Rheiner, Walther
Kokain
Rheiner, Walther

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VI

Das Herz klopfte wie ein Hammer an seine Schädeldecke. Nach einer Weile wandte er sich um. Der Spuk war verschwunden. Schnell nahm er eine neue Spritze und begann, erst leise, dann lauter und lauter, an die Eisentür zu klopfen.

Er beugte sich zum Schlüsselloch nieder und rief »Marion! Marion!« mit unterdrückter Stimme hinein. Zwischendurch fuhr er alle Augenblicke herum, damit ihn niemand rücklings ergreife.

Endlich sah er durch das Schlüsselloch, daß drinnen Licht entstand. Ein Schatten bewegte sich auf dem Fußboden und näherte sich der Tür. Eine dünne, verschlafene Stimme, Marions Stimme, fragte angstvoll: »Wer ist da, um Gottes willen?«

»Ich bin's, ich, Tobias ... Marion, mach auf, ich muß hinein.«

Die Tür wurde geöffnet und kreischte leise in den Angeln. Tobias, dem durch die letzten, schnell aufeinanderfolgenden Einspritzungen ein wilder Paroxysmus im Körper wühlte, torkelte hinein.

Marion, im Nachtgewand, stand vor ihm, eine Kerze in der Hand. Sie kannte Tobias und seinen Zustand, denn nicht zum ersten Male suchte er sie in der Nacht auf. –

Sie war müde (es mochte wohl halb drei Uhr sein), aber sie ließ ihn keinen Mißmut merken. Wortlos legte sie ihm Decken auf ein Feldbett zurecht, das hinter einer spanischen Wand stand.

»Leg dich nieder«, sagte sie, »und gib mir das Kokain.«

Sie wußte, daß sie vergeblich um das Kokain bat und daß sie es ihm auch nicht mit Gewalt würde entreißen können.

Tobias schüttelte den Kopf. Er hatte die Kerze auf einen Stuhl neben das Bett gestellt und hockte auf dem Bettrand, mit stieren Augen die Freundin anglotzend, die sich wieder niederlegte.

»Hast du die Tür gut wieder abgeschlossen? Sind die Fenster zu?« fragte er sie.

»Ja, ja doch!«

Er zog die Jacke aus.

Da seufzte Marion und wandte den Kopf ab.

In der Tat! Er bot einen gräßlichen Anblick!

Beide Hemdsärmel waren bis zum Handgelenk herab steif und schwarz von Blut. Übler Geruch wehte daraus auf.

»Bitte, mach schnell«, flüsterte Marion, »und mach keine Blutflecken in die Laken.«

Sie lag immer noch abgewandt. Übelkeit stieg ihr auf. Plötzlich erhob sie sich und erbrach in die Ecke des Zimmers. Sie weinte vor sich hin.

Tobias, ratlos und verzweifelt, begann laut zu brüllen. Er schüttelte die erhobenen Fäuste über seinem Haupt und blickte mit weit aufgerissenen Augen zur Decke empor.

Marion, totenblaß, lief schnell zu ihm hin und verschloß ihm mit der Hand den Mund.

»Stille, still«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »es darf dich niemand hören, sonst fliege ich hier raus!«

Nein! Niemand hörte diesen verzweifelten Menschen, am wenigsten jener gütige Vater, dessen unerbittliche schwarze Stirn vor den großen Atelierfenstern stand, starr, unberührt, unbeweglich!

»Komm, leg dich hin und sei ruhig«, sagte Marion, »ich möchte schlafen. Mach das Licht aus.«

Tobias entkleidete sich vollständig. Marion schaute krampfhaft weg. Auch der untere Rand seines Hemdes war voll Blut von den Injektionsstichen in beide Oberschenkel. Es war sein einziges Hemd, das er seit drei Wochen trug; alle andere Wäsche hielt seine Zimmerwirtin in Charlottenburg zurück, als Pfand für die schuldige Miete. Er stank, sich selbst ein Abscheu, widerlich, verhaßt.

Er stellte die Medizinflasche auf den Stuhl, legte die Spritze zurecht, streckte sich unbedeckt auf das Lager aus und löschte die Kerze.

Atemlos wartete er einige Minuten und starrte regungslos zur Decke empor, die auf dieser Zimmerseite bis zur Hälfte und halb zur Wand herab aus Glas war.

Marion regte sich nicht. Durch das Zimmer schlich, träge, schleimig, die Nachtzeit. Es war, als zögen sich quer durch das Atelier, von einer Wand zur andern hin und her, dunkle klebrige Fäden, die einen Duft von geronnenem Blut ausströmten vermischt mit dem süßlichen Parfüm des Kokains und dem lebhafteren des Äthers.

Es war totenstill. Marion schien zu schlafen. Nur der Nachtwind ließ manchmal die Scheiben der Fenster leise klirren. Tobias mahlte laut mit den Zähnen, wie er immer tat, wenn die Kokainvergiftung in ein bestimmtes Stadium getreten war. Dabei verzerrte sich sein Gesicht, und die Schläfen spielten wie Wellen. War nicht neulich, auf dem Alexanderplatz, eine alte hinkende Frau schreiend vor ihm geflüchtet, als sie dieses fratzenschneidende Gesicht sah?

Das Denken stand ihm still. Er lag regungslos und stierte zur Glasdecke hinauf. Von Zeit zu Zeit gab er sich im Dunkeln und ohne näher hinzusehen Kokaininjektionen. Er fühlte an seinen mißhandelten Oberschenkeln, an den zerfetzten Ober- und Unterarmen das Blut rinnen. Gewiß tropfte es auch in die Bettlaken, die zu schonen Marion ihn gebeten hatte. Er kümmerte sich nicht mehr darum. jetzt war er schon in einem Grade vergiftet, daß er, fast mechanisch, in immer kürzeren Zeitabständen Spritzen nehmen mußte, wie etwas Selbstverständliches, etwa wie Atmen oder Essen, nur um überhaupt weiterzuexistieren.

Plötzlich wurde er auf Schatten aufmerksam, die über die Glaswände und das halbe Glasdach des Ateliers hinglitten. Er beobachtete sie eine Zeitlang mißtrauisch.

Wenn er genau hinschaute, glaubte er deutlich zu sehen, daß es die Schatten von Menschen waren, Köpfe, Arme, Beine, die sich da am Rand des Daches zu schaffen machten.

Nun drang auch schon durch das Glas ein leises Geflüster. Tobias unterschied drei Stimmen. Männerstimmen, die eifrig redeten. Argwöhnisch beobachtete er die Schatten. Er sah, wie sie sich Werkzeuge reichten, Hebel, Zangen, Brecheisen, und das Geflüster, die leisen Ausrufe paßten sich genau den Bewegungen an.

»Achtung!« hörte er. »Eins ... zwei ... drei ... – hupp!« Und dann ein deutliches Knacken.

Ein Wind entstand im Zimmer, ein kalter Hauch, der von oben zu kommen schien. Tobias fühlte ihn mit dem ganzen Körper.

Eine schnell sich steigernde Furcht befiel ihn. Das waren Einbrecher! Oder Detektive! ... Hatte nicht der Maler Ludwig M. ... vom Südwestkorso, nicht weit von hier, von einem Einbrecher erzählt, dem er zwischen den Speichern begegnet war, als er in sein Atelier gehen wollte?

Lähmende Angst brannte ihm die Kehle aus. Er lag hier hilflos, blutend, krank bis auf den Tod. Marion schlief, ein wehrloses Mädchen. Waren es Einbrecher so konnten die kurzen Prozeß mit ihnen machen. Waren es Detektive, so würden sie beide in Schutzhaft genommen werden, und gegen ihn, Tobias, würde man Anklage erheben. Er würde in eine Anstalt kommen, jahrelang, und kein Kokain mehr erhalten.

Leise stand er auf und rüttelte die Freundin wach; sie hatte fest geschlafen.

Erschreckt fuhr sie auf.

»Was ist denn? Was ist?«

Tobias deutete flüsternd zur Glasdecke hinauf: »Siehst du? Siehst du die Leute dort?« lallte er.

Die Schatten bewegten sich immer noch.

»Welche Leute?« fragte Marion ängstlich.

»Dort, dort, die Schatten auf dem Dache«, sagte Tobias, »das sind Einbrecher oder Geheimagenten. Um Gottes willen, was sollen wir tun, Marion?«

Marion, nun ganz wach, schaute Tobias entsetzt in die Augen.

»Unsinn!« sagte sie. »Das sind die Schatten der Bogenlampe von unten, von der Straße.

Tobias schüttelte den Kopf.

»Bogenlampen werfen keine Schatten«, flüsterte er und stierte verzerrten Angesichts zur Decke hinauf.

Marion begann an seinem Verstand zu zweifeln. – Ist's schon so weit mit ihm? dachte sie.

Eine dumpfe Angst kroch ihr das Rückgrat hinauf. Mit diesem Wahnsinnigen, dem sie ausgeliefert war, allein in einem schlafenden Hause! Sie wußte sich keinen Rat. Es galt ihn zu beruhigen. Wenn der Tag kam, würde man weiter sehen. Sie sprach auf ihn ein: »Natürlich doch, das sind die Schatten der Bäume unten und der Schornsteine und Windfänge auf dem Dach. Die Bogenlampe schwingt unten im Wind, und das bewegt die Schatten. Geh schlafen, leg dich nieder!«

Das leuchtete Tobias nicht recht ein, doch beruhigte er sich ein wenig. Er würde wachen und beobachten.

»Wo hast du denn deinen Revolver? Du hast doch einen kleinen Revolver, wo ist er denn?« fragte er.

Sie aber hütete sich, ihm die Waffe zu geben.

»Ich weiß jetzt nicht, wo er liegt«, sagte sie, »leg dich nur, das sind keine Einbrecher.«

Tobias beschloß, wenn Marion schliefe, nach dem Revolver zu suchen. Er legte sich hin und belauerte die Schatten, die stetig hin und her schwankten und sich allerhand zu reichen schienen.

Trüber Schein fiel schon durch die Scheiben, deren Ränder klarer und schärfer wurden. Der erste Streif des Morgens dämmerte auf.


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