie in der letzten Zeit häufig bedurft hatte. Sie kehrte damit zum Lager zurück, nippte die wenigen Tropfen, die Schlaf geben konnten. Ein neues, großes Aufleuchten zeigte ihr die Phiole fast voll, und in der vertiefteren Nacht trank sie, gierig bis zur Neige, warf das Gefäß von sich und lehnte sich auf das Bett zurück. Und eintauchend in die tiefste Nacht schloß sie das Kleid über den sinnlos gewordenen Brüsten.

 

Da die Nacht am schwersten war, ging Marko Kossali in die Schenken, saß wortlos bei den Trinkern und Dieben, den lustlosen Dirnen, stand auf, weitergetrieben, und zog am Ende etliche nach sich zum Hafen. Herumstreichendes Volk, schlaflose Schiffer schlugen sich hinzu, und er führte sein Gefolge an den äußersten Rand des Steindammes, wo ein feines Sprühen des Meeres ohne Kühle in der Finsternis hing, lehnte sich an die Mauer und hob zu sich zu reden an: »Dem Tode ist ein letztes Mal Macht gegeben. Gott atmet schwer, und seine Welt wirft ihre tiefen Schatten über sein 67 Wissen. Das Gleichnis seiner Liebe umschattet ihn, das Sinnbild, das er sich gesetzt hat und das sich zum Willen empört hat, zur Sehnsucht. Sein schwerer Atem spricht: ›Es ist hohe Zeit zur Heimkehr, du mein Bild und meine Ferne! Meine Gnade stockt und gerinnt, weil ich dich zu weit in das All entlassen habe. Ich blühe schlecht, und die Ewigkeit, mein ruhender Gesang, rötet sich von der Sehnsucht. Es ist hohe Zeit.‹ So spricht unser Gott. So kündet er mir. Und er rückt den Schatten, der ihn abdunkeln will, ein weniges von sich ab, so daß er der Erde näher sich kehrt. Und davon ist noch einmal die vertausendfachte Nacht über uns gekommen. O Großes geschieht noch vor der Erlösung, Banges; morgen werden die Kinder, die noch der Sehnsucht gehörten, verstorben sein. Morgen wird die Einsamkeit der Wissenden so tief und verzweiflungsvoll sein, daß sie den Weg finden zu mir. Morgen ist Gott, der neue, nie mehr umschattete, in den Glocken und Gesängen, in den Saiten und Posaunen, in den Stimmen der Verliebten, die mit dem neuen Klange einander zu mir weisen. Morgen brennt das Feuer des Scheiterhaufens nicht mehr, und der gefesselte Verräter auf der Gerichtsstelle zeugt für uns. Der Paraklet glänzt durch die Kerker, die bald verfallen werden. Morgen gehen die Gärtner und Winzer hinaus und schaufeln Gräber, unwissend für wen. Und die Angeln der Tore beginnen zu rosten im Regen Gottes, so daß sie übermorgen abfallen und der Gnade der Weg bereitet ist. Eine Feuerwolke wird nicht weichen bis übermorgen, da 68 sie die blauen Engel verhauchen werden mit dem Atem des Herrn. Nur diese Nacht, diese Nacht!« Er kehrte sich zur Mauer und schlug seine Stirn daran. Die Kraft verließ ihn, und der Schweiß trat in Strömen aus seinem Leibe. Da war die Nacht am schwersten. Giftiger Gestank verseuchte die Enge zwischen Erde und Wolken. Das kauernde Volk klagte in tierischen Lauten, und etwelche erbrachen den Wein, den sie getrunken hatten. Er wollte hinweggehen. Aber sie ließen ihn nicht, umklammerten seine Knie, zogen seine Hände an ihre nassen Gesichter und hielten ihn. Und er fiel unter sie und lag in Finsternis, die sich ballte zu dicker, tödlicher Jauche. Doch da schon der Tod mit ihnen lag und sie geil beschnupperte, fielen die ersten Tropfen, und in wenigen Augenblicken spülte ein ungeheurer, unbändiger, urweltlicher Regen den Tod hinweg. Das Meer schrie auf und heulte mit den Liegenden, sich Reckenden. Atem überfiel sie, daß sie sich wanden in Verzückung. Blut sauste wieder dünn und schäumend in die Herzen, und sie küßten dem Meister die Füße; Weiber preßten sich an seine Knie und Stimmen schwollen um ihn. Da kam seine Stimme ganz groß, wie der erwachende Donner aus ihm, breitete sich aus über ihnen und rief: »Ihr Meinen, Gottes Morgen in Gnade.«

 

 

Francesco Brattanić war nun Tag und Nacht am Werke. Er sah den Meister nur Augenblicke lang, und dann stand ein so verheißendes Lächeln über seinem Gesichte, daß Marko Kossali nicht fragen mochte und 69 kindlich erregt auf den Bericht wartete, der ihm die weltliche Bereitschaft zu seinem Werke geben sollte. Der Fischer ging von Haus zu Haus, bittend, heischend, drohend. Er bedurfte keiner Liste. In seinem Gedächtnisse, in dem daneben nichts andres war als Erinnerung an erfahrene Willkür und Rechtlosigkeit, stand Name neben Name, Antlitz neben Antlitz aufgezeichnet. Die Tage brachte er im Brenotale zu, wo die Drasković mit ihm Anhänger warben. Nachts trug er mit Getreuen in Fischernetze gehüllte Waffen zusammen. Gold sammelte sich. Aus den Töpfen und Winkeln kamen die Ersparnisse der Armen hervor, Münzen aus allen Ländern, selbst alte Römergoldstücke, sauber abgeschabt, wie sie in den Weingärten draußen gefunden worden waren. Von den Türken erhandelten sie die langen, sauber gearbeiteten Büchsen. Und nachts kam manches Saumtier von den Bergen geführt, mit kleinem Geschütz, Degen, Piken oder Pulver und Blei beladen. Ein alter, einarmiger Kondottiere, der in allen Diensten gestanden hatte, war der Berater in den Kriegsdingen. Tausend feine und zarte Umwege wurden gegangen. Die bittere Klugheit des Francesco Brattanić verschmähte es nicht, solche zu kaufen oder durch Frauengunst verlocken zu lassen, die ihm nötig erschienen. So gab es bald Stadtschergen, ja selbst einen Profosen unter den Ergebenen, die verhüten halfen, daß die Verschwörung den feinen Sinnen der Herren merklich werde. Eine eifrige Heiterkeit durchdrang den mürrischen Mann, der, nun sinnvoll geworden, 70 einem harten, müden Arbeitsleben dankte für die Kraft und Zähigkeit, die es ihm bereitet hatte. Alles schien versprechungsvoll. Die höchsten Schwierigkeiten wichen leicht, und in wenigen Tagen konnte der Stoß geführt werden, dessen Härte und Grausamkeit die Gnade rechtfertigen würde. Jeder wußte seinen Platz und war entschlossen, ihn zu nehmen und zu behaupten. Waffen und Geld waren hinreichend. Nun mußte Marko Kossali das Zeichen geben.

Francesco Brattanić schien es nicht viel zu bedeuten, daß er am Morgen nach der schweren Nacht erfuhr, Giorgio Montefiori sei von dem Oheim zu einer plötzlichen Abreise gezwungen worden. Dieser habe das übereilte Abgehen eines Schiffes, das einem befreundeten Kaufmann gehörte, benutzt, den Jüngling vor allem Überlegen zu entfernen. Giorgio war verstört durch die Stadt gelaufen, hatte den Meister überall gesucht, indes dieser schon am frühen Morgen in das Brenotal aufgebrochen war. Kaum hatte er einen hastigen tränenreichen Abschied von der Schwester nehmen können, die er bei Diana fand, wo sie dem Oheim, als bei einer Frau edlen Namens, wohlgeborgen schien. Schluchzend, am Steuerbord des ausfahrenden Schiffes, empörte sich sein Glaube an den Meister, der ihn vor dieser Not nicht hatte bewahren können. Sein alleingelassenes Herz stand im Gefühl der Ferne, der er nicht mehr entgehen konnte, auf gegen den Mann und klagte ihn töricht, heiß und verworren an. 71

Die Entfernung eines unentschlossenen Knaben schien dem Fischer ein Geringes, obwohl er die Gefühle Marko Kossalis kannte; denn so nahe an der großen Wendung meinte er diesen, der Geist und Glanz seines dumpfen Willens war, entrückt über das Entbehrliche. Und darum berichtete er, ihm an der Dominikanertreppe begegnend, unvermittelt davon. Da merkte er, wie sich das Gesicht des Meisters verzerrte. Er erschrak und wollte begütigen. Doch Kossali stieß ihn fast von sich und ging herabgesunkenen Hauptes aus dem Tore, prallte gegen einen beladenen Esel, und dessen Führer, ein Mann aus den Bergen, der ihn nicht kannte, rief ihm schmutzige Beschimpfungen nach. Etwas verstört eilte Francesco Brattanić in die unterirdische Waffenschmiede, tief unter den Kellern der Stadt, wo ihn Arbeit bald vergessen machte. Marko Kossali lag draußen in einem Olivengarten auf der Erde, die noch ein wenig feucht war vom Nachtregen, und klagte. Er hatte eine Stunde vorher vom Tode der Alice Sorkočević vernommen, war in die mittagsleere Kirche geflüchtet, bestohlen, verraten, arm. Und da hatte er das Neue erfahren, das ihm genommen war. Nun schrie er Gott an, warum er zulasse, daß man seinem Knechte das Werkzeug nehme, das edelste, womit er ihm habe dienen wollen. Die heißen, wuchernden, bildlosen Abgründe in ihm, wo Leben ohne Verklärung geschah, bluteten der Blonden nach, die aus erlauchtem Stolze die Demut erlernt hatte und mit Lilien vor den Brüsten ihm zugebebt hatte. Doch nichts von dem hingegangenen Leben rührte 72 ihn an. Nur beraubt fühlte er sich und wand sich ohnmächtig im Mittagsschatten. Aus langem bitteren Brüten kehrte er endlich zur Stadt zurück, aß ein weniges, stehend in einem Tore, und suchte endlich wieder den Hafen auf, der um die heißeste Stunde ganz verödet schien. Er trieb sich den Molo entlang, vor sich hinmurmelnd. Da hielt ihn ein Ruf an. Über Bord einer mittleren Barke, die als letzte vertaut lag, lehnte sich ein Mädchen; ein ganz junges, grünlichdunkles Gesicht unter unordentlichen schwarzen Haaren, schlecht von einem roten, flitterbesetzten Tuche zusammengehalten, redete ihn mit besonderem Lachen, aus dem viele weiße Zähne funkelten, an: »Komm zu mir aufs Schiff. Es gibt süßen Wein von Girgenti.« »Ich trinke keinen Wein, Mädchen,« sagte er, stehenbleibend, zufrieden, einen Augenblick nicht allein zu sein. Sie lachte mit tiefen, fast rauhen Lauten: »Du trinkst keinen Wein? Das tut nichts. Ich bin allein am Schiffe. Komm herauf. Ich langweile mich.« »Du hättest wenig Freude an mir.« Sie lachte wieder, beugte sich tiefer, sah ihm in die Augen und hob ihre runden Brüste unter dem hemdartigen Gewande mit den Händen. »Du gefällst mir. Du bist so ernst. Die Ernsten sind viel leidenschaftlicher, verstehen viel besser zu lieben. Komm herauf!« Er wollte sich abkehren. Da schwang sie sich über die Brüstung, baumelte einen Augenblick mit den langen, feinen, bronzenen Beinen und sprang zu ihm hinunter: »Ich habe dich gestern schon angeschaut. Du hast mich nicht gesehen. Ich will dich. Du sollst in meinem 73 Bette liegen, ich will dich küssen, o so küssen, ich will dich trinken wie Wein. Komm mit mir. Ich bin sechzehn Jahre alt, und mein Körper ist sehr schön. Aber du bist auch schön und sollst ihn haben. Ich heiße Bianka, obwohl ich braun bin wie eine Kastanie.« Sie faßte seinen Arm und fühlte, wie er schauerte. Da riß er sich hart los. »Laß mich, Dirne.« Sie lachte wieder: »Du kommst zurück. Du begehrst mich. Ich weiß es.« Er ging, sie lief neben ihm und rief dem sich Abkehrenden in die Ohren: »Heute nach Mitternacht fahren wir. Sie brauchen einen Mann auf der Barke. Der Vater nimmt dich, wenn du kommst. Ruf nur Bianka, hörst du? Wir gehen heim nach Bari. Ich habe zwei jüngere Schwestern. Du sollst sie verführen. Ich habe eine weißhäutige Freundin. Ich bringe sie dir. Aber du wirst nur mich wollen. Ich will dir so süß sein! Nach Mitternacht fahren wir. Ruf Bianka. Ich warte auf dich.« Er stieß sie fort. Lachend lief sie davon. Er warf sich draußen bei den Steinen ins Meer; nach der toten See des Morgens begann sich die milchige Trübung zur Küste zu drängen. Und er schwamm hinaus, wo wieder grünes Wasser war, über das die ersten langen Wellen des Maëstrale, der aufgestanden war, mit zarten Schaumkrönchen hinwegliefen. Er schwamm, bis er müde war, lag auf dem Rücken, voll Gärung, bis ein Entschluß ihn erlöste und er zurückkehren konnte. Er hatte sich Marias erinnert, die er wiederzugewinnen hatte. 74

 

Marko Kossali fand Pierfranc Benvenuti den Einarmigen in der Stube der Brattanić bei der Mutter Francescos schwatzend sitzen, ihn erwartend. Der grölte ihm entgegen, daß man ihn suchen müsse mit San Antonio. Er seinerseits habe alle Orte durchforscht, um mit ihm zu sprechen und versitze nun die kostbare Zeit da wartend. Er sei gekommen, um Endgültiges festzulegen. Er wisse sicher, daß ein so umfassendes Geheimnis nicht mehr lange bewahrt werden könne. Denn er habe eine glückliche Witterung für den rechten Augenblick; der scheine ihm jetzt gekommen zu sein. Man hätte nichts mehr zu erhoffen. Die Bewaffnung und Entschlossenheit sei genügend. Auf einen Wink würden sechs Falkonette, mit Kettenkugeln geladen, die Straßen sperren. Für jedes Haus eines Widersachers sei ein Trupp gerüstet. Alles stehe so, daß in wenigen Stunden einer Nacht die Stadt in ihren Händen sein könne. Iwan Sorkočević, der entschlossenste und klügste Befehlshaber des Freistaates, werde die nächsten Tage nicht zu fürchten sein. Auch seien derzeit so mäßige Söldnerscharen zu Hause, daß er, erfahren in Handstreichen jeder Art, für den Erfolg wohl bürgen könne. Nun sei er gekommen, letzte Anordnungen zu vereinbaren und hoffe Marko Kossali ebenso entschlossen und bereit, wie er selbst es sei. Doch dieser dämmerte überschattet von dem Namen Sorkočević. Als er nachzudenken vermochte, schien ihm Entschlossenheit für den Augenblick nur zu sein, daß er um Maria Montefiori zu ringen habe. Dunkel drängten sich die Anfänge seiner 75 Vergeistigung, Armut, Knechtschaft, Getretensein und Not an der Liebe in die schon reife Stunde und entfernten ihn aus dem Schicksalsvollen, das sprungbereit lag. Er sah den Kondottiere kaum an und sagte unsicher: Er habe im Augenblicke nicht die Sicherheit wie jener, der nur die weltlichen Dinge überblicke. Es bedürfe für diesen Nachmittag und Abend noch einiger Besprechungen, die er unverzüglich abhalten werde. Doch sei es, wenn diese den erhofften Erfolg hätten, nicht unmöglich, daß er noch diese Nacht das Zeichen geben werde. Pierfranc Benvenuti solle sich und das ihm Anvertraute so halten, daß in einer Stunde das Schwert seine Sprache beginnen könne. Er werde diese Nacht zu ihm oder Francesco Brattanić kommen und verfügen. Dann entließ er den Kondottiere mit einem Neigen des Kopfes, das nicht unähnlich war dem, womit der Rektor de Saraca die Hörigen und Diener zu verabschieden pflegte. Der alte Einarmige, der hundert Herren über sich gehabt hatte in einem harten Leben und dem ein eigener Sinn gewachsen war für jede Geste von Herrentum, schüttelte den weißhaarigen Kopf und bedachte sich, zumal ihm dieser Prophet im Augenblicke nicht allzu entschlossen erschienen war. Und sein Blut, das Plünderung witterte, nächtliches Raufen, Rektorenwein und Ausruhen in einem feisten Frieden, hieß ihn lieber den unverzagten Kriegsleuten und guten Waffen trauen. Er ging sicher, da er sich kannte und auch die Notwendigkeit, etwa auf eigene Faust den Augenblick zu nützen, mit einzubeziehen begann. 76

 

In der schläfrigen Ruhe des Nachmittags fanden sich drei Männer im Hause der Saraca ein. Iwan Sorkočević als erster, wiewohl die Schwester aufgebahrt lag und entfernte Anverwandte die Totenwacht halten mußten, ferner der Conte Caboga und ein alter Senator, der Vollmacht bekommen hatte, in dieser Sache ohne Sitzung und Beratung zu walten, auf daß Aufsehen vermieden werde. Hierzu kam später noch die Contessa Caboga, deren alte Klugheit in solchen heimlichen Staatsberatungen geliebt wurde. Diesmal hatte sie, die hundert Späher und Späherinnen in der Stadt hielt, gewarnt. Doch als die Entschlüsse nahe waren und der Tod sich über den Namen zusammenzog, begannen sich diese Namen ihr zu wandeln in die vielen andern, über die sie also beraten gehört hatte. Und sie schlief ein. Indessen übernahm Iwan Sorkočević den Befehl, in der kommenden Nacht oder am folgenden Tage Marko Kossali ohne Aufsehen aufzuheben, während sich der derzeitige Anführer der Stadtwache der andern Häupter versichern würde. Sein zuckendes Gesicht glättete sich. Die erwachte Contessa fragte: »Also Gianantonio Perić wird heute nacht sterben?« Das aber war der Name eines Aufrührers, dem vor zwanzig Jahren die Knochen gebrochen worden waren und dessen wohlgeglätteter Schädel seither auf einem Tischchen der Contessa die vielerlei Seidenlappen aus Venedig beschwerte.

 

Marko Kossali sandte nach längerem Zurategehen Kinder der Nachbarn aus, zu forschen, wo Maria 77 Montefiori sich befinde, obwohl er fast sicher war, daß sie bei Diana sei. Sie kamen wieder und bestätigten seine Vermutung und Befürchtung. Er knirschte mit den Zähnen und stöhnte: »Gib mir Kraft, mein Gott –« und ging aus dem Hause. Ein Stadtscherge, der ihm ergeben war, trat vor dem Tore zu ihm und sagte: »Meister, ich warne Euch vor dieser Nacht!« Er achtete nicht darauf, betete um die Stimme und ging zum Hause der Lorides. Es war Markttag gewesen und die Stadt war voll von Bauern und ihren Weibern. Er merkte keinen Gruß und ging an denen, die zu ihm treten wollten, blicklos vorüber; an der Gassenecke, die vom Palaste Dianas gebildet wurde, blieb er stehen, rief ein Kind und hieß es hinaufgehen und Maria Montefiori sagen, daß er warte und unverzüglich mit ihr sprechen müsse. Es gäbe Dinge, die keinen Aufschub erlaubten. Das solle sie bedenken. Maria saß, an Diana geschmiegt, in dem schattigen Zimmer, Kupferstiche und Silberstiftblätter besehend, als das Mädchen mit der Botschaft eintrat. Sie erschrak und wußte keine Antwort. Da antwortete Diana, jäh sich entschließend, für sie, Marko Kossali möge heraufkommen, wenn er so Wichtiges zu besprechen habe. Denn es zieme sich keinesfalls, daß ein adliges Mädchen auf seinen Ruf ihm nachlaufe. Man erwarte ihn. Hitze flog durch seinen Leib und eine Last von Schicksal und Entscheidung hatte er zu schleppen, da er durch die höhnende Demut der Mägde die breite Treppe hinanstieg. Der helle Hall seiner Schritte schien einen Augenblick lang aus dem Hause 78 der Montefiori zu kommen und eine schon vergessene Flucht zu begleiten. Aber er reckte sich und trat aufrecht, obwohl vom Gefühl seines Gesichtes beschwert, durch Türen und Vorhänge. Seine Augen stießen nach dem vom Dunkel des Gemaches erst noch verwehrten Bilde der zwei Frauen. Eine jünglingshafte Welle wallte Maria Montefiori entgegen, und besinnungslose Erinnerung machte ihm heiß, als ob er sie besessen hätte und sehnsüchtig wiederfände. Da trat Diana in den Blick ein, mit ihrer harten Schönheit und ihrer sicheren Seele, die er wie gezückt gegen sich im ersten Blicke, der ihn aufnahm, empfand. Sie sagte: »Es ist gut, daß Ihr Euch bequemt habt, zu uns zu kommen. Was Ihr Maria Montefiori mitzuteilen habt, mögt Ihr getrost vor mir sagen, da, wie ich vermeine, keinerlei Geheimnis zwischen uns besteht, sonderlich in Beziehung zu Euch nicht bestehen soll. Redet, wir warten.« Maria sah ihn nicht an. Nur die metallene Wärme von Dianas Augen fühlte er. Da war er verraten. Die Lehre, die ihm unverlierbar in den Sinnen dieses Mädchens zu blühen geschienen hatte und deren Tiefe und Geheimnis er war, war preisgegeben an die Lasterhafte da. Und er stand wie ein Bettelmönch vor dem Prunke. Ein kühner letzter Stolz ließ ihn nichts mehr anerkennen. Mut strahlte aus den Waffen seiner unterirdischen Gewölbe und den Flammen der Paläste, die er entzünden würde, her, und er sagte: »Es gibt ein Geheimnis, darein Ihr nicht dringen könnet, auch wenn Worte es verraten haben. Es ist keine Gnade in den 79 Worten des Verrates, und so habt Ihr Worte empfangen. Ich habe Maria Montefiori zu sagen, daß, worum sie gebettelt hat: mit dem vergehenden Blute ihres Hauses teilhaben zu dürfen an der Erfüllung, jetzt, da böser Wille den Bruder entfernt hat, noch einmal, wohl ein letztes Mal, geboten wird, wenn sich Demut und Bereitschaft im Herzen des Kindes findet.« Maria war schwer und wehrlos errötet, und ihr weißer Hals würgte nach Worten. Doch Diana glitt beschwichtigend über ihre Hand, neigte sich vor und fragte mit einem erhellten und gnädigen Lächeln: »Seit wann wird die Erfüllung und Gnade den jungen Mädchen so leichtlich nachgetragen? Mir ist nichts solcherart begegnet. Möchtet Ihr mich nicht teilhaben lassen an dem, das Ihr Maria Montefiori so willig schenken wollt? Ich bin nicht unklug; kein Glauben hält mich. Der Staat, der Euch etwa daran hindern möchte, ist mir ein aufdringlicher Beschützer, dem ich oft genug entflohen bin. Was dieses Mädchen Euch und Eurer Lehre dienen kann, vermag ich auch, gesetzt, daß man mich zu dienen zwingt. Zwingt mich, wenn es Gott und Euch möglich ist.« Und sie lächelte ein rundes, großes, goldnes Lächeln ihm entgegen, das er nicht nehmen konnte, weil keine warme Süße daraus kam wie aus Frauenlächeln. Er dachte nach und wußte, daß es schlimm war, nachzudenken: »Ihr vermögt nicht, was dieses Kind vermochte. Denn Eure Kräfte haben Ziele gefunden, indes die Marias, da ich sie kannte, unterwegs waren und knospend. Ihr blüht längst ohne Frucht. Gott wird Euch nicht ernten, 80 und die Welt nicht, der Ihr anhängt. Wie soll Euch die Gnade erleuchten, da Ihr verfallen seid und gestrig, indes sie von morgen ist?« Sie lächelte noch immer. »Wenn die Lehre nicht also mächtig ist, daß sie ein Weib überkommen kann, das nicht widerstrebt, was vermag sie dann? Nur Unwissende zu betören, Leidende, die allem zu folgen bereit sind? Törichte, die das Wort schon berückt? Ihr wollt es gar nicht versuchen mit mir? Ist der Sieg keiner Mühe wert?« Sie hielt Marias Hand, die zitterte, sah ihn unverwandt an, und er stand gesenkten Gesichtes, an sich rüttelnd und rasend durch seinen Besitz, ob nirgends der erlösende Klang aufstehe, der die Stolze überkommen könne. Er sehnte sich nach bösen, höhnischen Worten, daß er sich empören könne, und wagte doch nicht, sie zu rufen. Das Warten dieser Frau sog schmerzhaft an ihm. Er sah Maria an. Ihr Gesicht war zugesiegelt mit fremden Zeichen, und er fand kaum die Formen wieder, auf denen sein Glanz gewesen war. Ihre Augen waren blaue, irrende Kreise, in die er nicht hineinfand. Wohl machte ihm das gequälte Tasten der freien Hand Mut. Er merkte jetzt, daß er noch immer stand. Und er fragte: »Warum bietet Ihr mir keinen Sitz an?« Diana antwortete ohne Ernst: »Prediger pflegen zu stehen. Macht mich nicht ungeduldig. Ich erwarte Eure Rede endlich.« Zögernd, von außen getrieben und mit Scham von innen gehemmt, begann eine fremde mäßige Stimme herzusagen, was in seinem Gedächtnis, das niemals gut gehorcht hatte, von der Lehre der Liebe haftete. 81 Mühselig kam Wort um Wort. Sie schien aufzuhorchen, da sie Maria noch erregter fühlte. Ihr Lächeln wich. Ein blickloser Mut hob etwas von der Stimme, das wie hinter dem Tode hallte, herauf und warf es gegen Diana, die ohne Regung zuhörte. Bettelnd ward es zuletzt um Glauben, flehend um Vertrauen, armer Versprechungen voll, und die tote Alice Sorkočević und der vergangene Giorgio Montefiori waren vor den beiden Frauen. Durch sie mußte die Stimme hindurch und vermochte es nicht. Als er einhielt, um zu atmen, stand sein Mund verzerrt offen. Diana sagte: »Ihr seid schlecht bei Stimme, mein Herr Prediger. Aber laßt es Euch nicht verdrießen, Euch ein andermal hier anzusagen. Ich weiß, daß Ihr die Schuld mir Sünderin zumessen werdet. Habt Ihr noch immer Maria Montefiori etwas zu sagen?« Er stand, von Verlassenheit und Kindheit überfallen und wußte kein Wort mehr. Die Große, Außermenschliche richtete sich auf, zog an einer Glockenschnur; auf ein Läuten erschien die alte Frana, hob den Vorhang und Marko Kossali ging hinaus. Maria schluchzte: »Meister.« Aber er konnte es nicht mehr hören, da er schon mit tastenden Füßen die allzuglatte Treppe hinabstieg. Diana zog Maria ganz an sich heran, ohne zu reden, und ihr rechter Sieg kam nach langem Zittern und Versagen aus dem ersten Anschmiegen der betränten Wange an die ihre.

 

Wilde purpurne Schatten standen auf aus den Winkeln und quer über dem Stradone, der Torturm 82 von Ploče und ein paar Dächer brannten in einer wahnsinnigen gelben Flamme von letzter Sonne. Marko Kossali schritt behutsam durch das Licht, wollte aus dem Tore, wandte sich aber, ging steile Stiegen auf und nieder, stand im dunklen Laden eines armen Händlers und aß ein paar Früchte und einen kleinen Fisch. Der Mann lachte ihn an und meinte, da er am Weggehen war: »Das hat Euch noch gefehlt, daß Ihr zu trinken anfangt wie der Alte. Wenigstens hättet Ihr bis zur Nacht warten können.« Er aber schlich sich hinaus, ging die Mauern entlang, mit dem Ellbogen ein wenig tastend, stand beim Angelus in einer dunklen Nische still und sagte betend zu Gott: »Du bist sehr hochmütig, Herr. Du hilfst den Mächtigen, die mit deinem Zeichen geboren sind. Und Deine Söhne müssen den Weg des Kreuzes gehen. Du bist ein großer Gott und stürzest uns von den Felsen am Ende, und die Gnade, die uns beredet hat, fault doch im Namenlosen. Aber vielleicht hast Du mich ein letztes Mal versucht. Warum? Meine Kleinmütigkeit macht Dich ärmer, Du weißt es. Und meine Liebe riecht traurig nach Verwelktem. Sieh, sie haben Macht gewonnen über mich. Warum hast Du es zugelassen? Soll ich zweifeln, meinen, daß auch ein andrer Weg sei außer Dir? Daß jene ihn gegangen ist in Empörung gegen Dich und angelangt ist, wohin mich Deine Gnade hätte führen sollen? Du bist ein strenger Herr, Gott, mein Herr. Ich war Dir treu, du weißt es.« Er ging mit seinem neuen Gange, zögernd und langsam, in die Straße hinunter, wo die selbständige, fremden 83 Gesetzen untertane Welt ihn gesteigert anfiel, wo, was nicht ihn betraf, Verachtung schien, die seine Demut sich aus unversehentlichem Anstreifen fröhlicher Gehender, schmerzlicher Notwendigkeit voll, holte. Wieder versuchten Menschen, die seinem Gestern anhingen, zu ihm zu treten. Aber er konnte sich kaum besinnen und entließ sie ohne Weisung und Erkennen. Mägde und Diener traten unter die Lustwandelnden und riefen zum Nachtessen. Die Straße ward leerer und Marko Kossali ging leichter. Die Lasten schrumpften ein wenig und das Schwert erhob sich heiß und verführerisch darüber und drang in eine hohe, kühle, lächelnde Gestalt ein und rinnendes Blut erwärmte seine Verlassenheit. Es galt nur zurückzufinden zum Blute, über dem jetzt das Denken hing. Der Paraklet war zerfallen und Blut mußte ihn wieder formen. Schon war seine Hand geballt und Tat wohnte darin, Schlag und Stoß. Heiß war die Hand. Wie eine Fackel erschien sie ihm, und nun konnte er sie an die Paläste legen und sie würden brennen. Man mußte den Einarmigen suchen und ihm sagen, daß diese Nacht das Schwert, das heiße, die Lächelnden richten müsse, weil ein Lächeln die Gnade verseucht habe und Gottes Stimme gelähmt auf Erden. Aus der Gasse neben dem Stradone kam Maria Montefiori, und er kannte sie schon, da ihre Gestalt erst bewegtes Dunkel war. Ein wenig später Glanz verschönte ihn. Da er zu ihr trat, war Erinnerung an Kraft fast Kraft: »Maria Montefiori, es gilt eine letzte Frage zu stellen. Die Stimme hat geschwiegen neben dem Laster. Jetzt 84 unter denselben Himmeln, die Dich bereit gesehen haben zu Liebe und Erlösung, redet sie noch einmal, ein letztes Mal, und sie soll Dir sein wie die Zinken und Posaunen des Morgens, der glorreich und furchtbar nahe ist. Schwör ab Name, Heimat und Menschen und folge mir. Und morgen bist Du außer Schicksal also geliebt, daß die erste und letzte Sehnsucht abfällt von Dir und verdorrt . . .« Sie stand mit klagenden Sinnen und sagte in den ersten Worten zu sich: »Diana, was hast Du mich allein gehen lassen!« Wieder bezwang sie das Ausglühende, Abblühende ihres Hauses und die Stimme, in der ein Neues, Letztmaliges, ein Klang von hoher Zeit und großer Wende war, und das Herz war wieder bereit zu Demut und Unterwerfung. Ihr Gesicht verging an ihm, und an dem leicht bebenden Munde und den sinkenden Lidern fand er die kleine Maria wieder. Da losch die Stimme aus, und der aus letztem Weggeworfensein jäh zu Besitz Aufgestiegene griff mit Händen, die eignes Leben hatten, nach seinem Besitze, grub seine Finger in die abgesunkenen Schultern ein und riß sie an sich. Sie fiel zu ihm. Doch in dem Hauche seines Mundes empörten sich die Küsse Dianas in ihrem Gesichte, und als sie sich Leib an Leib mit ihm fand, ekelte es sie, daß sie sich schütteln mußte, und Diana war in ihr und schlug mit der kleinen zärtlichen Hand in das Männergesicht vor dem ihren, aus dem ein heulender Laut kam, indes sie davonlief.

Als Marko Kossali, irr murmelnd und vor sich hinredend, von neuem zum Stradone zurückkehrte, griff 85 eine Hand herrisch nach seinem Arm. Das Mädchen aus dem Nachbarhause seiner Kindheit, mit den starken Backenknochen und dem schmalen Munde, den er einst geküßt hatte, sündig geküßt, da der erwachende Jüngling sich nicht mehr entkommen konnte und der Leib der Jugendgespielin so tröstlich bei ihm lag, dieses harte, verzehrte Mädchen stand vor ihm, ließ seinen Arm nicht los, bohrte die Blicke in sein verfallendes Gesicht und sagte: »Spiro Kossali, Dein Vater ist aufgewacht und zu dem verbrannten Hause gegangen. Er redet, daß Du das Haus angezündet habest, die Mutter getötet, seinen Leib verbrannt, so daß er wird als Bettler um Gottes und San Biaggios Willen Gaben heischen müssen mit der verkohlten Hand. Er wird zu den Richtern gehen und Dich mißratenen Sohn anklagen, daß auch Du das Feuer fühlest, das Du ihm bereitet hast. Marko, wenn Du aber zu ihm gehst, wird er es nicht tun. Geh auf den Berg. Wir haben eine Stube für Dich bereitet. Deine Bücher habe ich aus dem verbrennenden Haus geholt. Der Vater wird alles vergessen. Du willst nicht? Dann sollst Du brennen und erfahren wie Flammen tun.« Ihr aufgehelltes, fast jung gewordenes Gesicht verkrampfte sich, und sie stieß den Arm, den sie gehalten hatte, von sich, ging einige Schritte und schrie schrill: »Morgen kommt er in die Stadt. Ich werde ihn führen.«

Nun mußte er hinaus, wo Schweigen war, obwohl ihm einfiel, daß es einen Einarmigen gab, dem etwas mitzuteilen sei. Er erschrak im Torwege von Ploče vor einem unbekannten Gesichte, duckte sich und 86 bedachte, daß er jetzt zu jemandem gehen könnte und ein wenig auf die Knie fallen und ganz leise weinen. Vielleicht hätte er das Mädchen bitten sollen? Sie lebte doch, obwohl sie seinen Tod wollte, in der kleinen Bergwiese von Thymian, und dort war es gleichgültig, ob man geschlagen oder fortgeworfen wurde. Dort riecht Gott selbstverständlich, wenn man sich auf die Erde legt und weint. Vielleicht hätte er sie halten sollen und könnte nun neben ihr liegen und klagen, wie alles gekommen sei. Er ging sehr langsam. Ein Gaukler mit schreienden, keifenden Äffchen und einem Mädchen, dem zwei leise klirrende Tamburine anhingen, zog aus dem vergangenen Markttage hinaus, überholte ihn und wollte ihm die Hand um ein Geschenk hinhalten. Aber die Dirne sagte: »Laß den, der ist ja ein Bettler,« und sie gingen vorüber. An den Stufen der Dominikaner hielt er an, müd wie nach furchtbar langem Gehen. Fackeln kamen gegangen vor einer Sänfte, neben der ein Mann redend einherschritt. Als dieser Marko Kossali erreichte, ihn im Fackellichte gewahrte, wollte er zu ihm treten. Da hob sich ein verfallenes und irres Gesicht zu ihm, und er riß sich zurück wie vor dem Tode und hastete der Sänfte nach, daraus eine Stimme fragte: »Was für eine Schönheit habt Ihr angeschaut, Mario Gozze?«

Die Kirchentüre war offen, und ein paar sparsame Lichter brannten zu einer Abendandacht, auf die der Orgelspieler auch nicht viel gab. Aber nun setzte er doch ein, und die Orgel befreite sich 87 unter seinen Händen von dem Anlasse und hob zu singen an, bis es ihm selber gefiel und er ihr half. Marko Kossali ging durch die Türe. Drei Heraustretende übersah er, obgleich sie vor ihm anhielten und seine Anrede erwarteten. Zwei von ihnen gingen darauf die Stufen hinab. Eine Frauengestalt jedoch folgte ihm nach. Er stand nahe der Türe, frierend in einem Schattenfetzen, wohin das Kerzenlicht nicht drang. Und der große Gott, der Unerreichbare, Unerbittliche, schwebte mit Orgellaut über ihn hinweg, darunter er sich neigte und beugte, bis seine Stirne auf den Fliesen lag und aufschlug an kaltem Stein. Er verkümmerte in einem dunklen drohenden Unterton, und die Engelstimmen jauchzten so weit, daß keine Gnade hernieder fand. Ein Aufrauschen hinreißender Gottessüße, darin sein losgerissenes Gestern aufschrie, besiegelte ihn, und als er das Haupt hob, war es gestern und ehegestern schon geschehen und vollzogen, was er gewesen war. Nun schlich er in einem Menschenschicksal aus der Kirche und hatte Sehnsucht und wollte weinen, weil auch das noch geschehen mußte, daß er Sehnsucht hatte. Weil die Gärten mit dem feierlichen Geruche gekühlter Erde, die ehedem ein Ding unter seinem Willen gewesen waren, über ihn hinausgewachsen, um ihrer selbst willen bestanden und er sich in dieses Um-seiner-selbst voll Nacht flüchten mußte, um darin liegen zu können. Feigenbäume gab es mit großen Blättern und Finsternis an ihrem Stamme, ohne die Ungeheuerlichkeit und tödliche Reinheit der Sternbilder. Er lief fast, schleppte sich schnell die 88 Straße draußen zu einem Garten, den er oft gesucht hatte, da die Fülle der Gnade in ihm gewesen war. Liegend in feuchtem Geruche von Meer, Blättern und dem langen, starken Atemholen schlafender Rosenwildnisse, tauchte Geschehnis, Bild und Verfall in tiefe Menschentraurigkeit unter, allgemein, ohne Besinnung und Hoffnung. Blutabgründigstes des Erdengeschöpfes, das die Erde verrät, litt und klagte in ihm. Da kam ein Menschentritt durch das Gras, näherte sich, und ein wehvoll aufglühendes Vielleicht hob sich aus seinem Ölbergherzen ihm entgegen. Eine Frauengestalt stand im Sternlichte, durchforschte den Schatten und fand ihn. Hastend drängte sie sich nieder zu ihm. Menschenwärme durchwehte ihn; er redete kein Wort und ließ Danika Drasković neben seinem Liegen kauern, ihr schluchzendes Flehen: »Meister!« über sich in schmerzlicher Süße hinweggehen und dachte nicht und litt unbekannte Qualen. Als er seinen Kopf ein wenig hob und wieder sinken ließ, lag seine Wange auf ihrer Hand und er rückte nicht fort. Ein armer kleiner Besitz fand sich unter seiner Verlorenheit, und er schmiegte sich daran, lehnte sich dagegen, prüfend, ohne Mut. Da kam sie näher, tröstlich zu ihm gebeugt, hob sein Gesicht auf und zog es in ihren Schoß. Und die Menschennähe wandelte sich zum Weibe in seinem Blute, das zurückgekehrt war aus aller heiligen Verzückung und Gott fremd sich Blutschicksals besann. In einem nahen langen Liegen hob sich langsam sein Kopf höher und höher, Hände lagen in Händen und endlich Gesicht an Gesicht. Da erkannte sie den Mann 89 und erschrak nicht. Sie küßte ihn zum erstenmal. Die letzte Vergeistigung löste sich zurück und der Paraklet taumelte als Blutwelle und Sturm von Leib zu Leib, bis diese ineinandersanken und Fleisch des Fleisches gewahr wurde mit einem Schrei, der wie ein Todesschrei war. Sie wichen nicht voneinander, umschlangen sich immer wieder und des Weibes Erwachtsein war unersättlich wie die vierzig Jahre Wüste, über der nun der große Regen war, aus dem sie Wald werden wollte und grünen ohne Ende. Da sie voneinander ließen, suchte sein gewandeltes Leben nach einem Gedanken, indes der Geschmack der schweratmenden Frau in ihm verging. Nach einer Weile kehrte sie sich zu ihm, suchte sein Gesicht und stöhnte: »Liebe mich! Ich liebe dich! Marko . . .« Da stand er auf, von seinem Namen geschlagen, stieß mit dem Fuße nach dem nachdrängenden Leib und ging fort. Sie aber streichelte noch eine Weile die Stelle, die der Fortgegangene getreten hatte, und hob sich zum Heimgehen voll großem Empfinden ihres Leibes, der nun gesegnet ging, süß und fruchtbar.

 

Das Stadttor war geschlossen, als Marko Kossali davor anlangte, und er wandte sich zum Meere hinab. Um dieselbe Stunde wurden im Kerker unter dem Rektorenpalaste Francesco Brattanić und Einige, die mit ihm aufgegriffen worden waren, da er den Meister suchen ging, erdrosselt. Pierfranc Benvenuti, der Kondottiere, hatte kaum Nachricht davon, und daß Marko Kossali nicht aufzufinden sei, und überlegte, 90 ob es nicht besser wäre, diese Sache sein zu lassen, schlafen zu gehen und demnächst anderswo ein letztes Glück zu versuchen, als einer der bestochenen Stadtschergen ihm eine Liste der nunmehr Geächteten brachte, auf der er als Dritter zu lesen stand. Er lachte kurz auf. »Die verstehen doch dieses Geschäft,« und war im nächsten Augenblick entschlossen, das Äußerste zu wagen. Er schickte den Söldner, der ungehindert passieren konnte, durch die Stadt, woselbst dieser in die Ritzen einiger Fensterladen, in scheinverschlossene Haustüren und am Ende einem in einem unterirdischen Gewölbe versammelten Haufen sagte: »Marko Kossali ist gefangen. Noch ist Zeit, ihn zu retten. In einer Stunde bellen Hunde in den Straßen. Das ist das Zeichen. Jeder weiß seinen Platz und scheue nichts!«

 

Marko Kossali stand am Meere und die kleinen Wellen spülten über seine Füße. Der Rest von Nacht zerzog sich in seinem Denken zu einem langen Leben, über das man einen Entschluß fassen mußte. Es breitete sich also aus, daß, was dahinter bereit stand, und etwa Verzweiflung, die auferstandene Stimme des alten betrunkenen Spiro Kossali oder ein Schwert sein mochte, in einer andern Welt war. Indessen galt es, sich mit dieser langen Nacht abzufinden. Seine Arme, Hände, sein Mund und der ganze Leib begannen sich wieder des Weibes zu erinnern, das nun da war in benannter Gier, aus der keine Flucht mehr führte, nicht zu Gott noch zu einer Erhebung. Die 91 Unwiederbringlichkeit einer blonden Toten strich über ihn hinweg, die Helle hingegangener Verzückungen holte den Gegenstand aus dem Geiste und glomm lüstern um Verlorenes. Küsse taumelten in die keuschen Jahre seiner Errichtung zurück und sein Stoff fiel an Lust und Brunst, die nach der ersten Sättigung satanisch, lästernd und verzehrend ihn erfüllte. Es gab nur noch das Mädchen vom Schiffe. Fiebernd gierte sein Herz auf. Es konnte noch nicht nach Mitternacht sein. Er fand ein faulendes Boot voll Wasser, riß den Pflock aus den Steinen und trieb es hinüber, wo die Barke gelegen hatte. Ihre Versprechungen rasten durch ihn, und er schrie fast, da er die Umrisse erkannte: »Bianka.« Ein Tau fiel vom Steuerbord, und er zog sich hinauf; sie lachte auf, ihn umschlingend: »Ich habe es gewußt, daß du kommen wirst, Marko Kossali.« Noch einmal wollte ihn sein Name aufreißen. Sie sagte küssend in sein Ohr: »Um deinetwillen bin ich durch die Nacht gestrichen. Ich habe am Ende vor den Söldnern getanzt, die dich greifen sollen. Sie haben mir von dem närrischen Prädikanten erzählt und ich habe dich erkannt. Jetzt bleibst du wirklich bei mir. Wenn der Wind sich dreht, laufen wir aus. Der Vater weiß, daß du kommen wirst.« Ihr Mund lächelte heiß über sein Gesicht, bis er seinen gefunden hatte, auf den er sich stürzte, brennend, saugend und lasterhafter Wunder voll. Schleichend zog sie ihn in die geringe Kammer, an einem sitzend schlafenden Manne vorbei, riß ihm das Gewand vom Leibe, selber nackt und stürzte ihn in ihren Leib 92 gnadenloser Taumel voll und trank den Gier gewordenen Gott aus ihm. Unbekanntes schien er aufzufinden in dieser nie genossenen Lust, und sein erschütterter Leib dachte in einem letzten wahnsinnigsten Glühen einen großen Traum zu Ende, der von Gott zurückkehrend aus Weisheit, Glorie und Verklärung in einen hagern, zuckenden, sich windenden Mädchenkörper mündete. In einer ermattenden Umarmung flackernd entschlief sie jäh. Ein unbekanntes Licht zeigte ihre bronzene Frische, und ihre Zähne glänzten in dem aus einem Schrei offen gebliebenen Munde. Ihn fröstelte in der Nacktheit. Das Schiff schaukelte ein wenig und Geräusch von Fahrt war in der Kammer. Er hob sein Gewand vom Boden und kleidete sich an. Schritte gingen oben auf Deck, der Fluch einer häßlichen Stimme kam herein: »Santa Maria puttana . . .« Ihm war, als hätte er auch ihre Schwestern, viele Schwestern besessen. Und säße mit ihnen in der Hafengasse einer unentrinnbaren Stadt. Grölende Männer wälzten sich auf den Mädchen, Weindunst röche um ihn. Und er müßte gehen durch die Stadt und Schiffer mit der Gabe seiner Rede locken, daß sie zu den Mädchen kämen und ihre Goldstücke brächten. Aussätzige Kinder gälten als die seinen und der fluchende Mann triebe ihn immer wieder auf die Suche. Stuben ohne Tag rochen übel her und er kniete am Morgen, wenn alle verzerrt schliefen, bei dem Kadaver Gottes, dem ein Auge offen stand und ihn gebrochen anstarrte. Alle Stimme verweste im Munde, der die abgelebten Küsse an den welkenden Mädchen suchte, wenn eine 93 Stunde zwischen den andern für ihn war. Ungeziefer kroch über ihn, daß die Übelkeit nach reinen Meeren der Waschung schrie. Er öffnete eine Türe. Morgen brach aufbrüllend in die Höhlen seiner Seele, und irgendeine Besinnung gewahrte die rote Mütze des Steuermannes und den Ausluger am Heck, der den Kopf auf den Armen hatte. Sie führte ihn unvermerkt zwischen beiden, zwischen Fässern und Ballen, an den Bordrand. Das Silberne unten hob zu blauen an, und seine Unreinheit bettelte um die aufwachende Unermeßlichkeit. Ruhig ließ er sich fallen in die Kühle hinein. Noch gab es Kraft in seinen Gliedern, und er vermochte nicht zu sinken. Da schwamm er. Man schrie ihm zu. Er tauchte, kam wieder empor, warf sich mit langen Stößen von dem Schiffe fort, das weiterzog. Seine Arme griffen aus. Mit der zunehmenden Müdigkeit fand sich eine neue Klarheit in seinem Denken. Gründe und kleine Wahrheiten gab es. Name stand und Geschehnis eingereiht in Leben, das Flamme war, klare oder trübe. Und am Ende stand der Name Marko Kossali dabei, rund und beendigt. Da hob er den Kopf, die Arme hielten ihn noch über dem Wasser, darüber schon Sonne war. Seine Augen fanden in der Ferne Ragusa, rein, unberührbar, also edel und golden, daß er vergehen mußte. Er zog die Hände an den Leib. Keine Kraft hielt ihn mehr und er verging.

 

Sonne stand neu, wie zum ersten Male, über der aufwachenden Stadt. Iwan Sorkočević schickte kleine 94 Söldnerhaufen, die müd und übernächtig zu lungern begannen, heim. Er hüllte sich in einen Mantel, den er hatte bringen lassen. Denn auf seinem Kleide gab es große Blutflecken, die man nicht zeigen mußte. Ein paar Falkonette ratterten, von Soldaten gezogen, gegen das Zeughaus, große Bündel in graue Tücher gehüllt, wurden auf Karren geworfen, die immer wieder leer zurückkamen. Als die Ersten aus ihren Häusern traten, war das Blut fortgewaschen von den Steinplatten, waren die Gruben voll Leichen draußen festgestampft, und die Stadt begann einen reinen Morgen, ohne Zeichen und Mahnung an Geschehenes. Iwan Sorkočević trat in das Zimmer des Conte Caboga, der seinem Alter gemäß schon wenig zu schlafen pflegte, und sagte: »Der Rat wird mit mir zufrieden sein. Es hat also gar keinen Aufstand gegeben. Einige widerspenstige Ruhestörer haben das Schwert gezogen und dafür gebüßt. Der Narr wird sich hüten, jemals in den Freistaat zurückzukehren, nachdem er es nicht einmal bis zu einer rechten Empörung gebracht hat. Ein wenig zu viel Leichen sind es vielleicht geworden. Aber man konnte nicht anders arbeiten. Daß der alte Benvenuti unter ihnen ist und jener Brattanić, ist tröstlich. Zehn Jahre wird niemand gegen Verfassung und Glauben einen Gedanken wagen.« Die Contessa war gekommen und sagte: »Gut gearbeitet, mein Kindchen. Wie Dein Vater. Du wirst Rektor werden, Iwo. Dein Schwesterchen hätte das erleben sollen. Du wirst unsre süße, kleine Francesca heiraten.« Und sie lief eifrig die 95 Treppe hinab, ihre Enkelin zu wecken, die, eben erwacht, sich ein bißchen nach ihrem Geliebten sehnte und nachdachte, welches Kleid sie am Nachmittag tragen würde. Als Iwan Sorkočević heimkehrte zum Leichnam seiner Schwester, deren kraftloses Verzichten nun in der Kunst der Balsamierer erstarrt war, war er verlobt und redete zu der Leiche: »Alice, vielleicht habe ich dich gerächt. Name und Macht steht groß und unverrückt. Wenn du heute zum Vater kommst, sag ihm, daß dein Bruder nicht unwert sein wird seiner Ahnen!« Aber der einsame Tod der Sehnsucht war so stark um sie, daß Name und Familie selbst in dem Erhöhten nicht mehr an sie heranreichten und er sich begnügte, die Blumengewinde etwas zurechtzulegen, bevor er zu Bette ging, kampfmüd und gesättigt.

Stimmen sagten es einander, die Frauen raunten es auf dem Marktplatze, klatschend, ohne Größe. Und der alte Montefiori beeilte sich, beim Prüfen der Gemüse und Fische noch verdorrter, überlebender und kränker, seinem jahrzehntelangen Verkäufer mitzuteilen, daß der Staat endlich Marko Kossali und seine Gesellen vertilgt habe. Niedergeschlagene und Lachende standen beieinander, Brenesen, Händler aus Perasto und Cattaro. Und die Macht hing wieder über ihnen, so daß sie an diesem Tage kein freches Wort gegen die feilschenden Diener der Adligen wagten.

 

Diana ging aus dem Hause, um Maria aufzusuchen und zu wecken. Niemand hatte sie noch so zeitig des Morgens auf der Straße gesehen. Der Herr de Saraca 96 ließ seine Sänfte vor ihr halten und erzählte ihr die Vorgänge der letzten Nacht. Da schwieg ihr Wunsch, Maria zu sehen, über die nun plötzlich Sicherheit fiel. Alte, vergessene Morgenbesinnlichkeiten, gewürzt vom Geschmacke des Geschehenen, suchten sie heim, und sie entschloß sich, aus der Stadt zu gehen, mit einem erregenden, noch uneingestandenen Wissen um Schiffe, Fahrt, wunderbare geheimnisreiche Unruhe von Abreise. Abschiedlich glänzte ihr der reine Tag bis in die Tiefen des Blutes. Außerhalb des Tores, wo diese Nacht Marko Kossali zum Meer hinabgestiegen war, begegnete ihr Mario Gozze, der einen kleinen fremdländischen Hund im Arme trug. Sie begrüßten einander mit einem solchen Blicke urtiefer Zusammengehörigkeit, daß beide augenblicks innehalten mußten, obwohl vor wenigen Tagen noch das Mißverstehen von Werbung und Abweisung zwischen ihnen gestanden hatte. Mario Gozze ging ohne zu sprechen neben ihr bis zum ersten Ansteigen der Straße, wo Ragusa schon rund und begrenzt zu sehen ist, sie blieben gleichzeitig stehen, sahen einander weise und tief entgegen und redeten endlich. Diana sagte: »Ich glaube jetzt, daß ich heute fortgehen werde aus dieser Stadt. Morgen würde ich aufwachen und der Tag würde mich erschrecken mit seiner Armut und Einfalt.« Mario Gozze dachte an die kleine Maria, an die Zärtlichkeit, die er, der Mannheit entsagend, mitgelebt hatte. Aber Geschehnis und Lösung gab es nun so viel, daß auch dies noch darin Platz finden konnte. Er sagte: »Ob dies nicht unser Sturm und die Bedrängnis unsrer 97 erflüchteten Reife war, was nun verblutet ist. Ob er nicht der Söldner unsrer Qual war? Die wir Diener dingen für die Bequemlichkeit, zum Schutze, Leiber für die Lust, Dichter, wenn unser Denken verwirrt ist? Mich dünkt, er hat unsrer Jugend und unsres Blutes Sehnsucht und Abgründe in sein heißes, ahnendes Hörigenblut genommen. Und wir werden nie mehr sehnsüchtig, verworren und abgründig sein.« »Ist er tot?« fragte Diana. »Ja, er ist tot. Ich bin gestern seiner letzten Stunde begegnet. Ich habe ihn nicht mehr angeredet, weil ich Ehrfurcht vor den Sterbenden habe. Ich weiß nicht, was ihm zugestoßen ist, was ihn so tief getroffen hat. Aber ich weiß, daß dieses ihn Erfüllende nur ein andrer Name für seine Grenzen gewesen ist. Vielleicht ist seine Sehnsucht einem Gegenstande begegnet. Ich will nicht suchen, da ich weiß. Habt Ihr mit ihm geredet, Diana Lorides?« »Ja.« Und sie erzählte ihm in der tiefen reifen Unkeuschheit der Wissenden, wie der Mannesliebe letzte, gewandeltste Gestalt ihr begegnet war. Sie schwiegen zusammen, ihre schicksalsvolle Klarheit um Tod und Untergang vermehrend. Da sie wieder Worte hatten, sagten sie nur mehr: Ich und Ich, wissend, wie sehr dem andern es mitgalt. Das Hündchen knurrte nach Zärtlichkeit. Auf seinem Felle begegneten sich einen Augenblick lange ihre Hände, leibliche Gleichnisse. Sie lächelten einander in das Leben mit dem Lächeln, das jener nicht ertragen hatte. »In die bebenden, erwachenden Leben der Mädchen, Diana, küßt Ihr nun diesen letzten Sieg mit hinein. Und schauert nur 98 mehr, wenn er geformt, in den Weibgewordenen zu reden anhebt.« Sie stand mädchenhaft, leicht und voll Kraft des Lächelns vor ihm. »Nun werdet Ihr, Mario Gozze, in schwere, süße, abendliche Gedichte diese letzte Sehnsucht nach Unterwerfung atmen, die Empörung des Blutes, die Euch angerührt hat. Und werdet nur mehr schauern, wenn aus dem Fortgerückten geformt und unberührbar wie das Schicksal das Ich zu Euch redet. Ich werde diese Gedichte lieben, Mario Gozze.«

Er ging langsam hinter ihr der Stadt zu, die zu flimmern begann in einem Sommertage, und sah sie mit einem Kaufherrn gegen den Hafen abbiegen, zu den heiteren Schiffen. 99

 


 


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