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XVI.

Frau Heidling empfing ihre Tochter auf dem Bahnhof. Während beide in Onkel Bärs großer dunkler Kalesche die aufgeweichte Landstraße entlangrollten, benutzte Frau Heidling gleich die Gelegenheit, um sich bei Agathe nach der Wäsche und den anderen häuslichen Angelegenheiten zu erkundigen. Es beunruhigte sie schon die ganzen Tage, daß sie Agathe alles allein überlassen hatte. Agathe war ja freilich ein erwachsenes Mädchen, und ihr Mann hatte Recht, wenn er ärgerlich wurde, weil sie die Reise mit ihm als ein Opfer betrachtete, und wenn er sagte, Agathe müsse doch auch lernen, sich selbständig um etwas zu kümmern. Die Regierungsrätin hatte nun einmal das quälende Gefühl, sie würde bei der Heimkehr vieles anders finden, als sie es gewohnt war und als sie es für richtig hielt. Agathe war auch so gleichgültig, so interesselos. Ihre Fragen: ob keine von den Damastservietten gefehlt habe, und ob die Mädchen abends keinen Braten, sondern Wurst bekommen hätten, beantwortete sie in einem milden, unliebenswürdigen Ton.

Agathe dachte nicht daran, der Mutter von ihrer Begegnung mit der Daniel zu sagen. Sie würde sich aufregen, und Agathe war von jeher gewohnt, ihre Mutter zu schonen. Dann die Furcht, Mama möchte irgend etwas Moralisches vorbringen – etwas Tadelndes über Lutz und die Schauspielerin, oder Agathe bedauern, daß sie eine so häßliche Geschichte erfahren hatte. Und das alles war es doch gar nicht, was ihr so unsinnig weh that – nicht Abscheu – nicht tugendhafter Unwille – nur Neid – Neid – Neid!

* * *

Agathe hörte beim Abendessen ein langes und breites Gespräch: Cousine Mimi wollte Diakonissin werden, aber die Eltern wünschten, sie sollte sich die Sache noch ein Jahr überlegen. Der Regierungsrat nannte den Plan eine exaltierte Mädchenidee und sprach von dem Beruf, den die Tochter zuerst bei den Ihren zu erfüllen habe; Agathe kam es vor, als sei sie von den Menschen, ihrem Thun und Reden und Wollen durch einen weiten, mit Nebel angefüllten Raum getrennt.

Mimi begleitete sie zu ihrem Zimmer – sie hatte es auch während jenes fröhlichen Sommeraufenthaltes als Pensionärin bewohnt. Nicht das Geringste hatte sich hier verändert: dieselbe altertümliche, weiß und grün gestreifte Tapete, dieselben geraden, hochlehnigen Stühle, mit knisternd steifem, hartglänzendem Möbelkattun bezogen, der auf der ganzen Welt nur noch in den Gaststuben konservativer Landedelleute zu finden ist. Die kühle, von einem Lavendelaroma und dem Geruch der Viehställe durchzogene Luft schlug Agathe mit tausend plötzlichen Erinnerungen an die erste Jugend, an Frohsinn und Gelächter entgegen.

»Weißt Du noch?« fragte Mimi und hielt die Kerze empor, einen alten, wunderlichen Kupferstich zu beleuchten. In wurmzerfressenem Mahagonirahmen Sappho, die sich flatternden Gewandes und flüchtigen Fußes mit schönem Schwunge vom leukadischen Felsen ins Meer stürzt.

– Eines Tages hatten sie die Jungens hereingeholt und o – wie hatten sie mit Martin und den Kadetten über diesen theatralischen Schmerz gelacht, gekichert und gespottet.

Mimi zündete ihrer Cousine das Licht an und ließ sie allein.

Agathe mußte sich ruhig verhalten, denn nebenan, nahe der Thür, schliefen die Eltern.

Und vor ihr lag die lange, lange, einsame Nacht.

* * *

– – Das war so grauenhaft: sich vorzustellen, wie er bei einer anderen gewesen, während sie ihm gehörte mit jedem Pulsschlag ihres Blutes, dem ganzen überschwänglichen Gefühl ihres Herzens und allen Träumen ihres Hirns.

... Und kein Gedanke kam von ihm zu ihr geflogen ... Sie glaubte seine geistige Nähe zu empfinden, und sein Kopf ruhte befriedigt auf einer weichen, atmenden Brust, sein Ohr hatte in stiller Dunkelheit dem freudewilden Herzschlag jener Frau gelauscht. Ihre geöffneten Lippen hatten den Hauch seines Kusses zu spüren gemeint, und sein Mund hatte Wonne von dem Antlitz der anderen getrunken ...

– Pfui – wie das gemein war und schmachvoll lächerlich dazu ... Wie ihre im Todeskampf ringende Liebe geschändet wurde durch die Erkenntnis der Wahrheit, der elenden, abscheulichen Wirklichkeit.

* * *

»Hast Du Kopfweh?« fragte Mama Agathe, als die Verwandten sich um den Frühstückstisch versammelten.

»Ich weiß nicht – nein.«

Die Wände, der Tisch, der Stuhl, auf den sie sich setzte, alles schien leise zu schwanken. Sonderbar ...

»Du wirst mir doch nicht krank werden?« fragte der Regierungsrat besorgt.

In dem heiteren Frühlingssonnenschein, der heut Morgen zu den hohen Fenstern des Gartensaals hereinglänzte, unter den vollen, gesunden Landmenschen, die in ihren Kleidern schon einen Duft von draußen – von Gras und Blumen und frischer, feuchter Erde zum Frühstück brachten, sah er mit Unzufriedenheit und verletztem Vaterstolz, wie abgemagert und dürftig Agathe vor ihm saß. Seine Tochter war ja häßlich ... ein graues, verzerrtes Gesicht mit scharfen, spitzen Zügen und dunklen Ringen um den Augen.

Mimi legte ihr Schinken und Honig und Kuchen auf den Teller.

»Liebe Agathe,« begann sie in ihrer weisen, näselnden Stimme, »unser alter Herr Rat sagt immer, die erste Mahlzeit wäre die nahrhafteste. Morgen kommst Du mit, im Kuhstall Milch trinken.«

Der Regierungsrat neckte sie. »Werden Deine Kranken auch mal Honig und Schinken bekommen?«

Agathe versuchte zu essen – es mußte doch möglich sein, wenn sie sich zwang. Ein fester Knäuel saß ihr im Hals. Schon nach den ersten Bissen begann sie zu husten.

»Es ist nichts,« stammelte sie mit einem Lächeln, und dabei hustete und hustete sie immer heftiger. Sie wurde aschfahl, die Schweißtropfen rannen ihr von der Stirn und Thränen über die Wangen. Instinktiv preßte sie die Hand auf die rechte Seite der Brust, wo sie einen leisen Schmerz fühlte. Man sprang mit besorgten Mienen von den Stühlen. Mühsam erhob sich Agathe, um sich vor all diesen teilnehmenden Blicken zu retten. Sie spürte einen fremden, unheimlichen Geschmack auf der Zunge – da – das war Erleichterung ...

Sie hielt ihr Tuch an den Mund – es färbte sich dunkelrot.

Blut ...

Entsetzt, hilfesuchend sah sie ihre Mutter an. Frau Heidling stützte sie und führte sie hinweg. Mit einer ruhigen, tröstenden Stimme sagte sie: »Du legst Dich still hin – dann wird sich's schon beruhigen. Das kommt wohl mal vor.«

Sie bettete die Tochter, hielt sie im Arm, als ein neuer Anfall kam, und hatte ein Lächeln, indem sie ihre Wangen streichelte und sagte: »Armes Kind, hast Du Dich geängstigt? Das sieht gleich so schrecklich aus. Nicht wahr? Das kommt ja so oft vor.«

Agathe lächelte auch. Ja – ja – sie wußte schon – das kam oft vor.

Alles war gut so – ganz friedevoll und gut.

Nur die Aussicht, das Erlebte jahrelang heimlich mit sich weitertragen zu müssen, hatte sie so aufgeregt und zerrissen.

Da – sie tastete mit der Hand – da unter dem rechten Schlüsselbein – wenn sie atmete, fühlte sie ein leichtes Rasseln an der Stelle. Kaum Schmerzen.

Sterben war ja gar nicht schwer – war ja ein müdes Aufgeben – ein gleichgültiges sich Abwenden von allem ...

Die Augen geschlossen, ein wenig fiebernd, lag sie, nachdem der alte Sanitätsrat, der mit dem Wagen aus der Stadt geholt war, sie verlassen hatte.

Nicht reden – nichts erklären zu brauchen – ach – das war gut.

Auf Zehen schlich jemand ins Zimmer, sie kannte ihres Vaters Schritt, aber sie öffnete die Lider nicht. Er küßte sie auf die Stirn – behutsam – sie fühlte warme Tropfen über ihre Schläfe rinnen. Da quollen ihr auch die Thränen. Er wischte sie ihr fort und murmelte: »Mein gutes Kind – meine gute Kleine!«

Mama, die in einer großen weißen Schürze vor dem Bette saß, machte ihm ein stummes Zeichen, beide gingen leise, leise wieder hinaus und standen flüsternd vor der Thür.

»Der Herr Rat sagt, wenn Du hübsch vorsichtig sein willst, bist Du in vierzehn Tagen wieder munter,« erzählte Mama mit der heiteren Stimme, die so seltsam von ihrem gewöhnlichen, sorgenvollen, müden Ton abstach, und die sie nur annahm, wenn eine große Gefahr ganz nahe stand, doch durch Selbstbeherrschung und Verständigkeit vielleicht noch abgewendet werden konnte. Agathe erinnerte sich dieser besonderen, sanftheiteren Sprechweise ihrer Mutter von den Kranken- und Sterbebetten ihrer kleinen Geschwister her.

* * *

Wie gut es that, so zu ruhen, umspielt von der linden Frühlingsluft, die zu den geöffneten Fenstern bald die kräftigen Gerüche der Landwirtschaft, bald die zarten Düfte des jungen Laubes an der großen Linde hereintrug. Keine Schmerzen – nur eine leichte fieberische Verwirrung des Denkens, das in halben Schlummer überging. Und alles Erlebte so ferne – aus einem früheren Dasein mit verblaßten Farben herüberdämmernd.

Auf dem Tischchen neben ihr standen Blumen, Flieder und Kamelien. Cousine Mimi brachte sie täglich frisch aus dem Gewächshaus. Die kostbaren Blumen, die nur bei den seltensten Gelegenheiten geopfert wurden – das hatte so etwas Feierliches, wie letzter Liebesdienst.

Sie war doch nicht verlassen – man hätte sie gerne noch behalten. Und sie hatte ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit ...

Auch ein Bild des Heilandes hatte Mimi an ihrem Lager aufgestellt, sie wollte ja Diakonissin werden, und ihr Sinnen, ihr ganzes Wesen war von einer heiteren und bestimmten Glaubenskraft erfüllt.

Agathe sah gerne auf das edle gesenkte Haupt unter der Dornenkrone. Sie betete viel – stumm mit gefalteten Händen. Es war ihr dem Gottessohn gegenüber wie einem hohen wundervollen Menschen, von dem man viel hat erzählen hören – aber man glaubte doch niemals, von Person zu Person ihn kennen zu lernen. Und da meldet er plötzlich seine nahe Ankunft – und nun fühlt man erst, was das besagen will.

* * *

Eugenie schrieb einen langen, teilnehmenden Brief. Sie erzählte von einer Landpartie, die am zweiten Ostertage stattgefunden hatte.

»Es war recht schade, daß Du nicht dabei warst. Herr von Lutz fragte auch nach Dir und läßt Dir gute Besserung wünschen. Er war ganz verrückt und machte der dummen Wehrenpfennig den Hof – aber, wie jeder sehen konnte, nur zum Spaß. Die Daniel ist übrigens nach Schluß der Saison anderweitig engagiert und geht von hier fort ...

Mama las Agathe den Brief vor und sah sie liebevoll an. Ein mattes Lächeln blieb auf den abgezehrten, scharf und schmal gewordenen Zügen der Kranken.

– – Nun hatte sie auch diese Prüfung bestanden ... Sie fühlte sich stark in aller Schwäche – sie hatte seinen Namen gehört und nach dem ersten Augenblick, in dem es ihr gewesen war, als sinke sie mit ihrem Lager hinab in ein dunkles kaltes Wasser, war sie ruhig geblieben.

Gott sei Dank – kein Neid und kein Haß auf die Daniel war mehr in ihr – und auch keine Hoffnung und kein Wunsch.

Wie das gut that.

Auch das Glück war doch im Grunde Schmerz gewesen.

Ob sie noch viel leiden würde? So leicht konnte das Sterben doch nicht sein? Sie mußte jetzt oft darüber nachdenken, besonders in der Nacht, wenn sie stundenlang nicht schlief. Es mußten noch Kämpfe kommen. Sie wollte mutig sein.

Nach den heftigen Anfällen, die sie niedergeworfen hatten, war der Husten fast verschwunden. Aber in einer Nacht, als Mama ihr zu trinken gab, weil der Mund ihr sehr trocken war, fiel er sie plötzlich wieder an. Sie setzte sich aufrecht. Ach, war das ein Schrecken. Keuchend rang sie mit dem Feinde, der sie schüttelte und ihr die Brust schmerzlich zerriß. Die Luft ging pfeifend durch ihren Hals – sie schlug mit den Armen um sich in der Erstickungsnot – ihre Mutter hielt sie aufrecht und wischte ihr, tief seufzend, die vom kalten Schweiß genäßte Stirn.

Der Regierungsrat kam, eilig und flüchtig bekleidet, aus dem Nebenzimmer.

»Mein Kind – mein Kind – was ist denn nur geschehen?«

»Laßt mich doch sterben,« keuchte Agathe. »Laßt mich doch sterben – es ist ja bald vorüber. O Gott! O mein Gott!«

Jetzt hielt der Vater sie, die Mutter sank vor dem Bett auf die Knie, faßte ihre Hände und küßte sie mit lautem, leidenschaftlichem Schluchzen.

»Nein – nein« – ächzte sie dabei, »Du darfst nicht – Du darfst nicht sterben. Das wirst Du uns doch nicht anthun – das kann doch der liebe Gott nicht geschehen lassen ...«

Und als sei es ihr möglich, dem Tode zu trotzen, wenn sie nur wollte, flehte nun auch ihr Vater, vor Angst aller Vernunft beraubt, sie an, bei ihnen zu bleiben.

»... Wir haben Dich ja so lieb – Du weißt es ja gar nicht – alles – alles wollen wir Dir zuliebe thun ... Werde doch nur wieder gesund – mein süßes Kind – wie sollen wir denn nur leben ... Wir können Dich ja nicht entbehren ...«

– Nein – sie hatte es nicht gewußt – hatte den wilden Schmerz, die stürmische Zärtlichkeit nicht vorausgesehen. Das war ein Kampf – ein entsetzlicher, der ihr die Seele zerriß, während die Brust nach Atem rang.

Sie glaubte, es müsse wieder ein Blutstrom quillen und ihre Qual enden. Aber es löste sich nur ein zäher Schleim, und dann beruhigte sich der Anfall.

Sie war seelisch tief erregt, und von dem Schweiß der Schwäche übergossen, mit strömenden Thränen bat sie Papa und Mama, ihr den Abschied nicht so schwer zu machen – sie möchte ja so gerne sterben, und es wäre ja gut so. Und sie hätten ja doch noch Walter und Eugenie, Eugenie würde ihnen auch eine gute Tochter sein.

Endlich schlief sie sitzend, die Arme um ihres Vaters Hals geschlungen, den Kopf an seine Schulter gelehnt, vor Erschöpfung ein. Und er hielt sie so, wohl eine Stunde lang.

Als sie aufwachte, sah sie aus verworrenen Träumen beim Schein des Nachtlichtes noch immer die beiden Gesichter angstvoll und mit verzweifelter Liebe auf sich gerichtet.

Traurig lächelnd legte sie sich auf die Kissen zurück und ließ sich betten und zudecken.

Nein – sie durfte nicht sterben – sie mußte schon leben wollen.

Heimlich meinte sie: wenn sie es auch versuchte, Gott würde ihr Opfer verstehen und würde wohl Einsehen haben.

Der alte Hausarzt schien am folgenden Morgen durch die Schilderung des nächtlichen Schreckens nicht sonderlich beunruhigt. Er meinte, die Heilung mache gute Fortschritte, und das werde der letzte Anfall gewesen sein.

Nach vierzehn Tagen durfte Agathe wieder aufstehen, sollte gute Beefsteaks und Schwarzbrot essen, Milch und Bier trinken, spazieren gehen oder doch in der Luft sitzen und liegen.

Es fanden jetzt täglich Beratungen zwischen den Verwandten und den Eltern statt, wohin man im Sommer mit ihr gehen könne und ob nicht für den nächsten Winter ein Aufenthalt im Süden angezeigt sei. Agathe hörte um sich her die bekannten Namen: Görbersdorf – Davos – Meran. Natur- und Kaltwasserärzte wurden vorgeschlagen und ein sehr berühmter Mann, der nach einem Metallstück, das der Kranke einige Zeit am Leibe getragen, die erfolgreichsten Kuren verordnete. In jedem Briefe, den die Mama von ihren Freunden empfing, wurde ihr ein neues Heilmittel angepriesen und auch gleich zugeschickt. Heute sollte Agathe Gelee von Schnecken essen, morgen sich mit Hasenfett einreiben und übermorgen Eselsmilch trinken.

Schließlich schrieb der Regierungsrat doch an eine bekannte Größe auf dem Gebiete der Lungen- und Brustkrankheiten. Als der Professor antwortete, es treffe sich gut, er habe eine Patientin in jener Gegend zu besuchen und könne damit einen Abstecher nach Bornau verbinden, wirkte das wie eine Erlösung auf die Eltern.

Agathe selbst sah der Untersuchung in schwankender Stimmung entgegen. Sie hatte keine Lust mehr zum Leben und keine Freudigkeit mehr zum Tode. Ein langes Leiden mit den Stationen scheinbaren Wohlbefindens dazwischen – der Jammer von Papa und Mama ins Endlose hinausgezogen – das war doch ganz anders schrecklich als ein leichtes, friedliches Einschlafen. Sie sah die ihr drohende Krankheit nicht mehr in einer romantischen, sondern in einer trüben, kläglichen Beleuchtung, sie sah plötzlich alles Widerliche, Unästhetische, Peinvolle. Seit es ihr wieder besser ging, war sie überhaupt nicht mehr in der sanften, verklärten Gemütsverfassung, sondern ungeduldig, leicht zur Heftigkeit und zu Thränen gereizt.

Sie versuchte, sich durch Lesen von Psalmen und durch Gebet zu beruhigen. Ihre Seele in den Willen des Herrn zu ergeben – ach, das war das einzige, was ihr helfen konnte. Aber sie glaubte endlich, still geworden zu sein, so merkte sie daran, daß sie keinen Bissen feste Nahrung herunterschlucken konnte und daß ihre Hände von einer unangenehmen Feuchtigkeit bedeckt waren, wie fruchtlos ihr Mühen blieb.

Der alte Rat kam schon vor dem Professor in seinem eigenen Wagen. Endlich erschien auch der berühmte, erwartete und gefürchtete Gast.

Agathe befand sich mit den Eltern in der großen Wohnstube. Auch Tante Malwine war gegenwärtig und Cousine Mimi, weil der Vorgang sie, ihres künftigen Berufes wegen, doch sehr interessierte. Onkel August empfing den Professor unten auf der Treppe, geleitete ihn hinauf und übergab ihn dem Regierungsrat. Alles war unbeschreiblich feierlich – wie bei einer Gerichtssitzung.

Der Professor schien etwas erstaunt durch die zahlreiche Familie.

»Ach – welches ist die Patientin?« fragte er, indem er ringsum grüßte und dem Kollegen die Hand schüttelte.

Agathe erhob sich zitternd.

Er sah sie scharf an. Ein zwergenhaft kleiner, bleicher Mann. Bequem in einen Lehnsessel zurückgelegt, die Hände behaglich gefaltet, ließ er sich erzählen, wie der Fall sich ereignet habe, wie alt Agathe sei, welche Krankheit sie durchgemacht habe, – auch das Alter ihrer Eltern und ihr Gesundheitszustand wurde genau geprüft, und besonders fragte er, ob schon Fälle von Tuberkulose in der Familie vorgekommen seien. Nein, das war durchaus nicht der Fall. Frau Heidling beantwortete alles mit der heiteren Stimme der angstvollen Zeiten.

Endlich verließ der Regierungsrat das Zimmer.

»Sie sind sehr eindrucksfähig,« sagte der Professor, das Ohr an Agathes Brust gelegt ... »ganz ungewöhnlich eindrucksfähig.« Den Kopf erhebend, dicht vor ihrem Gesicht, und den magern Hals betrachtend, in den die letzten Wochen förmliche Löcher gegraben hatten, fragte er: »Haben Sie sich vor diesem Anfall heftig alteriert?«

»Ja,« hauchte Agathe, und eine dunkelrote Blutwelle färbte ihr Hals und Busen.

»Wann – wenn ich fragen darf?«

»Am Tage vorher.« Sie zitterte stärker, ihr Herz schlug qualvoll heftig.

»Kind – davon hast Du mir ja gar nichts gesagt,« begann ihre Mutter vorwurfsvoll.

Der Professor warf der Rätin einen schnellen, zur Vorsicht mahnenden Blick zu.

»Ich dachte es mir,« bemerkte er ruhig. »Das erklärt die Sache. So – nun wollen wir einmal auf der anderen Seite klopfen ... Die Wunde ist übrigens sehr gut geheilt.«

Der alte Sanitätsrat erhielt ein Kopfnicken.

Agathe legte ihr Kleid wieder an und die Aerzte zogen sich zu einer Beratung zurück.

Der Regierungsrat und Onkel Bär sahen zur Thür herein.

»Was hat er gesagt?«

Man zuckte mit den Schultern und zeigte nach der Thür, hinter der die Aerzte verschwunden waren.

»Sie hat sich alteriert,« berichtete Tante Malwine halblaut, vorsichtig und auf den Zehen zu ihrem Manne tretend.

»Große Alteration ...« flüsterten Onkel Bär und der Regierungsrat.

»Agathe hat sich sehr alteriert, ich wußte nichts davon,« wiederholte Frau Heidling dem Regierungsrat. Alle blickten Agathe teilnehmend und neugierig an. Nur Cousine Mimi sah ein wenig streng aus. Wie konnte man sich so alterieren, daß man krank wurde!

Agathe schämte sich, sie litt Folterqualen. Nun würden sie alle darüber reden und nicht ruhen, bis sie es endlich herausbekommen, worüber sie sich alteriert hatte. –

Dann wurde sie von einem wilden Schrecken erfaßt. Sie war doch gewiß sehr krank, wenn man dort drinnen so endlos lange über sie sprach.

Das wurde ja unerträglich!

Sterben müssen – aufhören zu sein Nein – nein – alles Andere! Nur leben! O Gott – lieber, barmherziger Gott – nur noch ein bißchen leben.

Plötzlich hörten alle das tiefe, behagliche Lachen des alten Sanitätsrats.

Wie das überraschte und den stummen Bann der Erwartung brach!

Der Regierungsrat öffnete die Thür – auch der Professor lachte über das ganze Gesicht.

»Ja – das sind so Erfahrungen, mein lieber Kollege,« hörte man ihn lustig sagen.

Als er im Rahmen der geöffneten Thür das blasse Mädchenantlitz mit den leidensvollen Augen gespannt auf sich gerichtet sah, verschwand sein Vergnügen an der guten Anekdote hinter dem mild-ernsten Berufsgesicht.

Er wendete sich zu Frau Heidling.

»Nun – ich kann Ihnen ja günstige Auskunft geben,« sagte er freundlich. »Von Tuberkulose finde ich keine Anzeichen. Ihr Fräulein Tochter ist sehr sensibel – unter dem Einfluß heftiger psychischer Erregung ist ihr da ein Aederchen gesprungen. Die Konstitution muß Widerstandsfähiger gemacht werden – sonst könnten sich doch böse Dinge entwickeln. – Ihre Gesundheit, liebes Fräulein, ist in Ihre eigene Hand gelegt. Geben Sie sich heiteren Eindrücken hin, genießen Sie Ihre Jugend.«

Er erteilte nun seine einfachen Verordnungen, die in allen Hauptsachen mit denen des alten Hausarztes übereinstimmten. Doch hörte man ihm aufmerksamer zu, und jedes Wort aus seinem Munde schien einen höheren Wert zu besitzen.

Agathe hätte ihm am liebsten in heißer Dankbarkeit die Hand geküßt.

Als der Professor sich entfernt hatte, umarmten Papa und Mama die Tochter. Ihr Glück dünkte Agathe so unschätzbar, so köstlich und so tief befriedigend, daß ein freudiger, ja ein wahrhaft kampflustiger Mut zu jeder Entsagung über sie kam.

Sie wollte gesund sein, sie wollte leben – für niemand und für nichts anderes auf der weiten Welt, als nur für ihre Eltern.


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