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III. Band:
Sodom und Gomorrha.


Die Zukünftigen.

Auf dem Quai d'Orsay und dem Quai der Tuilerieen drängte sich ganz Paris, der Flaneur mit dem Arbeiter, der Politiker mit dem lungernden Gamin, die Grisette mit der Dame der Halle, die Faubourgs mit den Lions des Boulevard Jatlien. Der Tag, der 9. Oktober, war ein prächtiger, warmer Herbsttag gewesen und Paris durfte sich das doppelte Schauspiel, die entscheidende Sitzung über die Präsidenten-Frage in der Nationalversammlung und die erste Einschiffung der Arbeiter-Familien nach Algier, nicht entgehen lassen.

Fünfzehntausend Menschen, die Bevölkerung der Juni-Barrikaden, die Leibgarden Barbés, Blanquis, Caussidières und Louis Blancs waren von der republikanischen Diktatur Cavaignacs zur Kolonisation oder vielmehr Deportation nach Algerien verurteilt, da man Tausende weder einsperren noch erschießen konnte. Die kleinen Dampfschiffe der Seine sollten wöchentlich zwei- bis dreimal die Familien transportieren. Der erste Transport hatte bereits am Vormittag den Quai d'Orsay verlassen sollen, die Einschiffung sich aber bis zur späten Stunde des Nachmittags verzögert, in der die Debatten der Deputierten-Kammer geschlossen zu werden pflegten.

Das alte Palais Bourbon, das so schwere Phasen in der Geschichte Frankreichs gesehen, nach der großen Revolution der Sitz des Rats der Fünfhundert, unter dem Kaiserreich dem Corps législatif überwiesen, dann die Deputierten-Kammer, in der Gautier die vernichtende Adresse gegen den letzten Bourbon schleuderte und die Herzogin von Orleans vergeblich ihren Söhnen Frankreich zu retten versuchte, jetzt der Sitz der Assemblée nationale, war bis an die Gitter, durch welche man seit dem Maiputsch das Portal umgeben, dicht mit Menschenmassen besetzt. Die Gänge und Galerieen des Sitzungssaales waren überfüllt, kaum für die Deputierten und das Personal zu passieren.

Die Glocke der »Viktoria« wurde zum erstenmal geläutet, Freunde und Verwandte drückten sich zum letztenmale die Hand, Hunderte von Tüchern wehten aus der langen Menschenreihe, die an der Balustrade des Quais sich drängte, der Kapitän hatte bereits auf dem Radkasten stehend, den Befehl erteilt, das Schiff von allen nicht zur Fahrt gehörigen Personen zu räumen, und die beiden Posten der Nationalgarde an der Landungsbrücke nötigten zur Eile. Plötzlich entstand ein Gedräng auf dem untern Quai in der Nähe des Schiffes; ein Mann, ein junges Mädchen an ihrem Arm haltend, versuchte sich durch die Menge nach der Landungsbrücke zu drängen.

»Was will der alte Narr? Sacre! Bleibt, wo Ihr steht! Seht Ihr nicht, daß es zu spät ist?«

»Laßt ihn durch, der Gentleman hat Eile. Er will der Nachfolger Abd-el-Kaders werden!«

»Es ist der Kaiser von Marokko mit der Favorit-Sultanin!«

» Par Dieu! die müßte ja schwarz sein, und die ist weiß wie ein Leichentuch!«

»Hi hi! ho ho! Denkst an das Deine?« Der Alte, der das Durchdrängen versuchte, sah ihn höhnisch aus den kleinen zwinkernden Augen an, die stechend aus dem runzelvollen, bleifarbenen Gesicht funkelten. »Komm zu mir, Mann! sparst das Leichentuch, liegst ebenso bequem, 's ist doch nur Moder hinter dem fetten Wanst – hi hi! ho ho! – Moder, Moder, eh' acht Tage vergehen!«

»Verfluchter alter Kerl!« Der dicke Fleischwarenhändler, dem die Rede gegolten, drückte sich unbehaglich zur Seite.

Der Alte zog das Mädchen weiter durch die Menge, die allmählich Raum gab.

»Es ist Samson, der Fossoyeur; Totengräber. laßt ihn, er hat den Teufel im Leib!«

Die Worte waren leise geflüstert von einem jungen Mann, der die Abzeichen der medizinischen Schule trug, aber das scharfe Ohr des Alten hatte sie dennoch verstanden.

»Samson, der Fossoyeur? Hi hi! ho ho! was Du nicht weißt! Bist ein Liebhaber vom alten Doktorchen, aber noch mehr von frischem Fleisch fürs Anatomiemesser oder für den Cancan im Chateau rouge! Kenn' Dich auch! kenn' Dich auch! ho ho! werden noch manches Geschäft machen!«

»Samson, der Fossoyeur, Samson von den Katakomben und die Fleur de Mort!« Die Drängenden wichen mit einer gewissen Scheu zur Seite.

Der Mann, dem es galt, kicherte wie toll und machte dazu eine Menge vertrackter Gebärden und Grimassen. Er hatte überhaupt ein unheimliches, häßliches Aussehen. Unter Mittelgröße, sah er noch kleiner aus, als er war, infolge der gebückten Haltung des Oberkörpers, die noch auffallender wurde durch die Beweglichkeit des kleinen Kopfes, der auf dem langen dürren Halse sich drehte und wendete, als hätte er statt der Halswirbel Gummibänder. Der ganze Körper war hager und dürr wie ein Skelett, und der weite schwarze Rock, dessen Farbe jedoch durch Alter und dumpfe Luft in ein fahles Grau übergegangen war, hing wie ein Sack um seinen Leib. Der Rock war offenbar für einen Menschen von ungewöhnlichen Formen gemacht, denen aber die Arme des Katakombenwächters durchaus nicht entsprachen. Diese waren über die Maßen lang und streckten sich wohl eine Spanne weit dürr und hager aus den Ärmeln hervor, so daß er mit den gleichfalls unförmlichen und bis zu den Nägeln behaarten Händen sich im Stehen bequem die Schnallen lösen konnte, die über seinen kurzen Kniehosen dicke grauwollene Strümpfe festhielten. Sein Gesicht war klein, und unter dem spärlichen starren Haar und der schmutzigen Pelzmütze von schlaffen Falten und Runzeln förmlich bedeckt, so daß es schwer war, einen eigentlichen Zug zu entdecken. Dagegen waren die Augen von großer Schärfe und trotz ihrer Kleinheit und seines Alters von unaufhörlichem, obschon unangenehmem Glanz.

Einen scharfen Kontrast zu dieser Figur bildete die des jungen Mädchens, das er, ohne sich mehr als die äußerste Notwendigkeit forderte, um sie zu kümmern, hinter sich her zog.

Das Mädchen, das die Menge mit dem traurigen Namen Fleur de mort – Totenblume – bezeichnet hatte, glich in der That einer solchen. Sie war groß und schlank und dabei von außerordentlich schönen Formen, die in dem knappen schwarzen, ziemlich phantastisch mit verschossenen Silberborten und Tressen besetzten Tuchkleid voll und schön hervortraten. Wenn die Hülle der Kleidung gefallen wäre, würde man ein Marmorbild vor sich zu sehen gemeint haben, von so bläulichem mattem Weiß ohne eine Spur jeder Röte war die gleichförmige Farbe ihrer Haut. Das Gesicht zeigte reine und stolze Linien und sie erhielten eine fast wunderbare Schönheit durch das üppig reiche schwarze Haar, und die großen blauen Augen, deren ernster, starrer und fester Blick einen merkwürdigen Eindruck machte.

Dieser Eindruck verstärkte sich noch, wenn man bei näherer Betrachtung bemerkte, daß diesem so auffallend schönen Gesicht und diesen so mächtig ergreifenden Augen eigentlich das Leben fehlte, daß eine unheimliche Unbeweglichkeit, etwas gewissermaßen Leichenhaftes über dieser Gestalt und diesen Zügen verbreitet war. Es schien unmöglich, daß in diesen Wachsadern Pulse schlugen, unter dieser bleichen und durchsichtigen Haut warmes und rotes Blut strömen sollte, und man hätte eine schöne Tote vor sich zu sehen geglaubt, wenn man sie nicht sich bewegen gesehen hätte.

In Paris fällt selten eine Kleidung auf, sei sie so abgeschmackt oder ungewöhnlich, wie sie wolle. Der Strom der Menge, das ewig Neue und Wechselnde geht darüber hin, und die Lumpen flanieren auf dem Boulevard und den Promenaden der Avenues neben dem Flitterstaat eines Luftspringers oder der prächtigen Solidität der Equipage einer Herzogin oder eines Millionärs. Dennoch konnte die eigentümliche Kleidung des Mädchens, das einen kleinen schwarzen Schleier als Kopfputz über den Haarwellen des Hinterkopfes als einzige Kopfbedeckung trug, nicht verfehlen, die spöttischen und gehässigen Bemerkungen der entfernter stehenden Frauenzimmer zu erregen.

Doch alle Bemerkungen des Hohns oder der Scheu, welche das seltsame Paar erregte, gingen unbeachtet an dem Ohr des Mädchens vorüber, das sich in der drängenden, schreienden Menge gleichsam in tiefer Einsamkeit zu befinden schien, während ihr Begleiter mit seiner eidechsenartigen Beweglichkeit scheinbar alles sah und hörte.

»Samson, der Fossoyeur? Samson von den Katakomben? Ho, ho! ha, ha! Kennt Ihr den Samson? Schlechtes Gesindel! schlechtes Gesindel! Revolution wollt Ihr machen, Republik haben? Jammervolk! Jammervolk! Hi, hi, habt nicht einmal eine Guillotine, eine lumpige Guillotine, keine Leichen für des Samsons Sohn! Müßt Euch die Schädel bei mir holen! ho, ho! Kommt in die Katakomben, wenn Ihr Männer sehen wollt – die Pest über Euch, daß ich wieder Leichen kriege!«

So leichtsinnig der Pariser im allgemeinen über den Ernst des Todes denkt, der Name der Katakomben hat immer etwas Unheimliches für ihn, etwas, das sich mit unbekannten Schrecknissen verbindet. Der Bewohner der Arondissements südlich der Seine zwischen den Invaliden und dem Jardin des Plantes um das Louxemburg und das Pantheon her, weiß, daß er auf einer unterirdischen Gräberwelt lebt, liebt, politisiert, tanzt und lacht, deren Unermeßlichkeit er nicht kennt, deren unheimliches Dasein er nur ahnt, da die Meisten die Ausdehnung nur von übertriebenen Erzählungen her kennen und sie nie betreten haben. Sie wissen nur, daß außer dem Haupteingang am Octroi-Gebäude der Barrière d'Enfer verschiedene geheime Ausgänge der unterirdischen Gänge und Gewölbe in Kanäle und Keller münden, die nur wenig Eingeweihten, vielleicht niemand unter den Lebenden mehr bekannt, und daß schon häufig Menschen in dieser Gräberwelt spurlos verschwunden sind.

Der Ruf des Katakombenwächters war überdies verbreitet genug, obschon er nur wenigen von Person bekannt war. Man wußte, daß er ein Sohn oder Verwandter des bekannten Scharfrichters der Revolution von 1789 war und sich dessen rühmte, daß er nur äußerst selten sein unterirdisches Reich verließ, wo er eine gewisse Herrschaft über die Führer und anderen Aufseher übte, und man erzählte die abenteuerlichsten Geschichten von seiner Bosheit, seinen Wunderlichkeiten und seinem unheimlichen Treiben.

Es war der Erscheinung Samsons und seiner ungewöhnlichen Muskelkraft, mit der er Stöße und Tritte austeilte, gelungen, bis zum Rande des Wassers und zu der Stelle vorzudringen, wo die Matrosen des Dampfbootes eben beschäftigt waren, die fliegende Brücke abzuschieben, die den Übergang zum Schiff gebildet hatte. Eben hatte die Glocke bereits zum zweitenmal geläutet.

In diesem Augenblick schüttelte ein junger Artillerie-Offizier am Bord des Schiffes einem bärtigen kräftigen Mann mit starkem roten Bart, dessen Blouse und rauhe Hände den Arbeiter bekundeten, die Hand. Der Mann mochte etwa acht- bis neunundzwanzig Jahre zählen, sein Gesicht war finster, aber kräftig und ehrlich. An seinem Arm lehnte ein junges Weib, dessen freundlichem, etwas leidendem Gesicht das kleine Grisettenhäubchen allerliebst stand. Der Arbeiter trug den linken Arm in der Binde von einer Schußwunde auf den Juni-Barrikaden.

»Leb' wohl, Renaud, und der Himmel laß Dir's gut gehen,« sagte der Offizier. »Ich hoffe, daß bis Ihr in Algier seid, Dein Arm wieder im besten Stande ist. Die Empfehlung des Generals und die Briefe, die ich Dir mitgegeben, werden Dir sicher ein gutes Land verschaffen, und wenn ich wieder hinüber komm', hoff' ich Pate zu stehen bei dem künftigen Kolonisten!«

»Gott segne Dich, Hektor, für alles, was Du gethan. Du sollst Deine Freude daran haben, wie ich künftig auf die Weißmäntel schießen will, statt auf die Rothosen. Fort mit Dir, und – wahrhaftig, ich glaube, dort steht der Alte!«

Der Kapitän hatte flüchtig die junge Frau auf die errötende Stirn geküßt und sprang sodann über die letzte Planke, welche die Schiffsleute eben herübergezogen, ans Land. Er wäre beinahe auf den Katakomben-Mann getroffen, der eben zum Ufer drängte.

Der Offizier stutzte, als er so unerwartet mit diesem zusammentraf, faßte sich aber sogleich. »Sie kommen zu spät, Herr Samson,« sagte er streng, »um Ihrem Sohn noch die so lange versagte Liebe zu zeigen, ehe er in einen fremden Weltteil zieht! – So eilen Sie wenigstens, ihm ein väterliches Lebewohl zuzurufen!«

»Hi, hi! gut gepredigt, gut gepredigt, Offizierchen,« grinste der Alte. »Erst zusammenkartätscht und dann den Freund und Beschützer gespielt! Ho, ho! hu, hu! nicht übel, nicht übel! Wer war's doch, der die Kanonen in St. Antoine kommandierte? Kartätschen-Freundschaft! Ho, ho – wie sollt's anders passen? Der vornehme Offizier und der simple Arbeiter – der Narr, der Lump!«

Der Offizier war empört zur Seite getreten. »Ihr Hohn berührt mich nicht, Herr Samson, der Soldat erfüllt seine Pflicht und kümmert sich nicht darum, wer ihm gegenüber steht. Statt Ihrem unbegründeten Groll zu frönen, sollten Sie die kostbaren Augenblicke nicht unbenutzt lassen, die Schuld der Lieblosigkeit an dem einzigen Sohn durch ein letztes Wort zu sühnen!«

»'s ist Verstand in dem Soldatenrock, guter Verstand! Wo bist Du, großer Barrikaden-Mann, revolutionärer Tölpel und höchst gehorsamer Sohn? Ho, ho!«

»Vater!« Der Mann in der Blouse streckte den gesunden Arm nach ihm aus, während die Räder bereits das Wasser des Flusses schlugen, und das Fahrzeug sich in Bewegung zu setzen begann. »Vater! ein einzig Wort der Liebe! Schwester, leb' wohl! Gott schütze Dich!«

Ein hundertstimmiges » Vive la république!« dem das tausendfache Adieu! Adieu! das Wehen der Tücher, das Schwenken der Hüte auf dem Quai antwortete, klang vom Bord des Schiffes.

Der Arbeiter hatte sich weit hinüber gelehnt über die Barrière des Bootes.

»Geben Sie wenigstens dem armen Renaud ein freundliches Zeichen der Liebe, beste Mortelle,« bat der Offizier, der an die Seite des Mädchens getreten war.

Schon vorhin, bei dem ersten Ton seiner Stimme, war ein Hauch von Farbe über die Wangen des Mädchens gezogen; jetzt, als er sie direkt ansprach, wiederholte sich dies, und ohne sich um den wahrscheinlich fürs Leben scheidenden, seit vielen Jahren von ihr getrennten Bruder zu kümmern, wandte sie die Augen auf ihn.

»Es sind der Menschen zu viele hier!« sagte sie langsam; »komm' mit mir zu den Toten, Hektor, Du warst lange nicht bei unseren Toten, und es ist doch so heimlich seitdem in den Kapellen!«

Ein bedrückendes Gefühl des Schmerzes und des Bedauerns schnürte die Brust des jungen Offiziers zusammen. »Noch immer derselbe Zustand,« murmelte er, »ich werde Dich wiedersehen, Mortelle, sei dessen gewiß!« Er wollte sich entfernen, als ein Ausbruch des Volksunwillens ihn zum Schutz des Mädchens an die Stelle fesselte.

Samson hatte die Bitten und Abschiedsgebärden des Sohnes durch die abscheulichsten Grimassen beantwortet. Sein gellendes teuflisches Gelächter überbot selbst den Abschiedsruf der Menge, er sprang von einem Bein auf das andere, schlug die Hände in der Luft zusammen und bewegte den Kopf auf dem langen schiefen Halse hin und her. »Hi, hi – ho, ho! Da geht er hin, der Lump, der Bettelbube, der Barrikadenprinz mit dem lahmen Arm! Hat den Vater verlassen, war ihm nicht lustig genug bei mir! Das Erbteil seiner Mutter will er haben – ho, ho! ich bring' Dir's! nimm's mit, was von der Alten noch übrig ist!« Mit der Behendigkeit eines Affen griff er in die Taschen seines weiten Rockes und holte überall bleiche Totenknochen hervor, die er dem Sohn über das Wasser hinüber einzeln zuschleuderte, jeden Wurf mit einem teuflischen Gelächter oder einer Verwünschung begleitend, wenn die Gebeine ins Wasser fielen und das immer mehr abtreibende Schiff nicht erreichten.

Ein Schrei des Entsetzens und des Unwillens brach aus der Menge. »Werft den alten boshaften Kerl in die Seine! Schlagt ihn nieder, den Knochenmann!« ertönte es von vielen Seiten, und die Hände und Stöcke der entfernter Stehenden erhoben sich drohend. Aber mit der Beweglichkeit eines Kreisels drehte und wandte sich der Gräbermann in der Menge, bückte sich hier vor einem Schlage und teilte dort selbst einen hinterlistigen Tritt oder Stoß aus, indem er unter den Armen der Männer und zwischen den kreischenden Frauen durchschlüpfte, während die beiden Nationalgarden Ruhe zu schaffen suchten, bis er die Treppe zum obern Quai gewonnen und diese hinauf lief. Auf der letzten Stufe wandte er sich um, schnitt der Menge eine Grimasse und stieß noch einmal sein widriges Hi, hi! Ho, ho! aus, worauf er unter dem Volke verschwand, das, leichtsinnig und beweglich, wie es war, die gelungene Flucht mit einem schallenden Gelächter auf Kosten der Untenstehenden begrüßte. Ohnehin schien der Fossoyeur nicht ohne Beistand, zwei oder drei Männer von gemeinem und gewaltthätigem Ansehen aus der Hefe des Volkes hatten sich, als er die Treppe gewonnen, wie zufällig vor dieselbe gestellt und machten Miene, mit jedem, der ihn weiter verfolgen würde, anzubinden.

Ein lebhaftes neues Wogen der Menge, ein Geschrei, Hurra und Pfeifen lenkte zugleich die Aufmerksamkeit nach einer andern Richtung, und die Menschenwoge drängte am Quai entlang nach dem Palast der Nationalversammlung. Die Nachricht, daß die Abstimmung über den wichtigen Paragraphen der Präsidentenwahl erfolgt sei, verbreitete sich mit Blitzesschnelle.

Der junge Artillerie-Kapitän befand sich in der That in großer Verlegenheit, was er mit dem jungen, in so seltsamer Weise aufgeputzten Mädchen beginnen solle. Dem Volk entsprossen wie sie, war er als Knabe der Freund ihres zehn Jahre ältern Stiefbruders gewesen, da sein Vater ganz in der Nachbarschaft des Eingangs der Katakomben und des abgesonderten Häuschens wohnte, in dem der unter dem Namen »der Fossoyeur« in der Nachbarschaft bekannte und verschrieene Aufseher des unterirdischen Kirchhofs hauste, und dessen Schwelle nie ein Fremder überschritt. Eben so wenig konnte sich einer oder der andere der Nachbarn rühmen, die erste oder zweite Frau des Fossoyeur je zu Gesicht bekommen zu haben, und man erzählte, daß das Mädchen, dem er den Namen Mortelle gegeben, in den unterirdischen Grabgewölben geboren worden sei. So viel wußte man von den andern Aufsehern und Führern, daß die Wohnung Samsons über der Erde mit einem der geheimen Ausgänge der Katakomben in Verbindung stehen mußte, denn er benutzte höchst selten den allgemeinen Zugang und wurde doch zu allen Zeiten des Tages und der Nacht dort gesehen. Die Knaben spielten in den äußeren Totengewölben mit dem kleinen Mädchen, das schon in den ersten Kinderjahren ein so eigentümliches, teilnahmloses, fast leichenhaft unbewegliches Wesen zeigte, daß man sie für geistesschwach oder von stillem Wahnsinn befangen hielt, bis der eine von ihnen als der Sohn eines alten Soldaten in der Ecole militaire Aufnahme fand, und der andere bald darauf seinem Vater davon lief, um in eine Maschinenwerkstätte an der Porte St. Martin einzutreten.

»Kommen Sie, Mortelle,« sagte der Offizier, »wir können hier nicht bleiben; vielleicht werden wir Ihren Vater finden; wo nicht, muß der meine in der Nähe sein, der Sie nach Hause geleiten wird.«

Er nahm sie bei der Hand und führte sie die Stufen zum Quai hinauf; seine strenge Miene und sein festes soldatisches Äußere hielten die Spottlust derer in Schranken, an denen sie vorüber kamen, wenn sie auch die entfernter Stehenden nicht an Bemerkungen hindern konnten.

Von der Esplanade her kam langsam ein Cabriolet durch die Menge, trotz der Ungeduld des fashionablen Lenkers, der es nicht wagen durfte, dem prächtigen Mohrenschimmel die Peitsche zu geben. Das Gespann zeigte bis auf die Riemenschnallen das Crème des Jockey-Klubs. Das hochmütige blasierte Gesicht des Lenkers mit der orientalisch bräunlichen Färbung, hübsch, aber angegriffen, atmete die ganze souveräne Verachtung des Volkes umher und den Verdruß, daß die Räder seines Cabriolets mit diesem Pöbel in gemeine Berührung kommen mußten. Das Monokle ins linke Auge gekniffen, verdoppelte die unaussprechliche Insolenz dieses Blickes.

»Machen Sie mich nicht lachen, Miron, kein Mensch weiß besser, woher der Wind weht; ich bin gewiß, Sie haben mindestens Hunderttausend heut an der Börse gewonnen.«

»Pfui, Graf – das ist höchstens die Sache des alten Schacherjuden, meines würdigen Papas. Ich beschmutze meine Handschuhe nicht mit den Anleihen, außer wenn ich eine bei ihm mache.« Er deutete mit der Peitsche über die Schulter nach der Seite der Deputierten-Kammer. »Was giebt es?«

»Wenn Sie es noch nicht wissen – die Debatte über den Paragraphen wegen der Präsidentenwahl ist soeben geschlossen und die Abstimmung erfolgt.«

»Nun?«

»Die kleine Duplessy wird ein Landhaus in Auteuil, einen Kashemir und eine neue Equipage von Ihnen fordern. Die Chancen des Prinzen sind um mindestens 200 Prozent gestiegen!«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Amendements der fünf Burggrafen Der Name, den die »Ordnungs-Partei« führte. sind verworfen. Die Straße Taitbout Die Fraktion des Berges, d. h. der äußersten Linken. hat gesiegt. Marrast Der Präsident der Assemblée Nationale. hat den Artikel 43 unverändert mit 627 gegen 130 Stimmen annehmen lassen.«

»Das war zu erwarten.«

»Aber es ist nicht alles. Deville und Thouret hatten den Antrag gestellt, daß kein Glied irgend einer Familie, die über Frankreich geherrscht hat, zum Präsidenten der Republik gewählt werden dürfe.«

»Bravo! Und der Antrag ist durchgegangen?«

»Er ist gefallen. Woirhaye nahm sich der Napoleoniden an; selbst Lacaze, der Legitimist, hat gegen den Antrag gesprochen; zuletzt nahm der Prinz das Wort und berief sich auf seine 400 000 Wähler. Die Rede hat Effekt gemacht – ich sage Ihnen, die Chancen Cavaignacs sind sehr gesunken.«

»Aber die Partei der Moderierten ist täglich im Wachsen. Man will die Wiederherstellung der Ordnung um jeden Preis.«

»Dieser Napoleonide wird sie herstellen auch um jeden Preis, besser als Cavaignac!«

»Bah! wird er vielleicht wieder einen Adler steigen lassen, wie in Boulogne?«

»Ich fürchte,« sagte der Graf, indem er das Lorgnon vor das Auge nahm, »der Adler wird er selbst sein. Es steckt mehr hinter dem Abenteurer, als Sie denken. Der Bruch mit den Sozialisten und Lucian, seinem eigenen Vetter, soll bereits erfolgt sein. Die Wetten für ihn sind seit einer Stunde gestiegen. Aber – Valga me Dios! – ich will mein Wappen verlieren und Börsenjobber werden, wenn das nicht die Schönheit der Katakomben ist, die Fromentin, der Adjutant Lamoricières, dort durch die Menge schleppt!«

Der Stutzer im Cabriolet richtete sein Glas nach der bezeichneten Stelle. »Auf Ehre, Montboisier, eine fille de marbre, wie Freund Dumas sie nennt. Eine Seiltänzerin Ihrer Bekanntschaft aus dem Cirque?«

»Haben Sie noch nicht von Fleur de Mort gehört?«

»Nein!«

»Guten Tag, Miron! Sind Sie des Teufels, den Weg heut über den Quai zu nehmen, wo alle Welt sich um die Bourbonniere drängt?«

»Bah! ich bin nicht alle Welt!«

»Das wissen die Götter; aber alle Welt spricht von Ihnen im Café de Paris und Ihrem neuen Mohren. Wahrhaftig! er muß Sie tausend Louis kosten.«

»Zwölfhundert, mein Lieber, zwölfhundert mit dem Groom.«

Der andere wandte das Lorgnon mit Kennermiene von dem Pferde auf den englischen Jockey en miniature, der mit ungleich größerer natürlicher Gleichgültigkeit als sein Herr, die Arme gekreuzt, auf dem Hintersitz thronte.

»Wie alt?«

»Acht Jahre. Er hat seine Papiere.«

»Dann können Sie ihn zwei Jahre benutzen – keinen Tag länger, Baron, oder Ihre Präsidentur der Mode wäre in Gefahr, wie die Cavaignacs!«

»Ich seh', lieber Graf, irgend eine Neuigkeit drückt Ihnen das Herz; aber Sie wissen, ich beschäftige mich nicht mit Politik.«

Der Graf lachte. Er war eine stattliche Gestalt, im Anfang der Dreißiger, auf dem Gesicht den ganzen aristokratischen Hochmut, der sich lustig macht über den Dünkel des Geldschößlings jüdischer Rasse und dennoch der modernen Gemeinheit frönend, mit den Millionen zu fraternisieren, die ihm nicht mehr zu Gebote stehen.

»Das kommt, weil Sie sich nur in den exquisiten Kreisen bewegen und das Volk allzu sehr negligieren,« sagte der Graf mit leichtem Hohn. »Das Mädchen ist die Tochter eines Aufsehers der Katakomben, eines verrückten Kerls; von ihr selbst weiß man nicht, ob sie blödsinnig oder eine Kokette, so viel aber ist gewiß, daß sie der beste Führer in jener Gräberwelt ist und nur selten ans Tageslicht kommt. Doch ich muß fort. Sieht man Sie heute Abend in der Soirée von Baroche? Man sagt, alle Celebrität von Paris wird dort sein.«

»Ich komme sicher auf kurze Zeit. Der brasilianische Attaché hat ein Souper bei der Guerin verloren, sie hat zwei neue Spanierinnen bekommen und es wird köstlich sein. Ich nehme Sie mit!«

Den schon längst ungeduldigen Bemerkungen der Menge über die lange Versperrung der Passage antwortete der würdige Sprößling eines der Pariser Geldfürsten durch das insolenteste Anstarren und fuhr langsam davon.

Der junge Kapitän, unzufrieden mit sich und seiner Begleitung war so rasch wie möglich mit dem Mädchen weiter gegangen und hatte endlich die Brücke de la Concorde erreicht, fast in demselben Augenblick, als die Sitzung der Assemblée Nationale geschlossen war, und die Deputierten einzeln oder gesellschaftsweise lebhaft debattierend das Gebäude verließen und zum Teil die großen Stufen der Freitreppe herabstiegen, deren Fuß die Statuen der Gerechtigkeit und Klugheit, und die Standbilder Sullys, des Kanzler l'Hôpital, Colberts und d'Aguesseaus schmücken.

Am Zugang der Brücke vom Platz der Invaliden her hatte ein Orgeldreher seinen Stand, um den ein zahlreiches Publikum sich gesammelt. Der Mann, ein alter Soldat des Kaiserreichs, mit nur einem Arm, aber noch rüstig und kräftig, war durch seine stattliche Haltung und seine joviale Laune allen seit vielen Jahren bekannt, die ihr Weg regelmäßig über den Quai oder die Brücke führte. Sommer und Winter bei Sonnenschein und Regen hielt er auf seinem Posten aus, und jeder reichte dem Papa Touron, wie sein Spitzname lautete, gern eine Gabe. Er war bei Belle-Alliance Invalide geworden, und obschon sich die Bourbonen-Regierung wenig um die alten Blessierten des Kaiserreichs kümmerte, hatte man ihm doch unter Louis Philipp wiederholt die Aufnahme ins Invaliden-Hôtel angeboten. Aber Papa Pierre hatte ein braves Weib gefunden, ein Mädchen, das er schon früher gekannt, und die jetzt als Wäscherin mit ihrer Hände Arbeit die kleine Familie unterhielt, während der alte Soldat als Kommissionär, soweit dies seine Verwundung gestattete, das seine zur Wirtschaft beitrug. Vor dreizehn Jahren war die brave Frau kurz nach der Geburt seines zweiten Knaben gestorben, aber auch da wollte er die gewohnte Häuslichkeit nicht verlassen und begnügte sich damit, des Sonntags mit seinen alten Kameraden im Invaliden-Hotel zu speisen. Marschall Soult hatte die Aufnahme seines ältesten Sohnes Hektor in die Ecole militaire veranlaßt und dem alten Korporal, als es mit dem Betreiben seines früheren Erwerbs nicht mehr recht fort wollte, die Erlaubnis verschafft, mit seiner Drehorgel am Pont de la Concorde seinen Posten zu nehmen. Auch für den jüngsten Knaben würde der alte Marschall sicher gesorgt haben, wenn in den letzten Jahren der Regierung Louis Philipps die alten engagierten Napoleonisten, und dazu gehörte offenkundig der Vater Touron, der Pariser Polizei nicht sehr mißfällig gewesen wären. So wuchs der Knabe, während sein älterer Bruder in Algier diente und bei verschiedenen Gelegenheiten sich auszeichnete, ziemlich wild heran, ein echter Gamin, denn der alte Soldat hielt herzlich wenig von Schule und Unterricht.

Auch heute hatte Vater Touron seinen gewöhnlichen Platz inne, und um ihn her standen und saßen mehrere seiner alten Freunde vom Invaliden-Hotel, die gewöhnt waren, in seiner Nachbarschaft und der Deputiertenkammer ihre Pfeife zu schmauchen; denn es gab keine eifrigeren Politiker als die alten Invaliden.

Obschon der Korporal nie um eine Gabe bat, sondern nur die freiwillig gereichten mit Dank annahm, war die Ernte doch gewöhnlich gut und reichte vollkommen zu seinen Bedürfnissen und manchmal einer Extraflasche für alte Kameraden hin. Der graue Schnurr- und Knebelbart, der ihm bis auf die Brust niederhing, gab dem alten Orgeldreher ein martialisches Aussehen, und hätte die Kinder erschreckt, wenn unter den buschigen Brauen nicht ein Paar gar so lustige, gemütliche Augen hervorgeblitzt hätten.

»Den Teufel, Vater Touron,« sagte ein Junge, die Mütze keck auf dem linken Ohr, die Hände unter der Blouse in den Taschen der Manchesterhose, eine Zeitungstasche unterm Arm und einen kurzen thönernen Pfeifenstummel zwischen den Zähnen, obschon er höchstens vierzehn Jahr alt sein konnte, »die Büchse da auf Eurer Orgel klingt gut, heute giebt's doch hoffentlich eine Extrakollation? Kaninchenragout mit Zwiebeln? Ich habe eine ganz famose Kneipe aufgethan und will Euch hinführen!«

»Taugenichts!« schalt der Alte, obschon er mit sichtlichem Wohlgefallen den Knaben mit seinem kecken braunen Gesicht und seinem dunklen Lockenhaar ansah, wo kommst Du her? wer hat Dir erlaubt, Dich hier herumzutreiben?«

»Bah, Vater Touron, macht keine Geschichten,« lachte Meister Jacques, denn dieser, der jüngere Sohn des alten Soldaten war es, indem er seinen Erzeuger äußerst familiär auf den Rücken klopfte. » Armand, der junge Herr, hat mir von Herrn de Chapelles heute Vakanz verschafft, um ihn hierher zu begleiten, es ist ohnedies nicht mein Geschmack, vor dem Kasten mit den Typen zu stehen! ich gebe das Geschäft auf und wende mich wieder dem fliegenden Buchhandel zu. Die Krähenfüße sind so verteufelt schwer zu lesen und die Buchstaben wollen nicht in Reih und Glied!«

»Aber Hektor wird schelten!«

»Zum Henker mit Hektor, ich will mit ihm schon fertig werden! Frankreich braucht nicht bloß Offiziere, sondern auch Soldaten. Ich trage Dir die Orgel nach Hause, und Du traktierst uns im ›Roten Teufel‹ mit einer Flasche Wein. Armand soll mit uns gehen, er hatte ein Billet auf die Tribüne und wird mich bei Euch finden. Allons, Messieurs – der Konstitutionnel! letzte Nummer, wer ihn noch nicht gelesen hat. Proklamationen gegen den Belagerungszustand des Herrn von Cavaignac! Sechsunddreißigtausend Pariser sollen deportiert werden! Großer Sieg des souveränen Volkes über Herrn Flocou und Lamartine! Kaufen Sie, meine Herren, kaufen Sie, fünf Sous die Nummer! Herrn Proudhons neueste Schrift: ›Das Recht auf die Arbeit und das Recht auf das Eigentum‹ gratis dabei!«

»Das sind alte Geschichten, die haben wir gestern schon gelesen,« sagte ein Mann.

»Was meinen Sie, Bürger, glauben Sie, daß die Typographen nicht auch ihre Sonntage haben wollen? Es wird Ihren politischen Verstand für die Wahl schärfen, wenn Sie den Konstitutionnel zweimal lesen, denn man sagt, daß Herr Veron Der Eigentümer des Constitutionnel, ein berühmter Gourmand. eine ganz neue Sauce erfunden hat! Kaufen Sie, meine Herren, ich werde Ihnen dafür auch zeigen, in welchem Zustande sich gegenwärtig › la belle France‹ befindet.«

»Im Guckkasten?« fragte jemand neugierig.

»Nein, mein Schätzbarster, aber so!« Er legte das Paket Zeitungen und Broschüren auf den Boden, schlug ein Rad und stellte sich auf den Kopf.

Alles lachte, und man warf dem lustigen Burschen einige Sous zu; nur ein alter Herr, im langen grünen Frack, Strumpfhosen und Kniestiefeln, schimpfte – der Gamin hatte ihm bei dem Purzelbaum die goldene Brille von der Nase geschlagen, und der alte Herr suchte sie vergebens am Boden, denn ein langer Kerl mit schmalem Gesicht und schiefer Nase hatte sie bereits aufgehoben und entfernte sich langsam, wie ein müßiger Spaziergänger.

Aber das Luchsauge des Gamin hatte die Bewegung des Aufhebers wohl bemerkt, und im Nu war er hinter dem Dieb drein und hielt ihn am Arme fest. »Mein Lieber, ich glaube, daß Ihre Augen gut genug sind, um keiner Brille zu bedürfen. Ein ehrlicher Finder, wie Sie, wird sich ein Vergnügen daraus machen, sie dem Eigentümer zurückzugeben!«

Der Kerl ließ das gestohlene Gut fallen und versuchte Meister Jacques, als dieser sich bückte, einen Tritt zu geben. Aber der Gamin wich behend aus, und der Fußtritt traf einen kräftigen Kohlenträger, der dafür dem Diebe einen entsprechenden Faustschlag auf den Kopf versetzte. Der Knabe war im Nu wieder bei dem alten Herrn, dem er die Brille mit einer höflichen Verbeugung überreichte. Der Eigentümer nahm sie und ging, ohne Dank, brummend davon. Meister Jacques begnügte sich, mit der flachen Hand seinen Ellbogen zu schlagen und jenes unnachahmliche Zeichen zu machen, mit dem der Pariser Straßenjunge seine philosophische Verachtung ausdrückt.

Ein anderer Knabe, von gleichem Alter, aber gut gekleidet, ein schönes Gesicht mit leuchtendem Auge unter dem braunen lockigen Haar, war unterdes herbeigekommen und hatte das Zeitungspaket aufgenommen.

»Guten Tag, Herr Fromentin!«

»Sieh da, Musje Armand, freut mich, Sie zu sehen!« Der Alte unterbrach sein Spiel und reichte dem Knaben die Hand. »Es ist ein wilder Bursch, der Jacques, paßt nicht zu so feinem Herrn wie Sie, aber er hat das Herz auf dem rechten Fleck. Sie müssen's ihm nicht übel nehmen.«

»Oh, er ist ein wackerer Junge, Herr Fromentin,« sagte der Knabe, »und ich liebe ihn sehr. Wir wollen zusammen Soldat werden. Sie sollten nur hören, Herr Fromentin, mit welcher Verehrung und Liebe er von Ihnen spricht!«

Der alte Soldat war ganz gerührt. »Ich wußte es wohl, ich wußte es wohl, er hat das wilde Blut seines Vaters, aber das Herz seiner Mutter, – Gott segne sie im Grabe! – was auch die Leute von ihm sagen mögen! Es ist nicht so schlimm, wie der Kapitän, sein Bruder, meint, wenn er auch gerade keine Neigung für die Gelehrsamkeit hat!«

»Der Prinz, Vater, der Prinz! ich sah ihn dort über den Platz kommen,« unterbrach ihn der junge Taugenichts. »Geschwind, Papa Touron, sein Lieblingslied!« Und mit hoher Fistelstimme begann er, neben seinem Vater stehend, das berühmte Lied Hortensens:

» Partant pour la Syrie
Le jeune et beau Dunois etc.
«

während der Alte seine Orgel einschnappen ließ und die Melodie um drei Takte zu spät begann.

»Hör' auf, Schelm, und malträtiere die Ohren der Leute nicht,« sagte eine heftige Stimme, während eine Hand den Gamin beim Ohr faßte und ziemlich derb schüttelte. »Es ist eine Schande, Vater, daß Sie dem Buben den Müßiggang gestatten und die Teilnahme an einer Beschäftigung, die Sie, trotz all meiner Bitten, nicht aufgeben wollen.«

»Verdammt,« flüsterte der Gamin seinem vornehmeren Kameraden zu, »da hat der Henker meinen Bruder, den Kapitän, hergebracht. Paß auf, nun wird's eine Predigt geben!«

Er beeilte seinen Rückzug hinter den alten Invaliden, der zuerst ziemlich verlegen die Mütze von einem Ohr auf das andere schob.

»Sie verderben den Buben durch Ihre Nachsicht, Vater,« fuhr der junge Offizier fort. »Wie kommt er hierher, statt in seiner Offizin zu sein? Ich dachte, es wäre abgemacht zwischen uns beiden, daß er nicht wieder den Kolporteur spielen, sondern etwas ordentliches lernen sollte, damit er auf seine alten Tage nicht auch von der öffentlichen Mildthätigkeit zu leben braucht!«

» Monsieur le Capitain,« sagte der Alte unwillig, »menagieren Sie Ihre Worte. Es ist keine Schande für einen alten Soldaten, die freiwilligen Gaben derer anzunehmen, für die er besseres gegeben hat, sein Blut und seine gesunden Glieder!«

Der junge Offizier errötete unter der strengen Erwiderung. »Sie haben Recht, mein Vater, und ich bitte Sie um Verzeihung. Ich meinte nur, es würde besser für Sie und meinen Bruder sein, wenn Sie die Stelle im Hotel der Invaliden annehmen oder mir erlauben wollten, mein Gehalt mit Ihnen zu teilen.«

»Nichts da, Kapitän! ein Offizier ohne Vermögen braucht seine Gage, und ich mag meine Freiheit und das alte Häuschen nicht aufgeben, wo ich mit Deiner Mutter lebte. Und nun mein Junge, laß gut sein und sei gegrüßt und bedankt, daß Du nicht verschmähst, den alten Leiermann hier aufzusuchen. Bomben und Kanonen, wen hast Du denn hier? Das ist ja die Fleur de Mort, so wahr ich Augen habe! Wie kommst Du hierher, Mädchen?«

»Ihr Vater hat sie mit sich genommen zur Abfahrt des armen Renaud und sie im Gedränge verlassen. Ich wollte Dich bitten, sie nach Hause zu bringen, denn ich muß zum General.«

Der Gamin kam hinter seinem Alten hervor, denn er wußte, daß der Sturm vorüber war, und er liebte den ältern Bruder herzlich, trotz der strengen Verweise, mit denen ihn dieser zur Ordnung anzuhalten suchte.

»Bruder Kapitän,« sagte er, indem er drollig salutierte, »überlassen Sie die Dame mir, ich bürge mit meinem Ehrenwort dafür, daß ich sie richtig nach Hause bringe.«

Der Offizier lächelte. »Hier ist Geld, Jacques, nimm einen Fiaker, ich verlasse mich auf Dich. Und nun, Mortelle, geh' mit meinem Bruder, er wird Dich zu Deinem Vater bringen!«

»Und zu den Toten, Hektor! Komm zu den Toten – es ist so still bei ihnen!« Ihre großen, geisterhaft starren Augen hafteten auf ihm.

»Ich werde Dich besuchen, Mortelle, verlaß Dich darauf.«

Er führte sie dem Wagen entgegen, den der Gamin eilig herbeigeholt, und hob sie hinein. Meister Jacques hatte unterdes seinen Kameraden bedeutet, daß sie weit amüsantere Unterhaltung haben würden, wenn sie mit Mamsell Mortelle die Geheimnisse der Katakomben durchstreifen könnten, als wenn sie bei den alten Soldatengeschichten des würdigen Korporals im »Roten Teufel« säßen, und die beiden Taugenichtse kletterten auf den Bock trotz aller Protestation des Kutschers.

Während der Wagen mit der Tochter des Fossoyeur davon fuhr, kam eine Gruppe von drei Herren von dem Place Bourbon her, auf den der Hauptausgang der Assemblée Nationale mündet, auf die Brücke zu. Das Publikum machte ihnen auf allen Seiten Platz und viele zogen grüßend den Hut.

Der Herr in der Mitte war von mittelgroßer Figur, hagerm länglichem Gesicht und starker, nur wenig gebogener Nase. Seine Augen lagen tief und hatten einen kalten, ernsten Blick, der einem wohlverschlossenen Geheimnis glich. Er hatte etwas Steifes, Eckiges in seinen Bewegungen und trug einen Schnurrbart und schmalen Knebelbart, wie er seitdem in Frankreich allgemein Sitte geworden. Die achtungsvollen Grüße, und die Neugier des Publikums galten offenbar dieser Person.

Ihr zur Rechten ging ein Mann von großer Korpulenz, die Prägung des Lebemanns und Gourmands auf dem ziemlich geistreichen Gesicht, während auf der andern Seite ein alter Mann von militärischer Haltung, mit grauem Haar schritt, den Rock, an dem das Kommandeurkreuz der Ehrenlegion befestigt war, bis an den Hals zugeknöpft.

»Es ist unmöglich, liebster Veron, heute mit Ihnen zu dinieren,« sagte der Mann in der Mitte, »ich habe mehrere Rendezvous und Besuche zu erwarten. Ich verlasse mich darauf, daß der Artikel morgen im Konstitutionnel erscheint. Sie übernehmen es demnach, durch Herrn de Chapelles die Buchhändler und Buchdrucker von Paris für uns zu gewinnen?«

»Das Versprechen für die Freiheit der Presse wird uns zwei Dritteil verschaffen. Der Rest gehört dem Berg.«

» Montholon« – er wandte sich zu dem alten Offizier an seiner Seite – »will selbst den Klub in der Straße Taibout besuchen. Wir wollen den Versuch machen, ob wir uns einigen können. Sie werden mir noch heute das Resultat der Verhandlung mit dem National bringen?«

»Er ist so gut wie unser; es wird eine schöne Überraschung für Cavaignac werden, sich so plötzlich von seinem eigenen Journal angegriffen zu sehen. Ich hoffe Euer Hoheit bei Baroche bereits den völligen Abschluß mitteilen zu können.«

»Ich werde um 11 Uhr dort sein. Lassen Sie das Morgenblatt die Notiz bringen, man habe General Cavaignac mit mir eine Stunde lang im Garten promenieren und sich ohne Zeugen unterhalten sehen. Das wird ihn kompromittieren, und der Widerruf noch mehr. – Ah, mein Braver, ich danke Dir!«

Die Gruppe blieb dicht vor dem Invaliden stehen, der unterdes wieder auf seiner Orgel das napoleonische Lied gespielt, und jetzt den Griff losließ und die Hand salutierend an seine Mütze legte.

»Gott segne den Neffen des Kaisers und den künftigen Kaiser von Frankreich!«

»Pst, Pst, Papa Touron! das ist Hochverrat gegen die Republik. Aber ich danke Dir, daß Du mich jedesmal, wenn ich vorüber komme, mit dem Souvenir meiner Mutter erfreust.« Er warf ein Goldstück in die Büchse, die auf der Orgel stand. Der Artillerie-Kapitän, der noch immer neben seinem Vater stand, machte eine unwillkürliche Bewegung, als wolle er die Gabe hindern, die Röte der Demütigung brannte auf seiner Stirn.

Der Prinz – denn es war in der That der Prinz Louis Napoleon, der neue Deputierte des Seine-Departements und der Bewerber um die Präsidentur Frankreichs – wandte sich zu dem jungen Offizier.

»Sieh da – wenn ich nicht irre, Kapitän Fromentin? – ich wußte nicht, daß der Lieblingsadjutant des Herrn Kriegsministers auch Sympathie für das Lied eines Napoleoniden hat.«

»Es ist mein Sohn, Sire,« sagte der Alte mit Stolz, »und in Treue und Bewunderung für den Kaiser erzogen!«

»So heißen Sie Fromentin; ich wußte es nicht. Ich mache Ihnen mein Kompliment, mein Braver, über Ihren Sohn! Kapitän Fromentin hat sich durch seine Versuche mit der Waffe, mit der auch ich mich besonders beschäftige, und durch sein Verhalten in Algier bereits den ehrenvollsten Namen gemacht.«

Der Kapitän verbeugte sich.

»Aber wenn ich nicht irre,« fuhr der Prinz fort, »hörte ich im Foyer General Lamoricière nach Ihnen fragen. Ich hoffe, Sie recht bald einmal bei mir zu sehen, Kapitän, um über unsere Lieblingswaffe und ihre Verbesserung plaudern zu können, und« – fügte er leiser hinzu – »vielleicht auch ein wenig über Fräulein Miron!«

Der junge Offizier erglühte bei der Nennung dieses Namens, dessen Bedeutung er für ein tiefes Geheimnis seiner Brust hielt. Er stotterte einige verlegene Entschuldigungen, erklärte, daß er zu seinem General müsse, salutierte und eilte, seinen Vater grüßend, davon.

Der Prinz sah ihm lächelnd nach. »Ein tüchtiger Offizier, eine Hoffnung für die Zukunft,« sagte er, »wenn die Adler Frankreichs erst wieder den alten Flug nehmen. Doch ich habe mit Dir zu reden, Papa Touron.«

»Zu Befehl, mein Prinz!«

»Hier nicht! Du hast gehört, was in der Assemblée beschlossen ist?«

»Das Volk wird wählen. Verlassen Sie sich darauf, mein Prinz, es wird den Namen des Kaisers nicht vergessen.«

»Ich hoffe es. Kannst Du mich in zwei Stunden besuchen?« fragte er leiser.

»Ich werde pünktlich sein. Wo befehlen Sie, mein Prinz?«

»Im Hotel du Rhin, am Vendôme-Platz. Mein Kammerdiener wird Dich erwarten.«

»Hotel du Rhin? Ich bin fünfmal über den Rhein marschiert, er gehört zu Frankreich, und ich hoffe, Sie werden meine Jungen das sechste Mal hinüber führen.«

Der Prätendent lächelte. »Kommt Zeit, kommt Rat! Adieu, mein Alter! Verzeihen Sie, Veron, daß ich Sie warten ließ!«

»Hi hi! ho ho! Moder, Moder! 's wird alles Staub, Kronen und Bettelsack! Ein Knochen wie der andere! Hu hu!«

Die unheimliche Gestalt des Fossoyeur tauchte plötzlich hinter dem Invaliden hervor und erschreckte den dicken Gourmand, der eben seine Gabe in die Büchse des alten Soldaten warf.

»Zum Henker mit dem Kerl! Die Vogelscheuche hat mich ordentlich erschreckt. Was ist das für ein Mensch?«

»Ein Aufseher aus den Katakomben, Monsieur, ein Nachbar von mir, aber etwas übergeschnappt im Kopf. Schämst Du Dich nicht, Fossoyeur, vornehme Herrschaften zu belästigen?«

»Hu hu! vornehm oder gering! sie werden alle, wie meine Kinder, die Knochenmänner. Moder, nichts als Moder!« Er klopfte dem berühmten Bourgeois auf den dicken Bauch. »Fraß für die Würmer, der da kommt zuerst dran!«

Der Prinz lachte laut auf über das tragi-komische Gesicht seines Vertrauten. »Kommen Sie, Veron, Sie sehen ja, der Mann ist verrückt, aber in dieser gesegneten Republik hat jeder seine gebührende Freiheit!«

Der dicke Besitzer des Konstitutionnel und Gefährte des Prinzen bei seinen petits plaisirs trocknete sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Der Kerl hat mir das Diner verdorben,« sagte er kläglich. »Ich werde nur mit halbem Appetit essen, und ich hatte doch rote Hühner von Montpellier mit Oliven gefüllt in der neuen Trüffelsauce bestellt – expreß für Sie, Hoheit! Es ist in der That schade!«

Der alte Soldat hatte unwillig den Krückstock ergriffen, der an seiner Orgel lehnte. »Ich sollte Dir tüchtig den Rücken bleuen, Unhold, für Dein Betragen. Weißt Du nicht, wer der Herr ist, der mit mir sprach?«

»Knochenlieferant, Knochenlieferant, Freund! ho! ho!« grinste der andere. »Ich kenn' die Augen – bleischwer! freu' mich der Ehre der Bekanntschaft, hi, hi! Ich sag' Dir, Papa Touron, er ist ein Freund von Samson – Berge von Knochen, Berge von Knochen in seinem Auge! Das ist mein Mann!« Er warf der Gruppe, die bereits über die Brücke ging, Kußhände nach.

»Hört, Nachbar Samson,« sagte der alte Soldat, »treibt Eure Tollheiten, wo's Euch beliebt, nur nicht bei mir! Ich glaub' überhaupt, daß Ihr mehr Bosheit als Verrücktheit im Hirn habt; es ist nur schade um das arme Kind, und Ihr solltet Euch der Sünde schämen, daß Ihr sie hier ins Gedräng' geschleppt habt, wenn Ihr nicht besser für sie sorgen wolltet.«

»Ho ho! – hi hi! Soldatenjungfer, Offiziersbraut! Schlagt ein, wenn Ihr wollt, Schwiegervater,« lachte der Kobold, »ich geb' ihr eine Aussteuer, ein Gräfin soll's nicht besser haben. Des alten Samsons Blut kann sich mit Herzögen und Marquis vermischen, hat sich schon in höherm gewaschen!«

»Packt Euch zum Teufel, alter Tollhäusler, und wenn Ihr mit mir wollt, nehmt Euch in acht, daß mein Stock nicht Arbeit bekommt!«

Der Invalide hatte seine Orgel über die Schulter geworfen und den Ständer zusammengeklappt, um ihn beim nächsten Hausmeister in Verwahr zu legen. Ohne sich zu kümmern, ob der Fossoyeur ihm folgte oder nicht, machte er sich eilig auf den Weg nach Hause, denn die Einladung des Prinzen, bei ihm zu erscheinen, galt ihm als militärischer Befehl, und er wollte so gut, wie möglich dazu Toilette machen.

Eine Strecke weit humpelte, sprang und plauderte Samson neben ihm her, ohne daß der Invalide, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, viel auf ihn achtete. Überdies begann es dunkel zu werden und die Laternenbuben rannten mit ihren kurzen Leitern umher, die Gasflammen auf den Quais und in den Straßen anzuzünden. So bemerkte es der alte Fromentin anfangs auch nicht, daß der Fossoyeur auf den Wink eines Mannes, der ihnen an der Ecke der Rue de Babylone begegnete, stehen blieb und mit dem Fremden in einer Seitengasse verschwand.

Es war der junge Arzt, den der Katakombenwächter am Nachmittag auf dem Quai d'Orsai oder Quai National, wie er während der Republik hieß, erkannt hatte.

»Was zum Teufel, alter Gräberwurm,« sagte lachend der junge Mann, »thatet Ihr heut im Sonnenschein? Eure väterliche Zärtlichkeit hätte Euch übel bekommen können, wenn Ihr Euch nicht bei Zeiten aus dem Staub gemacht hättet. Was habt Ihr neues fürs Messer?«

»Nichts! laßt mich ungeschoren,« brummte mürrisch der Fossoyeur.

»Hört, Freund Samson, es gilt einen wissenschaftlichen Streit, Dupuytren hat eine Behauptung aufgestellt, die widerlegt werden muß. Wir müssen ein oder zwei Subjekte haben, weibliche, jung und frisch, die nicht an langwierigen Krankheiten gestorben sind, sondern in der vollen Kraft des Lebens, Ihr müßt wenigstens eins bis morgen schaffen.«

»Ho ho! was kümmern mich junge Weiber? Geht ins Chateau-Rouge oder vor die Barrieren, da findet Ihr sie zu Dutzenden. Wollt Ihr Knochen? Knochen? Kommt zum Samson!«

»Unsinn, Mann! ich weiß am besten, daß Ihr mit allen Leichendieben in Paris in Verbindung steht. Seht her, der Professor zahlt vier Louisdors für ein gutes Subjekt, aber frisch, jung und kräftig!«

Die Augen des Fossoyeur funkelten bei dem Anblick des Goldes, auf das der Strahl einer Laterne fiel. »Hi hi! wie das glänzt, Doktorchen, sollen's haben, sollen's haben, so wahr ich Samson heiße! Aber geben Sie mir das Gold!«

»Nichts da! hier ist ein Louisdor als Handgeld, die anderen bekommt Ihr, wenn Ihr den Kadaver bringt. Wann werden wir ihn erhalten?«

»Ho, ho! nicht so eilig, nicht so eilig, Doktorchen. Junge Weiber müssen doch Zeit haben zum Sterben! Werde mit den Wassermännern sprechen, mit den Wassermännern! 's ist das Beste und Frischeste. An Fang fehlt's nicht, sie können den Fisch, wenn die Nacht vom Tage scheidet, zu Euch bringen, statt nach der Morgue! die Liebhaber sind jetzt leichtsinnig, und die Weiber schwach – hi hi, der Fluß hat viel Zuspruch!«

Der junge Anatom konnte einen leichten Schauder nicht unterdrücken, wie gleichgültig ihn auch sein Beruf gegen Tod und Leichen machte.

»Hier ist der Schlüssel zur kleinen Thür für den Seciersaal Nr. 3. Laßt sie auf die Tafel zur Rechten legen und kommt morgen Nachmittag zu mir. Ich bin um drei Uhr zu treffen. Adieu, Samson, und haltet Eure Tochter zu Hause, sie ist schön genug, die Augen der Gaffer auf sich zu ziehen, obschon ihr der Verstand fehlt!«

Der junge Mann entfernte sich hastig, als sei ihm die Gesellschaft unheimlich. Der Fossoyeur sah ihm spöttisch nach. »Verstand fehlt! Verstand fehlt! ho ho! Hat sie nicht genug für die Toten? Seid nichts Besseres als wir, Ihr Leichenkäfer! Fragt nicht, woher sie kommen, wißt's aber recht gut! Wollen Republikaner sein und lassen's an Leichen fehlen! Die Welt geht rückwärts, die Morgue und Samson sollen alles thun! Ho ho! Futter für die Katakomben! Futter für die Katakomben!«

Statt nach der Barriere d'Enfer den Weg fortzusetzen, wandte er sich zurück zur Seine und wählte die nächsten aber unbelebtesten Straßen und Gassen, die zur Cité führen.


Der Prinz hatte ein kurzes Diner eingenommen; die Zeit drängte zur Thätigkeit, und Louis Napoleon kannte den Wert dieser Zeit.

Während des Nachtisches, als sein natürlicher Bruder Morny, der Vertreter von Puy de Dome, und Persigny, der thätigste und unermüdetste seiner Anhänger, bereits ihre Cigaretten angezündet, um sich in den Salon zu begeben, wo drei der Vertrauten zur Besprechung der Tagesereignisse sie erwarteten, überreichte Thelin, der Kammerdiener des Prinzen, diesem ein versiegeltes Billet.

Der Inhalt schien ihn zu frappieren, er entließ die Freunde mit dem Versprechen, ihnen sobald als möglich zu folgen.

»Wer brachte das Billet?« fragte der Prinz.

»Ein Savoyarde, ein Kommissionär; er sagt, er würde Antwort erhalten und wartet.«

»Laß ihn eintreten!«

Während Thelin sich entfernte, den Mann zu holen, ging der Prinz unruhig auf und ab. Seine Stirn war finster, das gewöhnlich so matte Auge unruhig.

Erst als er die Thür sich öffnen hörte, schien er seinen Entschluß gefaßt zu haben. »Ein Jahr noch,« murmelte er leise, »dann bin ich Herr!« Die Falten auf seiner Stirn waren geglättet, als er sich umdrehte; auf dem ruhigen schlaffen Gesicht keine Spur mehr von einem Zweifel.

In der Thür stand der Kommissionär, nach Art der Leute seine Mütze in der Hand drehend. Er trug eine Blouse und darunter die olivenfarbenen manchesternen Beinkleider, wie sie die Savoyarden und Auvergnaten zu tragen pflegen. Der Mann machte einen ungeschickten Kratzfuß, als der Prinz ihn anblickte.

»Wer hat Ihnen dies Billet gegeben?«

»'s ist ein englischer Mylord, mein' ich, gnädiger Herr! große Statur, rötlich Haar, wie Euer Gnaden Kinnbart, ich kenn' die Puddings auf ein Haar!«

»Und warum kommt der Herr nicht selbst? wo ist er?«

»Auf dem Platz an der Vendôme-Säule steht er. Ich mein', er wollt wissen, ob die Luft rein wär', oder Se. Hoheit der Herr Prinz noch bei Tafel. Er hat gehört, daß immer ein dicker Zeitungsschreiber bei Ihnen speist, oder eine hübsche Komödiantin von den Variétés, und da hat er mich geschickt, die Sache erst in Ordnung zu bringen.«

»Einen Tölpel!« sagte der Prinz unwillig, »ich kann kaum glauben, daß er's ist, wenn ich den Boten ansehe! Geht sofort zu dem Herrn und sagt ihm, ich erwarte seinen Besuch; wir würden ungestört sein.«

Der Savoyarde zögerte und streckte die Hand aus. »Ein Weib und fünf hungrige Kinder, Herr! Zu Hause in Savoyen eine alte blinde Mutter.«

Der Prinz reichte ihm zwei Fünffrankenthaler. »Nun macht aber, daß Ihr fortkommt und holt Lord Heresford.«

Der Savoyarde grüßte und ging nach der Thür. Als er die Schwelle erreicht hatte, schob er den Riegel vor und drehte sich um.

» Goddam! ich glaube, es wird sein nicht nötig zu rufen Mylord Heresford,« sagte er mit gänzlich veränderter Stimme, »er kann Ihnen machen sogleich sein Kompliment und fragen, ob Sie sein zufrieden mit dem heutigen Tag.«

Der Prinz starrte ihn sprachlos an; der Savoyarde warf sich laut auflachend in ein Fauteuil, schob die schwarze Tour über seine Stirn zurück und entfernte den buschigen Bart von seinem Kinn. »Machen Sie doch kein so verzweifelt verdutztes Gesicht, liebster Prinz,« sagte er noch immer heiter, »ich komme sonst wahrhaftig nicht aus dem Gelächter, und wir haben doch ernste Dinge genug zu besprechen.«

Der Prinz hatte sich endlich gefaßt und reichte ihm die Hand. »Aber ums Himmels willen, Signor Mazzini, warum diese Verkleidung? Frankreich bietet doch keine Gefahr für Sie?«

» Cospetto,« sagte der große Verschwörer, »ich reise gern incognito und habe in diesem Augenblick nicht Lust, mich mit Cabet, Proudhon und den anderen Narren des allgemeinen Eigentums einzulassen. Ich komme aus Italien, in guter Gesellschaft.«

»Wie meinen Sie?«

»Garibaldi ist bei mir mit seiner schönen Frau, derselbe, der Ihnen die Million aus Montevideo brachte.«

Der Prinz antwortete mit ziemlich frostiger Miene.

»Sie kennen die Ereignisse in Italien und erinnern sich unseres Vertrages, Hoheit; ich komme, um unsere beiderseitigen Verpflichtungen einzulösen.«

»Ich bin bereit. Vorerst, was bringen Sie neues aus Italien?«

»Wir haben Fiasko gemacht, aber es ist nur der erste Anprall der Wogen – wir sind nicht entmutigt. Sizilien ist, fürcht' ich, verloren; die Kanonen Bombas werden die Helden der Freiheit zusammenschmettern, die Tyrannei siegt, da England verräterischer Weise uns im Stich läßt. Doch Neapel ist eine Nebenphase – früher oder später, es entgeht uns nicht, und die Saaten von Blut werden die Ernte der Freiheit werden. Venedig, Mailand und Rom, das ist das Notwendigste und Wichtigste für uns.«

»Und der Waffenstillstand?«

»Nur die Feigherzigkeit und Eifersucht Carlo Albertos konnte ihn schließen. Er verfolgt einzig seine eigenen Interessen, nicht die unseren, und darum wird er fallen. Die Nationalpartei ist ihm zu mächtig, ob er will oder nicht, der Krieg wird wieder beginnen, aber dieses spada d'Italia hat uns gezeigt, daß kein Verlaß auf ihn ist, und daß wir einen andern Halt suchen müssen. Was sagen Sie zu Rom?«

»Aber die nationale Regierung in Rom ist gefallen, der österreichische Einfluß ist überwiegend, der Papst hat die Bestimmung der Truppen zur Unterstützung Sardiniens desavouiert und Kardinal Antonelli hat alle Macht in Händen. Sein Werkzeug, der Minister Rossi, ist erklärter Gegner der Demokratie.«

Der Verschwörer lächelte spöttisch. »Sie kennen die Italiener schlecht, Prinz, wenn Sie glauben, daß Rossi lange ein Hindernis sein wird.«

»Wie meinen Sie das?«

»Es ist unsere Sache. Sie müßten denn Lust haben, heute einer kleinen Versammlung bei Ricci beizuwohnen. Genug davon! Sie erinnern sich unseres Vertrages im Schloß Ham?«

»Gewiß! und ich weiß, welchen Dank ich Ihnen schulde, wenn mich die Februar-Revolte auch später befreit hätte.«

»In zwei Jahren kann viel geschehen, ich sagte Ihnen damals bereits, daß später wahrscheinlich nichts mehr zu befreien sein würde. Genug, Sie wurden frei, und ich komme, den zweiten Teil unseres Vertrags anzubieten, die Präsidentschaft der Republik Frankreich.«

Der Prinz saß mit dem Rücken gegen das Licht der großen Astrallampe, sonst hätte der scharfe Beobachter gewiß nicht den Blitz von Ironie verpaßt, der über dies sonst so eherne Gesicht flog.

»Die öffentliche Stimme nennt allerdings bereits meinen Namen als Bewerber, und ich werde als solcher auftreten.«

»Sie werden Cavaignac schlagen, aber nur mit unserer Hilfe. Ich weiß, daß Sie bereits auf das Beste vorgearbeitet haben.«

»Der Berg macht mir offene Opposition!«

»Nur so lange es nötig ist, sie wird Ihnen mehr nützen als schaden, denn sie treibt die Bourgeoisie zu Ihnen hinüber. Ohne unsern Beistand wäre Lamartines Antrag auf Ihre Verbannung im Juni durchgegangen.«

»Vielleicht!«

»Bestimmt. Ebenso die heutigen Anträge auf Ausschließung der bisherigen Herrscherfamilien von der Präsidentur. Im Fall die Amendements der Straße Poitiers durchgingen, waren Ihre Aussichten hin, denn in der Assemblée selbst dürfen Sie nicht auf die Majorität zählen.«

Der Prinz schwieg einige Augenblicke, dann sagte er sinnend: »Wir wollen uns nicht täuschen, Signor, selbst mit Ihrem Beistand werden mir noch viele Faktoren fehlen, denn die Wahl muß glänzend sein, damit ich sie annehmen darf. Zunächst ist die Geistlichkeit gegen mich.«

»Haben Sie so wenig von Ihrem Oheim gelernt? Benutzen Sie das päpstliche Ansehen; man wird in diesem Augenblick gern Konzessionen machen, unterhandeln Sie!«

Der Prinz nickte. »Aber die Bourgeoisie ist hartnäckig, sie hält es mit der Straße Poitiers.«

»Sie haben von den Kommunisten-Diners gehört?«

»Ja – aber man scheint sie aufzugeben.«

»Sie werden stattfinden – hier im Chateau-Rouge am 17. Oktober, in Straßburg, in Toulouse. Ich bürge Ihnen dafür, daß Reden dabei gehalten werden sollen, die den guten Bürgern die Haare sträuben machen werden. Cavaignac wird zögern, ernste Maßregeln zu ergreifen, um sich in diesem Augenblick nicht unpopulär zu machen. Erklären Sie sich ganz bestimmt gegen den Berg, und daß unter Ihrer Präsidentur solche Demonstrationen nicht geduldet werden würden, sprechen Sie kühn dagegen in der Assemblée.«

»Der Rat ist gut, wenigstens für die Schwankenden und Ängstlichen. Aber ein großer Teil der Bourgeoisie und die Börse sind Orleanisten. Außerdem, Signor Mazzini, haben wir noch die Legitimisten, und ich versichere Sie, ihre Zahl und ihr Einfluß sind nicht gering.«

»Sie müßten nicht der Mann sein, als den ich Sie kenne, Prinz, wenn Sie nicht bereits wüßten, was die dynastische Opposition hofft.«

Der Prätendent erhob sich und ging an ein offenes Büreau. Er öffnete ein Portefeuille und nahm einen Brief heraus, den er dem Italiener reichte.

»Lesen Sie!«

»Von Changarnier, dem Bastard der Orleans! Es ist, wie ich dachte; man weiß, daß jetzt keine Aussicht zur Restauration, und deshalb bietet man Ihnen die Unterstützung der Partei an für die Übergangsepoche zur Regentschaft der Herzogin von Orleans. Connetable von Frankreich und Vicekönig von Algerien! Das Gebot ist nicht schlecht, und man wird es sicher Cavaignac machen, wenn Sie es nicht annehmen.«

Der Prinz lachte. »Ich werde kein solcher Thor sein; ich würde Sie zu der Versammlung bei dem sardinischen Gesandten begleiten, wenn ich nicht noch heute Abend eine Zusammenkunft mit Changarnier bei Odilon hätte.«

»Dann will ich Ihnen ein Geheimnis sagen, und Sie können zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Die Herzogin von Berry ist seit diesem Morgen in Paris.«

Der Prinz fuhr trotz seiner Selbstbeherrschung erstaunt zurück. »Sie scherzen, Signor, oder Sie irren sich!«

»Ich bin meiner Sache gewiß. Sie kennen diese Frau und wissen, daß sie alles wagt. Sie verdiente, ein Mann zu sein. Sie hegt offenbar dieselbe Absicht, wie die Orleanisten, aber sie geht kühner zu Werke.«

Der Prinz dachte einige Augenblicke nach. »Wissen Sie, ob die Herzogin sich bereits mit den Führern der Straße Poitiers verständigt hat?«

»Noch ist keine Annäherung erfolgt, so viel ich weiß. Es wird Ihre Sache sein, es zu verhindern und von dem Geheimnis den Gebrauch zu machen, der Ihnen gutdünkt. Welche Versprechungen wollen Sie dem General machen?«

»Sie vergessen, daß das Vermögen der Orleans in Frankreich noch 300 Millionen Franken beträgt und unter Sequester steht. Jules Favre hat die Konfiskation der Güter beantragt; es wird von dem Votum meiner Partei abhängen, ob der Antrag durchgeht.«

» Brava – ich sehe, Sie halten Ihre Karten gut, Prinz. Der Erfolg ist sicher; und nun zum andern Teil unseres Vertrages. Was habe ich dem Komitee der internationalen Liga der Völker von Ihnen zu versprechen?«

»Glauben Sie, daß ich umsonst den Namen Bonaparte führe, Signor Mazzini? – die Erbschaft meines Onkels wird Hand in Hand mit Ihren eigenen Plänen gehen. Rußland, Österreich und Preußen, auch wenn sie die gegenwärtige Krisis überwinden, haben von dem Augenblick an, wo ich in Frankreich regiere, einen unversöhnlichen Feind, dessen Schläge desto schärfer treffen sollen, je verborgener sie bereitet werden.«

Das schlaffe Auge des Prätendenten blitzte in unheimlichem Feuer, zwischen den Brauen lag eine tiefe Falte; im nächsten Augenblick fühlte er, daß er sich eine Blöße gegeben, denn er sah, wie das Auge des Republikaners ihn scharf beobachtete.

»Ich hoffe, daß unter Ihrer Regierung« – der Italiener betonte dies Wort – »Ungarn, Polen und Italien ihre Freiheit erringen werden. Was habe ich den Brüdern zu melden?«

Der Prinz rückte unruhig in seinem Sessel. »Sie und der Bund kennen meine Gesinnungen, ich meine Verpflichtung. Aber Sie werden einsehen, daß die politischen Rücksichten der künftigen Stellung mir nicht erlauben, im voraus zu bestimmen, was ich thun muß.«

Der Pseudo-Savoyarde war aufgestanden. Seine Miene war kalt, ruhig, fest. »Keine Ausflüchte, Hoheit, wir wollen uns kurz und bestimmt verständigen, denn Oberst Garibaldi und das Komitee erwarten Ihre Erklärung. Wollen Sie, wenn Carlo Alberto von uns genötigt wird, den Waffenstillstand zu brechen, gegen die Österreicher marschieren lassen?«

»Das ist unmöglich! das hieße mit Deutschland und Rußland mich gleichzeitig in einen Krieg verwickeln, ehe ich noch festen Fuß gefaßt habe.«

»Ich will es zugeben; wir stehen also davon ab, bis ein entscheidender Sieg der Ungarn erfolgt ist. Die entscheidende Frage für uns beide ist: Verpflichten Sie sich, sobald Ihre Wahl zum Präsidenten erfolgt ist, gegen Rom zu marschieren

Der Prinz schwieg einige Augenblicke, dann sagte er mit bestimmtem und kräftigem Ton: »Bei meinem Eid und bei meiner Ehre, Signor Mazzini, ich verpflichte mich, sobald es nötig ist, zwanzigtausend Mann gegen Rom marschieren zu lassen

»Dann sind wir einig – Ihr Wort, Hoheit, genügt! Die Ereignisse müssen das Wie und Wann bestimmen. Ich reise noch diese Nacht nach England ab, um den Premier zu bewegen, das Bombardement Messinas zu verhindern. Aus London erhalten Sie meine Gratulation zur Präsidentenwahl.«

Er hatte den Bart um seine Lippen gelegt, der Prinz reichte ihm die Hand. Mit der plumpen Begrüßung des Savoyarden öffnete der Italiener die Thür und entfernte sich durch das Vorzimmer, in dem Thelin wartete.

Der Prinz schritt, als er allein war, mehrere Male im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken und in tiefem Nachdenken. Auf seinem Gesicht lag ein schwerer, schneidender Zug von Hohn.

»Sie wollen ihr Werkzeug aus mir machen,« sagte er endlich, stehen bleibend, »aber sie sollen sich alle in mir getäuscht haben, alle! Die Revolution ist gut, so lange ich ihrer bedarf, aber ich will sie beherrschen, Bourbons und Orleans! die Leute sind Thoren; wer einen Thron verlieren kann, verdient nicht, ihn zu behalten. – Thelin!«

Der Kammerdiener erschien auf den Ruf.

»Befindet sich der Abbé, der mir gestern seinen Besuch machte, zu Hause?«

»Er hat vor einigen Minuten anfragen lassen, ob Euer Hoheit die Gnade haben wollen, ihn zu empfangen. Unten im Flur steht ein alter einarmiger Invalide, er behauptet, Euer Hoheit hätten ihn hierher beschieden.«

»Es ist wahr! nimm ihn zu Dir auf Dein Zimmer und bewirte ihn aufs beste, bis ich mit ihm sprechen kann. Sage dem Herrn Abbé, daß es mir Vergnügen machen würde, ihn zu empfangen; führ' ihn durch mein Schlafzimmer, Thelin.«

Der Kammerdiener entfernte sich mit den erhaltenen Aufträgen, der Prinz setzte sich in tiefen Gedanken vor sein Bureau, auf dem Broschüren, Bücher und Briefe übereinander gehäuft waren.

Nach einer Weile klopfte es leise an eine Seitenthür.

»Herein.«

Ein Mann von mittleren Jahren, hager, von brauner Gesichtsfarbe und mit tiefliegenden düsteren Augen, trat ein. Obschon er schwarze bürgerliche Kleidung trug und das ergrauende Haar über die Tonsur gekämmt hatte, war doch für einen geübten Blick der Geistliche in ihm nicht leicht zu verkennen. Die Züge dieses Gesichts, das in der Jugend und vielleicht noch im Mannesalter der Spiegel starker Leidenschaften gewesen sein mußte, waren jetzt schlaff, verschlossen und das Schaugepräge einer gewissen Demut tragend, die Augen gewöhnlich niedergeschlagen. Nur wenn sie, blitzschnell erhoben, sich auf einen Gegenstand richteten, sah man das Feuer eines gebändigten, aber nicht ertöteten Geistes in ihnen blitzen, der dem Gegner, auf den er sie richtete, nichts Gutes weissagte.

»Setzen Sie sich, Herr Abbé,« sagte der Prinz, nach einer Chaiselongue deutend, »und lassen Sie uns einige Augenblicke plaudern. Ich hoffe, daß ich Ihnen heute bereits eine Antwort geben kann, die uns beide befriedigt.«

»Das würde Seiner Eminenz, dem Herrn Kardinal, eine große Genugthuung gewähren,« bemerkte mit einer demütigen Verbeugung der Geistliche.

»Kardinal Antonelli hat es vorgezogen, statt durch den Herrn Nuntius, durch Sie mich über einige Punkte befragen zu lassen, die vielleicht mit meiner künftigen Stellung in diesem Lande in Verbindung stehen. Dies beweist ein besonderes Vertrauen in Ihre Person.«

»Seine Eminenz hat geruht, bei einigen Gelegenheiten von meinen geringen Diensten Gebrauch zu machen.«

»Wohl! Lassen Sie uns von unseren Angelegenheiten sprechen. Es herrscht einige Ähnlichkeit in dem Leben Seiner Eminenz und dem meinen. Der Herr Kardinal hatte sich gleichfalls für einige Zeit der Revolution angeschlossen?!«

Der Jesuit verdrehte heuchlerisch die Augen. »Es mag profanen Blicken also geschienen haben,« sagte er salbungsvoll, »der heilige Vater glaubte vielleicht, große und erhabene Zwecke damit zu erreichen, aber die Kirche darf nicht länger anstehen, das mißleitete Kind, das sich gegen sie gewandt, ihre Zuchtrute fühlen zu lassen.«

Der Prinz lächelte sarkastisch. »Übersetzen wir das Kirchenlatein in die Laiensprache, Herr Abbé. Seine Heiligkeit Papst Pius IX., oder vielmehr Se. Eminenz, der Herr Kardinal Antonelli, fanden, daß der österreichische Einfluß in Italien allzu mächtig geworden war und anfing, ihnen gefährlich zu werden. Der aus dem Käfig gelassene Tiger aber hat sich gegen den Wärter gekehrt und man wünscht jetzt sehr den frühern Schutz der Bajonette zurück. Österreich hat in diesem Augenblick genug mit sich selbst zu thun, deshalb richtet der Kardinal seine Blicke auf Frankreich. Der Herr Kardinal weiß, daß mit einer Person eine leichtere Verständigung ist, als mit einer Assemblé. In diesem Augenblick giebt es in Frankreich zwei Prätendenten zur Wahl: General Cavaignac und mich. Den General hält der Herr Kardinal für einen guten Republikaner, mich für ehrgeizig. Das ist die Lösung des Rätsels; deshalb habe ich das Vergnügen, Sie zu empfangen.«

Ein Blitz zuckte in dem Auge des geistlichen Unterhändlers, als er es rasch auf den Prinzen richtete. »Euer Hoheit besitzen einen außerordentlichen Scharfsinn für politische Kombinationen,« sagte er kalt.

»Sie sind Jesuit?« fragte der Prinz rasch.

Ein roter Fleck zeigte sich auf den Backenknochen des Geistlichen, verschwand aber sogleich wieder. »Ich bin ein unwürdiges Mitglied der heiligen Congregation.«

»Das wird uns die Verhandlungen erleichtern, und darum fragte ich. Ihr Vaterland, Herr Pater?«

»Spanien!«

»Gut. Sie werden aus Erfahrung und den Lehren Ihres Ordens, vor dem ich alle Hochachtung hege, wissen, daß Offenheit zuweilen die beste Politik ist. Wir befinden uns in einem solchen Fall: Kardinal Antonelli will wissen, was die Kirche von mir zu erwarten hat, wenn ich die Macht in Frankreich in Händen habe; ich brauche die Unterstützung der Geistlichkeit zu meiner Wahl als Präsident. Ist dies Verhältnis klar?«

»Eurer Hoheit Sprache läßt an Präzision nichts zu wünschen übrig.«

»Wohlan, Herr Abbé! was verlangt der Kardinal?«

»Die Anerkennung und Aufrechterhaltung der Souveränität des Papstes.«

»Einverstanden!«

»Eine öffentliche Erklärung darüber und eine gleiche Desavouierung der republikanischen Umtriebe Ihres Verwandten in Rom.«

»Warten Sie!« Der Prinz nahm eine Feder und schrieb folgenden, durch die späteren Ereignisse historisch berühmt gewordenen Brief:

»Monseigneur!

Ich will die Gerüchte, die darauf ausgehen, mich als Mitschuldigen an dem Benehmen des Fürsten von Canino in Rom zu bezeichnen, keinen Glauben bei Ihnen gewinnen lassen. Seit langer Zeit habe ich nicht die mindeste Beziehung zu dem ältesten Sohne Lucien Bonapartes, und ich beklage von ganzer Seele, daß er nicht gefühlt hat, daß die Aufrechthaltung der weltlichen Souveränität des ehrwürdigen Kirchen-Oberhaupts mit dem Glanz des Katholicismus, sowie mit der Freiheit und Unabhängigkeit Italiens aufs engste zusammenhängt.

Empfangen Sie, Monseigneur etc.
Louis Napoleon Bonaparte

Er las dem Pater den Brief vor.

»Die Adresse ist an den päpstlichen Nuntius gerichtet. Ich ermächtige Sie, drei Tage vor dem Termin der Wahl von diesem Brief Gebrauch zu machen.«

Der Jesuit las vorsichtig den Brief nochmals durch und legte ihn in seine Brieftasche. »Ich danke Euer Hoheit im Namen des Kardinals. Es bleibt uns noch die Zusicherung militärischer Hilfe festzusetzen, im Fall Seine Heiligkeit deren bedürfen sollte.«

Der Prinz ergriff nochmals die Feder und schrieb folgende Worte nieder:

»Ich verpflichte mich, auf Verlangen die römischen Staaten mit zwanzigtausend Mann französischer Truppen zu besetzen.

Louis Napoleon

Er reichte ihm das Papier. Der Spanier las dasselbe wiederholt; es schien, als wollte er eine Bemerkung machen, doch ein Blick auf die ruhige, gemessene Miene des Prinzen ließ ihn den Zweifel unterdrücken – der Jesuit fühlte, daß er hier einen ihm vollständig gewachsenen Gegner gefunden, und daß er einen Zug verloren hatte, der nicht wieder gut zu machen war, indem er die Fassung des Dokuments aus den Händen gegeben.

Er legte das Blatt zu dem andern und entfaltete dafür ein Schreiben. »Wollen sich Eure Hoheit von dem Inhalt überzeugen; es ist die Anweisung Seiner Heiligkeit an den Herrn Nuntius von Paris und die Bischöfe aller französischen Diözesen, die Wahl Eurer Hoheit zum Präsidenten des französischen Staates, als eines getreuen Sohnes der katholischen Kirche, in ihren Sprengeln durch die Geistlichkeit in jeder Weise unterstützen zu lassen.«

Der Prinz machte es, wie vorhin der Jesuit, er las das Dokument genau durch.

»Ich bin befriedigt; unter der Bedingung, daß keine Kontreodre erfolgt.« Der Jesuit machte eine abweisende Bewegung. – »Bitte, Herr Abbé, ich verlasse mich am liebsten auf die Notwendigkeit und den Vorteil. Wir sind demnach einig. Jetzt habe ich Ihnen eine Mitteilung in den Kauf zu geben.«

»Eurer Hoheit Rat und Nachrichten werden uns immer sehr willkommen sein.« Der Pater hatte sich von seinem Sitze erhoben.

»Wann senden Sie Ihre nächsten Nachrichten nach Rom?«

»Noch diesen Abend wird ein Courier abgehen; in fünf oder sechs Tagen hoffe ich im Vatikan zu sein.«

Der Prinz trat dicht auf ihn zu, der Ausdruck seines ohnehin strengen und finstern Gesichts war ernst und gewichtig.

»Benachrichtigen Sie den Kardinal Antonelli,« sagte er mit gedämpfter Stimme, als fürchte er selbst den Verrat der Wände, »daß eine ausgedehnte Verschwörung in Rom im Begriff steht, auszubrechen. Das Leben des Ministers Rossi ist den Dolchen der Meuchelmörder überliefert. Man möge an die Sicherheit Seiner Heiligkeit denken.«

Der Jesuit verbeugte sich. »Eurer kaiserlichen Hoheit Warnung soll sofort überbracht werden.« – Er zögerte einige Augenblicke, dann schien er das Bedenken, was ihn zurückhielt, überwunden zu haben.

»Wollen Eure Hoheit mir eine persönliche Frage erlauben?«

»Mit Vergnügen! Ich bitte, fragen Sie!«

»Das Schicksal der Personen, die in Frankfurt a. M. der Teilnahme an der Tötung der beiden deutschen Abgeordneten schuldig geworden, ist Ihnen bekannt.«

»Sie sind nach Frankreich geflüchtet, und man verlangt ihre Auslieferung.«

»Werden Eure Hoheit sie künftig bewilligen?«

Der Prinz sah ihn scharf an. »Was wünschen Sie, daß ich thun soll?«

»Ich interessiere mich aus einem Grunde, der Eurer Hoheit gleichgültig ist, für ihre Rettung.«

»Wohl, ich werde sorgen, daß sie nicht ausgeliefert werden.«

»Aber wenn Herr von Raumer darauf besteht?«

»Liebster Abbé, die Dummköpfe oder Phantasten in Frankfurt, die gern nach dem Beispiel Frankreichs Republik spielen möchten, kümmern mich herzlich wenig, und man muß ein großer Thor sein, sich von ihnen als Gesandter brauchen zu lassen. Die Politik kennt nur Österreich und Preußen mit einigem Flickwerk daran, und hat anderes zu thun, als sich um einige entwischte Vagabunden zu kümmern. Im Notfall interniert man sie und läßt sie dann entspringen, das wird die deutschen Herren vollkommen beruhigen. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, ohne nach Ihren Beweggründen zu fragen und das um so lieber, als ich selbst Sie um eine persönlichen Dienst zu bitten habe.«

»Befehlen Euer Hoheit! Sie werden mich mit Gottes allmächtigem Beistand dankbar finden und bereit – wenn es nichts gegen die heilige Kirche ist.«

»Die Interessen der Kirche lassen sich vielleicht damit vereinen, da die Bourbons immer zu ihren auserwähltesten Kindern gehört haben,« sagte der Prinz mit leisem Hohn. »Ist es Ihnen bereits bekannt, daß seit heute Morgen – natürlich im strengsten Inkognito – die Herzogin von Berry sich in Paris befindet?«

»Eure Hoheit überraschen mich mit der Nachricht. Die unglückliche Dame – –«

»Es ist einer ihrer alten Donquixotestreiche. Sie wissen so gut wie ich, daß in diesem Augenblick so wenig eine Restauration der Bourbons, wie der Orleans möglich ist; ich hoffe, sie will daher nur die Gelegenheit benutzen, um für die Zukunft zu sorgen. Ich wünsche ihr Demütigung und Unannehmlichkeiten zu ersparen, die sie jedenfalls treffen müssen, wenn sie sich an General Cavaignac wendet. Sie sehen, daß die Thatsache ihrer Anwesenheit kein Geheimnis mehr ist, obwohl ich ihren speziellen Zufluchtsort nicht kenne. Glauben Sie denselben noch diesen Abend ermitteln zu können, um ihr eine Mitteilung zu bringen?«

»Ich hoffe es.«

»Wohl, so setzen Sie die Herzogin in Kenntnis, daß ihre Anwesenheit den Machthabern bekannt ist, und daß ich im Interesse ihrer Zwecke noch diese Nacht an einem geeigneten und sichern Ort eine Unterredung mit ihr wünsche. Ich muß jedoch vor 12 Uhr die Bestimmung der Zeit und des Orts haben. Dieser Auftrag ist ein Dienst, den ich Ihnen und den Bourbons leiste, da ich einem politischen Skandal, wie die Verhaftung der Herzogin, vorbeugen möchte. Der Gegendienst, den ich für mich verlange, ist, daß Sie mir mitteilen, wo Sie die Herzogin gefunden haben. Es ist für die Sicherheit derselben notwendig.«

»Werde ich Eure Hoheit hier treffen?«

»Nein, ich habe noch einige Geschäfte und versprochen, die Soirée des Herrn Baroche zu besuchen. Schreiben Sie mir eine Zeile, unverfänglich, nur mir verständlich, und lassen Sie das Billet im Hotel Baroche in der Rue de Varennes, abgeben. Aber vor Mitternacht – ich betone dies besonders, denn später kann ich nicht mehr dafür bürgen, was geschieht.«

Der Jesuit verbeugte sich. »Eure Hoheit werden die Nachricht erhalten!«

»Und die Flüchtlinge aus Frankfurt werden nicht ausgeliefert werden. Darf ich erfahren, ob der Name des Abbé Corpasini der wahre Name des Vertrauten des Kardinal Antonelli ist?«

»Ich bin der unwürdige Frater Antonio – in der Sünde der Welt führte ich einst den Namen Diego de Corpas.«

»Corpas? – wenn ich mich recht erinnere, war das der Name des vertrauten Freundes des Infanten Don Carlos?«

»Es war mein Vater! – Haben Eure Hoheit noch etwas zu befehlen?«

»Ich danke Ihnen, hochwürdiger Herr, unser gegenseitiger Vertrag ist geschlossen. Sollte ich nicht mehr das Vergnügen haben, Sie vor Ihrer Abreise zu sehen, so empfehlen Sie mich der Freundschaft Seiner Eminenz.«

Der Jesuit empfahl sich mit der demütigen Miene, die er bei seinem Eintritt angenommen. Er hatte kaum die Thür geschlossen, als der Prinz sich erschöpft in ein Fauteuil warf und sich die Stirn trocknete. »Zum Teufel mit dem Gezücht! Ich will lieber eine Woche mit der Crême aller Revolutionen unterhandeln, als eine halbe Stunde mit einem Pfaffen. Wie sie sich winden werden, wenn ich erst die Hand auf sie lege!« Er nahm sine Karte von Italien und breitete sie vor sich aus. »Rom!« murmelte er leise – »mögen sie sich einstweilen die Hälse abschneiden. Ich bin nicht der Mann, zu vergessen, daß in Italien die Macht Frankreichs basiert!«

Eine leichte, weiche Hand legte sich über seine Augen. »Raten Sie, raten Sie!«

»Diese schlanken Finger können nur der schönen Rosa gehören!« Er nahm die Hand und küßte sie galant.

Die kleine Schauspielerin hatte sich auf die Lehne des Sessels gesetzt. »Es ist abscheulich, Prinz, daß man selbst hierherkommen muß, um Ihnen zu gratulieren. Wahrhaftig, die großen Herren verdienen es gar nicht, daß man sie liebt!« – Das Minaudieren stand ihr allerliebst!


Eine Stunde nachher befand sich der Prinz in dem Salon seiner Wohnung im Hotel du Rhin, im Kreise seiner Vertrauten, so weit er bei seinem verschlossenen Charakter sich überhaupt herbeiließ, jemandem Vertrauen zu schenken.

Jedermann weiß, in welcher moralischen Verkommenheit sich während der letzten Zeit der Regierung Louis Philipps der gesellschaftliche Zustand von Paris und Frankreich befand. Die Maitresse des Mörders Praslin war als Dame de Comtoir ein Gegenstand der Bewunderung der Pariser gewesen; die Bestechungs-Prozesse gegen zwei Minister des Bürgerkönigs, den General Cubières und Teste, den Präsidenten des Kassationshofes, hatten das System der gemeinsten Bestechung enthüllt; zahllose andere an die Öffentlichkeit gekommene Vorgänge hatten die Käuflichkeit der höchsten Ratgeber der Krone, den Stellen- und Stimmen-Verkauf und den groben Mißbrauch der Staatsgelder und Staats-Unternehmungen bewiesen; die Herrschaft des Geldes und die Sucht des Reichtums begannen in allen Ständen zu herrschen und jedes Gefühl der Ehre zu unterdrücken. Die Ehe war längst ein Kontrakt und der Deckmantel der tiefsten Entsittlichung geworden – kurz, die Pariser Gesellschaft befand sich in dem Zustand, der wie der schwüle Sommertag die Donnerschläge des Gewitters, so die Reinigung durch Blut und Schrecken forderte.

Auch in dem Salon des künftigen Präsidenten von Frankreich hatte diese Demoralisation ihre Vertreter. – Mußte doch die politische Komödie der Zukunft selbst sich auf diese Demoralisation stützen.

In dem Sessel vor dem mit einigen Tagesblättern bedeckten Tisch saß der Prinz, ihm gegenüber ein Herr in Halb-Uniform mit etwas starkem Leib und hängenden schlaffen Wangen, hoch in den Vierzigern, mit dem Kommandeurkreuz der Ehrenlegion.

Neben ihnen am Kamin lehnte der Halbbruder des Prinzen, Jules Graf von Morny, der Typus jener Figuren der Zeit, die mit dem angeborenen französischen Heldenmut die ganze gemeine Charakterlosigkeit des politischen und des Geldspekulanten vereinen. Als junger Offizier hatte der uneheliche Sohn der schönen Königin von Holland mit ihrem Stallmeister bei Mascara die von der ganzen französischen Armee bewunderte Heldenthat ausgeführt, allein durch das ganze Heer Abd el Kaders zu reiten und unter den Mauern von Constantine mit vier Wunden die Lebensrettung des General Trezel erkauft. Später, als Mitglied der Deputierten-Kammer, hatte er sich zum Vertrauten des unglücklichen Herzogs von Orleans zu machen gewußt und zur Zeit seines Auftretens als Rübenzucker-Fabrikant und wütender Spieler bereits sich gänzlich ruiniert, obschon seine Mutter ihm eine Jahres-Rente von 40 000 Francs hinterlassen hatte.

Der Graf zählte damals 36 Jahre und war von mittelgroßer bequemer Statur, mit etwas apathischem aber kleinem Gesicht, das den Faiseur kennzeichnete. Er hörte meist der Unterhaltung zu, nur selten, seinem Wahlspruch gemäß: memento, sed tace! einen Gedanken hineinwerfend.

An der anderen Seite des Kamins unterhielt sich Persigny, der ehrlichste und eifrigste Anhänger des Bonapartismus, mit General Montholon, dem Bankier Fould und einem dritten Herrn. Der Minister und Ambassadeur der Zukunft hatte in so ziemlich allen politischen Phasen der letzten Zeit Apostasie gemacht, mit Ausnahme der Bergpartei, und war in seiner Jugend enragierter Royalist, später Liberaler und Anhänger Louis Philipps, nachher St. Simonist und Begleiter des Vater Enfantin, 1832 sogar Ritter der Herzogin von Berry bei dem Aufstand der Vendée gewesen, bis ihn zwei Jahre später die Bekanntschaft mit dem Prinzen Louis Napoleon zum eifrigen Anhänger des Bonapartismus und seines Vertreters machte, dessen Helfershelfer bei den unreifen Unternehmungen von Straßburg und Boulogne er gewesen war.

So, aus politischen Abenteurern und Ehrgeizigen bestehend, erschien dieser Generalstab des künftigen Staatsstreichs doch immer noch ehrenwert gegen die skandalösen Traditionen und die mehr als schamlose Frechheit der letzten Personen des kleinen Cirkels. Nur die gänzliche Umkehr aller Grundsätze der Ehre und Moral in der Pariser Gesellschaft konnte einen Menschen, wie den berüchtigten Gatten Delphine Gays, den Redakteur der Presse, Emil Girardin, zur Schmach der Journalistik und jedes Gefühls für Rechtlichkeit, in den Spitzen dieser Gesellschaft dulden, ja ihm schmeicheln und eine bedeutende Rolle zuteilen.

Selbst seinen Namen nur mit der öffentlichen Schande seiner Mutter, oder vielmehr, mit einer Spekulation auf diese Schande durch einen Skandal-Prozeß gegen einen der Hofleute Karls X., den General-Leutnant und Hofjägermeister Alexander v. Girardin, erkaufend, der vor Gericht gegen die Ehre dieser Vaterschaft protestierte, verschaffte der angehende Journalist durch diesen Prozeß seinem kleinen Journal Abnehmer und hatte das unverdiente Glück, die Liebe und die Hand der Dichterin Delphine Gay zu erwerben, der Rivalin Bérangers, die den Ruf edler Weiblichkeit mit in das frühe Grab nahm. Mit Talent und Geist begabt, wählte er den Weg, der durch Schmutz zum Reichtum führt, und die Juli-Revolution kam ihm zu Hilfe. Der Redakteur der neuen »Presse« war es, der zuerst das kommerzielle anstatt des politischen Interesses als Hauptprinzip einer Redaktion aufstellte, das Pariser Roman-Feuilleton erfand und das Publikum den Humbug der Zeitungs-Annoncen lehrte. Ohne politische Prinzipien unterstützte oder attakierte er die Regierung, je nachdem er ihren Schutz für industrielle Gaunereien und gegen das Zuchtpolizei-Gericht nötig hatte, und sein Duell mit Armand Carrel, einem der reinsten Patrioten Frankreichs, der von seiner Hand fiel, wurde mit dem freien Ausgang aus der nichtswürdigen Betrügerei seiner beiden Aktien-Unternehmungen des Musée des familles und der Steinkohlengruben von St. Berain bezahlt. Louis Philipps Regierung hatte ihn in einem Ort wählen lassen, über dessen meiste Stimmen sie verfügte, aber es verging keine Wahl, ohne daß er öffentlich beschimpft wurde, und das Mitglied des Kassationshofes, Voysin du Gartems, trat einzig als Gegenkandidat auf, »nicht aus politischem Ehrgeiz, sondern weil es eine Schande sein würde, wenn ein Mann wie Girardin auch nur die kleinste französische Ortschaft vertreten dürfe,« und ein andermal gaben die unabhängigen Wähler lieber dem Galeerensklaven und Polizeispion Vidocq ihre Stimme als ihm.

»Es war ein genialer Streich, Herr v. Girardin,« sagte der General, »daß Sie vorgestern zur Totenfeier an Carrels Grab erschienen. Sie sollen in der That so rührend gesprochen haben. Laß die Herren vom Berg, die Sie gewiß zuerst gern massakriert hätten, ganz gerührt worden sind. Sagen Sie, ist es Ihnen wirklich Ernst gewesen mit den Thränen, die Sie vergossen?«

»Bitte – haben Sie die heutige Nummer der Presse gelesen?«

»Noch nicht!«

»Dann werden Sie die Antwort darin finden!«

Der Bankier lachte. »Aber ich bitte Sie, General – wo hatten Sie Ihre Ohren in der Assemblée? Die Straße Taitbout ist wütend über den Artikel gegen ihren verstorbenen Helden. Ich muß gestehen, ich habe lange nichts Giftigeres gelesen.«

Der Prinz erhob sich. »Ich werde Ihnen Gelegenheit geben, mit dem Berg wieder Frieden zu schließen, Herr v. Girardin.« Er nahm zwei Papiere von dem Tisch. »So sind Sie also mit dem Manifest einverstanden?«

»Vollkommen, Hoheit!«

»Und der Entwurf des Herrn Merrian, den mir Thiers geschickt hat?«

»Ich denke, daß das eine wahr ist, wie die Natur selbst, das andere aber bloß wie eine hinter der Scheibe genommene Kopie. Wie kann man an Worten, wie ›die Republik muß großmütig sein,‹ Anstoß nehmen! Es ist eine Phrase und Sie werden deshalb nicht minder handeln, wie Sie wollen.«

»Aber Herr Thiers wird dann gegen uns sein,« sagte der General Montholon, »und er hat den Konstitutionnel.«

»Herr Thiers ist zu gescheut, um wegen einer Phrase mit seiner Zukunft zu brechen. Überdies ist das Mittel bereits gefunden, unsern Freund Veron zu emanzipieren.« Herr v. Persigny wies auf den Bankier.

»Wodurch?«

»Ei, unser Freund wird Veron in den Stand setzen, Herrn Thiers seinen Anteil am Konstitutionnel auszuzahlen. Das heißt ihn an die Luft bringen, und es ist um so notwendiger, als wir keine Lust haben, seine Kandidaten auf die Minister-Liste zu setzen.«

Der Journalist rieb sich schadenfroh die Hände. »Das ist ein Meisterstreich! Dafür lasse ich mir zehn Manifeste streichen.«

Der künftige Finanzminister flüsterte ihm einige Worte ins Ohr – von zwanzig Aktien der Nordbahn.

»Lassen Sie uns demnach noch einmal unsere Kräfte und die Verteilung der Aufgabe rekapitulieren,« sagte der Prinz. »Für die Bourgeoisie der ›Konstitutionnel‹, für die Schreier der ›Presse‹.«

»Ich danke, Hoheit.«

»Wir wollen aufrichtig sein, Herr von Girardin. Die Börse und die Orleanisten also.«

»Die sichert Herr Fould.«

»Unter der Bedingung, daß die Konfiskation der Güter unterbleibt.«

»Einverstanden!«

»Algier übernimmt Herr von St. Arnaud.«

»Ich bürge für die Bureaux und die Hälfte der Truppen,« beteuerte der Divisionär von Constantine und künftige Kriegsminister.

»Es bleiben die Roten, die Armee in Frankreich, die Legitimisten und das Volk,« bemerkte Graf Montholon.

»Die Roten werden sich selbst stürzen; lassen Sie Herrn Ledru Rollin und Raspail auch einige Tausend Stimmen erhalten, die Agitation dafür wird uns bei der Bourgeoisie um so mehr nützen. Für neue Demonstrationen der Sozialisten, die auch dem Einfältigsten die Augen öffnen müssen, ist gesorgt.«

»Die Armee in Frankreich?«

»Es ist nicht zu leugnen, daß Changarnier mit den Orleanisten und Cavaignac, Lamorière, Pelissier und ihr Anhang bedeutenden Einfluß darauf üben. Aber Castellane, Magnan, und viele andere sind bereits auf unserer Seite. Die Armee weiß, daß ihre Gloire nicht im Straßenkampf von Paris blüht, sondern jenseits des Rheins und jenseits der Alpen. Rechnen wir etwas auf den Zauber, den der Name Bonaparte auf jeden Franzosen ausübt. Diese Flugschrift,« der Prinz nahm sie unter den Papieren hervor, »wird in hunderttausend Exemplaren in allen Kasernen verteilt werden. Sie erinnert an die Erbschaft von 1812-15, welche die französische Armee übernommen hat.«

Der Journalist überflog die kleine Broschüre. »Vortrefflich geschrieben, aufregend, ohne die Kandidatur zu kompromittieren. Ich habe nur noch die beiden letzten Faktoren zu nennen, das eigentliche Volk.«

»Das übernehme ich; das Wie lassen Sie mir als mein Geheimnis.«

»Und die Legitimisten?«

»Die werden Sie, Herr von Girardin, uns gewinnen!«

»Ich – à la bonheur – das Faubourg St. Germain schickte mich am liebsten nach Bicêtre oder zu den Kabylen. Nein, Hoheit, diese Mühe wäre verloren.«

Der Prinz lächelte eigentümlich. »Sie wissen gar nicht, was Sie vermögen, Herr von Girardin. Es kommt bloß darauf an, daß Sie mir eine oder zwei Stunden Ihre Unterhaltung opfern.«

»Ich verstehe Sie nicht, Hoheit!«

»Sie werden doch diesen Abend bei Baroche erscheinen!«

»Ich werde in einer Stunde hingehen!«

»Nun, statt um Zehn oder Elf dort zu sein, bitte ich Sie, Ihren Eintritt um eine Stunde zu verschieben und in einem benachbarten Kaffeehause zu warten, bis Persigny Ihnen die Nachricht bringt, daß es Zeit sei. Er wird Sie von allem, was Sie zu thun haben, in Kenntnis setzen.«

»Ich stehe zu Ihrem Befehl, obschon ich nichts von allem begreife.«

Der Prinz wandte sich an den Bankier. »Es ist sicher, daß General Cavaignac erscheinen wird?«

»Ich hörte es selbst, wie er es Baroche versprach, um elf Uhr dort zu sein. Zur vollen Sicherheit werde ich von hier in den Klub der Straße Poitiers gehen, wo er sicher einige Augenblicke erscheint.«

»Dann ist alles in Ordnung, und wir können uns trennen. Ich fahre für einige Augenblicke nach der Oper und bin vor elf Uhr bei Herrn Baroche.«

»Ich gehe nach der Straße Taitbout,« sagte General Montholon.

Der Bankier reichte ihm die Hand. »Nehmen Sie sich in acht, liebster Graf, Sie exponieren sich bei diesen Leuten zu sehr. Und Sie, Herr General?«

»Ich nehme Abschied, denn ich will noch mit dem Nachtzuge nach Marseille. Der Dampfer geht übermorgen nach Algier ab. Auf Wiedersehen denn, meine Herren, nach einem glücklichen Resultat der Wahl!« General St. Arnaud verabschiedete sich bei dem Prinzen, und die Gesellschaft trennte sich, bis auf Persigny, der noch einige Augenblicke zurückblieb.

Der Prinz hatte wieder in seinem Fauteuil Platz genommen – sein Vertrauter stand vor ihm.

»Nun, Vialin – wie steht's mit der Liste?«

Der ehemalige Simonist zog ein Papier aus der Tasche. »Es sind nur drei Namen, Hoheit, aber sie kosten mich hundert Louisdor. Cavaignac will eine Konzession an die dynastische Opposition machen, indem er einige republikanische Elemente ausscheidet und ehemalige Mitglieder dieser Opposition beruft.«

»Geschwind die Namen!«

»Statt Lénard: Dufaure für das Innere, Vivien in Stelle Maries für die Justiz und Freslon den Unterricht, statt Vanlabelles.«

»Das ist eine halbe Maßregel, Vialin, und kann uns viele von den Republikanern zuführen. Unsere Liste wird klüger sein. Wie weit stehst Du mit den Unterhandlungen?«

»Bixio Der zweite Präsident der Assemblée. hat eingewilligt für den Ackerbau und Handel; Odilon Barrot übernimmt die Justiz; Baroche muß warten bis auf passende Gelegenheit, wir müssen einen Koryphäen der Burggrafen auf der Liste haben. Der Legitimist Falloux weigert sich.«

»Ich habe vor einer Stunde eine Erklärung über meine Stellung zum Papst gegeben, die ihn andern Sinnes machen wird.«

»Dann sind wir seiner sicher für den Unterricht – er zittert für Rom. Drouyn-de-L'huys für das Auswärtige, Maleville und Tracy schwanken, aber die Angel sitzt. Rulhières sind Sie sicher, mit Faucher werde ich noch diesen Abend unterhandeln. Aber was sagt Fould zu dem Portefeuille Passys?«

»Er wünscht selbst einen Übergang; ich bin mit ihm einig. Wir müssen Namen von allen Parteien im ersten Ministerium haben. Indem wir Changarnier das Kommando der Truppen in und um Paris anbieten, sprengen wir die Afrikaner! – Aber nun zu dem Coup mit den Legitimisten. Du wirst bekennen, daß ich bereits eine gute Polizei habe.«

Der Vertraute hörte aufmerksam zu, als ihm der Prinz seine Mitteilung machte; um den feinen Mund des gewiegten Verschwörers zuckte ein siegreiches, spöttisches Lachen.

»Du weißt jetzt, was Du zu thun hast, sobald die Nachricht des Abbé eingetroffen,« schloß der Prinz. »Girardin muß mit dem größten Eclat auftreten; er ist ein Lump, aber man wird den giftigen Lärm seiner morgenden Nummer fürchten. Jetzt geh und beauftrage Thelin, mir den alten Invaliden zu bringen, den Du bei ihm finden wirst.«

Während Persigny sich entfernte, ordnete der Prinz seinen Anzug. Es klopfte leise an die Thür, dann öffnete sich die Portière, und der alte Leiermann, das benarbte Gesicht von der ausgestochenen Flasche gerötet und die Augen heller funkelnd, trat anfangs etwas schüchtern, herein.

Der Prinz kehrte ihm gerade den Rücken zu, sah ihn aber im Spiegel. Der Ausdruck seines Gesichts wechselte und nahm etwas ernstes, soldatisches an, wie es sich für die Unterhaltung mit dem alten Invaliden besser eignete.

Dieser legte salutierend die Hand an das graue Haar: »Sire, ich melde mich! Pierre Fromentin, genannt Touron, Exsergeant der kaiserlichen Garde-Artillerie, jetzt Orgeldreher am Pont de la Concorde.«

»Ah, mein Braver, sei willkommen!« Der Prinz ging auf ihn zu. »Es ist mir lieb, daß Du Wort gehalten hast.«

»Ich bin an das Kommando gewöhnt, Sire!«

»Das ist ein Titel, der mir nicht zukommt, guter Freund. Du denkst noch immer an den Kaiser, meinen Oheim!«

»Was nicht ist, kann werden, Sire,« sagte barsch der alte Soldat. »In meinen Augen ist der Neffe der Erbe des Onkels, wenn kein Sohn mehr da ist!«

Der Prinz lächelte, die politische Logik des alten Soldaten hatte vielleicht etwas prophetisches für ihn.

»Du standest im Korps von Ney?«

»Zu Befehl, Sire, erste Brigade der Garde, zweite leichte Feldbatterie!«

»Und wo verlorst Du den Arm?«

»Bei Waterloo, Sir!«

»Wo erhieltest Du das Kreuz?«

»An der Moskwa!«

»Warum ist ein Braver, wie Du, nicht im Invaliden-Hotel? Es ist eine Schmach für die französische Regierung!«

»O, was das betrifft, mein Prinz,« sagte der Alte lustig, » Sacrebleu! sie mag viele Sünden auf dem Rücken haben aber daran ist sie unschuldig. Ich zog es vor, bei Weib und Kind zu bleiben und mich selbst zu ernähren.«

»So bist Du also ein Freund der letzten Regierungen?«

»Was halten Sie von mir, Sire? Ich kenne nur eine Regierung, das ist die des Kaisers. Die Orleans oder die Republik sind für die jungen Laffen gut!«

»Man hat mir gesagt, daß Du unter Deinen neuen Kameraden in Paris – ich meine nicht die von der Armee, Alter, sondern die von der Orgel – großes Ansehen genössest?«

»Donnerwetter, ich wollte sie! Bin ich nicht von der Garde und habe das Kreuz? Die Schelme haben wohlgethan, mich zu ihrem Kapitän zu ernennen; ich halte auf Ordnung unter den Spitzbuben, Sire, und ich versichere Sie, es sind ganz verzweifelt obstinate Kerle darunter, Blinde, die so gut sehen, wie Sie und ich, und Lahme, die besser laufen, wie die Polizei der Mairie. Aber Parbleu, sie wissen, mit wem sie es zu thun haben und kennen Vater Touron. Es ist jetzt Ordnung in der Kompagnie und keiner darf mit dem andern ins Revier!«

»Wie viel solcher Virtuosen zählt Paris?«

»O, was das betrifft, Sire, mit dem Virtuosentum ist's nicht soweit her. Der kleine Coquin, der Jacques, behauptet immer, ich hätte eine Stimme wie ein zersprungener Feldkessel und könne nicht einmal hören, ob meine Orgel verstimmt sei oder nicht. Aber warten Sie, Sire, ich kann es Ihnen sagen auf den Centime!« Er begann eine lange Rechnung an den Fingern, die der Prinz endlich unterbrach.

»Ich meine, so ungefähr!«

»Ja so en bataillon! O, Sire, die Invalidengarde vom Leierkasten mustert in Paris vier- bis fünfhundert Mann.«

»Wie kommt es, daß ich bis jetzt allein auf Deiner Orgel das Lied meiner Mutter habe spielen hören?«

»O, Sire, Sie können die ganze Musik des Kaiserreichs haben. Den Rataplan und den kleinen Korporal, den Pyramidenmarsch und den Abschied General Bertrands!«

»Das beantwortet meine Frage nicht!«

»Ah, Sire, was das betrifft, die Polizei war sonst teufelmäßig hinter uns her, und eine Orgel kostet viel Geld. Ich habe mir für meine Sparpfennige eine Extrawalze setzen lassen, die ich meine Kaisermusik nenne, und drehe diese allein, seit Sie wieder in Paris sind.«

»Können solche Walzen und solche Stücke in allen Orgeln angebracht werden?«

»Nichts leichter als das, Sire; man setzt eine neue Melodie ein, wie man einen Munitionskasten füllt. Aber die Schurken verstanden nicht, was schön ist und lassen sich lieber die neuesten Couplets von den Boulevards oder der Oper hineinnageln, wenn sie ja Geld übrig haben vom Saufen!«

»Kennst Du die besten Orgelbauer von Paris?«

»Den Teufel auch, Sire, das versteht sich; da sind Alexander senior, Fourneaux, Husson und Buthod und zwanzig andere!«

»Und was kostet eine Walze wie die Deine?«

»Das Stück zehn Franken, Sire; für fünfzig Franken haben Sie die ganze Kaisermusik.«

Der Prinz öffnete eine Schatulle und nahm zwei Geldrollen heraus. »Willst Du mir einen Gefallen thun, mein Braver?«

»Tausend für einen, Sire!«

»Ich möchte Deinen Kameraden, unter denen doch viele alte Invaliden sind, nicht ein Almosen geben, aber sie unterstützen. Hier sind zehntausend Franken. Davon wirst Du bei dem Herrn Alexandre oder Fourneaux neue Walzen für die Orgeln Deiner Kameraden, die es verdienen, bestellen, die das Lied meiner Mutter und den ›Abschied an Frankreich‹ spielen. In vierzehn Tagen müssen alle Orgeln von Paris damit versehen sein!«

Der Alte machte einen unglücklichen Versuch zu einem Entrechat und warf seine Mütze in die Höhe. »Bomben und Kanonen, Hoheit! ich schwöre Ihnen, in vierzehn Tagen sollen die langen Ohren der Pariser nichts anderes mehr hören, als den kleinen Korporal oder den » jeune et beau Dunois!« Ich werde meine Orgelgarde auf den Vendômeplatz kommandieren und Ihnen ein Ständchen bringen!«

Der Prätendent lachte aufrichtig. »Keine Tollheiten, mein Alter, ich will eine Wohlthat üben, keine Donquixoterie. Wenn die Bestellungen ausgeführt sind, dann laß mich's wissen, das genügt. A propos, ich wiederhole Dir meine Gratulation zu einem so wackern Sohn, wie Kapitän Fromentin ist. Ich habe viel Rühmliches von ihm gehört.«

»Wahrhaftig, Sire, der Junge macht mich stolz. Aber mein Jacques ist auch ein tüchtiger Bursch, Sie sollten ihn kennen, Hoheit, er wird einen famosen Soldaten abgeben!«

»Ich höre, der Kapitän beschäftigt sich viel mit der Verbesserung des Geschützes. Man sagt, er sei mit einer Erfindung beschäftigt, die das ganze Geschützwesen reformieren werde und weit über die Armstrong-Kanone hinausgehe.«

»Sagt man das, Sire? Bah! die Armstrongs sind Lumpen gegen die gezogenen Kanonen Hektors. Ich kenne es, sein Laboratorium ist bei mir, und ich helfe ihm mit meinen alten Erfahrungen. Sie sollten das Modell sehen, Sire, und das Exposé lesen. Es wirbelt einem im Kopf, wo der Bursche das alles her hat.«

Der Prinz schwieg einige Augenblicke, dann legte er dem Invaliden die Hand auf die Schulter. »Ich liebe strebsame Talente und habe Gutes mit dem Kapitän vor, wenn ich mit Gottes und aller Braven Hilfe Präsident dieses Landes bin. An Euch, dem Volk, ist es, den Neffen des großen Kaisers dazu zu machen. Ich bin selbst Artillerist und verfolge mit Freuden alle Fortschritte der Waffe. Es ist Zeit für uns, damit die Engländer uns nicht überflügeln. Kapitän Fromentin ist der Adjutant eines meiner Gegner, jede Annäherung an ihn könnte also Mißdeutung erregen, dennoch möchte ich mich gern von seiner neuen Erfindung überzeugen.«

Der Invalide drehte verlegen das Kasket in der Hand. »Die Ehre wäre zu groß, Sire, aber wenn Sie wollten –«

»Sprich aus, Mann! was soll's?«

»Das Modellgeschütz steht bei mir, wir haben Versuche gemacht im kleinen. Hektor hat seine Werkstätte in meinem Häuschen, und wenn Eure Hoheit –«

»Allons, mein Braver! Der Wagen steht vor der, Thür, und ich habe ein halbes Stündchen für Dich unter der Bedingung, daß selbst der Kapitän nichts von meinem Besuch erfährt. Auf mein Wort als Bonaparte – es wird sein Schade nicht sein!«

Fünf Minuten darauf rollte der Wagen des Prinzen in der Richtung der Barrière d'Enfer fort.


Die Rue de Varennes ist eine der exquisiten Straßen des Faubourg St. Germain. Sehr viele alte und berühmte Familien bewahrten ihre aristokratischen Hotels hier mit den klösterlich absperrenden Mauern nach der Straße, den geräumigen Vorhöfen und den prächtig ehrwürdigen Renaissance-Gebäuden der Wohnung, obschon auch der neue Adel der Armee und der Bourgeoisie sich einzudrängen begann, und selbst die Industrie sich der weiten Räume bemächtigte.

Die Thore der Einfahrt des Hotels Baroche waren geöffnet; der Montag war der große Empfangs-Abend des künftigen Ministers des Innern und Präsidenten des Staatsrats. Auf dem Parkett dieser Salons trafen sich heute die Mitglieder aller politischen Parteien, die Journalistik und Litteratur von Paris, Kunst, Wissenschaft, Schönheit und Leichtfertigkeit, die Celebritäten der Waffen und der Promenaden.

Es war elf Uhr, als der Prinz Louis Napoleon vorfuhr, und die Kammerdiener in die bereits dicht gefüllten Zimmer seinen Namen meldeten.

Obschon die Parteien noch in voller Aufregung der Agitation sich befanden und in ehrgeizigen Plänen sich wiegten, erkannte die Masse doch bereits, daß der Wahlkampf sich nur um die Namen Cavaignac oder Bonaparte handeln würde. Der Empfang, der dem Prinzen wurde, war daher voll Aufmerksamkeit oder Zurückhaltung, und er befand sich bald in der Mitte ihn umdrängender Gruppen. Der Diktator war noch nicht erschienen; man unterhielt sich über die Debatte in der Assemblée, von der Einschiffung der Auswanderer, den Börsenkursen, den Coulissengeheimnissen, den politischen Nachrichten und den Skandalgeschichten der Boudoirs.

Am Eingang eines Nebenzimmers, in dem gespielt wurde, stand eine Gruppe von mehreren jungen Männern, Löwen des Boulevards und des Bois de Boulogne.

Ein junger Offizier der Nationalgarde, die Hüften der Beinkleider fast eine Elle breit ausgestopft und sich in diesen Kissen wiegend, sagte lachend:

»Was zum Teufel wollen heute alle diese Legitimisten bei Baroche? In meinem Leben habe ich den Marquis von Laroche-Jacquelin noch nicht auf diesem Parkett gesehen. – Da kommt Pastouret und wahrhaftig hier auch Roche-Chouart, der Enkel der Montespan! Was hat das zu bedeuten, Montboisier? – Sie müssen das wissen!«

»Bah, mein Lieber, bekümmern wir uns nicht um Politik, sondern um die schwarzen Augen der Madame Lahüre, mit denen sie den beiden Adjutanten des Generals Rattengift zu geben scheint.«

»Ich denke, sie ist in Rayneville verliebt? Erzählten Sie es uns nicht vor einigen Tagen?«

»Der arme Junge soll die Probe schlecht bestanden haben; er bekam beim ersten Tête-à-Tête Leibschmerzen, weil sie ihm verdorbene Austern vorgesetzt hatte, und ließ wie Joseph den Mantel im Stich, um tugendhaft zu bleiben. Am andern Tage schickte sie ihn zu einem Trödler im Temple, denn sie ist eine sparsame Frau.«

»Haben Sie gehört, wie Frau von Bretonne dahinter gekommen, daß ihr Mann drei Figurantinnen der Oper zugleich unterhält? Sie soll schrecklichen Lärm gemacht haben.«

»Die Närrin,« sagte ein kurzer untersetzter Mann mit borstigem Toupé à la Bagno und aufgeworfener Negerlippe. »Sie hätte es machen sollen wie die kleine Frau des Bankier Perure!«

»Wie denn?«

» Vier Liebhaber halten! Dem einen giebt sie die Pferde, dem andern bezahlt sie die Miete an der Passage de l'Opera, dem dritten täglich zehn Paar Handschuh wegen seiner kleinen Hand, und dem vierten, Mireflourt, hält sie zwei Kammermädchen. Das ruiniert den Jobber, trotz seiner Spekulation in Zucker.«

»Apropos, Zucker! Man spricht, daß Morny vollständig fertig ist, der Bankerott von Lecame hat ihn fünfmalhunderttausend Franken gekostet.«

»Das kommt davon,« sagte Miron, »wenn diese Leute sich in Dinge mischen, die sie nicht verstehen.«

»Aber Morny hat Glück, er hat Madame Soult verloren und kann mit einer zweiten Heirat eine bessere Spekulation machen, als mit Runkelrüben, wenn sein Bruder erst Präsident ist.«

»Warum trägt denn der Prinz ein seidenes Tuch um die linke Hand?«

»Ich hörte ihn vorhin sagen,« berichtete der Offizier der Nationalgarde, »er habe sich diesen Abend bei einem chemischen Versuch leicht verwundet. Er treibt Alchymie und sucht den Stein der Weisen, oder das Mittel, Gold zu machen.«

»Sehen Sie einmal den Herzog von Ricasoli! Wissen Sie, wie die kleine Lecomte, die Tänzerin, ihn los geworden ist?«

»Ich glaubte, sie hielt es mit Fürst Urufoff, dem reichen Russen?«

»Ja, aber erst war der Herzog ihr Anbeter und wollte nicht weichen, obschon sie ihm offen den Handel aufsagte.«

»Wie hat sie's angestellt?«

»Ei, sie kaufte den Kampfer pfundweise und räucherte ihre ganze Wohnung damit ein. Der Herzog war wütend, aber er konnte doch der Kleinen nicht verbieten, sich mit Kampfer zu parfümieren und mußte am Ende fortbleiben.«

»Wer ist der Offizier dort in italienischer Uniform?«

»Oberst Cipriani; er ist hierher gesandt, um wegen Artillerie für Toscana zu unterhandeln.«

»Soeben ist Cavaignac gekommen. Er spricht mit Berryer und den beiden Laroche-Jacquelin. Fällt Ihnen nicht auch auf, Liancourt, wie höflich und zuvorkommend heute die Legitimisten gegen den Diktator sind? Das geschieht sicher nicht ohne Absicht und Grund!«

Die Bemerkung war auch von anderen gemacht worden. Dem matten, ruhigen Blick des Prinzen entging nichts, keine der Nuancen der zahlreichen Gesellschaft.

Sein Auge suchte Persigny, der eben mit Victor Hugo und Eugen Sue sich unterhielt, die beide scharf die Fortdauer des Belagerungszustandes kritisierten. Dieser Blick deutete dem Vertrauten flüchtig nach der Thür. General Lamoricitère trat mit Lamartine, dem Idealisten des Republikanismus, zu der Gruppe, und Persigny nahm die Gelegenheit wahr, sich unbemerkt zu entfernen. Indem er den Saal verlassen wollte, traten drei Personen ein, die selbst in diesem Gewirr von Tagesberühmtheiten Aufmerksamkeit erregten.

Einige Herren drängten sich vor, sie zu sehen, darunter ein Mann, der sich durch seine Mulatten-Physiognomie und sein lebhaftes bewegliches Wesen auszeichnete.

»Dumas jagt wieder auf Celebritäten, wie Gerard auf Löwen,« sagte lachend Montboisier zu seinen Gesellschaftern.

Ein Offizier der Jäger von Vincennes, der sich der lockern Gruppe angeschlossen, übernahm die Antwort. »Es ist ein Löwe; sehen Sie die breite feste Stirn, das ganze kräftige Gesicht und dann das interessante Profil der Frau. Die Akademie muß sie bei nächster Gelegenheit für den Tugendpreis Vorschlägen.«

Der Sohn des Bankiers hatte nachlässig das Glas nach der Gruppe gerichtet. »Zu viel Trainage in der Figur; ich liebe die Muskeln bei meinen Rennern, bei den Weibern nur die Nerven und das Fleisch.«

»Sie sind Gourmand in den Frauen, wie Véron in den Saucen, Miron,« sagte der Lion mit den aufgeworfenen Lippen. »Sie sind an allem übersättigt.«

»Wer sind die beiden Herren und die Dame?« fragte der Graf.

»Es ist Ricci, der neue sardinische Gesandte,« berichtete der Offizier. »Man sagt, sein Begleiter sei der berühmte Verteidiger von Luino und Mesenzana, Oberst Garibaldi, der Held vom La Plata, mit seiner schönen Frau, der Kreolin.«

Die Gläser richteten sich auf die Bezeichneten.

Die kurze Zeit weniger Monate hatte in dem Äußern des tapfern Freischarenführers eine bedeutende Veränderung hervorgebracht. Auf der breiten Stirn lagen die schweren Enttäuschungen, die sein Patriotismus von der kalten Berechnung der Minister in Turin und dem Wankelmut des Königs während des Feldzugs in der Lombardei erfahren hatte, und das Fieber, das er sich in Roverbella und durch die Strapazen geholt, hatte dies sonst so kräftige Gesicht gebleicht und gealtert. Dennoch blitzte das kleine tiefliegende Auge wie früher mit durchdringender beobachtender Schärfe.


Der bereits so berühmte Condottieri war, als er zum erstenmal nach vierzehnjährigem Exil den Boden der Heimat betrat, für die er sein Blut vergießen wollte, mit Jubel in Genua empfangen worden, nachdem er seiner alten Mutter in Nizza nur wenige Tage gewidmet hatte. Er eilte, dem Ministerium in Turin seine Dienste anzubieten; aber der Empfang war hier ein anderer. Piemont wollte noch nichts von einem einigen Italien wissen und dachte vorläufig nur an seine Vergrößerung gegen Österreich; man ließ den berühmten Flibustier deutlich merken, es komme auf einen Mann mehr oder weniger nicht an und riet ihm kalt, an den Mincio zum König zu gehen.

Garibaldi fand Carlo Alberto in Roverbella, erfuhr aber von seinem schwankenden eigensüchtigen Charakter keinen besseren Empfang als in Turin; der König wies ihn wieder an die Minister zurück!

Das Verteidigungs-Komitee in Mailand, das unter Mazzinis Einwirkung noch immer um die Frage, ob Republik oder Anschluß an Sardinien, stritt, übertrug ihm endlich auf Mazzinis Drängen die Verteidigung der Provinz Bergamo durch ein zu bildendes Freiwilligen-Korps. Von allen Seiten strömten auf seinen Ruf die Freiwilligen herbei, als er aber mit seiner Schar Brescia erreichte, war die Schlacht von Custozza geschlagen, und das Heer Carlo Albertos in vollem Rückzuge. In Monza erhielt er die Nachricht von dem am 9. August zwischen dem König und Radetzky geschlossenen Waffenstillstand.

Garibaldi erklärte, daß dieser für ihn nicht existiere, und er den Krieg gegen Österreich auf eigene Hand weiter fortführen werde. Er hoffte durch einzelne Erfolge den Mut der Italiener aufs neue zu beleben. Damit hatte er sich selbst für vogelfrei und außer dem Schutz des gewöhnlichen Kriegsrechts stehend erklärt.

Von Monza war der kühne Condottieri nach Como, von dort am 14. August nach Arona marschiert. Hier bemächtigte er sich am 15. durch Überfall auf dem Lago Maggiore mit Booten zweier österreichischer Dampfer und setzte mit der kleinen Anzahl Getreuer, die ihm geblieben, nach Luino über, das von den Österreichern besetzt war. Überrascht, räumten diese die Stadt und verloren noch eine Anzahl Gefangener; erst als sie die Schwäche des Gegners erfuhren, griffen sie Luino aufs neue an. In Heldenmutiger Verteidigung schlug die kleine Schar den Angriff ab und verfolgte die Zurückgetriebenen. Die Gegner hatten unterdessen bedeutende Streitkräfte an sich gezogen, und am Abend sah Garibaldi mit seinen fünfzehnhundert Mann sich fast auf allen Seiten eingeschlossen. Hier zeigte sich sein glänzendes Talent für den kleinen Krieg aufs neue. Mit einem eben so kühnen als schlauen Coup gelang es ihm, den Feind zu täuschen und in der Richtung nach Mesenzana zu entkommen. Im Begriff, Varese zu überfallen, wo 5000 Österreicher standen, hinterbrachten ihm die Landleute, daß der Feind selbst bereits gegen ihn anrückte; er zog sich nach Mesenzana zurück und befestigte den Ort, so gut es ging. Die Verteidigung desselben während des folgenden Tages bis in die Nacht hinein ist die glänzendste That aus der Geschichte des lombardischen Feldzugs.

Aber ein Sieg gegen solche Übermacht war unmöglich. Während der Nacht teilte der Führer seine Mannschaft in kleine Trupps, um sich durch die Feinde zu schlagen und die Schweizer Grenze auf Gebirgswegen zu gewinnen. Er selbst mit wenigen Getreuen erreichte sie unter hundert Gefahren. Erst dann hatte ihn, auf der Reise durch die Schweiz und Frankreich, das Fieber überwältigt, das schon längst seine Adern durchglühte.


Der berühmte Condottieri hatte seine Frau am Arm, die mit Stolz und Liebe zu ihm aufsah. Sie war auf die erste Kunde von seiner Krankheit zu ihm geeilt, und beide befanden sich jetzt auf dem Wege nach Nizza.

Der Gesandte stellte eben den Obersten und seine Gattin dem Herrn des Hauses und dem Diktator vor; der Prinz befand sich weiterhin im Gespräch mit dem ehemaligen Conseilpräsidenten des Bürgerkönigs, dem gallischen Hahn, der zuerst das Rheinlandsgelüste krähte, Herrn Thiers und Odilon Barrot, als er Persigny wieder eintreten und sich ihm nähern sah.

Ein Blick verständigte ihn, daß jener eine Mitteilung für ihn habe; auf einen Wink Persignys kam ihm Graf Morny zu Hilfe, und der Prinz benutzte eine Gelegenheit, Persigny heranzuwinken und mit ihm einen Schritt zur Seite zu treten.

»Hast Du Dich erkundigt?«

»Ja! vor fünf Minuten ist ein Billet abgegeben worden.«

»Wo ist es? Halt! merk auf, Vialin, daß man uns nicht beobachtet.«

Er ließ den Handschuh fallen, der Vertraute hob ihn auf; im nächsten Augenblick hatte der Prinz das Billet in der Hand; es war klein und von grobem Papier.

»Halte Dich in meiner Nähe und bereit!« Der Prinz trat zu einer Gruppe von Damen, die auf Fauteuils und Tabourets um ein Sofa saßen, das im Halbkreis eine Etagère mit prächtigen Palmen und tropischen Gewächsen umgab.

In dem Fauteuil, an dessen hohen Rücken der Prinz sich jetzt lehnte, saß eine junge Dame von auffallender und merkwürdiger Schönheit. Sie mochte etwa zwei- bis dreiundzwanzig Jahre zählen und war eine Blondine, nicht von der üppigen, kräftigen Fülle, wie man sie gewöhnlich damit verknüpft findet, sondern von hoher, schlanker und feiner Gestalt, von schmachtendem lieblichem Ausdruck des feinen Gesichts und der bei Blondinen so äußerst seltenen Schönheit glänzender schwarzer Augen.

Die zarte elegante Hand spielte mit einem Fächer von Jasminholz und Perlmutt, während sie mit einer ältern ihr gegenübersitzenden Dame und mit Alexander Dumas sich unterhielt.

»Die Sonne Spaniens,« sagte der Prinz galant, indem er sich über die Lehne beugte und zugleich das Billet in seiner hohlen Hand aufbrach, »scheint uns so selten, daß wir es in der That als ein besonderes Ereignis begrüßen müssen, sie heute zu sehen.«

Das schöne Mädchen wandte sich halb nach ihm. »Sieh da, Hoheit, Sie wissen am besten, daß so viele Wolken am Himmel Frankreichs sind, daß ganz andere Strahlen dazu gehören, die Sonne zu spielen, als die von einem Paar armer Mädchenaugen und kämen sie auch aus Spanien. Ein trauriges Familienereignis hielt uns einige Zeit von der Gesellschaft entfernt, und es scheint, daß auch in Frankreich das Sprüchwort gilt: Lejos de los ajos, lejos del corazon.« Aus den Augen, aus dem Sinn …

Der Prinz folgte nur mit einem halben Blick dem koketten Fächerspiel, sein Auge haftete auf der Höhlung der Hand, in der er das Billet entfaltet.

Es enthielt nur zwei Zeilen:

»Straße Belle Chasse – 15.
Pont Neuf – 12 Uhr.«

»Dann hat wenigstens das Sprüchwort Unrecht, schöne Gräfin,« sagte der Prinz, indem er das so eben erhaltene Blatt der Art in zwei Teile riß, daß die erste und zweite Zeile getrennt wurden, »das eine ähnliche Meinung ausdrücken will: Absencia es enemiga de amor, Abwesenheit ist die Feindin der Liebe. denn ich kann Sie versichern, meine Bewunderung für die schöne Eugenie ist durch ihre Abwesenheit nur gestiegen.«

Sein Blick traf bedeutungsvoll den Vertrauten, der ihn nicht aus den Augen verloren. Herr von Persigny näherte sich wie zufällig der Gruppe.

Die Spanierin öffnete mit jener unnachahmlichen Koketterie, die nur die Frauen dieser Nation in die Bewegungen des Spielwerks zu legen wissen, den Fächer. »Heilige Jungfrau, was die Männer doch reden! Wäre das Ihr Ernst, Hoheit, so wäre der Weg in die Straße Montaigne nicht so schwer zu finden gewesen.«

Der Prinz beugte sich zu ihr nieder. »Ich wollte über die Pyrenäen gehen, wenn das der Weg zu Ihrem Schlafzimmer wäre, schöne Gräfin.«

»Der ist weit näher, Hoheit, und leichter.«

Die schlaffen Augen des Prätendenten blitzten; die gleichgültige Galanterie, mit der er bisher gesprochen, machte einem tiefen leidenschaftlichen Tone Platz, in dem sich Überraschung, Aufregung und Erwartung vereinten.

»Und dieser Weg, Gräfin?«

»Er führt dicht am Altare vorbei, Hoheit,« sagte die Dame ruhig, »es ist der einzige.«

Die Augenlider des Kavaliers sanken wieder schwer herab, die leichte Röte war von dem Gesicht verschwunden, als er sich aus seiner vorgebeugten Stellung erhob. In diesem Augenblick streifte Persigny vorüber, und er ließ in dessen Hand die zusammengefaltete obere Hälfte des Billets gleiten. Zugleich empfahl ein flüchtiger Blick nach dem Ausgang dem Vertrauten Eile.

Die schöne Tochter aus dem berühmten Geschlecht der Guzmann schien einige Augenblicke eine Antwort erwartet zu haben. Als diese nicht erfolgte, hob sie das dunkle Auge mit ironischem Ausdruck auf den geschlagenen Ritter. »Ich rate Eurer Hoheit, wenn Sie erst Präsident von Frankreich sind,« sagte sie mit ruhiger Stimme, »Ihre Sorge der Sicherheit und Bequemlichkeit der Wege in Frankreich zu widmen, gleichviel, wohin sie führen. Doch ich glaube, da kommt Seine Durchlaucht, der Herzog von Reggio, um Sie anzusprechen, und wenn ich mich nicht täusche, hegt der interessante Italiener dort, von dem der ganze Salon spricht, gleichfalls die Absicht, sich Ihnen vorzustellen.«

Die Dame wandte sich mit wohl affektierter oder wirklicher Gleichgültigkeit zurück zu ihrer gegenübersitzenden Mutter, während in der That von einer Seite General Oudinot, der Sohn des berühmten Marschalls von des Kaisers Tafelrunde, dem Prinzen sich näherte, von der anderen Seite aber, in Begleitung des sardinischen Gesandten, Oberst Garibaldi mit seiner Gattin langsam herankam.

Die Salons waren zu dieser Zeit bereits überfüllt.

Die Minister waren bis auf Bastide, dem Minister des Äußern, sämtlich anwesend. Marrast und Bixio, die beiden Präsidenten der Nationalversammlung, Theodor Bac, der Führer der Bergpartei, Molé und Odilon Barrot, Lamartine, die Deputierten Lasteyri, Portalis, Flocon, Dufaure, der Prinz Peter Bonaparte, viele Mitglieder des diplomatischen Korps, die Generale und die Koryphäen der Börse und der Coulisse mit den Faiseurs der Presse hatten sich nach und nach eingefunden.

»Ich glaube wahrhaftig, der Prinz macht der schönen Montijo den Hof,« sagte Montboisier zu seiner Gesellschaft – »Sehen Sie, wie die alte Gräfin von Teba sie mit Augen betrachtet, wie der Zollvisitator den Schmuggler? ich wette ein Diner bei den Frères Provenceaux – sie spekuliert auf eine Heirat. Das Weib hat den Teufel im Leib und ist das personifizierte Bild einer Schwiegermutter.«

»Ist nicht die Herzogin von Alba, von der die Presse die schreckliche Totengeschichte erzählt, ihre Schwester?«

»Die Schwester der schönen Eugenie. Sie wurde lebendig begraben und ist nur durch einen Zufall der Gruft wieder entronnen. Man nennt sie in Madrid die schöne Leiche.«

»Wir haben ein Pendant in Paris, und ich habe die Grabesbraut heut im vollen Sonnenlicht gesehen – die Fleur de Mort aus den Katakomben. Nicht wahr, Miron?«

»Ein Rasse-Schimmel! ich möchte einmal bei einer solchen wandelnden Leiche schlafen – es muß pikant sein.«

»Sie sind ein Roué, Miron, aber dies Gelüst müssen Sie sich vergehen lassen; beschränken Sie sich auf die Lebenden, bei der Guerin. Die Blume der Katakomben steht, wie Sie gesehen, unterm besonderen Schutz Ihres künftigen Schwagers.«

»Meines Schwagers? was wollen Sie damit sagen?« Das abgespannte Gesicht des jungen Geldfürsten färbte sich purpurn.

»Ei, Kapitän Fromentin! Sehen Sie nicht, wie er dort von der Fensternische her Ihre schöne Schwester mit den Augen verschlingt.«

»Cora ist zu verständig, um den Bettelsoldaten zu beachten. Seine ganze Verwandtschaft ist Lumpenpack ohne Geld und Stellung.«

»Das hindert ihn nicht,« sagte der Graf, dessen zerrüttete Verhältnisse ihn selbst auf die Partie spekulieren ließen, »seine Augen auf die reiche Miron zu richten, und zugleich der Beschützer oder Liebhaber der Katakombenschönheit zu sein. Kapitän Fromentin soll hitziger Natur sein, also treten Sie ihm nicht in den Weg, weder bei Fräulein Cora, noch bei der Fleur de Mort.«

»Ich will die Eine lieber im Grabe liegen sehen, statt in seinen Armen, und die andere soll in den meinen sein, als vierundzwanzig Stunden vergehen.«

»Liebster Levy,« sagte der Aristokrat, indem er ihm absichtlich den jüdischen Vornamen gab, der, wie er wußte, dem Lion verhaßt war, »Sie sind zwar ein anerkannter Don Juan, aber diesmal wäre Ihre Mühe vergeblich.«

Das Gespräch war bisher halblaut zwischen beiden geführt worden; die beleidigte Eitelkeit riß jetzt den Dünkelhaften zu einer Thorheit hin.

»Wollen Sie wetten,« sagte er laut, »daß Ihre spröde Grabesschöne noch heute Nacht mit uns bei der Guerin soupieren soll? Hundert Louisdors Paré!«

»Ich wette nie – Sie wissen das,« sagte kalt der Graf.

»Aber vielleicht hat einer dieser Herren Lust.«

Man fragte um was es sich handele; mehrere Mitglieder der lockeren Gesellschaft waren ohnehin von der Partie in der Rue des Moulins.

»Ich habe von dem Mädchen gehört und möchte es kennen lernen,« sagte ein junger Mann mit etwas nachlässiger Toilette und genialem aber wüstem Ausdruck, dessen langes Lockentoup6 auf den Künstler schließen ließ, »ich halte die Wette.«

»Es gilt, Herr Chevaulet, aber« – die Miene des Geldbarons wurde ziemlich albern – »wo kann ich das Mädchen finden?«

»In den Katakomben, Miron,« belehrte ihn der Graf, der seine besondere Absicht zu haben schien, die Sache zu verfolgen. Er zog die Uhr. »Wir geben Ihnen anderthalb Stunden Zeit: eine halbe Stunde zur Fahrt nach der Barridère d'Enfer,« eine halbe für Ihre Eroberung, und dieselbe Zeit, um wieder bei uns zu sein. Ich übernehme Ihre Entschuldigung bei Herrn de Morera. Sind Sie um ein Uhr nicht in der Rue des Moulins, so haben Sie verloren.«

»Die Wette ist eigentlich thöricht,« sagte der Stutzer, dem der Ausgang seiner Prahlerei unbequem zu sein schien, »wie soll ich bei Nacht zu der Schönen kommen? ich dachte nicht, daß es schon so spät ist; die Katakomben sind längst geschlossen.«

»Das ist Ihre Sache,« meinte lachend der Künstler, »Herrn Léon Miron ist nichts unmöglich.«

»Die Katakomben sind auch während der Nacht geöffnet,« sagte der Graf.

»Nun by Jove,« murrte ärgerlich der Stutzer, da er fühlte, daß er nicht mehr ausweichen konnte; »da Sie allein die Dirne kennen, so mögen Sie mich wenigstens unterrichten, wie ich an sie komme. Es gilt, meine Herren, um ein Uhr bin ich bei Ihnen.«

Der Graf hatte seinen Arm genommen und ihn einige Schritte vorgeführt. »Das ist recht, Baron, Sie dürfen dem eingebildeten Pinsler nicht ohne Kampf das Terrain räumen. Zuvörderst, der Vater des Mädchens ist berüchtigt wegen seiner Habsucht. Samson würde um zehn Louisdors die eigene Seele verkaufen, also gewiß keinen Anstand nehmen, der Tochter ein Souper in guter Gesellschaft zu erlauben. Äußerstenfalls bringen Sie ihn mit, er ist ein kurioser Kauz, das wird die Sache pikant machen und ist nicht gegen die Wette.«

»Aber wenn die Dirne selbst sich weigert? Zunächst, wie soll ich zu so später Stunde an sie kommen.«

»Ich sagte Ihnen bereits, daß der Zugang der Katakomben auch während der Nacht geöffnet ist, weil die Transporte der Überreste, die man dort hinschafft, zu dieser Stunde geschehen. Es giebt genug verrückte Engländer, die von der Erlaubnis, die unterirdische Gräberstadt zu besuchen, gerade um Mitternacht Gebrauch machen. Dort sehe ich Beaumont, den General-Inspektor der Minen, im Gespräch mit dem deutschen Gesandten. Seine Erlaubnis ist notwendig, um den Eintritt zu erhalten. Ich werde ihm sagen, daß es eine Wette gilt. Sind Sie dort, so verlangen Sie Samson oder seine Tochter als Führer, und sehen Sie einige Louisdors nicht an. Das weitere ist Ihre Sache; dafür gelten Sie als der Don Juan der Boulevards.«

»Aber – ich komme darauf zurück – wenn das Mädchen sich weigert? Den Henker – es kommt mir nicht auf die hundert Louis an, aber ich werde ausgelacht werden. Wissen Sie, ich habe noch einen Wechsel von gleichem Betrage von Ihnen in meinem Portefeuille, ich kassiere ihn, wenn Sie mir aus der Patsche helfen.«

»Gehen Sie doch, Léon, ein Mann wie Sie sollte um ein Mittel verlegen sein. Valga me Dios! die Sache gilt. Ihre schöne Schwester muß uns helfen.«

»Wie ist das möglich?«

»Sagen Sie ihr geradezu, um was es sich handelt, aber vergessen Sie nicht, hinzuzufügen, daß die Fleur de Mort eine Jugendflamme des Kapitäns ist. Er ist ihr Sklave, sie muß ihn bewegen, unter irgend einem Vorwand – einem Frauenzimmer fehlt es nie an dergleichen – folgende Worte zu schreiben: Kapitän Fromentin bittet, dem Überbringer zu trauen und zu folgen.«

»Bravo, bravo, Graf, ich wäre nie auf den Ausweg gekommen. Sie sind ein Teufelskerl.«

»Nun fort! locken Sie Ihre Schwester in das Boudoir der Frau vom Hause, in zehn Minuten müssen Sie das Billet haben, ich die Erlaubnis und dann fort.«

Der Geldbaron stürzte sich in das Gedränge, um zu seiner Schwester zu gelangen. Montboisier näherte sich langsam mit der ganzen aristokratischen Ruhe des Mannes von Welt dem Chef der Minen.

Der sardinische Gesandte hatte sich mit seiner Begleitung dem Prinzen genähert, der sich eben mit dem General Oudinot unterhielt.

»Eure kaiserliche Hoheit,« sagte der Gesandte, »wollen mir erlauben, Ihnen den Obersten Garibaldi und seine Gemahlin vorzustellen. Der Name des Herrn Obersten bedarf keiner weitern Empfehlung.«

Prinz Louis Napoleon wandte sich um.

Die beiden Männer sahen sich heute zum erstenmal, denn die Überbringung der Million des Estanciero war ohne persönlichen Verkehr geschehen.

Als der kühne Verfechter der italienischen Freiheit und Selbständigkeit, der Mann der entschlossenen und offenen That mit dem ehrlichen Herzen von der kurzen Verbeugung sich emporrichtete, die er dem Prinzen gemacht, begegneten sich die Augen der beiden Männer lange.

Das Gesicht des Prinzen blieb kalt, apathisch, wie ein verschlossenes Buch, das matte, träge Auge lag nicht ohne einen gewissen Hochmut prüfend auf der Gestalt des andern. Der Condottieri des Geistes schien zu fühlen, wie hoch er über dem Condottieri der Faust stände.

»Sie kommen aus der Schweiz, Herr Oberst?«

»Ja, Bürger Bonaparte.«

Ein leichter roter Fleck zeigte sich bei der einfachen Verweigerung des Titels auf der Wange des Prinzen, verschwand aber sogleich wieder.

»Was denkt man dort von unseren Verhältnissen? Sie wissen, die Schweiz ist mir teuer und mein zweites Vaterland.«

»Ihr Wort von der Tribüne am 21. September: › Mein ganzes Leben sei der Kräftigung der Republik gewidmet‹ hat in den Herzen der braven Schweizer Jubel erregt. Sie erwarteten nichts anderes von dem Mann, den sie ihren Mitbürger nennen.«

»Sie sind im Begriff wieder nach Nizza zu gehen, Herr Oberst?«

»Mein Leben, Bürger Bonaparte, gehört Italien, wie das Ihre Frankreich. Sie finden den Kampf gethan und haben nur zu ordnen, vor mir liegt noch der blutige Streit.«

»Aber Sie finden Sardinien im Waffenstillstand, den Frieden so gut wie unterzeichnet.«

»Sardinien ist nicht mein Vaterland, sondern Italien. Was in Mailand mißglückt, mag in Rom siegen. Das Volk seufzt an dem Tiber so gut nach Erlösung, wie am Mincio. Italien rechnet auf den Beistand des französischen Volks, denn der Feind, den wir bekämpfen, ist ein gemeinschaftlicher.«

Der Prinz brach rasch die Unterhaltung ab und wandte sich zu der Dame.

»Die rauhe Männer-Politik, Signora,« sagte er verbindlich, ihre Schönheit musternd, »paßt zwar wenig für Frauen-Ohren; von Graf Walewski weiß ich jedoch aus Montevideo, daß wir eine Heldin des Altertums in Ihnen zu bewundern haben.«

»Ich besitze kein anderes Verdienst, Monseigneur,« sagte die Kreolin, sich höflich verneigend, »als die Gattin meines Mannes zu sein und damit das Recht zu haben, ihm überall hin zu folgen, wohin er geht.«

»Erlauben Sie mir, Oberst,« sagte der Prinz, »den kühnen Soldaten der neuen Zeit mit einem alten Namen aus der Zeit der Tafelrunde meines Oheims, dem Herrn Herzog von Reggio, bekannt zu machen.«

»Der Name, den seine Familie führt,« sagte höflich der Italiener, »verbündet den Herrn General mit uns.«

»Die, welche ihn führen,« entgegnete der General mit einer kalten Verbeugung, »haben dadurch die gleiche Pflicht, wie jeder Italiener, Seine Heiligkeit den Papst zu schützen.«

»So weit es das Oberhaupt der katholischen Kirche betrifft, habe ich die Ehre, vollkommen mit dem Herrn General in dieser Ansicht übereinzustimmen.«

Die Blicke der beiden Soldaten begegneten einander fest und kalt, dann trat mit einer Verbeugung der Freischarenführer zurück und machte Herrn Fould Platz, der sich dem Prinzen näherte. – – – – – – – –

Jung – kaum neunzehn Jahre alt, – schön, reich, eine geborene Kokette, bei einem empfänglichen Herzen und feurigem Blut, vereinigten sich bei Cora Miron mit all diesen Eigenschaften die ihrer orientalischen Abstammung, der Scharfsinn und die Sucht zu glänzen. Der ernste junge Offizier, mit gediegenem Wissen, Streben und Charakter, war in den Netzen der jungen Kokette hängen geblieben und seine Leidenschaft den scharfen Augen und der Spottlust der Gesellschaft längst kein Geheimnis mehr. Wer gesagt hätte, daß die schöne Miron unempfänglich für die Huldigung des durch mehrere kühne Waffenthaten ausgezeichneten Offiziers gewesen wäre, würde sich betrogen haben. Im Gegenteil – das Gefühl der Liebe, soweit es das kokette spekulierende Herz zu fühlen vermochte, hatte sich wider ihren Willen darin eingeschlichen, und sie betrachtete den Offizier wie ihren Sklaven und Leibeigenen, dem sie um keinen Preis die Freiheit wiedergegeben hätte. Sie würde dem engherzigen Gelddünkel des Vaters und Bruders Trotz bietend keinen Augenblick angestanden haben, sich von dem Offizier entführen oder verführen zu lassen – wenn er nur nicht der Sohn eines bloßen Invaliden gewesen wäre. Sie wäre jeder heroischen Komödien-That für diese Liebe fähig gewesen, hätte aber keinen einzigen ihrer Verehrer deshalb an ihrem Triumphwagen missen, nicht das geringste Opfer ihres gesellschaftlichen Glanzes bringen können.

Fräulein Miron war von kleinem Wuchs, die Farbe ihrer Haut hatte jene durchsichtige schöne Blässe, die man nicht selten an den Frauen ihrer Nation in der Blüte der Jugend findet. Die Stirn war niedrig, die Nase fein, die schwarzen Brauen überwölbten in schmaler Linie das kokette feurige Auge, dem der dunkle Rahmen der üppig schwarzen Haarflechten noch höhern Glanz verlieh. Eine eigentümlich aufgeworfene, etwas volle Oberlippe, die untere zurücktretende Bildung des Mundes überragend, gab dem Gesicht etwas ganz besonders Pikantes, über der ganzen Gestalt, die gewöhnlich in eine auffallend rote Toilette gekleidet war, die Lieblingsfarbe der jungen Dame, lag etwas Nervöses, Rastloses. Es würde ihr schwerlich möglich gewesen sein, zehn Minuten auf ein und derselben Stelle auszuhalten.

Ein Wink des schwarzen, golddurchbrochenen Fächers hatte den schüchternen Verehrer an den Diwan gerufen, auf dem sie lehnte, von drei oder vier Stutzern umgeben.

Während des ganzen Abends hatte der Kapitän dies reizende Gesicht, diese lebensprühenden Augen beobachtet, ohne auch nur einen Blick erhalten zu haben. Fräulein Miron that, als ob ihr Verehrer nicht auf der Welt sei, weil sie wußte, welche Unruhe und welchen Schmerz sie ihm damit bereitete.

Er hatte bemerkt, daß ihr Bruder, von dem er wußte, daß er keineswegs sein Freund sei, mit ihr gesprochen. Um so mehr war er überrascht, als ihr Wink ihn jetzt zu ihrem Sitz rief.

»Kapitän Fromentin,« sagte die Dame, »scheint heute seine Freunde zu vernachlässigen, oder seine ganze Galanterie diesen Nachmittag bei dem Schutz interessanter Damen verwendet zu haben.«

Der Kapitän, von dieser offenbaren Anspielung verlegen gemacht, murmelte einige Worte, die wie eine Erklärung oder Entschuldigung klangen.

Aber die Kokette setzte unbarmherzig ihren Triumph fort. »Sie sollen mir ein anderes Mal erzählen von dieser unbekannten Schönheit, Herr Kapitän, für jetzt aber bedarf meine unbedeutende Person selbst des Schutzes gegen die Liebeserklärungen des Herr von Jolincourt und die Marstalls-Erinnerungen des Herrn Baron. Reichen Sie mir Ihren Arm, Herr Kapitän, wenn Sie nicht befürchten, sich dadurch in den Augen einer anderen Dame zu kompromittieren, und lassen Sie uns einen Gang durch die Salons machen. Meine Herren, ich zähle darauf, Sie morgen Mittag in meiner Cavalcade nach dem Bois de Boulogne zu finden.«

Sie lehnte ihre zierliche Gestalt auf den Arm des Offiziers; ihr reizender Kopf lag so dicht an seiner Schulter, daß wenn sie im Spiel der Koketterie zu ihm aufblickte, der Hauch ihres Mundes sein Gesicht streifte. Das Blut des jungen Mannes wallte siedend heiß, es war das erste Mal, daß er sich einer solchen Gunstbezeugung einer so offenkundigen Auszeichnung von der Frau zu erfreuen hatte, der er sein mannhaft wackeres Herz geweiht.

Plaudernd über jene tausend Nichtigkeiten, aus denen die Frauen Stoff zu nehmen wissen, bald von den Tagesneuigkeiten der Politik, bald von den neuesten Moden oder den Ereignissen der Coulissen mit ihm redend, schien sie gar nicht zu bemerken, wie zerstreut ihr Bewunderer antwortete.

Die schlaue Schöne hatte absichtlich ihren Weg nach einem der entfernteren und weniger belebten Gemächer genommen, da sie mit den Lokalitäten des Hotels wohl bekannt war, und blieb vor dem Eingang eines reizend dekorierten Boudoirs stehen, das durch die gardinenförmig über eine vergoldete Hand erhobene Portiere von dem größeren Raum geschieden war.

»Frau Baroche hat kürzlich ein köstliches Genrebild von Vernet gekauft, eine Scene aus der Wüste. Sie müssen mir sagen, ob es dort wirklich so ist, denn Sie verstehen sich darauf.«

Ihre Hand hob, indem sie eintraten, wie zufällig die Portiere und ließ sie fallen; sie waren allein, die Dame ließ sich auf eine Causeuse nieder, die einem zierlichen Schreibtisch gegenüber stand, über den in breitem Goldrahmen das erwähnte Gemälde hing.

Eine leichte Bewegung des Fächers wies den erstaunten Kavalier, der zu träumen glaubte, nach einem nahestehenden Tabouret. Mit jener launenhaften Koketterie, die zugleich entzückt und verwirrt, wechselte sie sogleich den Gegenstand der Unterhaltung; von dem Bild war keine Rede mehr.

»Ich glaube, mein Herr,« sagte die Schöne, indem ihre glänzenden Augen halb spöttisch, halb ermutigend auf dem Offizier ruhten, »Sie erlauben sich, mir ernstlich den Hof zu machen?«

»Mademoiselle –«

»Sprechen Sie, Kapitän, sind die berühmten Afrikaner immer so mutig, wenn es gilt, jene Festung, die man das Herz einer Frau nennt, zu erobern?«

»Fräulein,« sagte der junge Mann glühend und sich ermannend, »quälen Sie ein Herz nicht, das ehrlich und aufrichtig für Sie schlägt. Ich bin ein schlichter Soldat und habe unter der Sonne Afrikas, in den Schluchten des Atlas nicht gelernt, meine Worte für einen Pariser Salon zu setzen. Aber bei meiner Ehre als Soldat, bei dem Andenken meiner Mutter, einer armen aber braven Frau, schwöre ich Ihnen – –«

Die Schöne, in der Causeuse zurückgelegt, die goldene Lorgnette vor den Augen, beobachtete spöttisch seine Aufwallung. »Ah, in der That, Kapitän – Ihre Mama! machte sie nicht Putz, oder wusch sie nicht Kragen und Hemden? – ich dächte, ich hätte dergleichen gehört, aber mein Gedächtnis ist so unglücklich – –«

Der Offizier war aufgesprungen; dunkle Glut bedeckte sein Gesicht. »Verzeihen Sie, Madame, daß der Sohn einer Wäscherin das Auge zu Ihnen erhoben. Der geringe Verdienst meiner Mutter war wenigstens ein ehrlicher Erwerb, kein solcher, an dem die Thränen und die Flüche hundert Betrogener haften.«

Er trat mit einer Verbeugung zurück, um das Gemach zu verlassen, aber die schöne Miron war bereits an seiner Seite, ihre kleine weiche Hand lag auf seinem Arm, ihre dunklen Augen waren schmachtend und bittend zu ihm erhoben.

»Vergebung, mein Freund! achten Sie nicht auf die Ungezogenheiten eines Mädchens, oder nur, um daraus zu sehen, daß sie sich mit Ihnen beschäftigt hat. Kommen Sie, Kapitän, und lassen Sie uns wieder Freunde sein und als solche plaudern.«

Sie hatte ihn zur Causeuse zurückgeführt und ließ ihn sich niedersetzen, indem sie selbst vor dem Schreibtisch Platz nahm. Ihr Finger berührte das Kreuz auf seiner Brust.

»Wissen Sie wohl, daß nichts für die Frauen verführerischer ist, als soldatischer Ruhm, so jung erworben!«

»Fräulein, Sie beschämen mich; Sie machen mit mir was Sie wollen, und doch – –«

»Ich ernenne Sie zu meinem Ritter und vertraue mich Ihrem Schutz in all den Fährlichkeiten, die unsere liebe Republik noch bestehen wird. Wenn ich Ihrer Hilfe bedarf – denn ich fürchte mich ganz abscheulich vor diesem schießenden und lärmenden Pöbel! – citiere ich Sie auf der Stelle zu mir.«

»Mein Blut, mein Leben ist Ihnen geweiht – o wenn Sie mir erlauben wollten. Ihnen sagen zu dürfen –«

Sie hatte wie spielend eine Feder ergriffen und zeichnete damit auf einem Briefbogen. »Später vielleicht – wenn Sie recht artig sind, oder irgend eine Heldenthat für meine unbedeutende Person vollbracht haben. Apropos, Herr Kapitän, Sie müssen noch Unterricht im Walzer nehmen, wenn ich wieder mit Ihnen tanzen soll; meine Kammerjungfer ist bitterböse auf Sie wegen der zerrissenen Garnitur!«

Er fühlte, daß sie mit ihm ein frivoles Spiel trieb, und dennoch vermochte er sich nicht loszureißen.

»Kennen Sie meine Handschrift, Herr Kapitän?«

»Ich bin nie so glücklich gewesen, sie zu sehen. Doch die reizende Hand …«

»Still, mein Herr, keine Fadaise! Doch da ich Sie zu meinem Ritter und Schützer in dieser so schrecklich politischen Zeit ernannt, so müssen Sie notwendiger Weise meine Taubenfüße auf dem Papier kennen, wenn es mir einmal einfallen sollte, einen Boten oder eine Botschaft zu senden.«

Sie hatte einige Worte geschrieben und reichte ihm das Blatt.

Die zwei Zeilen lauteten:

»Ich bitte, dem Überbringer zu vertrauen und ihm zu folgen …

Cora von Miron

Der Offizier preßte das Blatt an seine Lippen. »O, wie glücklich würde mich eine solche Botschaft machen! Darf ich es behalten?«

»Bewahre der Himmel! Einem wahren Anbeter muß ein Blick genügen, um jeden Buchstaben auf der Stelle wieder zu erkennen. Aber ich muß die gleiche Probe mit Ihnen machen. Setzen Sie sich hierher, mein Herr, und schreiben Sie einige Worte – schreiben Sie dieselben Worte in Ihrem Namen.«

Sie schob ihm ein anderes Blatt Papier zu und reichte ihm die Feder. »Geschwind, Herr Kapitän, kopieren Sie die Vorschrift!« Sie lehnte so anmutig über den Stuhl, ihr Lächeln war so reizend, wie sie mit dem Finger auf das Blatt deutete, er achtete kaum der Worte, die er gedankenlos niederschrieb.

»So! nun lassen Sie mich vergleichen, wirklich wie ein Soldat geschrieben, Buchstaben in Reih und Glied – jetzt will ich Ihnen erlauben, mir nächstens eine schriftliche Liebeserklärung zu schicken, mein armer Kapitän, und Sie sollen versichert sein, daß ich sie in mein Album lege.«

Sie hatte spielend die beiden Papiere zusammengefaltet und tändelte damit. Plötzlich richtete sie die koketten Augen auf ihn und sagte schelmisch: »Wissen Sie auch, Kapitän, daß ich bei meinen Anbetern keine Rivalin dulde?«

»Wenn Sie in mein Herz sehen könnten, so würden Sie finden, daß es von Ihrem Bilde erfüllt ist. Diese Gelegenheit kehrt vielleicht nie wieder – ich weiß, daß ich keine Aussicht und Hoffnung habe. Sie zu besitzen, aber ich darf Ihnen wenigstens sagen, wie unendlich ich Sie liebe!«

Einige Augenblicke lang schien sie mit einem edlern, bessern Gefühl zu ringen, zarte Röte verbreitete sich über ihr Gesicht, sie schlug vor seinem ehrlichen, beredten Auge das ihre nieder, ihre Hand, die er erfaßt, blieb in der seinen. »Warum sollte Kapitän Fromentin so wenig Vertrauen auf sich selbst haben?« sagte sie leise, »dem Tapfern und Treuen ist nichts unmöglich!«

Im nächsten Augenblick war der warme Ausbruch des Herzens, der Sieg wahren Empfindens vorüber, Eitelkeit, Koketterie und Leichtsinn wieder in ihrer vollen Herrschaft. Sie entwand sich geschickt dem Arm, der es, durch diese Zeichen eines tiefem Gefühls dreist gemacht, gewagt hatte, sie an sich zu ziehen. »Wenn Sie das Sturmlaufen auch in Constantine oder Mazagran geübt, Herr Kapitän,« sagte sie lachend, »so bedenken Sie, daß dieses Kabinett kein arabischer Douar ist, und Ihre Dienerin keine Kriegsgefangene. Aber hören Sie nicht – im Salon scheint wirklich eine kriegerische Affäre im Gange, so laut peroriert man dort. Lassen Sie uns eilen, denn ich sterbe vor Neugier, was es giebt!«

Ihre Hand hatte bereits die Portiere gefaßt, um sie aufzuschlagen, während der Offizier eine bittende Gebärde machte, sie zurückzuhalten. Schon auf der Schwelle zögerte noch einmal ihr Fuß, und sie wandte sich um, als wolle sie ihm das erlistete Papier, das zusammengefaltet in ihrem Spitzentuch geborgen war, zurückgeben, aber die Stimme ihres Bruders, der eben mit Montboisier vorübergehend sagte: »Ich weiß nicht, wo das Mädchen steckt, ich muß mein Heil ohne sie versuchen und das in einem Augenblick, wo alles so gespannt auf diese Affäre mit der Herzogin ist!« ließ sie rasch wieder ihren Entschluß ändern, und sie schlüpfte hinaus, den Kapitän in dem Boudoir zurücklassend.

Ein Blick in die Salons zeigte ihr, daß die Gesellschaft sich in lebhafter Bewegung befand und überall diskutierende Gruppen sich gebildet hatten. Man sah die bekannten legitimistischen Mitglieder der Versammlung bei einander stehen und sich leise mit einer gewissen Befangenheit besprechen. In dem großen Salon stand General Cavaignac mit den anwesenden Ministern und mehreren hohen Beamten zusammen, und man hörte die laute Stimme des Redakteurs der »Presse«, der eben einem andern um ihn gebildeten Kreise eine interessante Mitteilung zu machen schien. Zwischen beiden Gruppen, von einigen Personen umgeben, stand Prinz Louis Napoleon kalt, beobachtend, durch keine Bewegung dieses verschlossenen Gesichts seine Teilnahme zeigend.

»Hier ist das Papier, nein dies hier,« sagte die Dame zu ihrem Bruder tretend. »Aber Du giebst mir Dein Wort, daß es nur zu einer Kompromittierung des Frauenzimmers, zu einem Scherz gebraucht werden soll, und daß Du mir es wieder giebst.«

»Unsinn! was befürchtest Du denn? Morgen sollst Du Dein Armband haben. Und nun Adieu, denn die Minuten sind Louisdors, wenn ich die Wette noch gewinnen will.«

Er eilte davon, der Graf bot der leichtsinnigen Schönen den Arm. In der Neugier, zu wissen, was in den Salons sich ereignet, hatte sie es nicht einmal bemerkt, wie das zweite von ihrer Hand zusammengeknitterte Papier ihr mit dem Tuch entfallen und von dem Kavalier aufgehoben worden war, der es gewandt zurück behielt.

»Herr von Girardin,« berichtete der Graf, indem er sie durch die Gruppen führte, »hat dem Ministerium eine arge Verlegenheit bereitet. Sie kennen seine Rücksichtslosigkeit, wo es gilt, Skandal zu erheben, aber ich hätte ihm diesmal in der That mehr diplomatischen Takt zugetraut!«

»Aber damit erfahre ich ja immer noch nicht, was eigentlich geschehen ist!«

»Herr von Girardin ist vor einer Viertelstunde mit großem Eklat eingetreten, und hat jedem, der es hören wollte, laut erzählt, daß die Herzogin von Berry seit heute Morgen sich in Paris befindet. Er habe die bestimmten Beweise in Händen und Männer gesprochen, die sie gesehen. Ja, er hat Cavaignac und dem Polizei-Präfekten ins Gesicht Straße und Haus genannt, in dem sie sich verborgen hält.«

»Aber was will sie hier?«

»Wie jeder Einsichtsvolle sagt, wahrscheinlich die Parteien sondieren und mit ihren Anhängern beraten, wie Girardin laut ausschreit, ein Komplott gegen die Republik und die Assemblee anzetteln. Daß die Herzogin wirklich anwesend ist, läßt sich kaum bezweifeln, denn die Legitimisten sind durch diese Entdeckung offenbar in Bestürzung und Unruhe versetzt, wenn auch wahrscheinlich nur wenige den Zufluchtsort der Prinzessin kennen.«

»Und was hat man gethan? was soll geschehen?«

»Das eben war die Verlegenheit. Am liebsten hätten offenbar die Minister gar keine Notiz davon genommen, aber dieser Skandalmacher redete mit so sichtlichem Behagen von der Gefahr und der Feigheit der Regierung, er deutete so dreist darauf hin, daß das Ministerium mit unter der Decke stecke, und einen Volksverrat beabsichtige, den er in seiner morgenden Nummer vor ganz Frankreich enthüllen werde! – Einige Mitglieder des Berges nahmen die Sache in die Hand, und so ist Cavaignac nichts anderes übrig geblieben, als den Befehl zur Nachforschung zu erteilen. Er hat einen seiner eigenen Adjutanten nach dem bezeichneten Hause abgeschickt.«

»Wie benimmt sich der Prinz Bonaparte?«

»Das ist eben das Auffallende dabei. Obschon offenbar die Intrigue gerade gegen seine Kandidatur gerichtet sein mußte, hat er sich den Legitimisten auf das Artigste genähert, und sehen Sie – dort unterhält er sich gerade mit dem Marquis von Laroche-Jacquelin.«

In der That sprach der Prinz gerade mit dem bekannten Legitimisten-Führer inmitten mehrerer anderen.

In dem Augenblick trat ein Stabsoffizier hastig in den Salon und näherte sich dem Diktator, um den die Minister versammelt waren. Die ganze Gesellschaft umdrängte im Kreise die Gruppe, denn die Teilnahme für die Nachricht des Journalisten war auf das Höchste gestiegen.

Der General redete den Offizier hastig an. »Sprechen Sie, Letellier, hat man wirklich die Frau Herzogin von Berry in der Straße Belle Chasse verhaftet?«

»Nein, Excellenz, man konnte die Frau Herzogin nicht verhaften, denn sie war nicht dort.«

Der General warf einen höhnischen Blick auf den Redakteur der »Presse«. »Ein elender Lärm, um der Regierung Verlegenheiten und Skandal zu bereiten,« sagte er laut.

»Wenn Euer Excellenz diese Worte vielleicht auf meine Nachricht beziehen,« sagte der Journalist mit einer Verbeugung voller Unverschämtheit, »so muß ich mir die Bemerkung erlauben, daß jeder Franzose verpflichtet ist, das Interesse der Republik zu wahren, ohne sich um die Sympathieen der Herren Minister zu kümmern. Überdies scheint mir, daß der Herr Kommandant seine Mitteilung noch gar nicht beendet hat.«

Alle Augen richteten sich auf den Offizier, der in der That in Verlegenheit schien und zu sprechen zögerte.

»Haben Sie Ihrer Meldung noch etwas beizufügen, Herr Kommandant?« fragte der General laut.

»Allerdings, Euer Excellenz, aber ich weiß nicht …«

Seine Blicke bezeichneten ziemlich unmutig die Gesellschaft umher.

»Haben Sie die Güte, ohne Rücksicht zu rapportieren, was Sie wissen, Herr Kommandant,« sagte stolz der General. »Die Regierung hat in dieser Sache keinerlei Geheimnisse.«

»Dann glaube ich allerdings, daß die Nachricht nicht unbegründet gewesen ist. Es sind heute Morgen ein Herr und eine Dame dort angekommen, deren Beschreibung auf die Frau Herzogin paßt. Sie haben in einem Gartenpavillon Wohnung genommen, der einen besonderen Ausgang nach der Straße Dominique hat. Der Besitzer des Hauses ist ein früherer Kammerdiener des Prinzen von Artois, der Mann weigert sich aber, irgend eine Auskunft zu geben. Außer einer Reisetasche mit einem silbervergoldeten Necessaire und einiger Frauenwäsche haben die Beamten nichts gesunden.«

»Aber die Personen selbst?«

»Sie sind verschwunden, müssen aber, nach einigen Zeichen zu schließen, erst kurz vorher die Wohnung verlassen haben.«

»Dann muß man an den Barrieren Maßregeln treffen, damit sie nicht entwischen,« sagte eine brüske Stimme aus dem Kreise.

Der General wandte sich mit einer spöttischen Verbeugung an den Präfekten der Seine. »Sie hören, was die Herren vom Berge befehlen,« sagte er höhnisch, »haben Sie die Güte, Ihre Maßregeln danach zu treffen. Herr von Baroche, ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen und bitte, die gnädige Frau meiner Hochachtung zu versichern.« Der General entfernte sich, mehrere der Minister und Generale folgten ihm.

Der Prinz hatte leise den Arm des Marquis von Laroche berührt. »Ein Wort, Herr Marquis. Haben Sie die Güte, Ihren Freunden einen Wink zu geben, damit wir unbelauscht bleiben.«

Der Prinz zog sich in eine Fensternische zurück, dorthin folgte ihm der Legitimist, während mehrere andere sich wie zufällig umher gruppierten, und so die Sprecher isolierten.

»Lassen Sie mich kurz sein, Herr Marquis,« sagte der Prinz, »denn die Augenblicke sind kostbar. Sie sind in Besorgnis um die Herzogin von Berry?«

»Euer Hoheit irren …«

»Keine Ausflüchte, Herr Marquis. Sie wissen, daß die Frau Herzogin in Paris ist, aber wahrscheinlich wissen Sie nicht, wo sie sich augenblicklich befindet, oder wie Sie ihr von der drohenden Gefahr Nachricht geben können. Wohlan – ich weiß es!«

»Sie, Hoheit?«

»Ja, mein Herr! Wir sind politische Gegner, und ich weiß, daß Sie mit Ihren Freunden beabsichtigen, gegen meine Präsidentur zu stimmen, die doch das Mittel sein kann, einen legitimen Thron wieder herzustellen. Die Frau Herzogin von Berry hat mehr Vertrauen zu mir. Sie hat mir eine Rendezvous bewilligt und hatte sich glücklicher Weise wahrscheinlich schon dahin begeben, als man in ihrer Wohnung Nachsuchung hielt.«

»Euer Hoheit benehmen sich ja edelmütig, daß es Unrecht wäre, unsere Besorgnis noch länger zu leugnen. Ich bitte Sie darum, uns Ihren Beistand zu gewähren, denn es kann Ihnen nicht daran liegen, eine verfolgte Frau verhaftet zu sehen.«

»Selbst nicht, wenn diese Frau der einzige Mann der Familie Bourbon ist! Die Frau Herzogin muß sogleich von der Verfolgung des General Cavaignac benachrichtigt werden. Ich muß unter diesen Umständen auf die Hoffnung und die Ehre einer Unterredung verzichten, aber haben Sie die Güte, sie meiner Verehrung zu versichern und ihr zu sagen, daß ich hoffe, die Zukunft werde ihr beweisen, welches meine Ansichten und Empfindungen sind.«

»Aber wo kann ich sie finden?«

»Punkt zwölf Uhr auf dem Pont-Neuf an der Statue. Ich rate Ihnen, darauf zu dringen, daß die Frau Herzogin noch diese Nacht Paris verläßt, damit man morgen öffentlich erklären kann, das Gerücht sei ganz unbegründet gewesen.«

»Ich bin ganz Ihrer Ansicht, Hoheit, aber wenn die Polizei bereits ihre Anstalten getroffen, wird es schwer sein, die Barrieren unerkannt zu passieren.«

Der Prinz sah sich um; sein Blick traf auf den Kapitän Fromentin, der erst seit einigen Augenblicken den Salon wieder betreten hatte und vor seiner Entfernung noch einen Blick seiner Angebeteten zu erhaschen hoffte.

»Einen Augenblick, Herr Kapitän!« Der Offizier trat mit einer Verbeugung näher.

»Um Vergebung, sind Sie heut im Dienst bei General Lamoricière?«

»Mein Dienst ist für heute beendet.«

»Wollen Sie mir einen solchen erweisen? einen persönlichen wichtigen Dienst, den ich nur einem Mann von Ehre und Diskretion anvertrauen kann?«

»Befehlen Euer Hoheit über mein Lebens ich bin der Sohn meines Vaters!«

»Und ich der Freund des Herrn Miron,« sagte der Prinz leise. »Sie sind Pariser Kind und also mit Paris genau bekannt. Es gilt, zwei Personen auf der Stelle aus der Stadt zu schaffen – gleichviel aus welchem Thor, ohne an den Barrieren sich einer belästigenden Befragung auszusetzen. Außerdem kann Ihre Uniform genügenden Schutz gewähren. Wollen Sie mir diesen Dienst erweisen?«

»Mit Freuden, Hoheit, wenn ich weiß, daß ich dadurch nicht meine Pflicht verletze.«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Sie mit der Erfüllung meiner Bitte der Republik einen großen Dienst erweisen. General Lamoricière selbst würde es Ihnen danken. Übrigens brauchen Sie die Personen gar nicht zu kennen, deren Schutz Ihnen anvertraut wird.«

»Ich stehe zu Befehl.«

»So gehen Sie von hier an die Ecke der Straße Dauphine, und warten Sie dort bis ein Uhr. Wenn man Ihrer Hilfe bedarf, wird man Sie dort finden. Auf Wiedersehen, Herr Kapitän! Ich übernehme Ihre Entschuldigung bei den schönen Damen.«

Der Offizier entfernte sich.

»Und nun, Herr Marquis, zu dem Rendezvous. Senden Sie Ihre Equipage vor irgend ein Thor – das kann nicht auffallen.«

Der Legitimist verbeugte sich. »Empfangen Eure Hoheit unsern Dank für Ihr rücksichtsvolles Benehmen und glauben Sie, daß wir nicht undankbar sein werden.«

Wenige Augenblicke nachher hatten er und seine Freunde unbemerkt die Gesellschaft verlassen.

Der Prinz begegnete dem fragenden Auge seines Vertrauten, als er sich wieder in die Gesellschaft mischte. Auf seinem Gesicht lag ein mattes Lächeln; es hieß: die Legitimisten werden nicht für Cavaignac stimmen!

Der Held des La Plata hatte sich unterdessen in den Kreis einiger Italiener zurückgezogen, gegen die er in seiner gewöhnlichen trockenen und kurzen Weise die Gesellschaft charakterisierte. Diese Neugier und dreiste Zudringlichkeit ringsum, die ihn und seine Gattin entweder wie ein Wundertier anstaunte, oder durch ihre Fragen eine grenzenlose Unwissenheit verriet, verletzte und langweilte ihn, und er hätte, nachdem sein Zweck, die Männer des Tages kennen zu lernen, erfüllt war, das Hotel bereits wieder verlassen gehabt, wenn der Gesandte, der ihn eingeführt, nicht noch mit einigen Personen zu sprechen gehabt hätte.

Der Oberst sprach eben mit Cipriani über die Lieferungsverträge von Artillerie, die dieser für Toscana in Paris unterhandeln sollte, und ließ sich mehrere Notizen über die ersten Pariser Häuser geben, die sich mit der Lieferung von Waffen beschäftigten, als der Gesandte zu ihnen kam.

»Ich suchte den Minister des Auswärtigen vergeblich; Herr Bastide scheint nicht zu kommen, und wir werden daher leider auf Ihre Vorstellung verzichten müssen, obschon ich überzeugt war, daß mein Wink Ihnen sicher die beste Aufnahme bereitet hätte.«

»Und worin sollte die Empfehlung bestehen?«

»Neben Ihrer Persönlichkeit in einer Warnung. Monsieur Thouars, der bisherige Konsul in Neapel, befindet sich augenblicklich in Paris. Der würdige Holzhändler hat ihn ganz gegen seinen Willen nach Brasilien versetzt, und Thouars hält sich dadurch für ruiniert. Er ist außer sich, und da alle seine Reklamationen vergeblich, hat er geschworen, an dem Minister öffentliche Rache zu nehmen. Er ist zu allem fähig, und Herr Bastide hat geradezu einige Dolchstiche, mindestens eine Beschimpfung zu riskieren.« Zwei Tage darauf spie in der That Thouars dem Minister des Auswärtigen (früher Holzhändler) und seinem General-Sekretär Hetzl (früher Buchhändler) im Foyer der Deputiertenkammer ins Gesicht.

Der Oberst lachte. »Liebster Ricci, weshalb wollen Sie sich in die Sache mengen? Der größte Teil aller Minister verdient nichts Besseres, und eine öffentliche Lektion kann ihnen nicht schaden. Aber da kommt Crispi und scheint Sie oder mich zu suchen.«

Der Attaché war eilfertig herangetreten. »Nehmen Sie das Billet, Signor, es ist mir Eile empfohlen.«

Garibaldi hatte das Blatt genommen und erbrochen. Er winkte den Gesandten zur Seite. »Mazzini schreibt mir, daß er mich sofort sprechen muß, und die Bundesglieder in der Straße de la Santé versammelt sind. Es sind soeben Nachrichten aus Livorno eingetroffen. In Rom sind neue Verhaftungen vorgenommen, Sterbini verlangt Entscheidung, der Ausbruch der Erhebung ist auf den 15. festgesetzt.«

»Ich werde Sie bis zur Avenue des Observatoirs begleiten.«

»Aber meine Frau – – ich habe den Neger nicht bei mir.«

»Meine Equipage wird sie nach ihrem Hotel führen. Die Gesellschaft ist in großer Aufregung, es handelt sich um eine Verhaftung der Herzogin von Berry, die in Paris sein soll, und wir können uns daher unbemerkt entfernen.« Er reichte der Creolin den Arm, die ihr Gatte in Kenntnis gesetzt, daß sie allein nach ihrer Wohnung zurückkehren müsse.

Der Gesandte hatte die Dame die Treppe hinabgeführt und hob sie in den Wagen. »Straße St. Honoré, Hotel de Lile!« Die Equipage rasselte davon.

»Nun lassen Sie uns gehen – dort oben ist für unsere Absichten nichts mehr zu erreichen!«

Die beiden Italiener schritten, in ihre Mäntel gehüllt, in das Straßengewirr des Luxembourg.


Der Quai war um die Stunde bereits ziemlich öde. Es ist eine auffallende Erscheinung vieler großen Städte, daß schon zu einer frühen Stunde der Nacht Straßen und Plätze, die während des Tages sehr belebt sind, auffallend still erscheinen. Zu diesen gehört ein großer Teil der Pariser Quais, unter anderen mitten im Herzen der Stadt der Quai Voltaire und Quai Malaquais auf dem linken Ufer der Seine, gegenüber den Tuilerieen und dem Louvre.

Es war einige Minuten vor Mitternacht, als aus der Straße du Bac zwei Personen, tief in Mäntel gehüllt, kamen und ihren Weg die beiden Quais entlang fortsetzten.

Die eine war ein hochgewachsener Mann, von militärischer Haltung, mit großer Aufmerksamkeit die zweite Person, eine Dame, geleitend, ohne sie jedoch zu führen. Die rechte Hand des Mannes steckte in seiner inneren Manteltasche, als halte er dort eine Waffe verborgen; seine Augen bewachten die Straße, und indem das Paar die Mitte des breiten Fahrweges hielt, vermied es, ohne irgend eine Absichtlichkeit zu zeigen, jede Begegnung im Licht der Laternen auf den Trottoirs.

Die Gasflammen brannten ohnehin düster und verbreiteten einen spärlichen roten Schein in dem Dunstkreis, der sie umgab. Das Wetter hatte sich am Abend geändert, ein feiner Sprühregen verscheuchte alle Personen, die nicht zu einem Wege gezwungen waren, von den Straßen und legte eine Art Nebel über die Ufer des Flusses, so daß außerhalb jener kurzen Gaskreise die Dunkelheit desto schroffer war.

Trotz der Verhüllung des langen, mit einer Kapuze versehenen Mantels, die den Gebrauch eines Schirmes unnötig machte, konnte man erkennen, daß die Dame von kleiner, starker, selbst dicker Gestalt war, zu der jedoch die sehr lebhaften und energischen Bewegungen einen Kontrast bildeten.

»Haben Sie das Wappen erkannt an dem Wagen, Oberst?« fragte die Dame.

»Es war das des Marquis von Brignole-Sales, des bisherigen sardinischen Gesandten?«

»Ja. Herr Ricci wird noch nicht Zeit gehabt haben, den grünen Baum im silbernen Felde durch eine Feder und Advokatenkragen zu ersetzen. Er ist derselbe revolutionäre Schuft wie sein Vater, der zu all dem Treiben in Florenz den Grund legte. Mein Vetter Leopold wird es noch bitter bereuen, sich mit den Kreaturen Guerazzis eingelassen zu haben.«

»Österreich darf dem nicht länger zusehen!«

»Aber erst muß es wieder die Macht haben, liebster Graf. Einstweilen müssen wir uns an den kleinen Unannehmlichkeiten ergötzen, die den Herren Revolutionärs passieren. Ricci ist gewiß ein Filz, wie alle diese Plebejer, und ich habe herzlich lachen müssen, als ich an der Ecke der Verneuil-Straße seine aristokratische Equipage, auf die er sich gewiß nicht wenig zu Gute thut, in dem Zustand auf dem Steinpflaster liegen sah. Ventre saint gris, diese lieben Bourgeois von Paris müssen auch leben. Aber es ist ein unangenehmes Wetter, nicht viel besser, als an jenem November-Abend, an dem Sie mich nach Nantes begleiteten, ehe mich der Schuft von Jude den Gendarmen verriet.«

Ihr Begleiter zuckte unwillkürlich zusammen und brach die Rede kurz ab. »Ich hoffe, daß hier kein Verrat im Spiel sein wird, der Madame gefährden könnte.«

»Ah, bah! Sie wissen, Corpasini ist die vertraute Hand des Kardinals. Schlimmsten Falls schieße ich den ersten nieder, der Hand an mich legt. Ventre saint gris, man soll mich nicht wieder fangen, denn ich habe diesmal keine Schwangerschaft in petto. Aber haben Sie Ihr Geschäft abgemacht, Mortara, und Ihren Zweck erreicht?«

»Das Testament ich richtig! Die verfluchte Brut würde das ganze Erbe bekommen, eine Million römischer Thaler!«

»Unsinn! Das muß Hintertrieben werden. Dieses Volk steckt noch alles Geld der Welt in seine Taschen. Ist das Testament ohne Bedingung?«

»Der Knabe muß an seinem vierzehnten Geburtstag noch ein Bekenner des alten Testaments sein, und darf nie zum Christentum übertreten. Andern Falls – –«

Sie faßte seinen Arm. »Hörten Sie nicht? das war ein Schrei – ein Ruf um Hilfe!«

»Die Unsicherheit in Paris ist groß, Madame. Wir thun am besten, unsern Weg fortzusetzen.«

»Das wäre feig, Oberst! Da ist der Ruf noch einmal, erstickter, es ist eine Frauenstimme und sie kommt dort vor uns von der Brüstung her. Geschwind, folgen Sie mir!«

Trotz ihrer Korpulenz eilte die Dame mit jugendlicher Beweglichkeit vorwärts und quer über den Weg nach dem Trottoir am Ufer der Seine.

Zwei der Gaslaternen waren hier an der Stelle, wo eine Treppe niederführt zum untern Quai am Wasser, durch den Wind oder in schlimmer Absicht verlöscht, und der Weg daher eine Strecke weit in völliges Dunkel gehüllt. Hohe Pappeln ragen an dieser Stelle von dem untern Quai herauf und mit ihren Wipfeln bis über die Brüstung, den Schatten vermehrend. Der mutigen Dame schien es, als wenn eine dunkle Gruppe sich dort bewegte und balgte, dann hörte sie vernehmlich ein heiseres, unheimliches, gedämpftes Kichern.

»Hoho! man kommt – fort mit dem Täubchen ins Brautbett – hi – hi – wird ihr freilich kalt schmecken! hinunter mit ihr.«

»Was geht hier vor? – halt!«

Ein wilder, gedämpfter Fluch war die einzige Antwort. Ein dunkler Knäuel bewegte sich etwa zwanzig Schritt noch von ihr entfernt und verschwand dann plötzlich wie von der Erde verschlungen.

Sie sprang vorwärts. »Herbei, Graf! hieher! hier wird ein Verbrechen verübt!«

Ihr Kavalier war bereits an ihrer Seite, sie sahen jetzt beide, daß sie sich an der Öffnung der Treppe befanden, was das plötzliche Verschwinden der Gruppe zur Genüge erklärte. Von der Treppe herauf klang es wie ein Stöhnen in Todesangst.

»Steht, oder ich schieße!« Der Oberst, wie ihn seine Begleiterin genannt, hatte sich orientiert und sprang, von ihr gefolgt, die Stufen hinunter den Gestalten nach, die so hastig wie möglich, aber offenbar mit einer Last beschwert, hinabflohen. Auf dem untern Quai wurden in diesem Augenblick Stimmen laut, ein Paar lärmende Schiffer, aus einer Kneipe heimkehrend, kamen schimpfend über das Wetter den Weg daher.

» Sacre Dieu! verflucht! wirf den kratzenden Balg über das Geländer, Wassermann!«

Der Graf sah einen dunklen Körper erheben, der sich sträubte und wehrte; zugleich schien es der Frau, denn eine solche war offenbar die Gefährdete, zu gelingen, sich den Knebel oder die Hülle loszureißen, die ihr über den Kopf geworfen, und ihr Ruf: Auxilio! erklang laut, während ihre Hand sich krampfhaft an dem Geländer der Treppe festklammerte. In dem Augenblick erfaßte auch die Faust des Grafen die Gefährdete und ein kräftiger Stoß schleuderte den Kerl zurück, sodaß er über die Stufen und das Geländer hinabstürzte, während sein Gefährte mit einem kreischenden »Hi hi! – ho ho! den Teufel über ihre Schädel!« ihm nachsprang.

»Lassen Sie uns die Arme hinaufbringen,« sagte die Dame, die Fremde unterstützend, zu der sie unterdes, von der Anstrengung etwas keuchend, herangetreten. »Wir dürfen hier keinen Lärm machen und müssen die Schufte laufen lassen. Sind Sie verletzt, Madame, oder vermögen Sie zu gehen?«

Die Fremde schien bereits ihre Fassung wieder zu gewinnen. »Ich danke Ihnen, Herr,« erwiderte sie in französischer Sprache, der man jedoch den fremden Accent anhörte – »nur das Plötzliche des Angriffs hat mich so betäubt und unfähig gemacht, mir zu helfen. Ich bin vollkommen unverletzt.«

»Nehmen Sie meinen Arm, Madame!« Der Graf unterstützte sie, die drei erreichten schnell die obere Terrasse und blieben erst im Schein der nächsten Laterne stehen. Hier sahen der Oberst und seine Gefährtin, daß die Frau, die sie gerettet, offenbar den höheren Ständen angehörte. Ein edles, junges und feines Gesicht, mit südlichem, jetzt etwas bleichem Teint und großen sprechenden Augen, blickte aus einem roh zerstörten spanischen Kopfputz sie an, der halb heruntergerissene arabische Burnus, der sie einhüllte, zeigte eine einfache, aber elegante Gesellschaftstoilette.

»Sie werden sich wundern, Madame, und Sie, mein Herr, der Sie so edelmütig mir zu Hilfe gekommen,« sagte die Fremde, indem sie ihren Anzug wieder zu ordnen suchte, »eine Frau in dieser Lage zu finden. Ich bin fremd in Paris, mein Gatte wurde abgehalten, mich aus einer Gesellschaft, in der wir uns befanden, nach Hause zu begleiten, und der sardinische Gesandte stellte mir seinen Wagen zur Verfügung. An einer Straßenecke, nicht weit von hier, muß der Kutscher unvorsichtig gegen einen Steinhaufen gefahren sein, das Rad zerbrach und der Diener wurde verletzt. Ich glaubte nicht weit mehr von unserm Hotel entfernt zu sein und den Weg allein finden zu können.«

Aber wie gerieten sie in die Hände dieser Männer?«

»Ich wurde von der Dunkelheit getäuscht und wußte nicht recht, welche Brücke ich zu passieren hatte. Endlich sah ich, dicht am Ufer hingehend, zwei Männer mir entgegen kommen und fragte diese nach dem Weg. In demselben Augenblick fühlte ich ein Tuch oder einen Sack mir über den Kopf geworfen und mein Schreien erstickt. Man schleppte mich fort, eh' ich Widerstand leisten konnte. Caramba! wäre der Überfall nicht so plötzlich gekommen, und hätte ich nur meinen Dolch erfassen können, ich hätte sie heimschicken wollen.«

Die andere Dame lachte. »Wahrhaftig, Graf, wir sind am Ende zu früh gekommen und haben eine Heldenthat verhindert!«

»Spotten Sie nicht, Madame! Der beste Dank, den ich Ihnen geben kann, ist der aufrichtigste Wunsch, daß nie die Gefahren und die Schrecken Ihnen nahe treten mögen, durch die mich mein Leben bereits geführt hat. Ich bin die Tochter einer andern Zone, Madame, und in dem unglücklichen Land, das mich geboren, muß auch das Weib oft das Männerwerk üben und durch Ströme von Blut ihren Weg suchen!«

»Sie sind eine Spanierin?« fragte, während sie zusammen weiter gingen, der Offizier, »nach Ihrem ersten Hilferuf zu urteilen.«

»Meine Muttersprache ist die spanische, mein Vaterland aber war Südamerika, bis ich es gegen eine neue Heimat, die meines Gatten, Italien, vertauscht habe.«

»Dann sind wir ja in letzterer Beziehung fast Schicksalsgenossinnen,« sagte die ältere Dame heiter auf Italienisch. »Um so mehr freut es mich, daß wir zur rechten Zeit kamen, denn diese Strolche wollten Sie sicher berauben, vielleicht gar an Ihr Leben. Dergleichen ist in Paris nichts Seltenes, namentlich in einer Zeit, wie die gegenwärtige. Wo ist Ihre Wohnung, Madame?

»Straße Saint Honoré, Hotel de Lile.«

»Dann werden wir Sie mindestens so weit begleiten, bis Sie vollkommen in Sicherheit sind.«

Sie waren jetzt bis auf den Pont-Neuf gelangt und befanden sich nahe der Statue Heinrichs IV. Die Uhr von Notre-Dame verkündete in diesem Augenblick Mitternacht, und wie in weitem schwindendem Echo wiederholten ferner und ferner die zahlreichen Türme der Weltstadt die Scheidestunde des Tages, der Frankreich eine neue Geschichte gebracht.

»Das ist die Stunde,« sagte die ältere Dame zu ihrem Begleiter, »wir müssen sehen, ob er kommt. Ich werde hierbleiben, während Sie, lieber Freund, die Dame zum Hotel begleiten.«

»O, Madame, das würde Ihre Güte mißbrauchen heißen, nachdem ich Ihnen schon so vielen Dank schuldig bin. Ich orientiere mich jetzt vollkommen und bin sicher, daß mir nichts mehr geschehen wird. Offen gestanden,« fuhr sie lächelnd fort, »müßte ich mich in Wahrheit schämen, wenn es bekannt würde, daß zwei Pariser Diebe genügt haben, mich nach fremder Hilfe rufen zu lassen.«

» Diavolo! sind Sie denn eine solche kleine Amazone, daß sie sich vor zwei Männern nicht fürchten, nicht einmal, wenn sie Ihnen ans Leben wollen?«

»In den blutigen Kämpfen meiner Heimat, Madame, setzt man es oft ein, um Furcht zu kennen. Ich habe in der Schlacht an der Seite meines Gatten gestanden, ich bin durch Ströme geschwommen und durch Wüsten geirrt, ohne dies Gefühl zu empfinden, und Sie werden begreifen, daß danach Paris keine Gefahr für mich mehr haben kann, um so weniger, als ich gewarnt bin.«

» Ventre saint gris, meine kleine Heldin – Sie sind doch nicht …«

»Ich bin Aniella Crousa, die Gattin des Kommodore, oder wie man ihn jetzt nennt, des Obersten Garibaldi. Er wird den Beistand, den Sie seinem Weibe geleistet, nie vergessen, und wenn er Ihnen oder Ihrer Familie nützlich sein kann, so befehlen Sie über seine Dienste.«

Die Dame lachte ausgelassen. »Das ist wirklich ein Abenteuer, Freundchen! Aber meine Familie, Madame de Garibaldi, ich sage es Ihnen lieber im voraus, ist ziemlich groß in Italien; ich habe Verwandte in Parma, Neapel, Florenz und außerdem in Deutschland, Madrid – und Gott weiß, an welchen Orten noch. Sie sind überall zerstreut, und Ihr Herr Gemahl würde es Ihnen wenig danken, ihm solche Last aufgebürdet zu haben! Aber in der That, liebes Kind, Sie müssen die Begleitung dieses Herrn annehmen, nicht zu ihrem Schutz, aber damit Sie die rechte Straße finden. Lassen Sie ihn wenigstens Sie bis in die Münzstraße bringen, dann finden Sie leicht, und hegen Sie keine Besorgnisse um mich, denn ich werde hier sogleich andere Freunde treffen.«

Der Ton ihrer letzten Worte ließ keine Erwiderung zu, und ein Wink belehrte ihren Begleiter, daß es ihr dringender Wunsch sei, die Kreolin zu entfernen. Er bot dieser daher den Arm.

»O, Madame,« sagte sie, »es würde unartig sein, Ihrer Güte länger zu widerstehen. Aber lassen Sie mich wenigstens Ihren Namen wissen, damit ich ihn in meinem Herzen behalten und in meine Gebete einschließen kann!«

»Bah, Frauchen, das ist ein ganz gewöhnlicher Name,« lachte die Dame, »nicht so voll Romantik und voll Zukunft, wie der Ihre, ich heiße einfach Caroline Bourbon, und nun, liebe Kleine, leben Sie wohl!«

Die Kreolin faltete die Hände, während die ältere Dame sie auf der Stirn küßte und sorgsam ihr den schönen Kopf in den Kragen des Mantels hüllte; dazu sagte jene ganz naiv: »Glauben Sie mir, Madame, ich werde den Namen sicher nicht vergessen!« und dann nahm sie den Arm des Kavaliers und entfernte sich, noch mehrmals zurückschauend, bis die dunkle Gestalt der Zurückgebliebenen völlig in der schweren Nacht-Atmosphäre verschwunden war.

Als der Oberst Graf Mortara nach höchstens einer viertelstündigen Abwesenheit eilig und besorgt zurückkehrte, fand er die Dame in Gesellschaft zweier Herren und blieb rücksichtsvoll einige Schritte von der Gruppe stehen, um ihr Gespräch nicht zu stören.

»Kommen Sie nur näher, Graf, und helfen Sie beim Kriegsrat,« sagte mit ungestörter Heiterkeit die Dame, sobald sie ihn bemerkte. »Es ist zwar nicht der, den wir erwarteten, aber es sind Personen, die uns immer willkommen sein werden, auch wenn sie uns die Nachricht bringen, daß wir wieder einmal an die Luft gesetzt sind, und daß man uns nicht ein Nachtlager in Paris gönnte! Still, Marquis! ich weiß, daß ich in Ihrem Hotel Sicherheit und Ruhe fände, aber ich will niemand kompromittieren, nicht einmal Herrn Cavaignac, und ich finde darum, daß der Rat des Herrn Bonaparte ganz zweckmäßig ist. Als Erwiderung der Höflichkeit darf man wirklich nicht gegen ihn stimmen! Wo ist der Offizier, von dem Sie mir sagten?«

»Ich sah ihn im Vorüberkommen, der Anweisung gemäß, an der Ecke der Straße Dauphine stehen. Es ist ein Adjutant Lamoricières!«

»Aber ein Mann von Ehre und Talent!« sagte der Graf von Roche-Chouart, der mit dem Marquis von Laroche-Jacquelin den Auftrag übernommen, die Herzogin von der plötzlichen Entdeckung ihres Aufenthaltes in Kenntnis zu setzen und sie in Sicherheit zu bringen. »Ich habe ihn bereits mehrfach rühmlich nennen hören.«

»Sei er, wer er wolle, wir müssen ihm vertrauen,« meinte die Prinzessin, »denn ich glaube, jenen Herren wird allen ein Gefallen damit geschehen, wenn ich glücklich wieder aus Paris bin und dieser Schurke Girardin morgen ausgelacht werden kann! Sie wissen, es ist nicht die erste Nacht, die ich unter freiem Himmel in Wind und Regen zubringe. Mein Plan ist einfach gescheitert, und das ist für Caroline von Artois gleichfalls nichts Neues! Man muß sich also in das Resultat fügen, so gut es geht. Sagen Sie mir also nur, wie ich am besten fortkomme und Fontainebleau erreiche. Dort finde ich, was ich brauche, um nach Deutschland zurückzukehren!«

»Mein Wagen wartet in der Rue Nevers,« sagte der Marquis, »er kann Eure Königliche Hoheit mit den beiden Herren bis zum Boulevard du Mont-Parnasse bringen und dann leer die Barrieren passieren. Ich glaube nicht, daß die Polizei an den Thoren Anstalten getroffen hat, aber Vorsicht ist besser, und unter dem Schutz einer Uniform werden Ihro Königliche Hoheit unbelästigt die Stadt verlassen. In Gentilly bringen Sie den Rest der Nacht zu; morgen um sechs Uhr werden frische Pferde bereit sein, und ein Patz, um unerkannt Fontainebleau und von dort die Grenze zu erreichen.«

»So lassen Sie uns den Offizier aufsuchen!«

Die ganze Gesellschaft ging nach der Ecke der Rue Dauphine, wo, in einen Militärmantel gehüllt, ein Mann auf- und niederschritt.

Es war in der That Kapitän Fromentin.

Die Herzogin trat auf ihn zu. »Mein Herr,« sagte sie, »man sagt mir, daß Sie die Ehrenpflicht übernommen, eine Ihnen unbekannte und verfolgte Dame aus den Barrieren von Paris zu bringen. Ich bin diese Dame und wünsche nach Gentilly zu gehen. Wollen Sie mir bis dahin Ihren Schutz gewähren?«

Der Marquis von Laroche trat hinzu. »Ich versichere Sie zugleich, Herr Kapitän, daß dies die Dame ist, die der Herr Prinz Bonaparte Ihnen anvertraut hat. Mein Wagen hält in der Straße Nevers und steht zu Ihrer Disposition. Dieser Herr ist der Begleiter der Dame.«

»Ich stehe zu Ihrem Befehl,« sagte mit einer Verbeugung der Kapitän. »Ich glaube nicht, daß Madame in Begleitung eines Offiziers die geringste Belästigung erfahren soll, doch wird es besser sein, den Wagen des Herrn Marquis bloß bis zur nächsten Fiacre-Station zu benutzen.«

In diesem Augenblick, während die kleine Gesellschaft weiter ging, hörte man den scharfen Trab eines Reitertrupps über die Brücke daherkommen und die Dame mit ihrer Begleitung trat sofort in den tiefern Schatten eines Thorwegs. Es war eine Abteilung der seit der Revolution bereits wieder hergestellten berittenen Garde de ville, der Gendarmerie von Paris, die offenbar von der nahen Polizei-Präfektur in der Straße Jerusalem kam, und die bei weitem größere Zahl der Reiter bewies, daß es keine der gewöhnlichen Patrouillen war, welche stündlich die Straßen passieren.

Der Trupp nahm die Richtung in die Straße Dauphine, blieb aber auf Kommando des Anführers kaum zwanzig Schritt von den Versteckten halten.

»Steige ab, Langlois, und sieh, was an meinem Sattelgurt ist, er hat sich gerückt,« befahl eine tiefe Baßstimme, »und Sie, Sergeant Guittard, können hier eben so gut gleich nach dem Vaugirard und Sèvres abbiegen. Sie haben die Ordre verstanden, jeder auspassierende Wagen wird an den Barrieren untersucht, eine kurze, dicke Dame in Begleitung eines oder mehrerer Männer. Verdächtige Personen bis zum Morgen auf die Wache. Sacre Dieu, Bürger Langlois, spute Dich! – Wer steht da und hat Maulaffen feil?«

Die höfliche Anrede galt der Gruppe in dem Thorweg!

Der Kapitän trat rasch vor. »Was wollen Sie? Seit wann ist es nicht mehr erlaubt, die Straße zu passieren?«

Der Schein der nächsten Laterne ließ die Uniform erkennen. Der Wachtmeister salutierte. »Entschuldigen Sie, mein Offizier, ich wundere mich nur, in dem Hundewetter … – vorwärts, Leute!« Der Trupp galoppierte weiter und trennte sich an der Ecke der Straße.

»Es ist zu spät,« sagte der Marquis entschlossen, »wir haben zu viel Zeit versäumt, und Sie haben gehört, daß jeder Wagen an den Barrieren einer Untersuchung unterworfen werden soll. Herr Kapitän, Sie sind ein Mann von Ehre, und wir müssen Ihnen mehr vertrauen, als vielleicht unsere Absicht war. Sie waren bei Herrn Baroche gegenwärtig und wissen daher –«

Der Offizier unterbrach ihn rasch. »Einen Augenblick, Herr Marquis, ich kenne die Dame nicht und habe keine Veranlassung, sie kennen zu lernen. Eine Person, der ich Respekt und Gehorsam schuldig zu sein glaube, hat mir in Bezug auf diese Dame einen Auftrag erteilt, und als Soldat habe ich gelernt, jeden Befehl auszuführen, ohne zu fragen, wie oder warum. Es handelt sich darum, diese Dame unerkannt und unangehalten von der Polizei außerhalb der Barrieren auf den Weg nach Gentilly zu bringen.«

»So ist es! Vermöchten Sie dies – –«

»Wenn Madame Mut und Vertrauen hat, so glaube ich ein Mittel zu wissen!«

»O, wenn es darauf ankommt, uns durchzuschlagen – Ventre saint gris! ich bin dabei und bin bewaffnet!«

»Es ist nicht wegen der Furcht vor den Lebendigen, Madame,« sagte der Offizier ehrerbietig, »sondern der vor den Toten! Ich beabsichtige. Sie durch die Katakomben zu führen.«

»Teufel! das ist etwas anderes! Aber werden wir uns nicht verirren? ich habe immer gehört, daß dies sehr leicht geschehen und ein schreckliches Schicksal herbeiführen kann!«

»Deshalb bitte ich um Ihr Vertrauen, Ich war als Knabe täglich in dieser unterirdischen Welt und kenne sie besser als die meisten der offiziellen Führer. Sie hat verschiedene, nur wenigen bekannte Ausgänge in der Stadt, und dehnt ihre Grenze bis in die Banlieu, ja, jenseits der Fortifikationen. Ein Weg von einer Stunde wird Sie jeder Beobachtung entziehen.«

»Vorwärts denn!« sagte entschlossen die Herzogin, »ich muß in den Tartarus steigen, da die Elysäischen Felder zu gefährlich für mich sind!«

Einige kurze Verabredungen genügten, der Wagen des Marquis sollte den Offizier und die beiden Flüchtigen bis zum Val de Grace bringen und durch die Barriere d'Enfer und die Porte d'Arcueil die Stadt verlassen. In der Banlieu an einem bestimmten Ort wollte man ihn wieder treffen, da damals die Fortifikationslinie um Paris noch nicht geschlossen war.

Der Marquis sollte am anderen Morgen nach Gentilly kommen.

Einige Minuten später rollte der Wagen der Vorstadt zu.

Zwischen der Manufaktur der Gobelins und dem Val de Grace, östlich von der Rue d'Enfer lagen mehrere Viertel, die wenig bebaut und teils von öden Sackgassen, teils von Gartenland gebildet waren.

Als die Equipage eben von der Rue d'Enser nach dem Faubourg St. Jacques abbog, begegnete ihr, von der Barriere herkommend, ein elegantes Coupé und rollte rasch vorüber, der innern Stadt zu.

Es war etwa drei Viertel auf ein Uhr.

Die Flüchtigen mit ihrem Ritter verließen den Wagen, der sofort den Weg nach dem Thor von Arcueil einschlug.

Schweigend ging der Offizier voran, die Dame und ihr Begleiter folgten. Der Regen hatte nachgelassen und fiel nur noch in einzelnen, vom Winde gepeitschten Tropfen, der sich jetzt zu erheben begann.

Kapitän Fromentin zeigte, daß er vollkommen mit der Topographie der Stadtgegend bekannt, und nachdem sie die Rue des Bourdignons entlang gegangen waren, wandte er sich in eine Querstraße, die nur auf einer Seite bebaut war, und blieb am Ende derselben vor einem Hause stehen, dessen rote Laterne mit einem großen Schild darüber eine jener Kneipen der Vorstädte verkündete, in denen die niederen Stände ihre Orgien zu feiern pflegen.

Die Hausthür stand offen, und trotz der späten Stunde schien in der langen, einem Saal gleichenden Wirtsstube noch eine zahlreiche Gesellschaft versammelt, denn von Zeit zu Zeit drang ein bacchantischer Lärm, der Ton mehrerer Drehorgeln und lustiger Gesang aus Männer- und Weiberkehlen durch die verschlossenen Fenster oder die geöffnete Stubenthür. Im Hausflur selbst, nach Küche oder Keller, schien ebenso lebhafter Verkehr.

Das Haus lag auf beiden Seiten frei, und der Offizier führte seine beiden Begleiter um dasselbe herum in den offenen Hof oder Garten, der hinter dem Hause lag, und in dem mehrere hohe, alte Nußbäume sich ausbreiteten. Tische und Bänke standen unter ihnen, die während der guten Jahreszeit von den Gästen benutzt wurden. Links zog sich eine Kegelbahn entlang, und den Hintergrund schloß eine Art Pavillon, ein altes Gebäude, das offenbar aus einer weit früheren Zeit stammte, als das Wirtshaus selbst.

Dieser Pavillon, rechts und links von einer Mauer flankiert, hatte seinen Eingang von der Straße de la Santé und erhob sich auf einer Art von Rampe oder acht bis zehn Fuß hohen Grundmauer von altem verwittertem Ansehen, die mit einer dicken Lage von Epheuranken bedeckt war. Mit dem Hof oder dem das Hinter- oder Vorderhaus bildenden Wirtshause schien der Pavillon nur durch eine Thür verbunden, die in der Mitte der Rampenmauer sich befand aber wohlverschlossen war, während rechts und links von ihr zwei dunkle, halbverfallene Bogen den Zugang zu Kellern oder offenen Souterrains zur Aufbewahrung von Gerätschaften zeigten.

Der matte Schein einer im Winde an einem der Baumäste schwankenden Laterne, verbunden mit den helleren Lichtstreifen, welche durch die morschen, bald zerstörten Jalousieen der vier Fenster des Pavillons nach dieser Seite fielen – denn zur Verwunderung des Kapitäns zeigte sich das Innere desselben stark erleuchtet – gestatteten, die Umgebung einigermaßen zu erkennen.

Der Offizier bat die beiden Flüchtigen, in einen dieser Bogen oder dunkelen Gänge zu treten und den Ort unter keinen Umständen zu verlassen. Dann ging er nach der Rückseite der Kneipe und klopfte an die Thür.

Sie wurde geöffnet, und der Offizier sprach einige Worte mit der heraustretenden Person, dann trat er zurück unter den Schatten des nächsten Baumes.

Gleich darauf öffnete sich die Thür aufs neue, und ein Weib erschien auf der Schwelle, ein Licht hochhaltend.

»Kreuz Millionen! Könnt Ihr nicht reinkommen, wenn Ihr die Mutter Tirebouchon sprechen wollt, oder seid Ihr ein Prinz, daß Euch die ›Goldene Kanone‹ zu schlecht dünkt?«

Sie war ein wahres Mannweib; die Erscheinung, eine große knochige Gestalt, eine kurze Mannspikesche über dem ärmlichen, aber reinlichen Kleide, das graue Haar mit einer alten Militärmütze bedeckt, hatte etwas Energisches, Soldatisches in ihrem ganzen Wesen.

»Stille, Madelaine, kommen Sie hierher!«

»Ich will wie eine Bombe krepieren, wenn ich die Stimme nicht kenne! Das ist Hektor, mein Säugling, oder der Teufel soll mir die Lunte halten.« Sie sprang die Stufen hinunter und auf den Offizier zu, der ihr freundlich entgegentrat. »Hektor, mein Junge, 's ist eine Ewigkeit her, daß ich Dich nicht gesehen!« Im selben Augenblick richtete sie sich gerade in die Höhe und legte die freie Hand salutierend an die Mütze. »Seien Sie willkommen, mein Offizier, und entschuldigen Sie ein altes Weib, das immer noch denkt, Sie wären der kleine Putz wie damals, als ich Sie vor 28 Jahren für Ihre kranke Mutter säugte mit meinem armen Schelm von Jungen – Gott hab' ihn selig!«

»Ich war lange nicht bei Dir, Madelaine,« sagte freundlich der Offizier, »aber ich hatte wahrhaftig keine Zeit und will es in den nächsten Tagen gut machen. Jetzt hab' ich eine dringende Bitte. Ist mein Vater noch bei Dir?«

»Der Korporal ist heute verteufelt spät gekommen,« sagte das Mannweib, »obschon es blauer Montag ist, und die ganze Drehorgelkompagnie der südlichen Arrondissements mit Ungeduld ihren Hauptmann erwartete. Jetzt giebt es famoses Leben da drinnen, denn der Alte hat ihnen angekündigt, daß ein unbekannter Wohlthäter ihnen sämtlich neue Orgeln verschaffen will und gratis dazu. Es giebt seltsame Narren auf der Welt! Soll ich den Alten rufen, mein Junge?«

»Nein, Mutter Madelaine, laß ihn, wo er ist. Ich habe mit Dir zu sprechen, und er braucht nicht zu wissen, daß ich hier war.«

»Zu Befehl, mein Kapitän,« sagte die frühere Marketenderin. »Der kleine Halunke, der Jacques, war übrigens auch hier, mit einer anderen Krabbe, die ebenso unnütz ist, wie er selbst. Die Bursche müssen was angezettelt haben, so ein Feuerwerk, eine Brandstiftung oder dergleichen, denn ich hörte sie davon schwatzen, und als der Alte anrückte, der fuchswild auf sie ist, waren sie verschwunden, wie ein Sousstück aus einer Soldatentasche!«

In jedem andern Augenblick würde diese Erwähnung die Aufmerksamkeit des Offiziers in Anspruch genommen haben, jetzt aber achtete er kaum darauf. »Existiert der Eingang in die Katakomben drinnen noch, Amme?« fragte er hastig.

»Potz Bomben und Granaten! Du wirst doch nicht in die Knochenkammer hinuntersteigen wollen in der Gespensterstunde?«

»Frage mich nicht und halte mich nicht auf. Es muß sein, und ich bin nicht allein. Gieb mir den Schlüssel zur Kellerthür und besorge mir eine Laterne und eine Fackel, aber geschwind, ich bitte Dich!«

»Meinetwegen – es ist Deine Sache, Herr Kapitän, und ich verstehe Ordre zu parieren. In einer Minute sollst Du's haben.«

»Noch eins,« er hielt sie zurück, »wer ist jetzt in dem alten Pavillon, und wie kommt es, daß er erleuchtet ist?«

»Pah – es sind Welsche, italienisches Volk! Sie haben's gemietet vom Eigentümer und halten an zwei oder drei Abenden ihre Zusammenkünfte. Ich liefere die Getränke, weiter darf aber niemand hinüberkommen. Die Kerle sehen mir aus, wie Conspirateurs gegen ihre Fahne!«

»Wir haben mit ihnen nichts zu schaffen. Schaff' mir nur den Schlüssel und das Licht!«

»Im Augenblick, mein Kapitän.« Sie stellte ihr Licht auf einen der Tische, nahm ihn mit beiden Händen beim Kopf, gab ihm einen tüchtigen Schmatz und lief dann ins Haus.

Der Offizier war zurückgetreten in das Gewölbe, wo seine Schutzbefohlenen unwillkürlich die Scene belauscht. Die Herzogin, stets unbekümmert in Gefahr und ihrer Laune folgend, lachte herzlich. » Ventre saint gris, Kapitän, sagte sie, »Sie haben sich da einen allerliebsten Schatz ausgesucht. Ihre Küsse knallen ja wie eine Flintensalve! In der That, Sie haben heute Unglück mit den Weibern!«

Der Graf Mortara berührte den Arm der Prinzessin. »Still, Hoheit! Es kommen Leute!«

Man hörte in der That den Schritt und das leise Sprechen zweier Personen, die denselben Weg wie die Flüchtlinge um das Wirtshaus herumkamen. Sie schienen zwischen sich eine Last zu tragen.

»Gott verdamm' mich, wenn ich noch einen Schritt weiter gehe,« sagte eine grobe Baßstimme. »Das Bein und die Schulter schmerzen mich, als ob sie gebrochen wären! Hole der Teufel den Kerl, der uns dazwischen kommen mußte!«

»Hoho, Wassermann,« entgegnete eine andere Stimme, die den drei Lauschern nicht unbekannt erschien. »Die Lektion war Dir gut, warum ließest Du sie schreien! Sei zufrieden, Wassermännchen, sei zufrieden! wir haben Ersatz.«

»Wohin nun damit, da der Schurke von Doktor uns einen falschen Schlüssel gegeben hat oder die Thür von innen verriegelt war!«

»Eben deshalb, Wassermännchen, eben deshalb! Wir wollen's hier niederlegen, Mutter Tirebouchon hat eine Trage da drinnen und einen stärkenden Herztrunk! Dann klopf' ich den Doktor heraus; 's ist nicht weit bis zur Straße Mouffetard!«

»Hier hinein?«

»Ho ho, Wassermännchen, willst in mein Revier? nichts da! dort in der anderen Höhle, da steht die Bahre.«

Man sah die dunklen Gestalten mit ihrer Last in den nächsten Kellerbogen verschwinden und dann hervorkommen und nach dem Hause zurückgehen.

»Was geht hier vor?« sagte die Herzogin, »die Stimme gehört sicher einem von den Kerlen, denen wir am Quai die kleine Republikanerin abgejagt. Es ist gewiß ein Verbrechen geschehen!«

»Wir haben keine Zeit, uns mit allem Gesindel von Paris zu befassen,« sagte mürrisch der Graf in spanischer Sprache. »Der Teufel weiß, in welches Nest wir hier geraten sind.«

Seiner Besorgnis wurde alsbald ein Ende gemacht durch das Wiedererscheinen der alten Marketenderin. Sie hatte eine Laterne in der Hand und zwei Pechfackeln unterm Arm. »So, Söhnchen, da bin ich, der Sergeantmajor rüstet sich eben zum Ausbruch, er hat wohl zwanzigmal heute die Gesundheit des Kaisers getrunken.«

Sie hob die Laterne ein wenig, die Personen zu beleuchten, die sich in der Gesellschaft ihres Milchsohnes befanden. »Bomben und Kartätschen! ein Frauenzimmer und noch dazu nicht einmal ein hübsches! Muß die Courage haben!«

Die Herzogin lachte. »Seien Sie versichert, Madame, ich werde Ihr Herzblatt nicht verführen!«

Die Alte beugte sich eben nieder, um in einem Winkel des mit allerlei Gerümpel angefüllten, aber sehr trockenen Kellers eine wurmstichige Thür aufzuschließen. »Hat sich was zu verführen da unten,« murrte sie, »wartet nur, bis Ihr hineinkommt, da werden Euch die Gedanken schon vergehen! Wenn der Kapitän die Hand ausstreckt, kann er an jedem Finger zehn haben, hübscher als Ihr. Donner und Kartätschen! die alte Thür ist ja offen!«

Sie leuchtete mit der Laterne hinein in einen ziemlich geräumigen Gang, der hier durch eine mehr einem Loch gleichende Thür in den Kellerraum mündete. »Wahrhaftig – der alte Schurke, der Samson, muß ihn benutzt haben, – ich sah eben in der Küche sein verdammtes Grinsen! Nun fort, Söhnchen, damit er Euch nicht trifft, er ist ein boshafter Kobold, dem man nie trauen kann!«

Sie reichte dem Kapitän die Laterne und die Fackeln und steckte ihm eine kleine Flasche zu. »Es ist eine Herzstärkung, mein Junge, Du weißt, daß man's brauchen kann da unten. Nun halte Wort und laß Dich bei der alten Mutter Tirebouchon sehen.«

Der Kapitän war eben im Begriff, eine der Fackeln anzuzünden, als ein Gepolter über ihnen entstand, als breche altes Holzwerk zusammen, der Schrei einer jugendlichen Stimme und dann ein Pistolenschuß.

Das Rufen mehrerer Stimmen, Verwünschungen in italienischer Sprache, folgten.

»Zum Henker! die verfluchten Italiener haben sich wieder einmal bei den Haaren! Das Pack kann sich niemals vertragen!« Sie sprang an den Eingang zurück und kam gerade noch zeitig genug, um zu sehen, wie eine flinke jugendliche Gestalt auf dem Gesims der Rampe behend wie ein Affe entlang lief und dann, als über ihr eine der Jalousieen von innen aufgestoßen wurde, hinab in den Hof sprang.

Die Jalousie des Eckfensters hing herabgebrochen herunter, ein starker Ast des Epheus schwankte im Winde, im offenen Fenster darüber stand ein Mann, das rauchende Pistol in der Hand, andere Köpfe drängten sich um ihn, Lichter erschienen an allen Fenstern, man hörte Schritte die Treppe herunterkommen, welche auf der Rückseite des Pavillons in den Hof führte.

»Armand, wo bist Du?«

»Hier – ich glaube, ich hab' den Fuß gebrochen oder verstaucht,« antwortete eine Knabenstimme.

»Da sind die Spione! Schießt sie nieder! Tod den Verrätern!«

Die Marketenderin war bereits mitten im Hof. »Ich will einen Vierundzwanzigpfünder verschlucken, wenn da nicht die Teufelsjungen Unfug getrieben, und die da oben belauscht haben. Dachte mir's gleich, daß die Brut sich noch herumtrieb, aber ich muß ihr zu Hilfe kommen. Hier her, Jacques!« Zugleich setzte sie eine Pfeife an den Mund, die sie an einer Schnur um den Hals trug, und ließ einen gellenden Pfiff ertönen, mit dem sie gewohnt war, ihre Dienstleute zu rufen.

Der Gamin, denn es war in der That der jüngere Sohn des alten Invaliden, der sich mit dem Taugenichts, seinem vornehmern Freunde, ein Extravergnügen gemacht und sich nach dem Unfug, den beide in dem Laboratorium, des Artillerie-Offiziers angerichtet, umhergetrieben, hatte seinen Kameraden emporgerichtet und schleppte ihn herbei.

»Zu Hilfe, Mutter Madelaine. Dis Kerls ermorden uns, sie haben auf ihre Dolche geschworen in ihrem Kauderwelsch, und Armand sagt …«

Die beiden Jungen, durch die Ankunft des martialischen Zunftmeisters der Orgeldreher aus der Wirtsstube vertrieben, wo der junge Fabrikantensohn die ganze noble Gesellschaft zu traktieren begonnen, waren, wie Mutter Tirebouchon richtig vermutet, um das Haus geschweift und hatten, von der Erleuchtung des Pavillons angereizt, der Neugier nicht widerstehen können, dort zu lauschen. Über das Dach der Kegelbahn und die Mauer waren sie zur Rampe emporgeklettert und hingen auf dem Gesims an den Epheuranken und den Jalousieen, bis eine derselben längst morsch und von Zeit und Wetter zernagt, nachgab und Monsieur Armand Lachapelle mit großem Gepolter zum Schrecken seines Kameraden hinunterpurzelte.

Noch ehe der Knabe der alten Marketenderin weiter berichten konnte, wurde die Thür in der Grundmauer aufgerissen, und sie hatte kaum Zeit, die beiden Jungen in das Dunkel des zweiten Kellereingangs zu stoßen, als mehrere Männer mit Lichtern und entblößten Dolchen oder Pistolen in den Händen herausstürzten, während oben alle Fenster gefüllt waren.

»Wo sind die espions, die traditori? Nieder mit den Polizeispionen! Wo haben sie sich versteckt? Redet, alte Vettel, wo sind die Spitzbuben?«

Einer der wild durcheinander Rufenden hatte die Kanonen-Wirtin beim Arm gefaßt und schüttelte sie mit von Leidenschaft entflammtem Gesicht, aber sie machte sich mit einem Ruck wie von einer Kinderhand von ihm los und stieß ihn zurück. »Bomben und Kartätschen,« schrie sie, purpurrot im Gesicht, »seht mir doch den neapolitanischen Nudelsack an, will eine Frau, wie ich bin, molestieren! Ihm soll ja gleich das Himmel-Kreuz-Tausend-Sackerments-Donnerwetter ins Zündloch fahren, wenn er wagt, mir nahe zu kommen!«

»Keine Redensarten, Weib,« befahl ein großer, finsterer Mann, dessen dunklen Gesichtsausdruck der schwarze volle Bart und das stechende Auge noch drohender machten, indem er den Hahn eines Terzerols spannte, »bei Deinem Leben, wo sind die Spione versteckt?«

»Seht in die Keller, Brunelli,« rief eine Stimme aus dem Fenster, »hier in der Mauer! ich sah Leute hineinschlüpfen!«

Zwei oder drei der Italiener nahten sich der Thür, die zu dem Zugang der Katakomben führte, aber Madelaine Tirebouchon war mit einem Satz zwischen ihnen und dem Eingang. »Stillgestanden! hier passiert man nicht – das ist da mein Eigentum und es gefällt mir nicht, jeden Narren seine Nase hineinstecken zu lassen! Macht Euch nicht lächerlich mit der Schlüsselbüchse da – die Madelaine hat mancher Haubitze in die Mündung geschaut, ohne sich was draus zu machen! Und hier kommt der Succurs, der jeden italienischen Citronenfresser zeigen wird, was Sitte ist in der goldenen Kanone! Vorwärts, Papa Touron, stell' Deine Kompagnie in Schlachtordnung!«

In der That hatte die alte Marketenderin bereits eine nicht zu verachtende Hilfe bekommen. Der Kapitän, der bei dem Lärm im Dunkel des Vorkellers sich so weit als möglich genähert hatte und zum Schutz seines Bruders einschreiten wollte, dessen Stimme er erkannt, zog sich bei dem Anblick zurück, und führte seine beiden Schutzbefohlenen in den unterirdischen Steingang, wo er die Fackel anzündete.

Auf den Pfiff der Kanonenwirtin war wie gesagt eine ganze seltsam genug zusammengesetzte Armee ins Feld gerückt. Zunächst kam aus dem Wirtshaus das ganze Dienstpersonal, bestehend in zwei Mägden, einem handfesten Hausknecht und einem Küchenjungen, gestürzt, infolge des Schusses mit allen möglichen Dingen bewaffnet, wie sie ihnen gerade zur Hand gewesen, Besenstielen und Feuerschürern, und der dickköpfige Hausknecht schwang einen gewaltigen Punschlöffel. Hinterdrein aber wimmelte eine Schar so bunt und kraus, wie sie vielleicht nur der alte Pariser Wunderhof gesehen. Stelzbeine und Einarme, Einäugige und gesunde Bursche, die nur bei Tage nicht sehen konnten, bei Nacht aber desto besser, in den wunderlichsten Kostümen, ein alter Soldatenrock neben dem fadenscheinigen Paletot oder einem zur Jacke verkürzten Frauenmantel, phrygische Mützen und Dreistülper oder Hüte ohne Krämpe, allen voran der alte Touron, einen gewaltigen Krückstock in der gesunden Hand, die Fouragiermütze auf dem linken Ohr und die Nase scharf gerötet von den verschiedenen Extragesundheiten, während zwei Drehorgeln zu gleicher Zeit hinterdrein leierten.

»Halt's Maul! Ihr verfluchten Kerle mit der Regimentsmusik,« schrie der Alte, seinen Stock schwingend. »Was geht vor, Mama Tirebouchon, genannt die goldene Kanone? Aufgefahren und abgeprotzt, Bursche, in Reih' und Glied! Titus Feuerfunken, König aller Einäugigen, nimm den linken Flügel, und Du, Lederarm, rück' mit der Reserve vor. Alle Bomben und Haubitzen, wir wollen jeden in Kochstücke frikassieren, der es wagt, der Kanonenwirtin heute Nacht nur ein schiefes Maul zu ziehen!«

»Hi hi! ho ho! eine Schlacht der Stelzbeine,« kreischte eine Stimme aus der Menge. »Schlagt Euch tot! schlagt Euch tot!«

Der Anblick dieser komischen, größtenteils stark angetrunkenen Schar hatte hingereicht, die leidenschaftliche Erregung der Fremden abzukühlen, und sie zogen sich scheltend und drohend nach der Thür zurück, bis auf den großen Bärtigen, der nebst einem andern noch immer mit der allen Marketenderin stritt und die Durchsuchung des Kellerraums erzwingen wollte, als plötzlich ein gellender Schrei krampfhaften Entsetzens den Streit und das militärische Kommando des alten Sergeantmajors unterbrach und die beiden Knaben aus dem zweiten Kellerraum hervorstürzten und Schutz suchend mitten unter die Versammlung sprangen.

»Ha, da sind die Schurken, die Spione,« schrie der Bärtige und eilte auf die beiden los, als er zu seinem Ärger erkannte, daß es bloß ein Paar Jungen waren.

Aber das Aussehen der Knaben selbst verkündete das höchste Entsetzen.

Beide standen – der Fabrikantensohn ohne der Schmerzen seines verstauchten Fußes zu achten – totenbleich, mit zitternden Knieen zwischen den beiden Gruppen, die von zahlreichen Lichtern und brennenden Spänen jetzt hell genug beleuchtet waren.

Papa Touron, der nicht sogleich den Zustand seines wohlgeratenen Söhnchens bemerkt hatte, nahm ihn beim Ohr und schüttelte ihn weidlich. »Hollah, Meister Jacques, woher kommst Du nichtsnutziger Bursche, nachdem Du Deines Bruders, des Kapitäns, halbe Stube in Brand gesteckt hast? Wo streifst Du die Nacht umher? Und Sie, Musje Armand – aber Sacre Bombe de Dieu! – was fehlt den Teufelsjungen, was ist mit Euch geschehen, Bursche, daß Ihr ausseht, wie unsers seligen Obersten Leichentuch?«

Der sonst so kecke und übermütige Gamin bebte an allen Gliedern. »Ihr habt's getroffen, Vater Touron – ein Leichentuch! – Gott der Herr! da drinnen liegt's und ich kroch darüber weg, grad' ins Gesicht – mein Lebtag werd' ich's nicht vergessen!« Er betrachtete schaudernd seine Hände, die feucht und kalt waren.

»Was ist's, Burschen? was ist geschehen? Habt keine Angst, Pierre Fromentin ist zur Stelle, und niemand soll Euch ein Haar krümmen! Reden Sie, Herr Armand, was giebt's da drinnen?«

Der Knabe wandte sich schaudernd ab. »Um des Himmels willen, Herr Fromentin, sehen Sie selbst, was in jenem Keller liegt.«

»Nun – da soll doch gleich! – reich' einer eine Leuchte her!«

Der mutige Alte schritt auf den Keller zu, aber er trat betroffen zurück bei der Erscheinung, die plötzlich von dort her in den Lichtschein trat.

»Hi hi, ho ho! was wird sein? 's ist der Tod, alter Narr, der Tod, der Dich selber lange am Kragen haben sollte. Aber die Jungen sterben, die Jungen! Die da fürchten sich vor Toten, und müssen doch auch daran, Würmerfraß in zehn Jahren! Werden's nicht lange treiben! Kugelfutter und Würmerfraß!«

Samson, der Katakombenwächter, der noch soeben sich unter den Gästen der »Goldenen Kanone« befunden und bei dem Erscheinen der Knaben davon geschlichen, kam aus dem dunkeln Kellereingang, eine Gestalt auf den Schultern tragend, schaurig anzusehen, ein gänzlich nackendes Weib, die Beine vorn niederhängend, über den Rücken Kopf und Arme und das lange, triefend nasse, blonde Haar bis auf den Boden schleifend.

Hinter ihm drein kam sein mürrischer, hinkender Gefährte, eine Tragbahre hinter sich her schleifend und stellte sie mitten in den Kreis.

Mit einem gellenden Spottgelächter über die schaudernden Männer und die bleichen Gesichter warf der Fossoyeur seine Last auf die Bahre, daß das Holz krachte.

Es war ein üppiger, wunderschön gebauter Körper, in der vollen Kraft und Fülle der Jugend, über der jetzt der graue, kalte Teint des Todes lag. Die kräftig gerundeten Brüste, der volle Arm, die Wellenlinien der Hüften und Schenkel waren von großer Schönheit und die eigentümliche, jetzt so matte Färbung der Haut mit der Unbeweglichkeit der Glieder gab der Gestalt etwas Marmorähnliches. Der Kopf lag, in der Stellung wie die Unglückliche von der rohen Hand des Katakombenwächters hingeworfen worden, etwas zurückgebeugt über den Rand der Bahre, was die wunderschönen Formen des Halses emporschwellen ließ. Dies selbst im Tode schöne Gesicht würde wie das einer Schlafenden erschienen sein, wenn nicht die niedere, schön geformte Stirn finster zwischen den Brauen zusammengezogen gewesen wäre, und die weit geöffneten blauen Augen mit der unheimlichen Starrheit des Totenblicks einen fast drohenden Ausdruck gehabt hätten.

»Heilige Mutter Gottes, wie kommt das tote Weibsbild hierher? Mensch, Ihr habt sie ermordet!« schrie die Wirtin, während der ganze Kreis sich näher drängte und die schöne Leiche umgab.

»Ho ho! Unsinn! Unsinn! Giebt's keine Hospitäler mehr in Paris? Von der Chaumière ins Hospital oder ins Wasser, kenne das, kenne das! Lustig gelebt und lustig gestorben – die Doktoren wollen auch was haben. Futter fürs Messer! Futter fürs Messer!«

Die Frau hatte ihre Schürze abgebunden und sie über den Leib der Toten geworfen. Die Männer umher hatten wahrscheinlich Tausende von Leichen auf dem Schlachtfelde oder auf dem Strohlager des Elends in allen Schrecknissen des Todes gesehen, und doch hatten sie vielleicht nie ein solches Grauen gefühlt, wie an der Bahre dieses schönen, in der üppigsten Fülle des Lebens untergegangenen Geschöpfes.

Die Schönheit der Toten hatte überdies das Interesse erregt, selbst die noch eben im Streit und der Verfolgung der Knaben begriffenen Verschwörer waren herbeigetreten; das rote Licht der Kienfackeln warf das zitternde Spiel auf den Leichnam, sodaß der Körper sich zu bewegen, das Gesicht zu leben und sich zu verändern schien.

» Cospetto! ich will erdolcht sein, wenn das nicht die Herzogin von Ricasoli in Neapel, die Nichte des Papstes ist!« rief der bärtige Italiener, der vorhin den Eingang in den Keller hatte erzwingen wollen.

»Gehen Sie doch, Pisani! Wie käme die vornehme Dame in ein Pariser Hospital,« sagte ein anderer, hagerer kleiner Mann, mit unruhigen schwarzen Augen, »aber so wahr ich ein Römer bin, die Tote hat eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Schwester Fausta aus dem Hospital der barmherzigen Schwestern auf dem Esquilin.«

Ein alter Kerl mit einem echten Stelzbein hatte sich aus dem Kreise gedrängt und ordnete mit roher aber freundlicher Hand die blaue Linnenschürze der Kanonenwirtin über dem toten Körper. »Armes Kind! sie war leichtsinnig, aber sie muß ein gutes Herz gehabt haben! Das Frankenstück, das sie mir gab, während die anderen Dirnen lachten, war vielleicht ihr letztes!« Eine Thräne fiel aus den grauen Wimpern des alten Soldaten auf den weißen Busen. Dann richtete er sich kopfschüttelnd empor. »Ich glaube, ich weiß, wer die Unglückliche ist. Sie kam aus dem Hause in der Straße des Moulins! Ich sah sie gestern noch dort.«

Die Kanonenwirtin war dem Katakombenwächter drohend näher getreten. »Hört, Fossoyeur, das erklärt mir alles nicht, wie das tote Frauenzimmer hierher kommt und was Ihr damit zu schaffen habt?«

»Ho ho! nicht so eifrig! nicht so eifrig! Ein jeder hat sein Geschäft; weswegen bin ich der Fossoyeur? Ehrlich Gut! 's giebt noch Wasser genug in Paris für die Weiber, die hineinspringen wollen, und die Doktoren drüben in der Straße Fer à Moulin wollen frische Kadaver, frisch und jung, nicht so runzelig und alt, wie ich und Ihr, sonst solltet Ihr im Testament Euch für die Wissenschaft opfern!«

»Verfluchter Spitzbube!« Die kräftige Alte schauderte unwillkürlich.

»Waren auf dem Weg zum anatomischen Theater und haben uns nur ein bißchen die Bahre da geborgt, 's ist kalt, Kanonenwirtin, der Wind und der Regen schneiden durch die Glieder, wenn ich nicht hübsch da unten bin bei meinen Knochen. Haben eine kleine Herzstärkung genommen; was schadt's dem Frauenbild, ob sie so lang allein blieb! Hi hi! ho ho, künftig wird sie nicht einmal die Würmer zur Gesellschaft haben! Nichts von dem Kadaver, in reine Kochstücke zerschnitten! Ho ho, ich kenne die Doktoren! ein Fressen für sie!«

Die resolute Alte hob das mächtige Schlüsselbund, das sie an der Seite trug. »Macht, daß Ihr fortkommt, boshafter Kerl,« sagte sie zornig, »und hört: laßt Euch nie wieder in meinem Hause blicken oder Euch einfallen, Eure Toten hierher zu bringen, wenn ich Euch nicht selber den Schädel einschlagen soll, Ihr Unmensch, Ihr! Und mit der Trage geht zum Teufel, ich mag nichts mehr davon wissen!«

Samson rieb sich vergnügt die Hände und gab seinem Gefährten einen Wink, anzufassen. »Ein hübscher Profit! Danke bestens, Kanonenwirtin!« Dann grinste er mit einer scheußlichen Grimasse die Umstehenden an, während er mit dem andern Kerl die Trage emporhob. »Seht sie Euch noch einmal an, Ihr Herren, 's ist umsonst heute, gestern war's noch für Geld! Ho ho! wie das thun wird, wenn der Doktor so ins Fleisch schneidet und sägt und sticht! Kostbare Arbeit! kostbare Arbeit! ein schönes Gerippe wird's! ho ho! Samson kriegt die Knochen für seine Sammlung da drunten. Die Doktoren lieben nur das Fleisch! Mädchenfleisch – Jungfernfleisch! Ho ho! Jungfern! Jungfern, wie die da!«

Und damit sprang er und schwenkte die Bahre, daß der Kopf der Toten mit den starrenden Augen gespenstig von einer Seite zur andern flog und die Arme hin und her schlenkerten. Dann rannte er durch die scheu Raum gebende Versammlung mit gellendem Hohnlachen und Kreischen davon, so daß sein hinkender Kamerad ihm kaum zu folgen vermochte!


»Chambertin! Einen Kuß, reizende Adrienne, und der feurige Sohn der Côte d'Or rollt noch glühender durch Kehle und Adern!«

Die zierlichen schlanken Finger der Pariserin strichen den langen Schnurrbart des Malers auseinander, dann preßte sich der kokett lachende Mund auf den seinen. »Es ist notwendig, daß Sie etwas Feuer bekommen, Herr Chevaulet, Sie lieben nichts, als sich zu mokieren!«

»Dann mache ich mit Montboisier gemeinschaftliche Sache. Ihr solltet ihn wirklich nicht so vernachlässigen, Mädchen!«

»Sorgen Sie für sich, Chevaulet, Sie wissen daß ich heute nicht mitspiele, sondern bloß Prosceniums-Loge habe. Reichen Sie mir die Coquille aux Champignons herüber!«

Ein Mädchen, klein, brünette, mit lustigem Stumpfnäschen, beweglich wie ein kleiner Teufel oder eine Eidechse, sprang von dem Schoß eines langen, hagern Mannes mit blondem Haar und blondem Gesicht, und breitete beide Arme über die Tafel. »Nichts da! bei meiner Jungfernschaft, er soll von den Champignons nichts haben, der schlechte Mensch, der mir noch niemals ein Geschenk gebracht hat!«

» Tirili, mein Engel,« sagte der Graf, »Sie verschieben Ihre Blouse und lassen uns Dinge sehen, die nur Lord Wexmouth sehen darf!«

»Bah! Sie sind einfältig, wenn Sie nicht mitnehmen, was Sie bekommen können.« Die Kleine sprang auf den Diwan, der die ganze Breite der Nische ausfüllte, und setzte ihr Bein mitten auf den Tisch zwischen die Schüsseln mit perdreau en Salmis aux truffes und die Kotelettes à la Soubise. »Wenn Sie mir ein Kleid von Challier versprechen, sollen Sie die Ehre haben, mir das Strumpfband aufzubinden!«

»Tirili will Hochzeit machen! Halloh! Auf die Mairie! wo ist der Priester mit Tonsur?«

»Höre, Düplessis, mein Junge,« sagte die wilde Hummel, indem sie Champagner in ein großes Kelchglas füllte, »der einfältigste Pfarrer aus der Bretagne hat noch eine bessere Frisur als Deine abscheulichen Borsten! glaube mir, Du machst keine Eroberungen mehr!«

»Dich, Hexe, werde ich aber sicher fangen!« Er griff nach dem zierlichen Knöchel, aber die Kleine hob ihr Kleid oder vielmehr die lange Blouse, die gürtellos ihre einzige Kleidung bildete, wie bei den anderen vier Mädchen, und sprang mit einem Satz über den Tisch hinweg, auf den dicken Persischen Teppich des Fußbodens, auf den sie sich ausschüttend vor Lachen wie ein ungezogenes Kind niederfallen ließ.

» Demonia! bist Du toll? Du hättest in einem Haar die Caille à, la financière vom Tisch gerissen!«

»Schöner Brasilianer, was wäre das weiter? Mama Guerin will leben, und Du hast die Schätze der Diamantengruben, die lange nicht so leuchten, wie der hübschen Incarnation dunkle Augen!«

Sie kniete nieder auf dem Kissen vor dem breiten Fauteuil, in dem der Wirt des Festes mit einem reizenden Mädchen von spanischem Teint mehr lag als saß.

Es war eine Scene der raffiniertesten Orgie – ein mittelgroßer Salon mit dunkelblauen Sammettapeten und langen Vorhängen und Portièren von matt-pailler chinesischer Seide. In gleicher Farbe war die halbrunde Nische der Hinterwand zwischen den beiden Fenstern zeltartig ausgeschlagen, deren ganzer Boden ein Diwan von gleicher Farbe wie die Tapeten füllte, während an jeder Seite der Nischenwand zwischen den Draperieen ein großer Spiegel in schiefer Lage angebracht war und selbst in der Zeltkuppel der Decke ein solcher leuchtete. Vor dem Diwan stand eine ebenfalls halbgerundete Tafel mit Silbergeschirr und dem feinsten Kristall und Porzellan bedeckt. Breite Fauteuils umgaben den Tisch auf der Vorderseite. Rechts und links zeigten die gehobenen Portièren üppig dekorierte Boudoirs mit breiten, ganz von Spiegeln umgebenen Himmelbetten von Seide, und von weißen Deckenampeln matt erleuchtet, die zugleich einen zarten Wohlgeruch ausströmten, während der Salon selbst von dreißig Wachskerzen auf silbernen Tafel- und Wandleuchtern glänzend erhellt war.

Ein kleines Büffet nahm den Platz links von der Eingangsthür ein, so eingerichtet, daß es auf den Zug eines vergoldeten Wandgriffs durch das sich öffnende Parkett in das Souterrain niederstieg und mit neuen Schüsseln beladen wieder empor kam, während auf der anderen Seite ein Schenktisch die reiche Flaschengarnitur der feinsten Weinsorten von Bordeaux und Burgund, die Perle Constantia vom Cap, die dreifach gezonte Traube des sonnigen Madeira mit dem duftigen Trank von den Ufern des Rheins und der dunklen Glut der Lavagärten Neapels zeigte, zwischen denen aus den Silberkübeln die noch verschlossenen Geister des prickelnden Naß von Ay, Rheims und Chalons hervorlauschten.

Das Souper war offenbar schon mehr als zur Hälfte beendet, die Lüsternheit der Mädchen, die Langeweile oder der Appetit der vornehmen und reichen Schwelger hatte ihnen nicht gestattet, auf ihren Gefährten zu warten, der nach einem Gut sich aus einfältiger Eitelkeit in Nacht und Nebel abmühte, das er hier so leicht und so nah haben konnte. Die Gesellschaft bestand aus sechs Herren und fünf Mädchen, die letzteren sämtlich in der Frische blühender Jugend, keine über zwanzig Jahr, das natürliche Rot der Wangen, den lüsternen Glanz der Augen noch nicht durch jene Hilfsmittel ersetzt und erhöht, zu denen so bald die leichtfertige Hand ihre Zuflucht nehmen muß. Auf dem Diwan der Rotunde hatte Lord Wexmouth, ein Mann im Anfang der Dreißiger, ein damals in Paris berühmter Sportsman und Spieler, mit der kleinen Picarde, die ihrer Ausgelassenheit halber den Beinamen Tirili führte, und einer etwas phlegmatischen Schönen gesessen, die einer orientalischen Odaliske glich. In der That war sie eine solche; sie stammte aus Georgien und war für den Harem des Dey von Tunis bestimmt gewesen, als sie ein griechischer Seeräuber gekapert hatte. Nach verschiedenen Schicksalen, die gerade ihre Jungfräulichkeit nicht sehr geschont, war sie nach Paris und in das Haus der Madame Guerin gekommen, wo sich Fatme – so hieß die Schöne – mit ihrer echt orientalischen Trägheit sehr wohl zu befinden schien.

Neben der Georgierin, am Ende der Tafel, saß der heruntergekommene Sprößling der Legitimität mit all seinem versteckten Stolz und seiner spekulativen Berechnung.

Wir haben des Wirts der Gesellschaft, des Caballero de Moreira und der schönen Spanierin, die er auf seinen Anteil in Beschlag genommen, bereits erwähnt.

In dem Kabinett zur Linken sah man einen Mann von kleinem zierlichen Wuchs und ziemlich zweifelhaftem Alter mit der hohen schlanken Gestalt eines Mädchens am Boden kauern. Die Ecke des Teppichs war zurückgeschlagen und beide sahen abwechselnd unter stummen lachenden Winken durch ein in einem Felde der Bodentäfelung angebrachtes Ochsenauge, anscheinend einen Vorgang in dem darunter liegenden Zimmer beobachtend.

Herr Düplessis, der Feuilletonist eines der größten Theaterblätter, ein Spieler ersten Ranges und gefürchteter Pistolenschütze, derselbe, dem wir mit dem Toupé à la bagno, das seinen Kopf vollends zur Kugel machte, in dem Dandyzirkel der Salons Baroche begegnet sind, saß einstweilen zu seinem großen Mißvergnügen allein.

Wir haben bereits erwähnt, daß die Toilette der Frauen die einfachste war, die man erfinden kann, ohne geradezu zu dem Kostüm unsrer Ältermutter zurückzukehren. Je nach der Farbe ihres Teints und ihrer Haare war die Farbe dieser entzückend durchsichtigen und zugleich verbergenden Gewänder gewählt.

Das Souper und die Gesellschaft waren jetzt in dem Stadium angekommen, wo man bereits nicht mehr ißt um des Appetits willen, sondern nur als Entrement der Unterhaltung.

»Sehen Sie nur Graf Palden, wie er sich mit der Gitana amüsiert, wie Kinder! Es wundert mich nur, daß sie nicht applaudieren wie im Opernhaus!«

»Der Teufel hole die Russen,« sagte der Maler, »sie glauben mit ihrem Geld das Privilegium auf die schönsten Weiber aller Länder zu haben.«

»Madame la Comtesse ist in der That eine Schönheit,« meinte der Attaché.

»Bah! warum kommt er dann hierher?«

»Ich möchte wissen, ob Du denn Deinen Liebhabern so treu bist, Tirili?«

Die kleine Pariserin schlug ein Schnippchen. »Sind Sie närrisch, schöner Diplomat? Tirili und Treue in einem Atem zusammenzubringen? Sehen Sie, so viel mache ich mir aus dem ganzen Männervolk! ich bin nicht so närrisch, wie die tolle Faustine

Der Name schien wie ein elektrischer Schlag auf die ganze Gesellschaft zu wirken; selbst der Russe erhob sich und kam mit der Spanierin zurück. Man konnte jetzt bemerken, daß er einer jener ältlichen fremden Roués war, die ohne Paris nicht leben können, und daher all ihren Einfluß in dem Petersburger Kabinett seit Jahren angewandt haben, jede feindselige Stimmung gegen Frankreich zu bekämpfen.

»Unsere Venus von Rom,« sagte der Maler. »Mich interessiert das Schicksal des Mädchens. Wir wollen die Guerin fragen, ob noch immer keine Nachricht von ihr gekommen. In der That, ich gestehe, ich hatte darauf gerechnet, sie heute in dieser Gesellschaft zu finden!«

»Sind Sie der meinen schon überdrüssig, mein Schwarzer?« fragte pikiert die schöne Adrienne.

»Unsinn, Mädchen, aber wir Künstler sind einmal für gewisse Eindrücke empfänglich. Ich kannte sie von Rom her; sie war das prächtigste Modell für uns Maler wie für die Bildhauer, aber seltsamer Weise erfuhr nie jemand ihre Wohnung, während sie doch bei keiner Orgie der Landsmannschaften fehlte! Ich möchte wissen, wie es der Fürst Golyczin, Ihr Landsmann, angefangen hat, sie aus Rom zu entführen?«

»Bah, er war ein schöner Mann und streute das Geld mit vollen Händen. Er besitzt drei Bergwerke im Ural und zwanzigtausend Seelen.«

Der Künstler schüttelte den Kopf. »Das Geld spielt bei Faustinen keine Rolle; ich weiß, daß ihr von Lord Uxbridge in Rom die fabelhaftesten Anträge gemacht wurden, und der Bankier Eskola ruinierte sich um ihretwillen, während sie jede Nacht bei einem armen Schlucker von Farbenreiber in Trastevere zubrachte.«

Der Brasilianer hob die schöne Incarnation von seinem Knie. »Haben Sie den Fürsten bei seiner Abreise gesehen?«

»Nein! ich hörte nur davon, daß er Paris vorgestern plötzlich verlassen. Vielleicht der Ärger, daß ihm Venus davongelaufen.«

»Es ist merkwürdig; ich traf ihn im russischen Gesandtschaftshotel, Graf Palden sagt mit Recht, er war ein schöner Mann. Der Fürst sah aus, gebrochen wie ein Greis und finster, wie eine Gewitterwolke.«

»Ich habe das Mädchen nur ein einziges Mal in diesem Hause gesehen,« meinte der Feuilletonist, »aber für mich hatte sie etwas Unheimliches! Wie hat die Guerin sie aufgetrieben?«

»Sie kam allein!« erzählte die Pariserin, »eines Abends, es ist heute acht Tage her, kam sie in einem Fiacre und that, als verstände sich ihre Aufnahme von selbst. Ich glaube in der That, Mama Guerin fürchtete sich vor ihr!«

»Schade, daß ich sie nicht mehr gesehen,« meinte Montboisier. »Beschreiben Sie mir doch die Schöne, ich war noch nicht hier, als vorhin von ihr gesprochen wurde.«

Kennen Sie die Venus vom Kapitol oder die Kallipygos im Museo Bourbonico zu Neapel?«

»Wer sollte das Muster jener unaussprechbaren Teile nicht bewundert haben, wodurch die beiden Sicilianerinnen ihre Männer eroberten! Ich weiß nur von meinen Reisen, daß diese Formen in Deutschland noch kräftiger vorkommen, und der Herr Graf wird mir als erfahrener Mann beistimmen.«

Der alte Stutzer lächelte mit der Miene eines geschmeichelten Faun. »In einem der deutschen Kleinstaaten hat man sogar öffentlich Gelegenheit, die Tracht dort ist magnifigue! Warten Sie – richtig – Altenburg oder Altenberg heißt der Ort.«

»Denken Sie sich diesen Marmor Leben geworden,« fuhr der Maler fort, »ohne Albaccinis schlechte Restauration. Langes blondes Haar, einen schwellenden Mund, der erschaffen ist zum langen italienischen Kuß und ein funkelndes Auge – da haben Sie Faustine, die Venus von Rom!«

»Und wie ist es gekommen, daß sie so bald wieder das Haus verließ? Hat es ihr hier nicht gefallen?«

»Gefallen?« rief der Feuilletonist, »ich sage Ihnen, das Weib war ein Teufel, die reine Bacchantin! Sie raste wie eine Mänade in Liebe und Wein, trotz des kindlichen, stillen Gesichts.«

Die Mädchen bestätigten die Erzählung um die Wette; während des Tages sei die Römerin fast immer auf ihrem Zimmer geblieben, nur selten zum Vorschein gekommen, des Abends aber wäre sie unter den Lustigen die Ausgelassenste, unter den Wilden die Wildeste gewesen. Dabei habe sie die Männer im wundersamen Respekt erhalten, keiner habe ihr zu nahe kommen dürfen, den sie nicht selbst gewählt, aber keiner sei auch versucht gewesen, sie wieder zu besuchen.

Seit dem Morgen, als zufällig die Abreise ihres früheren Liebhabers erwähnt worden, sei sie ganz rastlos und toll geworden, Trepp' auf und Trepp' ab durch alle Zimmer gefahren wie ein Kobold und Irrwisch, sie habe vor Lust in die Hände geklatscht und gelacht und getanzt, daß es ihnen allen ganz unheimlich geworden. Dazu habe sie, wie eine ihrer Gefährtinnen, eine Venetianerin, behauptete, die allein nebst der Guerin Italienisch verstände, gerufen, jetzt sei ihre Seele und ihr Leib endlich frei, und sie müsse nach Rom zurück! Vergeblich habe die Dame des Hauses sie zu beruhigen gesucht; ihre einzige Antwort sei »Rom!« gewesen, und als die Guerin ihr angekündigt, daß sie am Abend das Souper teilen solle, das Sennor Moreira bestellt, habe sie wie toll gelacht und gerufen, wenn die Herren ihre Gesellschaft genießen wollten, möchten sie sie in Rom suchen!

Die Guerin habe sie endlich beruhigt und geglaubt, das Mädchen habe Verstand angenommen, als sie sich am Abend in volle Toilette geworfen und schweigsam geworden, deshalb habe man auch weniger auf sie geachtet. Aber plötzlich, nach Anbruch der Nacht, habe sie die Gelegenheit wahrgenommen, der Portiere ihren Schlüssel entrissen, die Thür geöffnet, bevor man sie habe zurückhalten können, und sei auf und davon gewesen.

»Die Närrin!« sagte der Legitimist, »was wollte sie in den Straßen von Paris ohne Kenntnis der Sprache, ohne Schutz und Führer. Die Polizei wird sie aufgreifen und nach St. Lazare bringen.«

Der Maler, der sich am aufrichtigsten für die Verschwundene interessierte, hatte mit Tirili gesprochen, und diese einen Knopf in der Seitenwand gezogen.

Gleich darauf wurde an die Thür geklopft und diese geöffnet, die Dame des Hauses trat ein.

Wer geglaubt hätte, eines jener gemeinen widerwärtigen Geschöpfe zu sehen, die gewöhnlich in anderen Ländern die Höhlen des Lasters und Leichtsinns halten, würde sich hier schwer getäuscht haben. Wie in Paris die Sünde überhaupt das Lächeln auf den Lippen, den Blumenteppich über dem Abgrund trägt, so auch hier. Madame Guerin war eine junge Frau von etwa 24 bis 26 Jahren, von feinem Wuchs und liebenswürdiger Miene, ihre Toilette einfach schwarze Seide, ihre ganze Haltung elegant und von feinen zurückhaltenden Manieren.

»Meine Herren,« sagte die Hausfrau mit einer Verbeugung, »ich hoffe, daß Sie mit meiner Küche zufrieden sind. Sollten Sie das Geringste auszustellen haben, so würde es mich sehr unglücklich machen.«

»Bewahre, Madame,« entgegnete verbindlich der Sennor, »diese Herren sind so gütig gewesen, mir ihre volle Zufriedenheit auszusprechen. Wir vermissen nichts, als eine Ihrer jungen Damen, die, wie ich höre, das Haus verlassen hat.«

»Mademoiselle Faustine? ich weiß nicht, was der Närrin in den Kopf gekommen, aber ich bin sicher, daß sie zurückkehren wird, da sie ihr weniges Geld bei mir zurückgelassen hat. Ich wagte indes nicht, ihre Stelle zu ersetzen, da, wie mir gesagt wurde, Sie selbst noch eine Dame erwarten!«

»Den Teufel,« rief Chevaulet. »Sie haben Recht, wir haben Miron ganz und gar vergessen, und er wird seine Kotelettes nun kalt bekommen!« Er zog die Uhr. »Wie lautete die Wette, Herr Graf?«

»Bis um ein Uhr die Fleur de Mort in unsere Gesellschaft gebracht zu haben.«

Der Künstler zog kaltblütig sein Portefeuille und nahm zwei Tausend-Frankenbillets heraus, die er neben seinen Teller legte. »Hier ist der Preis und hier die Uhr – in fünf Minuten Eins! Es thut mir leid, daß Herr von Miron nicht imstande ist, sein Wort zu halten, denn die kleine Schöne aus den Katakomben würde uns wahrscheinlich unsere römische Venus ersetzt haben.«

»Wir haben noch fünf Minuten,« sagte Montboisier.

In diesem Augenblick, obschon der Salon nach dem Hof hinaus lag, hörte man das rasche Anrollen eines Wagens und gleich darauf den lauten Ton der Hausglocke.

Madame Guerin eilte nach der Thür. »Entschuldigen Sie mich einige Augenblicke, meine Herren, Sie hören, es kommen Gäste.«

»Vielleicht hat sich die kleine Römerin besonnen. Wenn sie es ist, so führen Sie den Flüchtling nur gleich hierher, sie kann hier ihre Toilette machen.« Der alte Roué lachte über den eigenen Witz.

» Yes,« sagte der Lord, der zwischen den beiden Mädchen zu gähnen anfing – »sie muß exentric sein! bringen Sie sie her!«

»Zwei Minuten noch!« Chevaulet hob die Uhr in die Höhe.

Die Thür wurde rasch aufgerissen. Den Hut auf dem Haupt, eine zweite Person in seinen eigenen Mantel gehüllt, deren Kopf mit einem schwarzen Frauenschleier verhüllt war, an der Hand nach sich ziehend, trat Miron rasch herein. Madame Guerin folgte dem Paar und schloß die Thür.

Die ganze Gesellschaft sprang aus ihren bequemen Stellungen auf.

»Meine Herren und Damen,« sagte der Stutzer mit triumphierender Miene, »ich habe die Ehre, Ihnen Fräulein Samson, genannt Fleur de Mort, vorzustellen!«

Zugleich nahm die gewandte Dame des Hauses der Angekommenen den Mantel ab und entfernte ihren Schleier. Man sah jetzt das Kind des unterirdischen Paris in ihrem einfachen phantastischen Anzug, den sie bereits am Morgen getragen, und die eigentümliche Schönheit des Mädchens mit der Wachsblässe der Haut und den großen dunklen Augen verfehlte ihren Eindruck auf keinen.

Sie selbst schien nur wenig auf die ihr so neue und überraschende Umgebung zu achten. Ihr Auge durchlief ruhig und teilnahmlos den Kreis, und dann hob sie die Hand, in der sie ein Papier hielt, leicht in die Höhe und sagte zu ihrem Begleiter:

»Wo ist Hektor? ich sehe Hektor nicht unter diesen, und er hat mir doch geschrieben!«

»Er hat sich soeben auf kurze Zeit entfernen müssen,« sagte die Guerin, dem reichen Bankier als einem ihrer besten Kunden zu Hilfe kommend. »Der Herr läßt Madame bitten, ihn hier zu erwarten und einstweilen bei seinen Freunden zu bleiben.«

Der junge Geldaristokrat machte eine freundschaftliche Gebärde des Dankes. »Meine Herren,« sagte er, indem er das willenlos oder gleichgültig ihm folgende Mädchen zu dem Tisch führte, »lassen Sie sich in nichts stören, wir begnügen mit allem, was noch vorhanden ist.« – Er winkte Montboisier mit einem bezeichnenden Blick, die Aufmerksamkeit der anderen abzulenken, indem er sich die Stirn trocknete, als hätte der schändliche Streich, den er ausgeführt, ihn Mühe und Anstrengung gekostet. »Vanillepunsch,« flüsterte er der Guerin zu, »und« – der Schluß war so leise gesprochen, daß man ihn nicht verstehen konnte – doch klang es wie: »Diavolinas«.

Die Guerin verschwand.

»Ich bin in Ihrer Schuld, Herr von Miron,« sagte Chevaulet, indem er ihm die beiden Bankbillets überreichte, »aber ich hoffe es mit Zinsen zurückzugewinnen mit dem Stoff für mein nächstes Bild.« Er versuchte das seltsame Mädchen in ein Gespräch zu verwickeln, da sie sich zu speisen weigerte, aber es kostete ihn unendliche Mühe, auch nur die kalten aphoristischen Antworten zu erhalten, die sie gab.

Die Frauenzimmer hatten die Fremde anfangs mit großer Neugier betrachtet und waren etwas zurückhaltend geworden, aber eine lustige Skandalgeschichte brachte bald die ausgelassene frühere Stimmung zurück.

Tirili sprang dem Lord auf den Schoß. »Zum Teufel mit den Prüden, mein Engländer! Lassen Sie uns Alliance schließen und Freund Miron ein gutes Beispiel geben. Verlangen Sie ein Kloster, so mögen Sie nach der Straße Varennes zurückkehren zu den Schwestern vom heiligen Herzen! Eingeschenkt, dicker Düplessis, es lebe der Champagner!«

»Der König der Weine,« schrie der Feuilletonist, »zum Teufel mit der Republik, ich liebe die gekrönten Häupter!«

»Bah! nicht in der Ehe!«

»Nein, aber an den Flaschen!«

»Wißt Ihr auch, daß wir jetzt zu dreizehn sind?«

»Unsinn, was thut's? Einer hat das Zusehen! Das ist der einzige Schaden!«

Die Picarde begann mit heller Stimme einen jener lustigen und lüsternen Chansons, woran die Boulevards-Litteratur so reich ist. Die braune Ines zog die träge Incarnation aus den Armen des Attachés und schnallte ihr Castagnetten um die Finger.

Der würdige Sohn des Börsenfürsten, der unterdes sich beeilt hatte, einer Schüssel Caille à, la financière ihr Recht anzuthun, schielte nicht ohne Besorgnis auf seine Nachbarin, um zu sehen, welchen Eindruck diese Enthüllung des wahren Charakters der Gesellschaft auf sie machen würde.

Es schien in der That wie eine unbestimmte Ahnung über das arme Mädchen zu kommen, ihre großen Augen verloren den träumerischen Ausdruck und fuhren unruhig umher, sie bewegte sich auf ihrem Fauteuil, eine leise Röte, wie Rosenhauch, begann das matte Weiß ihrer Wangen und Stirn zu färben.

Der Brasilianer und der russische Graf klatschten den Mädchen Beifall, Düplessis schenkte Champagner ein, der Nachkomme des berühmten Geschlechts der Montboisier unterhielt in sehr ungenierter Weise die lange Adrienne.

Man hatte es kaum bemerkt, daß das Büffet in der Versenkung verschwunden war. Als die Felder der Täfelung jetzt wieder von einander rauschten, stieg an der Stelle des Möbels die schöne Wirtin des Hotels aus der Tiefe empor, auf silberner Platte eine große dampfende und duftende Terrine von gleichem Metall tragend.

Ein lauter Applaus der Gesellschaft begrüßte sie. Die Spanierinnen unterbrachen den begonnenen Tanz. »Punsch! Punsch!«

Die Guerin war hinter den jungen Bankier getreten und reichte ihm eine vergoldete Bonbonniere mit Bonbons und Makronen gefüllt.

»Ich will gehen, zu meinen Toten! Es ist heimlicher dort, und Hektor kommt nicht,« sagte ängstlich das Mädchen.

»Kapitän Fromentin muß binnen zehn Minuten hier sein, Madame hat bereits nach ihm geschickt!« Die Frau stimmte beteuernd bei. »Ich bitte Sie, Mademoiselle, wenigstens das Glas mit mir auf das Wohl des Kapitäns, Ihres und meines Freundes, zu trinken!«

Düplessis hatte unterdes eingeschenkt, die laute lustige Gesellschaft stieß jubelnd an.

Die Tochter Samsons lehnte es ab, zu trinken, aber Miron und die Guerin drängten und sprachen von dem Kapitän; sie nippte von dem dampfenden köstlichen Getränk, dann nahm sie aus der dargebotenen Bonbonniere eine Makrone und tauchte sie in das Glas.

»Wenn der Champagner der König ist, ist der Punsch der Kaiser! Lieben und lustig sein! Den Cancan, dicker Düplessis, den Cancan!«

Tirili, die bereits drei Gläser des aufregenden Getränks hinuntergestürzt, zog den Spekulanten mit Gewalt von dem Stuhl, die Pariserin sprang in das Kabinett zur Rechten und ließ im Augenblick darauf die kokett frivole Melodie des Tanzes von den Tasten eines Pianino erklingen.

Die Fleur de Mort hatte ein zweites Biscuit genommen, auf einen Blick der Guerin schloß der Stutzer die Bonbonniere und gab sie dem Weibe zurück; jetzt erhob das Mädchen selbst das Glas und that einen längeren Zug daraus. Ihr Nachbar hatte den Arm um ihre Gestalt gelegt, ohne daß sie darauf achtete.

Eine seltsame Veränderung schien mit ihr vorzugehen, der Rosenhauch der Wangen und Stirn wurde dunkler und dunkler, ihre großen Augen schauten erst verwirrt, dann mit wachsendem gefährlichem Feuer auf die wilde Scene, die sich vor ihnen entfaltete.

»Bravo, meine Junge! Gut gemacht, mein Dicker! Voilà, meine Visitenkarte!« Die wilde Dirne schleuderte das Bein in die Höhe, daß es den Tänzer fast an die Ohren schlug, die Zuschauer applaudierten, der Lord lag bewundernd, das Glas in den Augen, auf seinem Lehnstuhl, der russische Graf mit Montboisier und der Odaliske im wirren Knäuel auf dem Teppich des Fußbodens, um besser zu sehen.

»Zu trinken, geben Sie mir zu trinken!« Eine verzehrende Glut schien die Adern des Mädchens zu durch, strömen und mit jeder Sekunde höher und wilder zu schwellen, die edle Form ihres Busens wogte, als wolle sie die enge Hülle des Kleides zersprengen.

Der Millionär füllte ein Glas Champagner bis zum Rand und reichte es ihr, sie stürzte es in langem Zuge hinunter, ihre Augen funkelten in neuen ungekannten Begierden, wie sie den Mann an ihrer Seite ansah, den sie für einen ganz andern zu halten schien, als den Teufel, der er wirklich war!

»O Hektor! was geht mit mir vor! ich möchte sterben in Dir, mich durchschauert's so süß – –«

Er hatte sie in seinen Armen, das Weib löste ihr die Haken des Kleides und streifte die dunkle keusche Hülle herab.

Ein wildes Gelächter der tobenden Gesellschaft, der Feuilletonist war bei einem seiner Bocksprünge gefallen, die Picarde über ihn weg, boshaft stieß der Maler den Russen über die bacchantische Gruppe, die Dirnen kreischten, die Töne des Pianinos wirbelten toll durch einander, der edle Lord und sein brasilianischer Freund lachten, daß sie sich die Seiten hielten.

Der Verführer hatte das Mädchen emporgezogen, sie hing krampfhaft, mit zitternden Gliedern an ihm, wie er sie fortzog; der Blick der Guerin wies ihm den Weg nach rechts in das Klosett, ihre Hand schloß die Portiere!

»Es lebe die Republik der Liebe! Zum Teufel, dicker Düplessis, wollen Sie aufhören, mich zu kneifen!«

Durch das Gelächter, durch das Wirren und Tollen drang ein leiser, leichter, seufzender Schrei!

Montboisier hob sich von dem Diwan halb empor und griff nach dem Glas. »Es lebe das Vergnügen! Mamsell Faustine braucht jetzt nicht mehr zu kommen!«

»Wer lacht?«

Die Gesichter richteten sich aufwärts – ein eigentümlicher, boshafter, schriller Ton war durch den Salon gefahren, ein wahrhaft dämonisches Lachen, leicht, leise, und doch in jedem Ohr wiedertönend!

Die Venus von Rom? – – – – – – – –



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