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XI.

Agathe stieg auf den Boden. Sie hatte begonnen, eine Inventur all der Dinge aufzunehmen, die nun ihrer Obhut unterstellt waren. Zu dem Zweck sollten auch die Kisten und Kasten dort oben untersucht werden. Bei dieser Gelegenheit bat Eugenie, die im Winter das von Walter langersehnte Töchterchen zu den zwei Jungen bekommen hatte, ihr von den kleinen Kindersachen zu geben, die Mama noch immer aufbewahrte. Mama war so eigensinnig gewesen in der Beziehung – sie gab nicht ein Stückchen heraus. Aber Agathe nützten die Sachen ja doch nichts mehr.

Indem Agathe die letzte steile Treppe erklomm, fühlte sie plötzlich, dasselbe Leiden, von dem ihre Mutter lange Jahre hindurch heimgesucht war; thalergroße Stellen an ihrem Körper, in denen ein Schmerz tobte, als habe ein wütendes Tier sich dort mit seinen Zähnen festgebissen

Ihre Mutter wußte, warum sie diese Qualen litt. Sie – die zarte Frau – hatte sechs Kinder geboren, und vier von ihnen hatte sie sterben sehen müssen. Da war es ja verständlich, daß ihre Kräfte erschöpft waren und die mißhandelte Natur sich, rächte. In gewisser Weise war Mama immer stolz auf ihr Leiden gewesen. Sie trug es wie einen Teil ihres Lebens, als die Dornenkrone des Weibes – ihr von Ewigkeit her vorbestimmt.

Wie kam Agathe als junges Mädchen, das geschont und gehütet war und niemals für das Menschengeschlecht auch nur das Geringste geleistet hatte, zu diesem schrecklichen Erbe? Das war ja geradezu unnatürlich, war wie ein boshafter Hohn des Schicksals! Der Gram um ihre Mutter?

War es nicht auch unnatürlich, wenn sie der Tod einer müden, alten Frau, die ihre Aufgabe erfüllt hatte, mit einer so maßlosen Verzweiflung ergriff, daß sie in jedem Augenblick des Alleinseins weinte und weinte und sich nicht zu fassen vermochte?

So ging es nicht weiter! – Sie richtete sich ja zu Grunde!

Sie sah es ja – sie fühlte es!

Und sie faßte plötzlich den Entschluß, alle die Schmerzen des Leibes und der Seele durch die Kraft ihres Willens zu bezwingen. Sie sammelte alle Energie in sich und stachelte sie zum Kampf, richtete sie auf ein Ziel. –

Sie begann zu lächeln und sich selbst einzubilden, nichts thue ihr weh. Sie raffte sich auf und ging mit leichten, elastischen Schritten, wie ein glücklicher, von Thatenlust überströmender Mensch an ihre Arbeit.

Warme, dumpfe Luft erfüllte die Bodenkammer. Agathe stieß eine Dachluke auf. Ein Strom von Sonnenlicht schoß herein und verbreitete sich unter dem Balkengewirr, zwischen all den verstaubten Gegenständen, die im Laufe der Jahre hier heraufgewandert waren. Sie blickte durch das kleine Fensterchen. Die Schieferdächer der Stadt umgab ein leichter, bläulich-goldener Duft – von Ferne leuchtete die grüne Ebene des freien Landes mit ihren gelben Rapsfeldern und den Blütenbäumen an den Chausseen freundlich herüber.

Agathe begann vor sich hinzusummen:

Es blüht das fernste, tiefste Thal –
Nun, armes Herz, vergiß die Qual,
Es muß sich alles, alles wenden ...

Dabei zog sie eine Kiste hervor, schloß auf und kniete davor nieder. Obenauf lagen ihre Puppen. Als sie die verblichenen, zerzausten Wachsköpfchen wiedersah, wurde sie mit einer gewaltsamen Deutlichkeit in jenen Tag zurückversetzt, an dem sie sie eingepackt hatte.

War es auch eine andere Bodenkammer, der Sonnenstrahl tanzte ebenso lustig in dem grauen Staubwust umher, und niemand hatte seitdem die Kiste geöffnet. Unter der rosenroten Decke fand sie, zerknittert und verdrückt, wie sie es in der glückseligen Aufregung ihrer siebzehn Jahre eilig hineingesteckt hatte, das feine, spitzenbesetzte Hemdchen.

Sie wollte tapfer sein – sie wollte keine Thräne weinen ... Und erbleichend in der Anstrengung, die es sie kostete, packte sie hastig alle die hübschen kleinen Dinge in ihre Schürze, um sie Eugenie zu bringen, während sie ganz sinnlos noch immer vor sich hinsummte:

Es blüht das fernste, tiefste Thal –
Nun, armes Herz, vergiß die Qual,
Es muß sich alles, alles wenden ...

Als sie sich aufrichtete, stieß sie an eine andere kleine Kiste. Es klirrte darin wie Glasscherben. Sie war angefüllt mit leeren Fläschchen, alle von der gleichen Größe. Dazwischen lagen Bündel bestaubter Etiquetten. Agathe nahm eine Handvoll heraus – sie trugen alle die gleiche Inschrift:

– Heidlings Jugendborn. –

Das war alles, was von Onkel Gustav auf Erden geblieben war.

Agathe biß die Zähne in die Lippe. Nur nicht die leeren Hülsen gescheiterter Hoffnungen so hinter sich zurücklassen!

Nur tapfer sein, zu rechter Zeit einen Abschluß machen!

Im Eßzimmer wartete Eugenie.

Als sie anfing, die lieben Sächelchen gegen das Licht zu halten, schadhafte Stellen mit dem Nagel zu prüfen, und ihr vieles nicht mehr gut genug war, als sie wegwerfend bemerkte: »Mützen trägt jetzt kein Kind mehr, die kannst Du Dir pietätvoll einbalsamieren,« hätte Agathe sie ins Gesicht schlagen mögen. Aber diese dumpfe Wut war thöricht – sie mußte auch überwunden werden.

Agathe legte ihr freundlich beiseite, was sie gewählt hatte. Die Schwägerinnen küßten einander, und Frau Heidling junior entfernte sich in ihrer eleganten Trauertoilette mit dem Kreppschleier, der ihr lang und feierlich über den schlanken, geschmeidigen Rücken wallte. Sie würde den Burschen schicken, um den Korb zu holen.

Nun noch das Spielzeug. Cousine Mimi Bär war vorstehende Schwester der Kinderstation im Krankenhause, die konnte dergleichen immer brauchen. Mimi war erfreut, als Agathe ankam, und forderte sie auf, ihre Gaben selbst unter die Kleinen zu verteilen. Wenn's nun auch nicht die eigenen sein konnten – es kam doch so jedenfalls Kindern zu gute. In dem großen, geweißten Saal saßen oder lagen sie reihenweise in ihren eisernen Gitterbettchen, armselige Geschöpfe, manche mit Gazeverbänden um die kleinen Köpfe, von Skropheln und Ausschlag entstellt oder von Fieber verzehrt, mit gereiftem, leidendem Ausdruck in den blassen Gesichtchen. Aber alles war hell und sauber, die Bettchen so schneeig – es machte doch einen traulichen Eindruck. Als Schwester Mimi eintrat, wendeten sich alle die Köpfchen ihr zu. Ungeduldige Stimmchen riefen ihren Namen. Sie ging von Reihe zu Reihe, mit einem behaglichen Frohsinn aus ihren großen Zügen unter der steifgestärkten Haube. Sie scherzte hier, strafte lustig dort – Agathe beneidete sie als friedliche Herrscherin hier in diesem Reich der Krankheit und des Todes.

Sich überwinden – glücklich sein mit anderen – bis zur Selbstvergessenheit – bis zur Selbstvernichtung – das ist das Einzige – das Wahre!

Und sie verteilte alle ihre lieben Andenken unter die armen, geplagten Kinder des Volkes, sie spaßte und spielte mit ihnen. Da war ein kleines Mädchen – häßlich wie ein braunes Aeffchen, aber voller Lebendigkeit, wie das die arme verblaßte Prinzessin Holdewina in ihrem Bettchen Purzelbäume schlagen ließ – nein, das war zu komisch! Agathe verfiel in ein lautes Lachen – sie lachte und lachte ...

»Aber Agathe, rege meine Kinder nicht auf,« mahnte die ruhige Mimi. Agathe wollte sich zusammennehmen – die Thränen quollen ihr aus den Augen – das Lachen that ihr weh, es schüttelte sie wie ein Krampf – die Kleinen blickten furchtsam nach ihr, die Töne, die sie ausstieß, waren fern von Fröhlichkeit.

Mimi nahm sie am Arm und trug sie fast hinaus. Sie öffnete ein Fenster und pflegte Agathe sorgsam und mit Bedacht, bis diese sich endlich beruhigte und zu Tode erschöpft auf Mimis Lager ruhte.

»Armes Kind,« sagte Mimi mit ihrer überlegenen Güte, »Du mußt etwas für Dich thun. Du bist sehr überreizt.«


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