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XVIII

Du scheinst wirklich so etwas wie eine Berühmtheit«, sagte Erich am nächsten Tage zur Schwester. »Schöler stellte mich den übrigen Herren als den Bruder von Irmgard Glenn vor.«

»Freute es dich nicht?« fragte Irmgard.

»Nein – es war mir sehr unangenehm. Berühmte Frauen haben für mich etwas Unnatürliches – und – na, lassen wir das Thema.«

»Etwas Verdächtiges?« lächelte Irmgard mutig.

»Ja«, grollte Erich. »Von einer Frau sollte überhaupt nicht gesprochen werden. Der Araber würde es als eine tödliche Beleidigung empfinden, wenn ein Mann ihn nur nach dem Befinden seiner Frau fragen würde. Das scheint mir richtig. In eurer modernen Welt hier finde ich mich nicht mehr zurecht. Ich hasse es, wenn ein Mann wie Schöler sich untersteht, mir zu sagen, er verehre dich hoch. – Am liebsten wäre ich gleich gegangen, nur kam es mir feige vor. Später merkten die Leute dann, daß ich auch jemand war. Die Unterhaltung war recht interessant. Sie fragten mich vielerlei. Im Grunde hatten sie oft ganz falsche Ansichten von Afrika.«

Irmgard, die mit Pinsel und Palette vor ihrer Staffelei stand, beobachtete, wie er immer tiefer in freudloses Brüten versank.

Entschlossen legte sie ihr Malgerät beiseite und trat neben den Bruder.

»Was quält dich?« fragte sie ernst. »Was hast du über mich erfahren? Zwischen uns muß Klarheit sein. Glaube mir, ich habe nichts zu verbergen und trage die Verantwortung für alles, was ich tat und was geschah.«

»Du willst nicht sagen, daß du schamlos genug geworden bist, die Verantwortung dafür zu tragen, daß der – der Kerl – der Hund deinen nackten Körper in Hamburg jedem Laffen zur Schau stellt?«

Erich war unter seiner gebräunten Haut furchtbar erbleicht – die Augen blutunterlaufen, die Fäuste geballt, stand er keuchenden Atems vor der Schwester.

»Welchen Kerl – welches Bild meinst du nur? Mein Freund Jakob Urich hat mich oft gemalt und gezeichnet. Aber das schwöre ich dir – nie hat er einen Akt von mir öffentlich ausgestellt. Warum bist du nicht in die Kunsthalle gegangen? Du hättest dich schnell überzeugt, daß das fette Modell, um das es sich handelt, keine Spur von Ähnlichkeit mit mir besitzt.«

»Ich – ich konnte mich nicht überwinden, das zu sehen ...«

Es lag in den scheu gemurmelten Worten so viel Zartgefühl, daß Irmgard Tränen unter die Lider drangen.

»Du warst seine Geliebte«, grollte der Bruder.

»Ja«, antwortete Irmgard ruhig und klar. »Ich war seine Geliebte und seine Lebensgefährtin durch viele Jahre hindurch.«

»Und warum hat er es nicht der Mühe wert gefunden, dich zu heiraten?« –

»Seine Frau lebte im Irrenhause. Ach, Bruder, das sind so feine und schmerzliche Dinge – es ist schwer, darüber zu reden. Und – ich bin dir ja auch eigentlich keine Rechenschaft schuldig – nicht wahr? Entweder du nimmst mich, wie ich geworden bin, nun in dein Herz auf – oder du suchst mich zu vergessen. Ich verdanke Jakob Urich Unendliches – eine neue, reiche Existenz – herrlich in allen Schmerzen, allen Entsagungen. Nie werde ich mich so weit erniedrigen, zu bereuen, daß ich seine Geliebte und seine Freundin war.«

»Warum habt ihr euch getrennt – oder – besteht diese Sache noch immer?«

Irmgard schüttelte müde den Kopf.

»Wir fühlten beide, daß unsere Liebe abstarb. Ob ich ihn überhaupt geliebt habe? – Wahrscheinlich doch. Oder war es nur Entwicklungs- und Erkenntnisdrang, die mich zu ihm trieben? Ach, mein Bruder, was wissen wir denn von den verworrenen Dunkelheiten aus den Abgründen unserer Herzen?«

Erschöpft, von einer Aufgabe, die sie mehr und mehr als hoffnungslos erkannte, setzte sich Irmgard auf einen Stuhl, sie hatte die Hände schlaff zwischen den Knien, den Kopf gesenkt, als sähe sie dort den Abgrund, von dem sie eben gesprochen.

Erich Glenn ging mit schweren Schritten – er hatte noch immer etwas von dem wiegenden Seemannsgang behalten – in dem großen Atelier hin und her. Lange Zeit, in bittere Erinnerungen versunken.

»Ja«, sagte er, ruhiger geworden, »ich muß das wohl verstehen lernen. – Du warst alt genug, um zu wissen, was dir not tat – ich habe ja auch kein Recht, dich zu verurteilen – ich gewiß nicht. Und du bist meine Schwester, hast wohl auch heißes Blut. – Nur – es ist so unbegreiflich – so ganz unbegreiflich – so ganz unbegreiflich ... Ich habe dich immer wie eine junge Heilige verehrt – du warst mir kaum noch ein Mensch – ganz unirdisch –, es war wohl töricht von mir. Aber das kam so, nachdem ich Olarsen die Nase zerbrochen und den Schädel eingeschlagen und beinahe zum Mörder geworden war um deinetwillen – weil er es wagte, dich zu beleidigen, deine Reinheit anzutasten.«

»Das war der Grund«, flüsterte Irmgard, immer noch den Kopf tief gesenkt, ohne ein Glied zu regen – »das war es? ... O mein Gott – – –«

Er stand still, hielt die Hand vor die Augen. So haben oft Menschen gestanden, wenn sie versuchten, das ewige Gesetz zu begreifen, das ihnen so grausam und so unlogisch erschien. Und dann nahm er schweigend seinen Hut und ging ohne Gruß. – Er wanderte durch die lichtfunkelnden Straßen der ruhelosen Stadt, in hartem Kampf mit seinem rebellischen Herzen, mit allem, was ihm recht und gut und ehrenhaft erschienen war – ein fernes, anbetungswürdiges Ideal in seinem wilden, harten und oft zügellosen Leben dort draußen. Und wieder geriet er in die alte vertraute Gewohnheit, was an schweren Fragen in ihm wühlte, in der Phantasie mit Irmgard durchzusprechen – mit dem Geiste der Schwester, wie er ihn fühlte, den es nicht mehr gab – und vielleicht nie gegeben hatte.

Und sie, Irmgard, die Schwester, sprach mit ihm, wie sie Phantasieträume um ihn geflochten in den langen Jahren öden Wartens, sagte ihm alles, wie es gekommen, und wie diese Jahre tausendfältig erfüllt waren von ernsten Pflichten, und wie sie darin erstarkt und fest geworden – in dem Wissen um die wahren Werte des Lebens –, so daß der Begriff Schuld davor wesenlos wurde. Denn es war doch nur ein Konventionsbegriff, an dem sie sich vergangen.

Und sie senkte den Kopf noch tiefer, hielt ihn mit den müden Händen. Hatte sie doch an einem Heiligtum gefrevelt?

Erich kam am nächsten Tage wieder, versuchte gütig, freundlich zu sein und zerriß mit jedem Wort und Blick, jeder Bewegung, mit der stillen Trauer, in die sein ganzes Wesen gehüllt war, der Schwester Herz nur um so grausamer.

Sie begann dem Bruder zuzureden, seinen Plan auszuführen, einen Arzt für Tropenkrankheiten zu konsultieren und nach seinen Weisungen ein Sanatorium aufzusuchen, eine Kur gegen sein Fieber zu beginnen. Er mußte aus den unfruchtbaren Grübeleien herausgeführt werden. Sie wollten sich für jetzt trennen, um in sich zu erfahren, ob ein späteres Zusammenkommen ihnen beiden möglich sein werde. Denn auch sie habe ihren Stolz, ihre Würde, die sie nicht auf die Dauer durch seine Verachtung oder auch nur durch sein Mitleid verletzen lassen könne.

Er saß am Tisch, den Kopf in die Hand gestützt, energielos, unfähig zu jedem Entschluß. Und in dieser Stunde, da alles zwischen ihnen aus des Messers Schneide stand, da ein falsches, unbedachtes Wort zu genügen schien, die Geschwister für immer zu trennen, läutete es an der Ateliertür, ein junges rothaariges Mädchen trat ein; verweint, zitternd vor Erregung streckte sie die Arme wie um Hilfe stehend nach Irmgard aus. Diese wollte ihr mit erschrockener Gebärde abwinken:

»Carly – nicht jetzt – nicht heut ...«

Doch Carly Urich fiel ihr fassungslos um den Hals, sah nicht den Mann am Tische sitzen, schluchzte: »Mutter Irmgard – ich muß dich sprechen – muß – muß – Weißt du es denn?«

»Ich weiß, Kind, weiß alles – komm hier herein.«

Sie führte das Mädchen in ihr Schlafkämmerchen.

Erich Glenn, eignen trüben Gedanken oder mehr noch einem gedankenlosen Versinken in wesenlose Träume hingegeben, hatte die Kommende nicht beachtet.

Die Unterredung nebenan dauerte lange, allmählich wurde er aufmerksam. Er hörte die leidenschaftliche, von Aufweinen unterbrochene Mädchenstimme, Irmgards ruhig-mahnende Worte, verstehen konnte und wollte er das einzelne nicht. Was ging es ihn auch an? Eine Seele mehr in Not. Die Vorstellung ergriff ihn, wie wohltuend es sein müsse, wenn Irmgard nicht seine Schwester sein würde und er ihr sein Leid klagen könne wie das verstörte Kind dort nebenan.

Endlich öffnete sich die Tür, die beiden traten ein, Irmgard hatte zärtlich den Arm um des Mädchens Schulter gelegt.

Erich erhob sich höflich. »Mein Bruder«, sagte Irmgard flüchtig, ohne den Namen des jungen Mädchens zu nennen, das ihn aus rot geweinten Augen neugierig und feindselig betrachtete. Irmgard führte sie schnell zur Tür und küßte sie herzlich. Erich hörte, daß sie zu ihr sagte: »Habe Mut, Kind, und sei sicher, ich werde deine Sache bei deinem Vater führen. Alles wird gut werden.«

»Wer war das Mädchen?« fragte Erich, dessen Teilnahme nun erweckt worden war.

»Die Tochter von Jakob Urich«, sagte Irmgard mit einem gewissen Trotz in der Stimme.

»Die besucht – dich?«

»Ich habe sie doch erzogen, stehe zu ihr wie eine Mutter zu ihrem Kinde – und so soll es auch zwischen uns bleiben.«

»Was wollte sie von dir – sie schien sehr verzweifelt.«

»Ja – junger Schmerz, der zu heilen ist! So weinen zu können, muß himmlisch sein. Ihr Vater heiratet in diesen Tagen – eine junge Kusine von ihr. Er hat törichterweise nichts von dem Plan gesagt, der schon eine Weile spielt, nun kommt sie ahnungslos aus dem Institut, um vor die vollendete Tatsache gestellt zu werden. Sie hängt sehr an mir, und es scheint ihr unerträglich, eine andere an der Stelle zu sehen, die in ihrem Herzen nur mir gebührte.«

Erich antwortete nicht, fragte auch nicht weiter.

Nach einer Weile sagte Irmgard in sachlichem Ton: »Es wird für die neue Ehe und auch für das Kind besser sein, sie bleibt nicht im Haus des Vaters. Ich denke es bei dem Professor zu erreichen, daß er Carly erlaubt zu studieren – sie ist sehr begabt – die Universitäten werden jetzt, wenn auch mit einigen Schwierigkeiten, den Mädchen erschlossen. – Wollen wir nicht etwas ausgehen? Mich verlangt nach frischer Luft.«

Erich war aufgestanden. Irmgard erschrak vor seinem Ausdruck, vor dieser in tiefe Falten gezogenen Stirn – vor der Wildheit des Blickes ... Da war er – der Erbfeind –, an dem er schon einmal gescheitert ...

»Die Hochzeit wird nicht sein – jetzt bin ich hier, um meiner Schwester Ehre zu wahren – der Mann soll erfahren, was seine Pflicht ist! Wenn er es nicht selbst fühlt ... das Ding hier wird es ihn lehren –«

Er faßte in seine Brusttasche, und Irmgard sah mit Entsetzen, wie er den Griff eines Revolvers hervorzog.

Sie war mit einem Sprung vor der Tür, über deren Schloß sie den Arm legte.

»Du wirst nicht gehen«, rief sie in einem Ton, wie eine Mutter zu einem ungebärdigen Sohn spricht. »Meine Ehre hängt nicht an eines Mannes Willen. Ich trage sie in mir selbst und weiß sie zu verteidigen, falls ich es für notwendig halte. Ich habe mich aus eigenstem Entschluß von Urich getrennt. Was geht es mich an, ob er heiratet oder nicht!«

»Das ist alles leeres Gerede. Lasse mich durch, Irmgard. Ich werde mich beherrschen – aber ich muß mit diesem Mann ein ehrliches Wort reden.«

Er stand dicht vor ihr, und Irmgard wußte: packte er sie mit seinen gewaltigen Kräften und schob sie beiseite, so war sie machtlos. Sie sah ihn mit trotzigen, leuchtenden blauen Augen an, und ihr Herz gab ihr die Worte und ihren Klang:

»Ich habe nur einen Bruder zu verlieren. Das soll nicht noch einmal geschehen!«

Und mit der leidenschaftlichsten Bewegung warf sie Erich beide Arme um den Hals, hielt ihn fest an ihrer Brust, bedeckte sein braunes, wildes Gesicht mit ihren Küssen und ihren Tränen. –

*

An demselben Abend noch verließ Erich Berlin. Wochenlang hörte Irmgard nichts von ihm. Dann kam ein Telegramm: er sei zur Nachkur in einen Gebirgsort geschickt und erwarte sie.

Am Abend des folgenden Tages traf Irmgard ein. Erich hob sie aus dem Bahnzug, sein Umfangen, sein langer Kuß sagten ihr, daß sie den Bruder neu gewonnen habe.

Dachte Irmgard in ihrem späteren Leben an jene Wochen, die sie mit dem Bruder in den Bergen verlebte, erschienen sie ihr immer unter dem Bilde einer goldgrünen kleinen Insel, bewohnt von stiller, tiefer Freude, umweht vom Hauch der Wälder, schimmernd im Tau der Wiesen, in denen Tausende von zarten Blüten jeden Morgen neu sich ihren frohen Blicken öffneten.

Keine Mißklänge aus überwundenen Daseinsstufen durften sie hier erreichen. Es war, als böten die Berge ringsumher einen Schutzwall gegen feindliche Gewalten der gegensätzlichen Welten dort draußen – und sie hüteten sich wohl, den Schutzwall zu besteigen und zurückzublicken auf alles, was hinter ihnen lag.

Sie waren wieder die zwei Kinder, die Hand in Hand, Brüderchen und Schwesterchen im Märchen, durch den Orangengarten liefen auf Abenteuer in der feuchten, dämmrigen Felsengrotte und am Strande des blauen, sonneglitzernden Meeres, das ihre kleinen nackten Füßchen mit seinen Wellen umspülte.

Sie tändelten mit ihren Erinnerungen wie mit goldenem Spielzeug – und Irmgard mußte immer wieder staunen, wieviel von diesen zarten, gebrechlichen Dingen in dem Kopf dieses großen, schweren, braunen Tropenmannes aufgespeichert war und nur hervorgenommen zu werden brauchte, um wieder lebendig zu werden. »Und weißt du noch dies – denkst du noch an jenes?« war die Losung jeden neuen Morgen, wenn sie auf die Wiese vor ihrem Häuschen hinausschauten oder durch den Tannenwald schlenderten. Es war die Losung zu unendlichem frohen Gelächter des Mädchens und einem heiteren Lächeln auf dem schwermütigen Gesicht des Mannes – denn laut und hell wie als Knabe zu lachen, hatte Erich verlernt. Aber seine Augen waren wie blaue Schalen voller Freundlichkeit und beglänzt von einem warmen Glück, das die Schwester bis ins tiefste Herz berührte.

Auch von Traurigem sprachen sie wohl; denn wie viele dunkle Schatten hatten nicht über ihrer Kindheit gelegen – aber nun hatten sie jedes Weh und jede Angst verloren. Das qualvolle Leiden des Vaters war so lange schon gestillt, und die Mutter – an der Mutter Ende rührte Irmgard nicht, das gehörte schon zu den schweren Dingen, die hinter den Bergen lagen.

Aber der Fahrt mußten sie denken, über das nächtliche Meer mit seinen großen, rauschenden Wogen, als sie zuerst den Tod in ihrer Nähe gespürt, bei der Leiche des ertrunkenen Knaben, wo Erich an der Brust der Schwester in Schauern unnennbarer Bangnis geweint hatte – in jener Nacht, als ihnen der Vater starb und die Kindheit jäh zu Ende war. Denn es gibt ja keine Spanne Zeit im menschlichen Sein, die nur Licht wäre.

Als nun die Villa Marina so farbig in allen Einzelheiten ihnen aus den Nebeln der Kinderjahre wieder emporstieg, begann Erich Zukunftspläne zu schmieden und Luftschlösser zu bauen, wie er es allzeit getan als kleiner Junge wie als großer, stämmiger Seefahrer. – Die Villa Marina wollte er zurückkaufen – und dort, nur dort wollte er mit der Schwester wohnen. Und er war froh, daß sie das alte Haus niemals allein besucht hatte oder mit jenem Mann. Nur an seiner Hand sollte sie es wieder betreten. Sie wollten es neu einrichten, Irmgard mit ihrem künstlerischen Geschmack sollte freie Hand haben – die venezianischen Möbel mit den Jagdbildern und den schönen Schäferinnen dürften nicht fehlen. Und alle ihre Bilder sollten in der Halle hängen – aber sie dürfe niemals wieder sich plagen um den Verdienst – er haßte es, wenn Frauen schuften mußten, um sich ihr Brot zu verdienen.

Irmgards Einwand, das Arbeiten sei ihr eine Lust und ein Lebensbedürfnis, konnte er nicht begreifen und wollte es nicht gelten lassen. Sie habe dann ja auch manches im Hause zu tun, und abends wollten sie alle die Bücher lesen, von denen sie oft redete – er allein würde sich kaum hindurchfinden – doch wenn sie ihm vorlesen wolle, auf der Terrasse, unten am Meer, und er eine gute Zigarre dabei rauchen dürfe – dann würde es schon gehen. Er müsse viel nachholen – er sehe ja wohl, daß es ihm an jeder Bildung fehle, und deshalb beurteile er vielleicht auch so vieles in Europa nicht richtig. Und Irmgard neckte ihn, er werde rauchend doch wieder von Hanf- und Kokos- und den Gummipreisen träumen, während sie ihm Goethe nahezubringen wage. Und das gab er resigniert zu. Bildung erschien ihm wie ein gläserner Berg, der schwer zu erklimmen sein möchte – und sein Herz sei nicht mehr das beste für Bergbesteigungen. Das hatte Irmgard auf ihren Spaziergängen schon häufig mit Sorge bemerkt. Erichs Herz versagte nicht nur im Symbol vor gedanklichen Glasbergen.

Sie schlug ein Wägelchen vor, mit dem sie die schönen Gegenden des Südens, die sie noch nicht kannten, befahren wollten, und sie stritten über die Wahl der schönen Pferde, und Erich kam dann auf die Pferdezucht und war mit einemmal mitten in seinem wirklichen Leben als Farmer und Züchter und Kaufmann und erzählte lebendig, angeregt von Versuchen, Niederlagen und Erfolgen. Dabei gewann er schnell sein Selbstbewußtsein zurück, denn hiervon verstand die Schwester wieder sowenig wie er von Büchern und Bildern. Und nun lernte ihn Irmgard erst richtig schätzen als den Mann der Tat, als Organisator und kenntnisreichen Beurteiler des fernen Landes, seiner Zukunftsaussichten, seiner Menschen und Tiere, seines Handels und der seltsam verworrenen gefährlichen Kämpfe der europäischen Nationen um die Erschließung der weiten Steppen, Wälder, Berge und Küsten, um die Herrschaft über die braunen und schwarzen Völkerschaften. Dann hörte sie ihm atemlos zu und tat Fragen, klug und interessiert, gleich einem Manne. Erich mußte oft staunen, wie man mit der Schwester reden konnte über alle widerstreitenden Dinge, die ihm Verstand und Herz bewegten, und auch von solchen, die ungestaltet wirr in seiner Phantasie nach Klärung verlangten. Das war wohl schön und etwas ganz Neues, völlig Unerwartetes in seinem Leben. Zuweilen erinnerte er sich mit einem wunderlichen Gefühl von leisem Bedauern an die stille, sanfte Irmgard seiner jungen Jahre mit dem weißen Schwärmergesichtlein – die er so inbrünstig angebetet hatte, in dumpfer Bewegung seines Blutes und seiner Sinne, ihr doch zugleich sorglich fernhaltend, was von Roheit und derber Lust von ihm genossen wurde. Nun hätte er ihr nichts mehr fernzuhalten brauchen – es war staunenswert, wie sie das ihr Fernste verstand, und doch wäre er niemals darauf verfallen, ihr eine unflätige Geschichte zu erzählen.

Nein – Irmgard konnte sachlich und kühl über alle Laster der Welt reden, und ihr Gesicht blieb dabei sauber, unschuldig. Das entzückte ihn, und er begann sich zu fragen, wie es ihm gefallen haben möchte, wenn er sie als ein in Träumen und Entsagung verdorrtes altes Jüngferchen wiedergefunden hätte.

Und einmal wagte er es, sie leise zu fragen: »Wie bist du so geworden, wie ich dich nun liebhabe, und wie du meine Gefährtin und Vertraute für immer werden sollst?«

Die Schwester antwortete: »Wie bist du so geworden, wie ich dich heut erkenne?«

Er senkte den großen ergrauten Kopf mit dem ernsten braunen Antlitz, sah eine Weile nachdenklich vor sich nieder, hob ihn dann, und seine Augen schauten in die Ferne.

»Ich denke oft«, meinte er bedächtig mit seiner warmen, dunklen Stimme, »ohne das Damals – das Furchtbare – wäre alles viel einfacher gewesen, aber – ich möchte doch nichts von allem Elenden und Harten in meinem Leben missen.«

»Ja«, sagte Irmgard ernst, »ich würde auch keine Schuld aus meinem Leben fortleugnen wollen. Man muß bezahlen, um ein Mensch zu werden.«

»Glaubst du wahrhaftig, daß es keinen anderen Weg gibt?« fragte der Bruder betroffen.

»Nein – keinen!« rief sie hell mit leuchtender Überzeugung.

»Auch für dich?«

»Auch für mich. Und für dich. Haben wir uns, als wir Kinder waren, nicht oft mit zwei Hälften einer Frucht verglichen, die nur gemeinsam ein Ganzes bilden? So mußten wir auch in unendlich verschiedener Weise doch ein gleiches erleben.«

Erich schwieg lange. Es war an einem anderen Tage, als er auf ihr Gespräch zurückkam, und es klang wie ein Geständnis:

»Was du von der Schuld gesagt hast, Irmgard, das ist – irgendwie –, ja, das ist Befreiung!«

Sie drückte zärtlich seinen Arm, den er unter den ihren geschoben hatte.

»Du hast mir schon einmal so eine Erhellung gegeben. Weißt du noch, damals auf der »Barbara«, als du vom Baum der Liebe sprachest, der so viel Äste und Zweige und Früchte trägt, und alle wachsen aus derselben Wurzel und nähren sich von denselben Säften. Daran habe ich oft denken müssen!«

»Ich weiß nicht«, sagte Irmgard, »ob Liebe überhaupt mit dem Geschlecht zusammenhängt – sie steigt wohl von ihm aus – zuweilen – nicht immer – –«

»In den Tropen gibt es einen Baum« – begann Erich langsam, grüblerisch, »es stand einer nicht weit von meinem Haus – nicht mehr wie ein Baum – wie ein Gebäude war er. Oben die Blüten und die Blätter, auch Früchte, wenn die Zeit dazu war, aber daneben kamen dicke braune Schlangen, ganze Bündel, aus den Zweigen, die wollten immer wieder nach unten ins Dunkle. Hatten sie die Erde erreicht, klammerten sie sich fest, neue Schößlinge wuchsen aus ihnen. Es war unheimlich – ich mußte oft denken: so ist doch unser Leben auch. Meinst du nicht?«

Irmgard hatte mit glänzenden Augen zugehört. »Ich sehe den Baum«, sagte sie mit einem sonderbaren Ausdruck in der Stimme. »Er muß unheimlich sein – – immer wenn man glaubt, über etwas im klaren zu sein, ist man plötzlich an seinem Gegensatz angelangt. Ich weiß nur das eine: was ich Liebe nenne, ist ein Geheimnis – unerklärbar.«

»Hängt es nicht doch an irgendeinem Zipfel mit dem Körperlichen zusammen?« fragte Erich mehr sich selbst als die Schwester. Aber sie antwortete, und es überraschte ihn, wie klar sie in all diesen Dingen bis zum letzten Grunde vordrang.

»Ganz gewiß! Denk nur an die vielbesprochene Mutterliebe – sechs Kinder kann eine Mutter haben – sorgt für sie mit allem Pflichtgefühl – und liebt doch nur eins davon mit der Liebe, die ich meine. Wer weiß, welche Bewegung, welcher Duft, welche seelische Struktur sie gerade an ihm entzückt ... Ich hörte einmal von einem schönen, gesunden, jungen Offizier, der ein schwindsüchtiges Mädchen heiratete, die bereits so krank war, daß sie ihm nie Frau sein konnte – der sie mit der Hingebung, die man meistens weiblich nennt, pflegte, während sie sich in Eiter und Blut auflöste. Jahrelang hat er sie verzweifelt betrauert.«

»Unnatürlich«, rief Erich schaudernd.

»Du sagst: unnatürlich, aber nur durch das undeutbare Geheimnis erklären sich so viel unnatürliche Taten der Menschen.«

Ihre Augen wurden dunkel, indem sie zu Erinnerungsgegenden schweiften, von denen der Bruder nichts wußte und auch nichts wissen sollte.

»Zwei Menschen können sich sinnlich sehr viel geben«, begann sie, sprach leise, träumend – »scheinen geistig fest vereint – das Letzte – das Mysterium – fehlt zwischen ihnen, und das größte Rätsel bleibt immer, wie es fehlen konnte ...«

»Man kann mit dir über solche Dinge reden wie mit einem Mann«, sagte Erich, sie beobachtend.

»Ach nein – nicht wie mit einem Mann« – meinte Irmgard, und um ihre Lippen war das schmerzliche Lächeln, das dort oft so unerwartet aus Heiterkeit und Ruhe auftauchte. »Man muß nur als Frau lernen, die Dinge, die wir alle fühlen, nicht mehr umschreiben zu wollen. Wir sind auf dem Wege ...«

»Durch Erfahrungen?« wagte Erich zu fragen.

»Wodurch sonst? Und uns zu unseren Erfahrungen bekennend.«

»Ich habe oft stundenlang mit dir geredet, wenn ich abends in meinem Leinenstuhl vor der Tür lag«, gestand Erich. »Nur hast du nie geantwortet ...«

»Wer weiß?« fragte Irmgard.

Erich hob die Hand. »Bitte – weiter wollen wir nicht gehen.«

»Nein – du hast recht – Unergründbares wird flach, sobald man Worte dafür sucht.«

»Ich meinte immer, ich wüßte etwas von der Liebe – aber ich habe in dieser Zeit erfahren, daß ich wohl doch nichts weiß – von dem wirklichen Rätsel und Geheimnis ...«

»Des verwandten Blutes«, flüsterte Irmgard leise. »Laß es sein, Bruder – an manches Geheimnis soll man nicht rühren. – Wir haben uns wiedergefunden, und so sei es gut.«

Als sie heimkehrten aus dem duftenden Sommerdämmern des Waldes, fanden sie ein Telegramm von Erichs Verwalter, aus der Küstenstadt gesandt. Viele böse Nachrichten in kurzen Worten.

Erich wurde still und blaß, während er las, noch mal und noch mal. Er war, als er aufblickte, ein alter, sorgenvoller Mann geworden. Angstvoll hatte Irmgard gewartet, nun las auch sie. Das Telegramm rief gebieterisch den Herrn zurück.

Der Fluß, durch Wolkenbrüche übermäßig geschwellt, hatte mit gewaltiger Überschwemmung das Eingeborenendorf zerstört, viele Pflanzungen verschlammt. Im Wirbelsturm war das Segelboot gekentert, Gummiernte verloren, Schiffer und Mannschaft verschwunden, ebenso der Pächter aus seinem Laden entflohen.

»Schweinerei – kolossale Schweinerei«, grollte Erich, »die Kerls haben die Ernte auf eigene Rechnung verkauft – der Wirbelsturm kam ihnen höchst gelegen.«

»Verfluchte Halunken«, schrie er plötzlich, mit der Eisenfaust auf den Tisch schlagend, daß Gläser und Teller, die dort auf die Geschwister warteten, emporsprangen und durcheinanderklirrten. »Das sollen sie büßen. Ins Loch mit den Viechern und die Nilpferdpeitsche auf ihren Rücken ... Ich werde sie schon fassen – und sollte ich den ganzen Golf ein Jahr lang auf und nieder fahren, um sie zu suchen ...«

Er schrie immer lauter, stand plötzlich still, biß die großen weißen Zähne fest aufeinander, die Lippen zogen sich krampfhaft zurück. Er ballte beide Hände, hielt sie gegen die Hüften gedrückt im Kampf mit der Wildheit seines Zorns. Er war weiß geworden um die Nasenflügel, seine Brust ging in Stößen auf und nieder.

»Ja, Schwesterchen«, sagte er nach einigen Minuten ruhig, wehmütig – »nun ist es in diesem Jahr nichts mit der Fahrt in die Kinderheimat – ich muß diese Nacht noch reisen, denke nach Paris – und will von Boulogne ein französisches Schiff nehmen.«

»Selbstverständlich mußt du gehen«, sagte Irmgard leise.

»Wenn ich den Zwölfuhrzug noch erreiche, dann kann ich morgen früh den Pariser Schnellzug erwischen«, überlegte er. »Komm, hilf mir packen.«

Irmgard wagte nicht, an Erfrischung und Abendessen zu mahnen. Nur einmal sagte sie schüchtern: »Eri, du wirst ja viele Wochen unterwegs sein – bis dahin sind vielleicht die Räuber gefaßt – und alles ist wieder in Ordnung ...«

»Und du glaubst, ich könnte inzwischen hier im Wald spazierengehen? Nein, mein Kind– da kennst du mich schlecht. Weiß ich denn, ob der Verwalter nicht auch in die Geschichte verwickelt ist? Die Saubande soll den Herrn schon spüren.«

– – – Er rieb sich die Stirn, während Irmgard Wäsche und Kleider in seinen Kabinenkoffer legte.

»Weißt du – was ich vorhabe? Ich werde Annunziata den Laden geben, den ich da unten an der Küste aufgemacht habe – ein schönes buntes Schild über der Tür mit ihrem Namen: Signora Annunziata Grande! Das wird sie freuen, sie wird sich stattlich da vor der Tür sitzend ausnehmen und kann nach ihres Herzensgenüge mit den Nachbarn schwatzen. Sie hat immer unter der Einsamkeit gelitten.« Er lachte auf, wie Irmgard ihn noch nie gehört. – »Hat der Verwalter sich anständig geführt, übergebe ich ihm mein Haus, er kann seine Braut aus Mecklenburg kommen lassen und heiraten. Der Doktor da in Dings meinte ohnehin, ich müsse in Europa bleiben, wenn ich gesund werden wolle. Das geht jetzt nicht. Höre, Irmel – du mußt mir eine gehörige Portion Chinin sofort nachschicken. Ich brauche es jetzt wie das liebe Brot für Angestellte und Arbeiter. Die neuen Tabakpflanzungen werden alle hin sein – nun – das muß getragen werden. Überschwemmungen gibt es fast jedes Jahr, nachher ist die Erde doppelt fruchtbar. Das wird jetzt dampfen da in der Glut – weißt du, dieser feuchte Nebel –, wie im Schwitzbad sitzt man drin – schauderhaft – – –«

Weit war er schon von ihr entfernt, dachte Irmgard – schon völlig zurückgekehrt in sein eigenes wirkliches Arbeitsleben ... Und sie –? Es ging ihr flüchtig durch den Sinn, daß sie vergessen hatte, ihre Bilder nach Wien zur Internationalen Ausstellung zu senden, und daß im Herbst Schülerinnen auf sie warteten ... »O Eri, mein Bruder«, sagte sie leise und beugte sich über den Koffer, sie konnte nicht weinen, die Kehle war ihr heiß und trocken, und in der Brust war ein quälender Schmerz.

Koffer und Taschen waren verschlossen, der Sohn der Wirtsleute lud sie auf seinen Handwagen, um sie voran zur Station zu fahren; Erich gab der Schwester ein Paket Scheine, die Rechnungen und ihre Rückreise nach Berlin zu begleichen. Er ziehe vor, allein zum Bahnhof zu gehen – er hasse Abschiedsszenen vor neugierigen Sommergästen.

So standen sie nebeneinander vor der Tür des kleinen grün umrankten Hauses, sie wollte ihm noch über den Wiesenweg bis zur Chaussee das Geleit geben.

Und sie wußten nicht mehr, was sie miteinander reden sollten. Es war alles zu schnell gekommen, sie waren noch nicht bereit für den Abschied und er doch mit seinen Gedanken schon fern.

»Mein Segelboot, mein schönes schlankes Segelboot –« sagte Erich unerwartet und blieb auf der Wiese stehen –, »mein kleiner Schoner, auf den ich so stolz war – immer mußten die Schwarzen ihn mir blank halten, und wenn er den Fluß hinunterfuhr, im Sonnenschein und mit geblähten Segeln im Abendwind – da sah er aus wie Silber und Gold – und am Bug stand 'Irmgard' in großen goldenen Buchstaben.«

Er seufzte tief auf, und die Schwester nahm seinen Arm, schmiegte sich dicht an ihn.

»Du wirst ein neues Schiff kaufen«, sagte sie tapfer, »und es wird ebenso schön sein.«

»Ja«, rief er – »eine weiße prachtvolle Jacht wollen wir haben – wenn ich im nächsten Sommer wiederkomme. Und dann segeln wir beide über das schöne blaue Mittelmeer, bis zur afrikanischen Küste – wie wir uns träumten, als wir jung waren – –!« Und er hob den linken Arm mit einer weiten, großen Bewegung in die Dämmerung, als wolle er mit einem Griff die goldene Zukunft an sich ziehen.

Dort, in Tau und Duft der Sommernacht, nahm Erich Irmgard noch einmal an seine Brust, und seinen Kopf zu ihrem Ohr gesenkt, flüsterte er ihr mit seiner weichen dunklen Stimme zu: »So glücklich wie in diesen Wochen mit dir bin ich nicht gewesen, seit ich ein kleiner Junge war. So glücklich hat mich keine Frau gemacht wie du, Schwesterchen.«

»Und mich nie ein Mann«, kam ihre Antwort ihm linde und süß entgegen.

Sie lächelten beide – ihre Gesichter waren sich so nahe, daß ihr Lächeln einem zarten Kusse glich, den sie sich gegenseitig schenkten.

*

Der Bruder kehrte niemals heim zur Schwester – die weiße Jacht auf blauen Meeren verschwebte in seinen letzten Fieberträumen. Das fremde Land ließ Erich Glenn nicht wieder von sich. Ein dunkles Weib schrie über der Leiche des Herrn – nackte schwarze Männer begruben ihn unter seinen Kokosbäumen.


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