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Sebastopol.

Offiziere aller Grade und Waffengattungen füllten den Vorplatz und die Räume des großen Gebäudes. Nur sah man diesmal an einer großen Anzahl der Versammelten die Spuren des furchtbaren Kampfes an der Alma in Binden und Pflastern. Die alte Admiralität war zum zweiten Marine-Hospital eingerichtet, und dort lagen die langen Reihen der Wundfieberkranken.

Fürst Menschikoff war nach der Schlacht, ohne die Defensiv-Stellungen an der Katscha und dem Beljbek weiter zu beachten, um die Bai von Sebastopol und die nachmals so berühmt gewordene Traktir-Brücke von Inkerman hinter die Tschernaja nach der Südseite Sebastopols zurückgegangen, eine möglichst starke Garnison in den nördlichen Festungswerken zurücklassend. Wir haben bereits erwähnt, daß die alliierte Armee wegen der starken Verluste in der Almaschlacht jede Verfolgung aufgegeben. Erst am 22. September brach sie auf, rückte nach dem Beljbekfluß und nahm am Abend dieses Tages eine Stellung auf den Höhen dieses Flusses im Angesicht der Nordforts.


Unter dem Säulenaufgang des Admiralitätsgebäudes wimmelte es von Soldaten, Matrosen und Einwohnern, die begierig auf Nachrichten lauschten, denn es hieß, daß die Stadt von den Bewohnern geräumt werden solle. Boote von den im Hafen und der Bai ankernden Kriegsschiffen legten fortwährend am Quai an und brachten höhere Flotten-Offiziere; über die Schiffsbrücke vom Fort Nicolas her drängte und wogte es von Kommenden und Gehenden. Ein weiter Halbkreis von Neugierigen füllte den Platz um die Admiralität, Muschiks, Kaufleute, Schiffsvolk, Tartaren, – Handwerker und Beamte, Soldaten und Zivilisten, alles bunt durcheinander.

An eine der Säulen gelehnt stand Fürst Iwan Oczakoff mit mehreren Offizieren der Landarmee und Marine. Unfern von ihm befand sich die Gruppe des alten Kosaken mit seinen sechs Enkeln, die der junge Fürst gleichsam als Freizügler in seinen persönlichen Sold und Dienst genommen hatte und als Ordonnanzen verwandte. Zwei der jungen Männer trugen die Spuren leichter Verwundungen aus der blutigen Almaschlacht.

»Sehen Sie, Barjatinski,« sagte der junge Kapitän zu einem Offizier in Marine-Uniform mit den Abzeichen eines ersten Leutnants, »da kommt einer, der Ihnen die Belohnung für Sinope vorweg genommen hat. Wahrhaftig, ich hätte es ebenso gut haben können, wenn mich der Fürst nach Petersburg geschickt hätte.«

»Sie würden schwerlich die Kurierfahrt von fünf Tagen ausgehalten haben, lieber Freund,« sagte lachend der Offizier des »Wladimir.« »Überdies hatten Sie sich ja erst bei Oltenitza die Kapitäns-Epauletten geholt und müssen anderen auch etwas gönnen. Der Podpolkavnik Ober-Leutnant. Konzaroff ist ein wackerer Offizier.«

»Ist die Anekdote wahr, die man von seiner Beförderung erzählt?« fragte ein junger Fähnrich vom litthauischen Jäger-Regiment.

»Gewiß, Drunewitsch, und weil Sie sich an der Alma-Brücke so brav geschlagen haben, will ich Ihnen erzählen, was ich davon weiß.«

»Sie werden mich verbinden, Herr Kapitän.«

»Als die Nachricht von der Schlacht von Sinope in Odessa eintraf, befand sich Konzaroff unter den Ordonnanz-Offizieren in der Umgebung des Fürsten. Menschikoff fragte, in welcher Zeit man den Weg bis Petersburg zurücklegen könne, und alle nannten die gewöhnlichen sechs Tage, nur Konzaroff erbot sich, es in fünf möglich zu machen. Der Fürst vertraute ihm die Depeschen an, und der Kapitän warf sich, wie er ging und stand, nur mit Geld versehen, in eine Brischka und jagte unterwegs zehn Pferde tot. Am fünften Tage war er im Winterpalast, halb erfroren, halb zu Tode geschüttelt, so erschöpft, daß er sich kaum aus dem Schlitten erheben konnte. Er wurde unmittelbar nach der Ankunft dem Kaiser vorgestellt, der ihn mit in sein Kabinett nahm, wo er sich niederließ, um die freudige Botschaft mit Muße durchzulesen. Als er damit fertig war, und sich nach dem Boten wandte, fand er, daß dieser auf einen Sessel an der Tür gesunken und eingeschlafen war. Der Kaiser befahl, ihn zu wecken, aber es war bei der ungeheueren Übermüdung des Mannes durch die gewöhnlichen Mittel total unmöglich. Da rief der Kaiser mit dem ihm eigentümlichen raschen Verständnis der menschlichen Natur, dicht zu ihm tretend, plötzlich in barschem Tone aus: »Heda! Ihre Pferde stehen bereit!« und der eifrige Kurier, der sich noch unterwegs glaubte, sprang rasch empor, um dem Gebote der Pflicht zu gehorchen. Der Kaiser fragte ihn nun, welchen Rang er habe. – »Kapitän,« war die Antwort. – »Nun denn«, sagte der Kaiser zu einem Adjutanten, »bringen Sie ein Paar Epauletten!« und setzte, an den Kurier sich wendend, hinzu: »Ich befördere Sie auf der Stelle zum Podpolkavnik; umarmen Sie mich und dann gehen Sie schlafen.«

»Es lebe der Kaiser! Tschorte wos mi! Ich weiß, daß Konzaroff sich bei der ersten Gelegenheit für ihn töten läßt.«

»Das wird, glaube ich, auch anderen passieren, wenn sie so eigensinnig alle Vorbedeutungen verachten.« – Fürst Bajartinski deutete dabei auf eine eben eintretende Gruppe hoher Marine-Offiziere, indem er salutierte.

Alle Offiziere grüßten ehrerbietig. Es waren die Vize-Admirale Nachimoff und Korniloff, der tapfere Istomin, der Vize-Admiral Rogula, zweiter Kommandant des Hafens von Sebastopol, und die Kontre-Admirale Ssinitzinn und Zebrikoff.

»Schau', Djeduschka,« sagte der junge Kosak Olis, der wegen des verwundeten Beines auf einen Stock gestützt neben dem Alten stand, »der dort kommt, das ist der Mann, der die türkischen Schiffe drüben über der See verbrannt hat. Fürst Iwan zeigte ihn mir diesen Morgen, und der andere da neben ihm ist auch dabei gewesen.«

»Ich sehe ihrer drei,« murmelte der greise Kosak, »aber alle drei haben keine Köpfe. Es sind lebendige Leichen –«

»Dein armes Haupt war heute wieder der bösen Mittagssonne ausgesetzt,« beruhigte der Knabe, »Du hast Deine bösen Träume davon bekommen, Großväterchen, und siehst Bilder, die nicht vorhanden sind.«

Der Alte sah ihn starr an. »Meinst Du, törichtes Kind! Ich sage Dir, mein Mund redet die Wahrheit, wenn ich Leichenberge ringsum verkünde, und dieses Wasser zu unseren Füßen gerötet von Strömen Blutes. Der Geist zeigt mir nicht das Schicksal meines Fleisches, aber ich sage Euch, von denen, die Ihr um Euch schaut, werden nur wenige diesen Tag wieder erleben, wenn das Jahr gewechselt hat.«


Der große Konferenzsaal des Admiralgebäudes war gefüllt mit höheren Offizieren, welche die Tafel in der Mitte umstanden, an der sieben oder acht der oberen Befehlshaber sich in eifriger Beratung befanden.

Die Mitte nahm der Oberst-Kommandierende Fürst Menschikoff ein. Der Ausdruck dieses Kopfes paßte ganz zu dem starren, stolzen, unbeugsamen Charakter, den er als Staatsmann und Feldherr bewiesen. Das kleine sarmatisch geschlitzte, graue Auge funkelte mit einer unbezwingbaren Willenskraft unter den buschigen, weißen Brauen so tief aus der Kopfhöhle hervor, daß oft seine Form und Farbe kaum zu erkennen war. Die hohen Backenknochen zeigten die mongolische Abstammung, der festgezogene Mund mit dem breiten, eckigen Kinn Kraft und unbändigen Stolz. Nur um die Winkel lag zuweilen eine Falte voll sarkastischen, in Augenblicken selbst gutmütigen Humors.

Um den General-Gouverneur von Taurien saßen und standen der General Fürst Gortschakoff I., der Gouverneur der Stadt General Lermontoff, die Kommandeure der Bezirks-Artillerie General-Major Pichelstein und des Ingenieur-Korps, der Festungsbaumeister General-Leutnant Pawloffski, die Chefs der 16. und 17. Infanterie-Division, die in der Almaschlacht gefochten, General-Leutnant Kwizinski, der General-Major Trubnikoff von der 16. Artillerie-Brigade und die Kommandanten der Festung und des Hafens, General-Leutnant Kismer, Vize-Admiral Rogula und Vize-Admiral Stanjukowitsch mit vielen anderen.

Die drei Kommandanten des Geschwaders standen am Ende der Tafel. Vor dem Fürsten lagen die Festungspläne und eine Land- und Seekarte von der Gegend.

»Die ersten Hilfstruppen,« sagte er, »können selbst aus Kertsch und Feodosia kaum vor Mitte Oktober hier sein, aus Nicolajef und Odessa dürfen wir sie erst zu Anfang November erwarten. Es gilt daher, so lange uns selbst zu helfen. Sie behaupten also, meine Herren, daß die Nordforts stark genug sind, der Belagerung zu widerstehen?«

»Ich bürge dafür, Durchlaucht,« erwiderte der erste Kommandant.

»Wie viel Mann brauchen Sie, um sich zu halten?«

»Zehntausend Mann.«

»Ich werde Ihnen 8 Bataillone der Reserve-Brigade der 15. Division in Sebastopol lassen. Nachimoff, wie hoch rechnen Sie das gesamte Matrosenkorps aller Schiffe in der Bai?«

»Mit den Hafen- und Arsenal-Arbeitern Zwölftausend, Durchlaucht.«

»Gut. Sie werden nötigenfalls für die Südseite und zur Unterstützung des Forts genügen. So behalte ich ungefähr achtzehntausend Mann, um gegen die Belagerungsflanke des Feindes zu operieren.«

Alle sahen den Fürsten erstaunt an.

»Euer Durchlaucht wollen die Stadt verlassen?« sagte General-Leutnant Kismer.

»Es ist das Beste, was wir tun können, General. Ich denke noch diese Nacht über die Brücke von Inkerman zurück zu gehen. Ich wäre am besten gleich jenseits der Tschernaja geblieben. Hier wäre die Armee abgeschnitten, in der Stellung zwischen Baktschiserai und dem Beljbek jedoch kann ich fortwährend die linke Flanke der Belagerer bedrohen.«

Der tapfere Führer der 16. Division, General-Leutnant Kwizinski, der, an Arm und Kopf verwundet, sich in den Kriegsrat hatte tragen lassen, nickte zustimmend.

»Wenn der Feind die Forts nimmt, so ist die Flotte verloren,« sagte mit harter Stimme der Vize-Admiral Korniloff.

Der Fürst sah ihn finster und spöttisch an. – »Sie ist es auf jeden Fall. Gegen die viertausend Kanonen des alliierten Geschwaders können unsere Schiffe nicht aufkommen; wir müssen sie anderweitig so gut zu benutzen suchen, wie es geht.«

Die Augen der drei Offiziere wandten sich auf die drei Admiräle. Jeder konnte sehen, während der Fürst sich über die Karten beugte, wie Admiral Nachimoff das Blut in das Gesicht trat, als er die Hand auf den Tisch legte.

»Wie meinen Euer Durchlaucht dies?«

»Sie sollen sogleich meinen Plan hören. Wie groß ist die Entfernung zwischen Fort Konstantin und Fort Alexander, Herr Hafen-Kommandant?«

»Zweihundertundvierzig Faden,« (etwa 1350 Schritte) berichtete der Vize-Admiral Stanjukowitsch.

»Dann werden wir freilich mindestens sieben Schiffe brauchen. Es gilt vor allem, meine Herren, der alliierten Flotte den Eingang in die Bai unmöglich zu machen und wir müssen dafür ein Opfer bringen. Ich beabsichtige, sieben unserer großen Schiffe noch heute zwischen den Forts versenken zu lassen und so die Bai zu sperren.«

»Das ist unmöglich, Durchlaucht!«

»Warum, Herr Vize-Admiral?«

»Weil ich Euer Durchlaucht als Admiral und Marineminister bitte,« sagte Nachimoff mit sichtlich unterdrückter Bewegung, »der russischen Marine nicht die Schmach anzutun, daß man von ihr sagen könne, sie fürchte sich davor, mit irgend einer Flotte der Welt sich zu messen. Ich habe fünfundsechszig Segel hier versammelt, Durchlaucht, und meine Matrosen brennen vor Begier, mit jenen übermütigen Franzosen und falschen Engländern zu kämpfen. Ich bitte Sie im Namen der Flotte des Schwarzen Meeres, wenn Sebastopol belagert wird, die alliierten Geschwader angreifen und ihnen eine Schlacht liefern zu dürfen.«

»Und was glaubst Du damit zu erzielen, Peter Nachimoff?« fragte der Fürst.

»Wir werden auf Leben und Tod kämpfen. Wir werden uns durchschlagen und das Asow'sche Meer erreichen. Wenn nicht, so wird die russische Flotte nicht die einzige sein die in diesem Kampf vernichtet wird. Frankreich und England werden zugleich den Verlust der ihren beklagen.«

Ein stürmischer Ruf aller See-Offiziere ging durch den Saal, sie alle hoben die Hände auf zum Zeichen der Übereinstimmung.

»Du bist ein tapferer Mann, Freund,« sagte der Fürst ruhig, »niemand, am wenigsten der Kaiser zweifelt daran. Aber mit Deinem Opfer würde der Sache unseres Herrn wenig gedient sein. Du und die Deinen, Ihr müßt Sebastopol für Rußland bewahren.«

»Ich bin für das Meer erzogen, auf ihm allein verstehe ich zu fechten.«

»So wirst Du es auf dem Lande lernen, Freund. Gehorsam ist das erste Opfer, was wir bringen müssen.« – Der Fürst nahm ein Verzeichnis vom Tisch. – »Hier ist das Verzeichnis der Schiffe, die ich zum Versenken bestimmt habe. Die Kapitäne haben sie sofort zu räumen und nur die Kanonen des oberen Decks und die Pulvervorräte ans Land zu schaffen. General-Major Hartung wird die Stelle bezeichnen, an der die Versenkung am besten auszuführen ist.«

Tiefe Stille hatte sich über den Saal gelagert, die Marineoffiziere schauten finster und stumm vor sich hin; ihre Kameraden von der Landarmee sahen mit Teilnahme auf die entwaffneten Tapferen.

»Die Batterieen der Forts und die versenkten Schiffe werden genügen, uns gegen die Flotte der Feinde zu sichern,« fuhr der Fürst fort. »Für die Nordseite bürgt mir Kismer; die Südseite ist nicht gefährdet, darum wird es am besten sein, die Schiffe sämtlich dahin zu bringen und die Mannschaften am Lande in Korps zu formieren, welche die Verteidigung der Stadt übernehmen und die Nordforts unterstützen. Die Feinde haben unsere stärkste Position vor sich, und sie werden daran scheitern. Wenn man uns vom Süden angegriffen hätte, würde unsere Lage schlimmer sein.«

»Sehr schlimm!«

Diese Worte schienen einem der Anwesenden unwillkürlich entschlüpft, denn alle blickten sich verlegen an, als der Fürst sich im Kreise nach dem Sprecher umschaute.

»Wer von Ihnen machte die Bemerkung, meine Herren?«

Aus dem Kreise der Stabs-Offiziere trat ein Ingenieur-Offizier mit den Kapitäns-Epauletten, der bereits vor Silistria zugegen war.

»Verzeihen Euer Durchlaucht, die Bemerkung ist mir unwillkürlich entschlüpft.«

»Sie sind der Kapitän Tottleben

»Zu Befehl, Durchlaucht.«

»Ich will Ihre Einmischung entschuldigen. Doch wie kommen Sie zu der Behauptung?«

»Ich habe heute morgen die Befestigungen der Landseite besichtigt, Durchlaucht, und –«

»Nun, heraus!«

»Und jene Überzeugung gewonnen.«

Der Fürst hatte aus seiner Brusttasche ein Notizbuch gezogen und blätterte in ihm.

»So glauben Sie, daß, wenn die Festung auf der Südseite angegriffen würde, sie sich nicht halten könne.«

»Unzweifelhaft, Durchlaucht.«

Der Fürst blickte nach dem General-Leutnant Pawloffski, dem Festungsbaumeister. – »Was meinst Du dazu, Exzellenz?«

Der alte General war schon längst unruhig hin und her gerückt. »Der Herr Kapitän übertreibt,« sagte er. »Wir haben sehr starke Werke an der Südseite.«

»Aber sie sind ohne Deckung,« unterbrach der Genie-Offizier. »Es gibt verschiedene Punkte der Umgegend, die den Hafen und die Zugänge beherrschen, wenn sie nicht mit vorgeschobenen Werken versehen werden.«

»Zum Glück kommen wir nicht in Verlegenheit,« sagte der Fürst, »überdies wäre es zu spät, große Werke anzulegen.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Durchlaucht,« sagte kühn der Kapitän, »das ist es noch nicht. In fünf Tagen kann eine äußere Linie geschaffen sein.«

»Können Sie Mauern und Bastionen aus der Erde stampfen, Herr?«

»Das nicht, Durchlaucht, aber ich habe die Erde selbst. Der Wall und die Sappe müßten Sebastopol verteidigen, wenn es von Süden her angegriffen würde.«

Der Fürst schaute ihn fest und nachdenkend an und dann nochmals in das Notizbuch, in dem er gefunden zu haben schien, was er suchte. – »Fürst Gortschakoff hat Sie mir mit vorzüglicher Empfehlung gesendet, Kapitän,« sagte er, »und Schilder hat auf dem Totenbette von Ihnen gesprochen. Ich habe den Ingenieur vom Platz noch nicht ernannt und will Ihnen die Stelle anvertrauen, wenn Sie leisten, was Sie versprochen. Sie mögen Ihre Pläne General Pawloffski vorlegen. Doch muß ich mich jetzt zu dem nötigeren wenden. General Kwizinski ist mit meinem Plan der Einnahme einer Flanken-Position einverstanden, wie ich gesehen. Was sagen Sie dazu, Kirjakoff, und Sie, Welitschko?«

»Ich müßte kein Kavallerist sein, Durchlaucht, wenn ich anderes vorziehen könnte.«

Auch der Kommandant der 17. Division stimmte zu.

»So treffen Sie Ihre Anstalten, meine Herren, denn wir brechen diese Nacht noch auf.« – Der Fürst erhob sich und trat im Vorbeigehen zu den beiden Vize-Admiralen. »Ich bin ein Seemann, wie Du, Petrowitsch,« sagte er, »aber der Kaiser hat Sebastopol mir anvertraut, und die Flotte ist nur ein Teil von ihm. Wir dürfen den Engländern keinen Seesieg weder hier noch in Kronstadt gönnen.«

Der Vize-Admiral verbeugte sich kalt. »Euer Durchlaucht werden mir gestatten, nach Petersburg zu berichten?

»Wie Sie wollen, Herr Vize-Admiral, bis zur Entscheidung des Kaisers aber werden Sie meine Befehle befolgen.«

Keine Muskel zuckte in dem harten, ehernen Gesicht, als er sich von ihm wandte.


In dieser Nacht, der Nacht vom 24. zum 25. September, überschritten die Truppen die Tschernaja auf der Traktir-Brücke, schlugen den beschwerlichen Weg nach der Meierei Mekensi ein und gelangten am Morgen des 25. nach einem mühevollen Marsche auf die Straße von Baktschiserai, wo der Fürst bei dem Dorfe Otarkioi eine solche Stellung einnahm, daß er die Verbindung mit Perekop unterhalten und die Verbündeten im Rücken bedrohen konnte, sobald diese gegen die Nordforts etwas unternahmen.

Der Tag war trübe und stürmisch gewesen, erst am Abend klärte sich das Wetter auf. Es war 8 Uhr, als durch das Tor an der Mastbastion Fürst Iwan Oczakoff mit seinen sieben Kosaken die Stadt verließ und auf dem Wege, der nach Balaclawa führt, vorwärts trabte.

Während des Tages hatte sich in der Stadt die Nachricht von einem Gefecht verbreitet, das zwischen der Kavallerie der Alliierten und der Nachhut der Kolonne des Fürsten Menschikoff vorgekommen sein sollte, doch fehlten nähere Nachrichten darüber. Gegen Abend glaubte man vereinzelten Geschützdonner in der Richtung nach Süden gehört zu haben, doch achtete man dessen nicht, da dort unmöglich ein Feind stehen konnte, auch war der Schall bei dem starken und ungünstigen Wind zu undeutlich.

Der Kapitän war von dem Fürsten zurückgelassen worden, um über die Ausführung der befohlenen Maßregeln Rapport zu bringen, und der Kommandant beorderte ihn am Abend nach dem zwei Meilen entfernten Balaclawa zu reiten, um den Obersten Manto, den Kommandanten der kleinen halbverfallenen und nur von 110 Mann und 4 kleinen Mörsern verteidigten Festungswerke, zu erinnern, auf seiner Hut zu sein, da man im Laufe des Tages mehrere Schiffe der Alliierten hatte nach Süden dirigieren sehen.

Die Nacht war eingetreten über dem Ritt des Kapitäns, der eine besondere Vorliebe für den alten Kosakenoffizier gefaßt hatte, und sich von ihm Abenteuer seiner Jugend erzählen ließ. Die Reiter begannen eben von dem hohen Plateau herabzusteigen, das sich etwa eine halbe Meile von der Küste nach Sebastopol zu erhebt, und aus einem Hohlweg hervorkommend, hatten sie Ufer und Meer vor sich.

Alsbald faßte der greise Kosak den Zügel des Fürsten, und sein Arm deutete auf die felsige Ebene hinunter, von der breite Schluchten sich in das Meer senkten. In einer derselben lag Balaclawa. Ein Kranz von Feuern schien sich rings umher zu ziehen.

»Um der Heiligen willen, Gospodin – keinen Schritt weiter – was bedeuten diese Feuer?«

Der junge Mann starrte erstaunt auf das seltsame Schauspiel, das sich etwa eine Viertelstunde entfernt vor ihm zeigte. Man konnte deutlich mit bloßen Augen bemerken, daß die Feuer von Menschenmassen umlagert waren. Balaclawa selbst, am Eingang der Schlucht liegend, schien in Licht zu schwimmen.

»Und dort!« – der Kosak wies nach dem Meere – auf der Höhe über die Felsen der Ufer hinweg sah man zahlreiche Lichter in schwankender Bewegung.

»Vorwärts, wir müssen uns überzeugen, was dort vorgeht!«

Der Kapitän gab seinem Roß die Sporen – aber eine kräftige Faust fiel ihm in die Zügel, und vor ihm richtete sich, wie aus der Erde gestiegen eine dunkle Gestalt empor.

»Zurück, Fürst Iwan Oczakoff!« sagte der Fremde mit dumpfer Stimme. »Dein Leben gehört dem Vaterlande!«

»Mensch, wer bist Du, der Du mich kennst?« – Seine Hand griff nach der Pistole.

»Laß stecken, Kind – Du wenigstens hast kein Recht auf mich, wenn auch Michael der Tabuntschik aus der Steppe von Borislaw nicht sein Brot mit Dir geteilt hätte.«

»Der Roßhirt – so wahr ich lebe! Wie kommst Du hierher, Alter – was geht dort vor – was bedeuten die Feuer um Balaclawa?«

»Sie leuchten Gefahr, Knabe! die Engländer und Franzosen lagern dort unten, Balaclawa ist in ihren Händen, ich, ich habe sie dorthin geführt durch die Gebirge, und zum zweiten Male ruht der Fluch jedes Russen auf dem Haupt des ewig Verdammten! Eile nach Sebastopol, Fürst, denn der Feind steht vor seinen Mauern


In des Meeres Tiefen.

Sebastopol liegt, wie erwähnt, vierzehn Stunden südlich von Eupatoria, an einem vorspringenden, durch eine tief einlaufende, nach rechts und links sich in Arme verzweigende Meeresbucht gespaltenen Vorgebirge. Die Bucht ist auf der Nord- und Ostseite von ziemlich hohen Bergen umgeben, auf der Südseite erhebt das Ufer sich am Eingang gleichfalls schroff und hoch, weiterhin aber bildet es mehr einen Kessel, von Schluchten durchschnitten, der sich nach und nach zu einem amphitheatralischen Plateau erhebt. In das östliche Ende der Bai ergießt sich der aus dem Südosten kommende, in seiner ganzen Länge durch ein Bergtal laufende Tschernajafluß. Nahe dem Ausflusse desselben liegen die Ruinen von Inkerman und der nördliche und östliche Leuchtturm. Zwei Brücken führen über den Fluß unterhalb der Bai, die Straße nach Aaktschiserai und Symferopol, die beiden Hauptorte der Krim inmitten der Gebirge, bildend. – Diese Straße durchkreuzen, nach der See im Norden Sebastopols mündend, die Flüsse Alma, Katscha und Bjelbeck. Von der Nordseite läuft gleichfalls eine Straße nach Baktschiserai, der alten Hauptstadt der Tataren-Khane.

Das nördliche Ufer Sebastopols geht in einer gegen die Bai einspringenden Landspitze aus, auf der das starke Fort Konstantin seine Granitwälle in die See senkt, den Eingang der Bai deckend. Hierauf folgen nach dem Innern zu auf den vorspringenden Punkten das Fort Katharina und die Batterien von Sukaja. Auf der Höhe der Bergwand nach dem Bjelbeck zu deckt die große Citadelle oder das nördliche Fort die genannten Seeforts und die Straße nach Eupatoria.

Auf der Südseite bildet die äußere Bucht nach der Seeseite zu die Quarantäne-Bucht, von dem Innern her durch die großen und kleinen Quarantäne-Batterien beherrscht. Es folgt, dem Fort Konstantin auf der Nordseite entsprechend, das Fort Alexander: eine Batterie, dann der Handelshafen und auf dessen östlicher Seite das bedeutende Fort St. Nicolas. Zwischen diesem und dem folgenden Fort St. Paul buchtet tief in das aufsteigende Bergland hinein der Kriegshafen, sich wieder abzweigend östlich in das Bassin zur Ausbesserung der Schiffe, die sogenannte Schiffsbucht am Arsenal, westlich in den großen Militärhafen, der fast bis zu den äußeren Befestigungen der Stadt ins Land hineinläuft. Über das Fort Paul und die Ringmauern hinaus, erstreckt sich die Karabelnaja oder Schiffervorstadt. An der östlichen Seite des Militärhafens liegen die neue Admiralität, Kasernen, das Arsenal, prächtige Docks und das große Hospital, an der westlichen die alte Admiralität und die Promenade mit dem Denkmal Kazrkys.

In dem über die Quarantäne-Bucht hinaus sich scharf in das Meer hineinziehenden und dann nach der Südspitze der Krim zu wieder einbiegenden Lande liegen, außerhalb der Verteidigungslinie von Sebastopol, zunächst die Schützenbucht (Streletzka-Bucht), die Kamiesch- und Kasatsch-Bai. Die äußere Spitze des Landes nach Westen bildet das Kap Chersones. Gerade unterhalb des Kriegshafens im Süden dieses, die Halbinsel Sebastopol bildenden Vorsprungs der Krim, liegt die ziemlich enge, aber vollkommen geschützte Bucht von Balaclawa. Eine Straße geht von dort nach Süd-Sebastopol, eine andere über die Tschernaja nach der Nordseite und rechts in das Innere nach Baktschiserai.

Am Bjelbeck-Ufer, im Angesicht der Citadelle und des Nordforts lag die alliierte Armee, die Franzosen den rechten Flügel an der See bildend, die englische Kavallerie bis zum Ende der Bucht ihre Pikets vorschiebend. Die Türken bildeten die Reserven und hielten die Straße nach Eupatoria besetzt.

Es war um Mittag, als man von den Höhen des Ufers einen kleinen Dampfer von Westen her die See durchschneiden und mit dem französischen Admiralschiff Signale austauschen sah, worauf das Dampfschiff seinen Weg gegen das Ufer so weit als möglich fortsetzte, ein Boot in See ließ und nach dem Ausfluß des Bjelbeck sandte. Der landende Marine-Offizier fragte nach dem Marschall und eilte, zurechtgewiesen, nach dessen Zelt, das in einiger Entfernung unter einer Gruppe von Korkbäumen aufgeschlagen war. Die überbrachten Depeschen schienen wichtiges zu enthalten, denn trotz des seit der Almaschlacht bedeutend verschlimmerten Zustandes des Marschalls eilten bald darauf die Adjutanten nach verschiedenen Seiten davon, die Führer der Armee zum Kriegsrat zu berufen.

In einem jener Täler, die sich schluchtenartig zur Bai von Sebastopol auf der Nordseite hinziehen, weit über die russischen Befestigungswerke hinaus, lagerte ein englisches Dragoner-Regiment: die Vedetten und Posten auf den Höhen, einzelne Patrouillen ab- und zureitend, im Grunde die Pferde zusammengekoppelt, an den süßen Gräsern und Kräutern, dem Laub der wilden Feigenbäume und Rankengewächse nagend – die Soldaten in Gruppen umherlagernd, Kaffee kochend, ihre Waffen putzend, oder mit der stoischen Ruhe des echten Briten um einen lustigen Kameraden versammelt, den das grüne Irland geboren, und der der Gesellschaft ein heiteres Lied oder eine wunderbare Geschichte zum Besten gab.

Das Biwak und Feldleben hatte, nach den kurzen Unannehmlichkeiten der Tage und Nächte der Landung, noch nicht jene rauhen Seiten gezeigt, die später die Armee in vollem Maße kosten sollte. Man hatte, allerdings mit schweren Verlusten, einen großen Sieg erfochten, man hoffte auf weitere leichte Triumphe, und lagerte im schönsten Klima der Welt, und das Auge schweifte über das Grün der Weinberge, der Feigen- und Olivenwälder, die schlanken Cypressen und breiten Platanen, auf die blaue, glänzende Fläche des Meeres. In einiger Entfernung unter ihnen lag die Russenstadt Sebastopol mit den Forts und Bastionen, welche die klare, durchsichtige Luft deutlich erkennen ließ, sichere Beute für die nächsten Tage, der neue Zeuge für die unersättliche Habgier des stolzen Inselreiches!

Auch für das Hauptbedürfnis aller Armeen der Welt und der britischen insbesondere, den Proviant, war noch leidlich gesorgt, und die Offiziere entbehrten selbst eines gewissen Komfortes nicht, da sie Flaschenkasten und Menagen von den Schiffen mitgebracht hatten, ihre Garderobe noch nicht verdorben war und der rauhe Wintersturm noch nicht die ermatteten Glieder erstarrte.

Die Menagen hatten ihren Dienst erfüllt, die Beefsteaks und Hammelkotelettes waren verzehrt und die Flasche machte in dem lagernden Kreise die Runde, während die Zigarre und die leicht gefertigte Zigarette ihre Rauchwirbel in die Luft schickten.

»Der arme Wellesley,« sagte der Kapitän Tysdale, während er den silbernen Feldbecher mit Klaret füllte. »Er hat Sebastopol nicht einmal zu sehen bekommen.«

»Der Major starb am Tage nach der Schlacht, wie ich gehört?«

»Ja, an der verdammten Cholera! Brigade-General Tylden auch. Bisher haben nur die Franzosen Generäle daran verloren, und ihr Marschall selbst wird schwerlich davon kommen.«

»Es bringt Avancement in die Armee, die Stellen werden billig werden,« bemerkte ein junger Fähnrich.

»Bah, O'Malley, spekulieren Sie nicht vergeblich. Ihr Onkel in Tipperary hat noch an dem Wechsel zu bezahlen für Ihre Ausrüstung und die irischen Kartoffeln geraten dies Jahr schlecht.«

»Was wissen Sie von den Verhältnissen meiner Familie, Leutnant Halkett,« rief der Ire hitzig, »wollen Sie mich beleidigen?«

»Dummheiten, O'Malley,« sagte der Doktor, ein behäbiger, rotnasiger Walliser. »Wissen Sie nicht, daß an der Regimentstafel, wenn das Tischtuch fortgenommen ist, keine Rede übel genommen werden darf? Nun, wir haben nicht einmal ein Tischtuch gehabt, also senken Sie Ihren Kamm, mein Streithähnchen. Überdies hat Halkett Recht, Ihr nächstes Geld, wenn wirklich welches aus Irland kommt, verwenden Sie auf den Ankauf eines Gauls, denn der Ihre hat den Spatt und ist eine Schande für das Regiment.«

Der lustige Kreis lachte.

»Ich nehme das nächste Beutepferd!« prahlte der Fähnrich.

Der Doktor zwinkerte lustig mit dem Auge.

»Vielleicht eines von den beiden Vollblutpferden, die unsere Pikets gestern eingefangen, und die mit ihren würdigen Besitzern da drüben der Entscheidung des Earl harren? Sie müßten sich prächtig machen, zwei solche Kracken mit struppigen Mähnen und Rattenschwänzen unter den Normannen des vierten Dragoner-Regiments Ihrer Majestät!«

Der graubärtige Major blickte nach den beiden Pferden.

»Gott verdamm' Eure Augen, Fähnrich O'Malley, ich glaube, das eine hält mit Euren langen Beinen jedes Wettrennen aus. Die Ohren sind kurz, und Augen und Nüstern verraten Feuer.«

»Pah, Major – es sieht abscheulich aus! Da Sie es aber meinen, so will ich es nehmen.«

Der junge Mann erhob sich, um hinzuschlendern; der alte Offizier schüttelte lachend den Kopf.

»Das Ansehen haben Sie umsonst. Doch mit Nehmen ist es nichts, Sie müßten denn dem Eigentümer das Pferd abkaufen.«

»Zum Henker, es ist ja Kriegsbeute.«

»Die beiden Leute sind von unseren Patrouillen ergriffen und ins Lager gebracht worden, weil wir Nachrichten über das Land brauchen, aber keineswegs als Feinde. Der Tagesbefehl des Lord-Generals bestimmt auf das strengste, daß alle Eingeborenen, mit denen wir verkehren, möglichst gut behandelt werden sollen.«

Die Offiziere näherten sich den beiden Gefangenen, die neben ihren Pferden am Fuße einer Platane saßen. Die Pferde gehörten zu den kleinen, langhaarigen Steppentieren, doch hätte ein Kenner der Don'schen Rasse das eine leicht an den sehnigen und schlanken Beinen und kurzen Fesseln, den aufgeworfenen Nüstern und den feurigen roten Augen als ein treffliches Tier erkannt, wie unschön auch sein Aussehen sein mochte. Die Herren dieser Pferde waren ein großer, kräftiger Greis von finsterem und stolzem Aussehen, fast ganz in Roßleder gekleidet, die Mütze von Wolfsfell auf dem kahlen Haupt, die schwere Peitsche am Gürtel, sowie ein junger Mann von antiker Schönheit, die der einfache, kaftanartige Rock noch mehr hervorhob: Michael, der Roßhirt aus den Steppen des Dniepr und Nicolas Grivas, der junge Palikare, der in der Nacht des Lazarettbrandes aus Varna entflohen war, um die Nachricht von den Beschlüssen des Kriegsrates der Alliierten nach Sebastopol zu bringen.

Auch sein Bruder Gregor Caraiskakis mußte ja nach der Entdeckung des griechischen Komplotts flüchten. Er war der Armee des Fürsten Gortschakoff gefolgt und befand sich mit diesem zur Zeit in Odessa. Dorthin hatte er den jüngeren Bruder beschieden, um mit ihm und mehreren anderen griechischen Flüchtlingen den Plan zur Gründung einer griechischen Freischar zu beraten.

Mit den Vorbereitungen dazu beauftragt, und mit neuen Warnungen der durch fortdauernde Verbindungen in Varna wohl unterrichteten Griechen für den Fürsten Menschikoff kehrte Nicolas Grivas nach der Krim zurück, als er auf dem Wege über die Landenge von Perekop auf den alten Tabuntschik traf, der einen Transport von dreihundert Pferden, den Reichtum seiner Zucht, als freiwillige Gabe auf den Altar des Vaterlandes anzubieten kam und sie dem Oberbefehlshaber von Taurien zuführen wollte. Der junge Mann schloß sich dem Zuge an, und die Nachrichten, die er von dem Kriegsschauplatze brachte, die Erzählung seiner griechischen Kämpfe hatten ihm das Vertrauen des finsteren Greises erworben.

Schon auf dem Wege nach Symferopol gelangte die Kunde von dem Erscheinen der alliierten Flotte in der Bai von Kalamita zu ihnen, und während der Tabuntschik seine Rosse mit den Knechten weiter sandte, wandte er sich selbst mit dem jungen Griechen nach der Küste, um näheres von der Landung der Feinde zu erspähen. Mit Staunen bemerkte Nicolas Grivas an seinem alten Begleiter eine hohe Bildung und große Kenntnis in militärischen Dingen, die der sonst in bezug auf seine Vergangenheit sehr wortkarge Greis dahin erklärte, daß er den Franzosenkrieg mitgemacht. Von fliehenden Tartaren hatten sie die Nachricht von der Almaschlacht und von dem Rückzug der Russen nach Sebastopol erhalten. Auf dem Wege dahin war es, daß sie von einer vorgeschobenen Reiterpatrouille der Engländer überrascht und festgenommen wurden, da der Befehl des Oberstkommandierenden dahin ging, einige Bewohner des Landes ins Lager zu bringen, um von ihnen Nachricht über die Bewegungen der Feinde und die Festung zu erhalten.

Der greise Tabuntschik lag, auf den Arm gestützt, unter der Platane und betrachtete mit finsterem Blick bald die Feinde seines Landes, bald die weithin sich dehnende Aussicht auf die Bai und die bedrohte Stadt.

»Die Heiligen mögen ihre Augen verblenden,« sagte er endlich in griechischer Sprache zu seinem jungen Begleiter, »daß sie sich an diesen ehernen Citadellen der Nordseite ihre Schädel einrennen und die Schwächen der Festung im Süden nicht bemerken. Dennoch wollte ich mein altes Leben darum geben, wenn man diese hochmütigen Engländer und französischen Windbeutel dahin locken könnte. Der Marsch durch die Defilees von Inkerman und das Tschernaja-Tal brächte sie bei richtiger Benutzung des Augenblickes in einen Sack, aus dem keiner Mutter Sohn lebendig wieder heraus kommen sollte, und Menschikoff ist der Mann dazu.«

»Kennt Ihr diese Gegend so genau?«

Der Alte fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Ich brachte in meiner Jugend einige Jahre hier zu und durchstreifte auch in den letzten Jahren mehrfach die Krim bei meinem Pferdehandel. Blicke dorthin, Grieche, links an dem Leuchtturm vorüber auf jenen dunklen Punkt – siehst Du ihn?«

»Es scheint mir ein Turm.«

»Es sind die Ruinen von Inkerman. Dort teilt sich der Weg, der nach Osten führt nach Baktschiserai; zwei andere überschreiten die Tschernaja und führen nach dem Süden auf Balaclawa zu, der eine unter den Augen und den Kanonen der Festung vorüber, der andere hinter jenem Felsenzug verborgen – er läuft zwischen Bergen und Schluchten und wäre ein Thermopylä, in dem die Hunderttausende eines Darius verderben müßten, da der Rückzug leicht gesperrt werden kann. Ich wollte, ich hätte zwanzigtausend Mann Russen unter meinem Kommando und diese fünfzigtausend Engländer und Franzosen in jenen Schluchten!«

»Was meint Ihr, daß aus uns werden wird – werden sie uns als Kriegsgefangene auf die Schiffe bringen?«

»Der Teufel in ihre Seele! Hätte man uns nicht überrascht, als wir an der Quelle saßen und unsere Sättel verlassen hatten, ein Regiment ihrer Kavallerie hätte mich nicht einholen sollen.« – Er streichelte freundlich die Nüstern des zottigen Pferdes an seiner Seite, das den Kopf zu ihm niederbeugte und seine Hand leckte. – »Hätte ich Buruk unter mir gehabt und ihm mein ›Pascholl, Liebling‹ zugerufen, ich hätte jeder Verfolgung spotten können, und wenn sie tagelang gedauert; denn Buruk ist an jede Anstrengung der Steppe gewöhnt und würde die neunzig Werst von Eupatoria bis Sebastopol in sechs Stunden zurücklegen. Doch beruhige Dich, Sohn – ich glaube, man wird uns freigeben, so wie die Operationen gegen die Werke begonnen haben. Die Toren ahnen nicht, daß ich englisch verstehe, und die Kenntnis ihrer Sprache hat mich hören lassen, daß strenge Befehle gegeben sind, gegen die Bewohner des Landes mit möglichster Schonung zu verfahren.«

»Aber ich bin ein Grieche und man wird Verdacht schöpfen.«

»Nicht, wenn Du vorsichtig bist. Du bist mein Enkelsohn – der Enkel eines einfachen Tabuntschik, wie wir verabredet, alles andere überlasse mir. Da kommen diese verräterischen Briten auf uns zu – russische List soll ihnen die Spitze bieten.«

Während die Offiziere zu den Gefangenen traten, um ihre Pferde näher zu betrachten und ein Gespräch anzuknüpfen, sah man einen Adjutanten rasch über die Bergfläche daher galoppieren und nach dem Biwak der Dragoner einlenken.

»Du hast ein ziemlich boshaft aussehendes Pferd, Alter,« sagte der Major auf Französisch, »doch scheint es kräftig und rasch zu sein. Ist es Deine eigene Zucht?«

»Es ist ein Kind der Steppe, Gospodin,« antwortete der Tabuntschik; »seine Eigenschaften sind bald gut, bald schlecht – man muß mit unseren Pferden umzugehen verstehen.«

»Du bist ein Roßhändler, wie Du angegeben?«

»So ist es!«

»Dann wird es Dir lieb sein, zu hören, daß dieser Herr hier Dein Pferd Dir abkaufen will.«

»Du scherzest, Gospodin; ein solches Pferd würde für einen Offizier nicht passen.«

»Goddam! Wir haben in Varna noch schlechteren Schund für unseren Abgang annehmen müssen, und Dein Pferd ist gegen die Kracke, die Fähnrich O'Malley erhalten, ein Bucephalus.«

»Was verlangt der Kerl für den Gaul?« fragte der junge Mann, der kein Französisch verstand, ungeduldig. »Ich habe bereits gesagt, Herr,« beugte der Tabuntschik vor, »daß meine Knechte mit einem Transport von Pferden auf dem Wege sind, zum Handel mit der Armee. Es sind bessere Pferde dabei als dies hier, das nur gut ist für einen alten Tabuntschik, und das ich nicht verkaufen möchte, weil ich an seinen Gang gewöhnt bin.«

Dem Handel, dem der Roßhirt sich, trotz alles Widerspruchs, schwerlich auf die Dauer hätte entziehen können, wurde durch das Herbeisprengen des Adjutanten ein Ende gemacht.

»Wo ist Major Ewelin

»Hier, Herr!«

»Oberst Kennedey läßt Sie bitten, die beiden Gefangenen, die Französisch sprechen, auf das schleunigste zu ihm ins Hauptquartier zu schicken. Ich werde sie begleiten.«

»Hier sind die beiden. Besteigt Eure Pferde, Männer, und folgt diesem Herrn. Ich hoffe, daß Ihr keinen Fluchtversuch machen werdet, denn ringsum stehen unsere Leute, und Ihr würdet auf der Stelle niedergeschossen werden. Ist etwas neues im Werke, Sir?« wandte er sich auf Englisch wieder zu dem Offizier, während der Tabuntschik und sein Begleiter ihre Pferde zäumten und bestiegen.

Der Adjutant beugte sich zu dem Major nieder.

»Es sollen wichtige Mitteilungen von Paris eingelaufen sein. Man munkelt von einer Bewegung der Armee nach der anderen Seite der Festung.«

So leise er gesprochen, das scharfe Ohr des Tabuntschik hatte die Nachricht doch vernommen, und es zog wie ein Wetterleuchten über das alte verwitterte Gesicht. Er saß im Sattel.

»Wir sind fertig, Gospodin!«

»Vorwärts denn!« befahl der Adjutant.

»Leben Sie wohl, meine Herren.«

Sie trabten davon. Der Tabuntschik unterhielt sich unterwegs mit dem jungen Griechen in seiner Sprache.

»Ich habe eben gehört,« sagte er, »daß diese Engländer von einem Angriff auf der Südseite sprachen. Mögen die Heiligen geben, daß wir ihnen entwischen, um dem Fürsten diese wichtige Nachricht bringen zu können.«

So kamen sie zum Gezelt des Marschalls St. Arnaud, in dem der Kriegsrat versammelt war. Der Adjutant ließ seine Begleiter am Eingang, wo eine große Anzahl von Offizieren und Ordonnanzen versammelt war, unter dem Schutz der Wachen, um seine Meldung zu machen. Der scharfe Blick des Greises bemerkte mehrere gleich ihm gefangene Eingeborene des Landes, die von Wachen herbeigebracht worden waren, offenbar, um befragt und verhört zu werden. Er winkte mit einer bezeichnenden Geberde seinem jungen Gefährten, denn trotz der Menge, die sich um das ziemlich große, aus drei Abteilungen bestehende Zelt bewegte, herrschte große Stille, die nur durch das Klirren der Waffen und die Schritte der Schildwachen und der Ab- und Zugehenden unterbrochen wurde.

Sie hatten noch nicht lange gewartet, als Lord Cardigan, der Oberbefehlshaber der englischen Kavallerie, in Begleitung des Obersten Kennedey aus dem Zelte trat und der letztere sich suchend umschaute.

»Ah, da sind unsere Leute, Mylord,« sagte er, als sein Blick auf den Tabuntschik fiel. »Hierher, Alter, mit Deinem Sohn, und folge uns.«

»Lassen Sie den jungen Mann zurückbleiben, Sir,« sprach der Lord. »Es wird gut sein, wenn man jeden einzeln befragt.«

Auf einen Wink des Generals mußte Grivas bei den Pferden zurückbleiben, während der Roßhirt den Offizieren in das Innere des Zeltes folgte.

Die erste Abteilung ward von mehreren Adjutanten und Stabsoffizieren eingenommen, die auf Feldtischen Depeschen schrieben, während von Zeit zu Zeit der Chef des Generalstabes, Brigadegeneral de Martimprey, aus dem Innern kam, Befehle erteilend.

Lord Cardigan schlug den dicken Teppichvorhang zurück, der den Eingang in die mittlere große Abteilung des Zeltes bildete, und trat hinein, von dem alten Tabuntschik gefolgt, der auf seinen Wink am Eingange stehen blieb.

Rasch überflog sein Auge die Versammlung.

Am anderen Ende des Raumes lag auf einem mit Kissen bedeckten Feldbett, in einen Soldatenmantel gehüllt, der Marschall Saint Arnaud, der Oberkommandierende des Landheeres. Die Seuche hatte tiefe Spuren auf das bleifarbene Antlitz des Generals gegraben, in tiefen dunklen Ringen lagen die matten Augen, und mit Mühe hatte er den Kopf auf einen Arm gestützt, während der Generalstabsarzt Dr. Bernielle seine Linke in den Händen hielt und von Zeit zu Zeit dem Kranken einige Tropfen einer stärkenden Medizin reichte, oder ihn ermahnte, sich nicht anzustrengen. Vor dem Bett des Marschalls stand ein großer Tisch, auf dem eine Karte der Krim und ein ziemlich unvollständiger Plan der Festung Sebastopol lag. Zur Linken des Tisches saßen der Prinz Napoleon und die Generäle Canrobert, Bosquet und Forey, während auf der anderen Seite Lord Raglan, der Oberkommandant der britischen Armee, kenntlich an dem fehlenden Arm, mit dem Herzog von Cambridge und den englischen Generälen Brown, Lacy-Evans, England und Cathcart, nebst den Admiralen Dundas und Lyons Platz genommen. Eine große Anzahl französischer und britischer Generäle standen um den Tisch.

»Mein Urteil,« sagte Lord Raglan eben, »kann hier nicht entscheiden, Sie müssen wissen, Herr Marschall, wie weit Sie den Nachrichten, die der Kaiser Ihnen sendet, trauen können. Wir stehen hier vor den Forts, und ich kann mich von dem Gedanken nicht trennen, daß ein rascher Angriff von der Land- und Seeseite die Sache zur Entscheidung führen würde.«

»Die Nordforts sind stark, Mylord,« sagte der französische Oberkommandant mit matter Stimme, »wir würden unsere Truppen vergeblich opfern, wenn wir nicht erst durch schweres Belagerungsgeschütz Bresche gelegt. – Unser Spion in Berlin scheint vortrefflich unterrichtet; wir haben es an der Zahl der Truppen gesehen, die uns an der Alma gegenüber standen.«

Der Herzog von Cambridge nahm ein Papier vom Tisch. »Die Depesche ist verteufelt kurz, sodaß sie nur wenig Anhalt bietet. ›Der Angriff ist auf die Südseite zu verlegen – zuverlässige Nachrichten über Berlin melden, daß dort die Schwäche der Festung ist.‹ – Voilà tout!«

In diesem Augenblicke beugte sich Lord Cardigan über den Tisch und sagte einige Worte. Aller Augen wandten sich nach dem Eingang des Zeltes, wo ruhig und scheinbar teilnahmslos der Greis stand.

Der dicke Prinz Napoleon klemmte das Lorgnon ins Auge.

»Ist das Ihr Gefangener, der Französisch spricht, Mylord Cardigan?«

»Er ist es, Kaiserliche Hoheit, und ein so vortreffliches Französisch, wie Sie es nur in den Salons von Paris hören können.«

»Ah, diese Russen sprechen alle sehr gut die Sprache der zivilisierten Welt. Aber der Kerl dort sieht mir keineswegs aus, als gehöre er zu den bevorzugten Ständen.«

»Treten Sie näher, Mann,« sagte der General Bosquet rauh. »Wir haben keine Zeit zu Betrachtungen, sondern wollen ihn befragen. Wollen die Herren es tun, deren Gefangener er ist?«

Lord Raglan antwortete höflich ablehnend mit einer Handbewegung, und der französische General wandte sich sogleich wieder zu dem Roßhirten, der unbefangen durch den Kreis der glänzenden Offiziere bis zu dem Tisch getreten war.

»Wie heißt Ihr, Freund, und was seid Ihr?«

»Michael, der Tabuntschik, General; wenn Sie den russischen Ausdruck nicht verstehen, ein Roßzüchter und Roßhändler.«

»Seid Ihr hier zu Hause? Es ist seltsam, daß Ihr bei Eurem niedern Stand so fertig französisch sprecht.«

»Ich bin ein Franzose, wie Sie, General!«

» Diantre! – und hier in Rußland? Ihr müßt ein alter Mann sein, Freund.«

»Achtzig Jahre, Herr. Ich war Sergeant bei Monsons Kürassieren, wurde 1812 gefangen genommen und lebte seitdem in den Steppen oder den Gebirgen dieses Landes, zuerst als Sklave, nach dem Tode meines Herrn auf eigene Hand.«

»So seid Ihr bekannt mit der Umgegend von Sebastopol?«

»Ich würde jeden Weg mit verbundenen Augen finden. Ich kenne jeden Stein des Gebirges.«

»Das wäre vortrefflich,« meinte der Prinz. »Wenn Sie Franzose sind, mein Herr, werden Sie wissen, was Sie Ihrem Vaterlande und Ihren Landsleuten schuldig sind und sich nicht weigern, uns einen wichtigen Dienst zu erzeigen.«

»Ich bin ein alter Mann, Herr, und habe länger als vierzig Jahre in diesem Lande gelebt,« meinte der Greis, »aber ich freue mich doch, am Rande des Grabes unter Franzosen zu stehen, und werde gern tun, was ich kann. Was wünschen Sie von mir?«

»Wir verlangen die Beantwortung einiger Fragen,« sagte General Bosquet. »Zunächst, können Sie beurteilen, welcher Punkt im Süden von Sebastopol sich für unsere Schiffe zu einer Landung eignen würde?«

»Ei, General, ich bin nicht Seemann, nur ein einfacher Soldat, aber da kann wenig die Frage sein. Da wäre zuerst die Kamiesch-Bai.«

»Sie liegt für unsere Zwecke zu nahe an der Festung!«

»Nun, Parbleu! dann ist Balaclawa der rechte Ort, und ein verteufelt guter Platz ist er, gegen die Stürme gedeckt, freilich ein bißchen eng –«

»Ist der Ort stark verteidigt,« unterbrach der General ungeduldig die scheinbare Geschwätzigkeit des Alten, »sind die Festungswerke stark?«

»Ei, was denken Sie, General,« lachte der Greis, »da kennen Sie unsere Russen schlecht. Als ich das letzte Mal dort war, sah ich vier kleine eiserne Kanonen, mit einer Kompagnie Ihrer Grenadiere jage ich die ganze Besatzung zum Teufel.«

Die Generäle beugten sich über die Karte, um die Lage des bezeichneten Ortes zu prüfen, und Lord Raglan wechselte leise einige Worte mit dem Marschall. Dann wandte er sich selbst zu dem Roßhirten.

»Wie weit ist Balaclawa von Sebastopol entfernt?«

»Dreizehn Werst oder drei Lieues, Herr.«

»Wie ist das Terrain beschaffen?«

»An der Küste Felsen und Schluchten, Herr, dann hebt es sich zum Plateau und senkt sich, von Höhlungen durchschnitten, nach Sebastopol hin.«

»Ist es möglich, um das Ende der Bai von Sebastopol mit einer Armee bis Balaclawa vorzudringen, ohne mit der Festung in Berührung zu kommen?«

Es herrschte lautlose Spannung. Ein Blitz von Hohn und Freude zuckte in den Augenwinkeln des Alten, doch nur einen Moment hindurch. Dann lachte er heiter und sagte:

»Ei, General, wir Hirten im Gebirge kennen die Wege. Ihr könnt, wenn Ihr die Leuchttürme umgeht, und die Gebirge zwischen Mekensyr und den Ruinen von Inkerman durchschneidet, an der Tschernaja-Brücke die Talschlucht gewinnen und vor Balaclawa stehen, ohne daß eine Katze in der Festung Euren Marsch bemerkt, wenn sie hier nicht aufmerksam gemacht werden.«

Wiederum wurden einige leise Worte zwischen den beiden Ober-Kommandierenden gewechselt, dann befahl Lord Raglan, den Tabuntschik für einen Augenblick abtreten zu lassen, aber sorgfältig zu wachen, daß er mit niemand ein Wort wechsele.

Die Beratung der Generale war nur kurz, und der Tabuntschik wurde bald wieder herein geholt.

»Se. Kaiserliche Hoheit, der Prinz Napoleon,« sagte General Bosquet, »hat Sie bereits an Ihre französische Abstammung und deren Pflichten erinnert. Was Sie tun, tun Sie dem Erben des großen Kaisers. Es liegt uns daran, die Armee nach der Südseite der Festung zu führen, womöglich nach Balaclawa. Wollen Sie uns als Führer dienen, Mann, so soll Ihnen eine reiche Belohnung zu Teil werden. Im anderen Falle müssen Sie in strenger Haft bleiben, denn Sie haben zu viel gehört, um Sie gehen lassen zu können.«

Der Tabuntschik schüttelte den Kopf.

»Ihre Drohung kann mich nicht schrecken, Herr, so wenig wie Ihr Versprechen mich reizen. Ich bin ein alter Mann, Herr, und hänge nicht am Leben. Aber ich habe nicht vergessen, daß Frankreich mein Vaterland ist, und ich bin bereit, Ihnen auf Gefahr meines Kopfes den Weg durch die Gebirge nach Balaclawa zu zeigen, wenn Sie mir gestatten wollen, zugleich meine Interessen zu besorgen, damit ich nicht zu Schaden komme.«

»Wie meint Ihr das, Freund?« fragte der Herzog von Cambridge.

»Ich bin ein Pferdehändler, wie Sie wissen,« sagte der Alte, »und komme aus der Steppe jenseits Perekop mit 360 mutigen Tieren, die um eine Tagereise hinter mir zurück sind. Wenn ich Ihnen den Weg zeige, fallen die Tiere in die Hände der Russen, und ich möchte dann nicht wagen, bei diesen mein Eigentum zu fordern.«

»Wir werden sie Ihnen abkaufen oder den Wert vergüten.«

»Ich bin ein Kaufmann, General, und lebe vom ehrlichen Handel. Wenn Sie wollen, daß ich Ihnen diene, so lassen Sie mich meinem Eigentum entgegensenden und meinen Leuten Anweisung geben, die Pferde in Ihr Lager zu bringen.«

»Das geht unter keinen Umständen,« sagte Bosquet rauh; »der Mann darf mit niemand mehr verkehren.«

Der alte Roßhirt lächelte spöttisch.

»Dann, General, erlauben Sie mir, daß ich mir wenigstens den Markt bei meinen neuen Landsleuten nicht verderbe.«

Es entstand eine kurze Pause. Der Greis hatte das Ansehen eines so entschiedenen Charakters, daß ein jeder begriff, Drohungen wären hier vergeblich.

»Fragen Sie den Mann,« stöhnte der Marschall, »wie er die Sache ausführen will.«

Der Tabuntschik trat einen Schritt näher zum Tisch.

»Ihr Mißtrauen sollte mich kränken,« sagte er ruhig und ernst, »doch ich will Ihnen selbst ein Mittel vorschlagen, unsere Interessen zu vereinigen. Draußen steht mein Enkelsohn, der mit mir gefangen wurde. Er versteht unsere Sprache, weiß aber natürlich nichts von dem Dienst, den ich Ihnen leisten soll. Lassen Sie ihn herein kommen, geben Sie ihm sicheres Geleit durch Ihre Posten nach Eupatoria hin bis zum Weg nach Symferopol, und ich werde ihm hier in Ihrer Gegenwart seinen Auftrag erteilen. Sie selbst mögen hören, ob ich ihm mit einem Wort das Geheimnis verrate. Überdies bleibe ich in Ihren Händen, und Sie mögen mein Leben nehmen, wenn ich Sie täusche.«

Nach einer kurzen Beratung der Führer willigte man in den Vorschlag und ließ den Griechen herein führen.

»Kennst Du diesen Mann?«

»Er ist mein Großvater, Herr.«

»Wohl, sagen Sie ihm Ihren Auftrag.«

Der Tabuntschik wandte sich zu dem jungen Mann und sah ihm fest und ruhig ins Gesicht. Zu seinem Staunen bemerkte Nicolas, daß der Greis langsam und ohne aufzufallen das Erkennungszeichen der Hetäre machte und begriff im Augenblick, daß die Unterredung eine doppelte Bedeutung haben werde und seine höchste Aufmerksamkeit fordere.

»Du weißt ungefähr, wo Du unsere Pferde treffen wirst, Sohn?«

»Ja, Großvater.«

»Wohl. Du sollst ihnen entgegen gehen, indes ich bei diesen Herren zurückbleibe. Sie haben die Pferde gekauft, und Du sollst sie zu ihnen führen. Du mußt eilen, damit die Knechte sie nicht nach Baktschiserai bringen, denn dort wären sie für uns verloren. Morgen früh, wenn Du Deine Sache gut machst, können die Rosse bei uns sein.«

»Welchen Weg muß ich nehmen, Großvater?«

»Geh' über die Katscha zurück und wende Dich rechts in die Berge. Erinnere Dich der Stelle, die ich Dir heute morgen bezeichnete. Dort warte, sie müssen da vorüberkommen und rasten, wie wir ausgemacht haben.«

»Aber Du, Großvater, wo bleibst Du?« Es lag aufrichtige Besorgnis in dem Auge des jungen Mannes.

»Um mich kümmere Dich nicht, Kind, ich werde diese Herren nicht verlassen, und wir treffen, so die Heiligen wollen, morgen wieder zusammen. Ich bin fertig mit meinem Auftrag. Sind Sie zufrieden, so geben Sie dem Knaben sein Geleit.«

Der französische General, der dem Marschall zunächst saß, unterzeichnete einen Paß durch die Vorposten.

»Lassen Sie den Burschen durch einen Offizier bis über die Posten jenseits der Katscha begleiten und ihn sogleich sich auf den Weg machen, General Vinoy.«

Der Genannte trennte sich von der Gruppe und winkte dem verkappten Griechen, zu folgen.

»Noch eins,« sagte mit unbefangenem Ton der Tabuntschik, »nimm den Buruk, Kind, er hat einen guten Gang durch die Gebirgswege.«

Grivas machte das Zeichen des russischen Grußes. Einen Moment lang streifte sein Blick verstehend das feste, klare Auge des Greises, dann folgte er dem General aus dem Zelt.

Der kranke Marschall erhob sich mühsam und mit Unterstützung des Arztes in sitzende Stellung.

»So ist es denn beschlossen, wir gehen nach der Südseite, und ich schlage Ihnen vor, um Mitternacht aufzubrechen,« sagte er mit Anstrengung seiner Stimme. »Es wird nötig sein, daß ein Teil der Armee hier zurückbleibt, um die Russen über unsere Bewegung zu täuschen und sich hier mit allem Gepäck einzuschiffen. Ich werde den Zug mit Ihnen machen, meine Herren – aber ich fühle bei aller Anstrengung, daß ich nicht imstande sein werde, den Pflichten meines Kommandos zu entsprechen, und ich bin gezwungen, es einstweilen niederzulegen. Ich schlage Ihnen –«

Der General an seiner Seite, der vorher den Paß unterzeichnet hatte, legte leise die Hand auf seinen Arm.

»Erlauben Sie, Herr Marschall, daß ich Sie unterbreche,« sagte er aufstehend. »Seine Majestät der Kaiser Napoleon hat in weisem Vorbedacht des unglücklichen Falles, der uns Ihrer Führung beraubt, die Gnade gehabt, mich unverdienter Weise mit dem Oberbefehl der Armee zu beauftragen.«

»Sie haben also eine geheime Ordre, General Canrobert?« fragte der Kranke heftig.

»Einen Kaiserlichen Handbefehl,« entgegnete der General, indem er ein Papier aus seinem Portefeuille nahm und auf den Tisch legte. »Hier ist er.«

Der Marschall griff krampfhaft danach und sah das Dokument einige Augenblicke an; dann schweifte sein Blick zu dem Prinzen hin, während seine schlaffen Mienen eine gewaltige Anstrengung, sich zu beherrschen, ausdrückten.

»Parbleu!« flüsterte er mit halb erstickter Stimme. »Ihr Vetter, Monseigneur, ist ein vorsichtiger Herr!« Er sank in die Kissen zurück.

»Mein Gott!« rief der Herzog von Cambridge, »der Herr Marschall ist ohnmächtig!«

Während sich der Arzt mit dem Kranken beschäftigte, wandte sich der General Canrobert mit höflicher Verbeugung zu dem britischen Oberbefehlshaber:

»Wenn es Ihnen gefällig ist, Mylord, treffen wir sogleich die Bestimmungen und Anstalten für den Aufbruch der Armee.«


Der junge Grieche hatte die Worte seines greisen Gefährten und den Grund, weshalb er ihm sein eigenes Pferd zuwies, begriffen. Er mußte es sogleich bei seinem Austritt aus dem Zelt besteigen und unter Begleitung eines Offiziers der Spahis seinen Weg antreten. Obschon er mit dem Lande selbst wenig bekannt war, hoffte er doch, bald, wenn er erst aus dem Bereich der Postenkette der alliierten Armee war, auf einen russischen Posten oder wenigstens auf Eingeborene zu stoßen, die imstande wären, ihm den Weg zu zeigen. Auf die vom Tabuntschik ihm gerühmten Eigenschaften des Steppenpferdes vertrauend, berechnete er, daß selbst von jenseits der Katscha ein scharfer Ritt ihn um Mitternacht nach Sebastopol bringen konnte. Wohl dachte er daran, sich schon früher seines in echt französischer Manier schwatzenden und ihn ziemlich verächtlich behandelnden Begleiters zu entledigen, und es hätte ihm auch keineswegs an Mut zum Versuch der Tat gefehlt, doch lehrte ihn ein Blick auf die kriegerische Gestalt und Haltung des afrikanischen Kavalleristen, daß er keinen geringen Gegner zu bekämpfen haben würde, und er überlegte, daß ein Mißglücken des Versuchs, ja selbst ein unberechenbarer Zufall beim Siege einen der zahlreich umher zerstreuten und auf der Straße nach Eupatoria hin- und herpassierenden Trupps feindlicher Krieger herbeiführen und die Ausführung seiner wichtigen Mission verhindern konnte. Er fühlte, daß nur kaltes Blut und List ihm helfen könne, und daß sein Leben der Aufgabe gehöre, der er sich gewidmet hatte.

Der Abend dunkelte bereits, als sie die Katscha überschritten hatten. Hier erklärte der Grieche seinem Begleiter, daß er sich zur Erreichung seines Zweckes rechts auf die Straße nach Aramkoi wenden müsse, und da der Offizier Ordre hatte, ihn nur über den Fluß hinauszubringen, auch an dem schweigsamen Mann wenig Gefallen fand, übergab er ihn einer türkischen Patrouille, die ihn bis über die äußersten Linien der Vedetten nach Osten hin bringen sollte, und wandte sein Pferd zur Rückkehr.

Nicolas Grivas bemerkte, indem er neben seinem neuen Begleiter herritt, daß er hier im Bereich der türkischen Reserven war, die zum Teil noch an der Alma lagerten. An zwei Stellen mußte er den Passierschein des Generals vorzeigen, und obschon die türkischen Offiziere, die ihn anhielten, kein Wort davon lesen konnten, hielt der französische Adler auf dem Papier sie doch in Respekt, und man sandte den Reiter von Posten zu Posten weiter.

Es war ein großes Bergplateau, auf dem, nach der Aussage des ihn begleitenden On-Baschis, der letzte Reiterposten der Türken stand, und mit ungeduldig klopfendem Herzen sah Nicolas Grivas ihn jetzt vor sich.

Es war einer jener milden Septemberabende, die, in der gemäßigten Zone überall schön, in diesen Himmelsbreiten etwas unbeschreiblich Köstliches haben. Von dem hohen Bergplateau aus überflog der Blick den im Sternengefunkel ruhenden unendlichen Meeresspiegel, an dessen fernem Horizont noch einzelne rot-violette und bläuliche Farbentöne auftauchten, die den Sonnenuntergang begleitet hatten. Im Westen des Plateaus erhoben die Bergketten, in deren Mitte die alte Tartarenhauptstadt liegt, ihre dunklen Wände, der Duft des Thymians und Lavendels, der den Boden bedeckte, aus dem hier und da sich ein wilder Feigenbaum oder die Korkeiche mit ihren breiten Ästen erhob, flog mit dem frischen Seewind über die Ebene; in weiter Entfernung von einander leuchteten riesenhafte Glühkäfer, die Feuer der Posten und Wachen bis zur Alma hin.

An einem solchen Feuer am Eingang einer Schlucht, die von Olivenbäumen bewachsen war, lagerte der äußerste Posten der Moslems, und an den wilden, phantastischen Gestalten, ihrer Kleidung und Bewaffnung erkannte der Grieche, daß die Krieger zu jenen türkischen Freischaren gehörten, deren Wiedersehen in seiner Erinnerung mit einem dämonischen und dennoch so schönen Bilde sich verknüpfte.

Wilde Blicke starrten ihn an, und manche nervige Faust faßte beim Anblick der verhaßten russischen Tracht nach dem Pistolenkolben oder nach dem Handjar im Leibbund; doch des On-Baschis Benachrichtigung, daß der große Pascha der Franken den Fremden unter seinen Schutz genommen und dieser in seinem Auftrage reise, zähmte die rachsüchtigen Begierden, und die Bozuks warfen sich wieder am Feuer nieder.

Der junge Mann hatte eben dem On-Baschi, der ihn hierher geleitet, den verlangten Baktschis gegeben und wandte sein Pferd, um durch die Schlucht davon zu galoppieren, denn er fürchtete mit Recht, daß ihm einer oder der andere der um ihn lagernden Hallunken, die bei der Erteilung des Trinkgeldes mit lüsternen Augen seinen Geldbeutel angesehen, im Dunkel eine Kugel nachsenden möchte, als von dorther selbst Hufschlag erscholl und er eine herauskommende Reitergruppe bemerkte, die sich rasch näherte.

Ein großer Molosserhund, den vergoldeten Sammetreif um den Hals, sprang der Gruppe voraus, die aus einer türkischen Frau und etwa zwanzig arabischen und albanesischen Kriegern bestand. Neben der Türkin ritt, in lange, weiße Gewänder gehüllt, auf prächtigem, weißen Pferd, ein arabischer Scheik, wie der hohe Reiherbusch auf seinem Turban zeigte.

Plötzlich hielt der Molosserhund in seinen Sprüngen an, hob die Nase in die Luft und stieß ein lautes Gebell aus, indem er mit weiten Sätzen auf den Griechen zustürzte, an dem Pferde emporsprang, dem Reiter die Füße leckte und sich wie toll geberdete.

Der Ruf: »Scheitan! hierher!« scholl aus der Gruppe, ohne daß der Hund darauf hörte.

Bleich wie der Tod saß der Grieche im Sattel; er hatte den Hund erkannt, er hatte die trotzige Stimme vernommen, die so oft schmeichelnd und demütig in unsäglicher Liebe seinen Namen genannt.

Fatinitza war dort – Fatinitza, die Rächerin – la Vengeresse!

Er sah, wie sie mit dem Emir Abdallah näher und näher kam, erstaunt über das Gebahren des Hundes, er hörte, wie sie die Männer der Wache nach ihm fragte, er fühlte, wie sich die Augen des Mädchens auf ihn richteten. Seine Sinne wirbelten, seine Besonnenheit, fast sein Bewußtsein verließ ihn, er beugte den Kopf bis auf die Mähne seines Pferdes und preßte ihm die Sporen tief in die Seiten, daß es in weitem Satz davonsprang und wie rasend durch die Reitergruppe hindurch die Schlucht hinunter schoß.

Einen wilden Schrei hörte er hinter sich und den Ruf des Weibes: »Ihm nach, Abdallah, bei Deinem Ring! Lebendig! lebendig bringe ihn!« Dann donnerten die Hufe der wilden Schar hinter ihm drein, dann hörte er das gellende Kampfgeschrei der Söhne der Wüste, die Befehle, welche die Reiter rechts und links von der Schlucht zur Seite jagten, um ihm den Weg abzuschneiden. Als er wieder das Freie gewonnen, schien das ganze weite Plateau hinter ihm und um ihn lebendig geworden zu sein. Hundert dunkle Schatten stürmten über die Fläche daher – das wilde Geschrei der Verfolger heulte wie der Jubelruf von tausend Dämonen um ihn.

Er gedachte der Wichtigkeit, die sein Leben, seine Freiheit in diesem Augenblick für eine große Nation, für die Hoffnung und Errettung seines eigenen Volkes hatte; er schauderte bei dem Gedanken, in die Hände der Eumenide zu fallen, die sich an seine Fersen geheftet; er betete zu Gott und den Heiligen, daß sie seinem Pferde die Flügel des Windes verleihen, die Augen seiner Verfolger mit Nacht bedecken möchten, und in dem allen, in dem tobenden Aufruhr seiner Seele, von Furcht, Hoffen und Verzweiflung, fielen ihm die Worte des greisen Tabuntschik ein, und er beugte sich zu dem Ohr des Pferdes und flüsterte: »Pascholl, Liebling!«

Das Roß der Steppe griff in weiten Sprüngen aus, und über Fels und Stein flog mit ihm wie der Sturmwind der wilde Hengst, seine Verfolger weit hinter sich lassend.

Aber einer war da, den das Roß der Steppe nicht zu besiegen vermochte: Abdallah mit der weißen Stute Eidunih aus dem Geschlecht der Nedjhi – mit Eidunih, die an Schnelle mit dem Flügelroß des Propheten zu wetteifern vermochte; und als der Grieche das Haupt wandte und das weiße arabische Pferd hinter sich drein kommen sah, da wußte er, daß er verloren war; hatte er es doch selbst erprobt bei der Flucht nach der Kula von Protopapas!

Er faßte das Pistol, das er in der Brusttasche unter dem Kaftan trug, spannte den Hahn um seine Freiheit so teuer wie möglich zu verkaufen. Aber der Emir, sein Verfolger, schien nicht gewillt, den Vorteil zu benutzen, vielmehr bog er zur Seite ab; dann erst ließ er seinem Renner die Zügel schießen, der ihn in wenig Augenblicken weit über den Verfolgten hinausbrachte. Dadurch zwang er ihn, von der geraden Richtung abzuweichen und sich zur Seite zu wenden; dies Manöver wiederholte der Sohn der Wüste einige Male, und ehe sich's der Grieche versah, war er ganz von seinem Wege entfernt und in den weiten Kreis seiner Verfolger zurückgedrängt.

Vergebens kämpfte das mutige Steppenroß um den Sieg; von allen Seiten tauchten die Gegner empor und sprengten gegen den jungen Mann. Noch einen Versuch machte er, das Gebirge zu gewinnen, indem er durch den Ring hindurchzubrechen versuchte und sein Pistol auf den Araber abschoß, der sich ihm entgegenwarf – im nächsten Augenblick aber sah er einen weißen Burnus, ein weißes Roß an sich vorüberschießen, eine Lanze wirbelte, von kräftiger Hand geschwungen, durch die Luft und traf ihn mit so großer Gewalt, daß er bewußtlos vom Pferde stürzte. – –

Als er wieder zu sich kam, empfand er, daß er, über ein Pferd geworfen, von diesem fortgetragen wurde. Seine Hände und Füße waren gebunden, sein Kopf mit einem Tuch bedeckt, sodaß er nicht sehen und selbst nur mit Mühe atmen konnte. Dennoch fühlte er an dem schärferen Hauch des Seewindes, daß der Zug, der sich stumm und rasch vorwärts bewegte, seine Richtung nach dem Gestade des Meeres nahm.

Das vermehrte Geräusch von Pferden und der Ton von Stimmen, die sich unterredeten, benachrichtigte ihn, daß der Trupp sich einer großen Schar angeschlossen hatte. So ging es noch eine kurze Strecke weiter, dann machte der Zug plötzlich Halt, und er wurde hart auf den Felsboden geworfen.

Einige Augenblicke noch dauerte das Geräusch fort, dann entfernten sich die Reiter, doch fühlte er, daß der Hund in seiner Nähe geblieben war. Vergeblich waren all' seine Anstrengungen, seine Hände zu befreien und die Hülle von seinem Gesicht zu entfernen, die Bande waren fest, und nach mehreren Versuchen ergab er sich in sein Schicksal.

Zwei Stimmen in seiner Nähe unterredeten sich; er erkannte die klaren, scharfen Töne des Weibes, dessen Vertrauen er getäuscht, in dessen Händen er sich jetzt befand, und die tiefe, wohllautende Sprache des jungen arabischen Scheiks.

»Was willst Du mit dem verachtetem Dschaur tun, Tochter des Propheten?« hörte er den jungen Krieger sagen. »Bei der schwarzen Kaaba von Mekka! laß mich einen Stoß mit dieser Klinge nach dem Herzen des Moskows tun, und er hat, was ihm gebührt. Der Aga des großen Frankenmuschirs hat uns den Befehl gebracht, vorwärts zu gehen und wir müssen ihm gehorchen.«

»Geh! Ich halte Dich nicht!«

Die Worte des Arabers hatten dem Griechen gezeigt, daß die Wölfin von Skadar das Geheimnis seiner Person bewahrt, und frische Lebenshoffnung schwellte aufs neue seine Brust.

»Ich kann Dich hier nicht zurücklassen am Strande des tückischen Meeres, blutige Blume von Skadar,« sagte der Emir. »Deine Männer harren auf Deinen Befehl, daß Du sie gegen die Ungläubigen führst – Gehorsam ist die Zierde des Kriegers und die Fahne des Propheten ist entfaltet. Laß uns den Mann töten und weiter ziehen.«

»Kennst Du diesen Ring, Emir Abdallah Ben Zarujah?«

»Mashalla! Bei dem Bart meines Vaters, dessen Gebeine in der Wüste von Yemen ruhen, – wie sollte ich ihn nicht kennen? Er ist ein Talisman meines Stammes, und ich gab ihn Dir für Eidunih, mein Lieblingspferd, unter dem Feigenbaume von Dervendzista. Jedes Glied des Stammes der Zarujah wird wie ein Blinder dem Willen dessen gehorchen, der ihm diesen Ring zeigt.«

»Wohl, Emir Abdallah – so gehorche Du selbst und löse mit diesem Gehorsam den Ring aus, den meine Hand Dir hier zurückgiebt.«

Der Araber, den Überlieferungen seines Volkes getreu, beugte sein Haupt, indem er den Talisman aus den Händen des Mädchens nahm.

»Was befiehlst Du, daß ich tue?«

»Dieser Mann ist Dein Gefangener, Deine Lanze warf ihn vom Pferde. Gib mir ihn und das Recht über sein Leben.«

»Der schmutzige Moskow ist ein schlechtes Geschenk – nimm ihn und tue mit ihm, wie Dir gefällt. Bei dem Sarge des Propheten, der zwischen Himmel und Erde schwebt, – was kann der fremde Mann Dich kümmern?«

»Emir Abdallah,« sagte das Mädchen, »das Geschäft mit diesem Manne ist mein. Du hast mir Gutes erwiesen, als Asche auf meinem Haupte und der Fluch meines Vaters über mir war. Möge er in den Freuden dieses Paradieses wandeln! Du hast Dein Antlitz mir freundlich zugekehrt, als wir uns wiederfanden auf den Schiffen, die uns von Varna an dies Gestade führten, und Fatinitza, Selims Tochter, ist Deine Schuldnerin. Jetzt, bei der Mutter, die Dich gebar, höre meine Bitte: besteige Dein Roß Eidunih und führe Deine Schar und die meine, wohin uns geboten ist. Das Geschäft, das ich mit diesem Gefangenen habe, duldet keine Zeugen.«

Der Emir bestieg schweigend sein Pferd.

»Du wirst uns folgen, schwarze Rose des Epirus?«

»Ich – folge Dir!«

»Dieser Sklave könnte Dir gefährlich werden, wenn Du allein bist. Laß einige Deiner Krieger bei Dir bleiben.«

Das Weib lächelte verächtlich.

»Bin ich Fatinitza oder nicht? Überdies ist Scheitan bei mir – doch hegst Du Besorgnis, so lasse fünf meiner Albanesen dort unten auf mich harren, daß sie den Knall meines Pistols hören können, ohne daß ihr Auge mich zu erspähen vermag. Emir Abdallah, geh' – und der Prophet begleite Dich.«

Der Araber schwenkte die Hand zum Zeichen seines Gehorsams und seines Grußes; dann wandte er sein Pferd und galoppierte davon.

Jetzt wußte Nicolas, daß er mit Fatinitza allein war. –

Nach einer Pause von einigen Minuten wurde das Tuch von seinem Haupte entfernt. Er erhob sich auf die Kniee und schaute um sich.

Es mochte nahe an Mitternacht sein nach dem Stande der Sterne; die bleiche schmale Sichel des Mondes erhob sich eben über die Gebirge im Osten und warf ihr gespenstiges Licht über Fels und Meer.

Das letztere brandete in weißem Schaum zu seinen Füßen. Er fand sich auf hohem Felsenufer am Ausfluß der Katscha – kaum drei Schritt von ihm entfernt, fiel die Klippe fast senkrecht zum Meer hinab.

Er wandte sein Auge nach der anderen Seite, – dort stand die schlanke Gestalt des Weibes, das ihn einst so heiß geliebt; der Nachtwind spielte mit ihren weiten, dunklen Gewändern, und der bleiche Mondstrahl lag auf ihrem noch bleicheren Gesicht, von dem sie den Yaschmak aus schwarzen Schleiern abgerissen. So stand sie, die Arme gekreuzt, und zu ihren Füßen kauerte Scheitan, der riesige Molosserhund.

»Fatinitza!«

Der Name entfloh seiner keuchenden Brust, – ein Klang der alten Liebe, – die Angst – das Grauen mischten sich in den Ruf.

Die Türkin neigte verächtlich den Kopf.

»Du irrst, Nicolas Grivas – nicht Fatinitza, die Wölfin von Skadar, steht vor Dir – sie starb im Turme von Protopapas – die Rächerin ist es, wie jene Franken sie nennen, die vor Dir steht.«

»Fatinitza, höre mich an …«

»Zweimal, Nicolas Grivas, habe ich Dich gewarnt, in den Kreis meiner Augen zu treten. Das erste Mal in jener Kula an den Leichen Deiner Gefährten, – das zweite Mal in Varna, als Du verkleidet standest unter Tausenden der Meinen. Jetzt kommst Du zum dritten Mal in den Bereich meines Atems – Du mußt sterben!«

»Höre mich, Fatinitza,« sagte mit milder Stimme der junge Mann, »ich bin nicht feig, ich fürchte den Tod nicht, und er soll mir willkommen sein von Deiner Hand, die ich schwer gekränkt, die um mich gelitten, obschon – so wahr ein Gott über uns ist in dieser Stunde – ich nach Glauben und Pflicht nicht anders handeln konnte. Ich will sterben, aber ich flehe Dich zuvor um eines an – bei der Wonne, die ich einst an Deinem Herzen getrunken – bei den Tagen voll Glück, die ich an Deiner Seite verlebt – bei Deiner Liebe zu mir, deren Gedächtnis keine Schmach und Rache verlöscht in dem klopfenden Herzen – um eines flehe ich Dich – –«

»Was willst Du von mir?«

»Meine Ehre ist verpfändet, mein Name gebrandmarkt, wenn ich nicht diese Nacht Sebastopol erreiche. Noch ist es Zeit – noch kann verdoppelte Eile das Versäumte ersetzen – Weib – Teufel – Dämon – Ewiggeliebte – sende mich nach Sebastopol, und ich schwöre Dir bei meinem Seelenheil, ich stelle mich morgen Dir freiwillig als Dein Opfer.«

Er rutschte auf den Knien zu ihr, er streckte die gefesselten Hände zu ihr empor, er lag vor ihr – verzweifelnd, flehend – von dem Hauch ihres Mundes Gewährung heischend – der kräftige Mann ein verächtliches Rohr in der Hand eines Weibes, der Staub unter ihrer Sohle.

»Denkst Du an den Turm von Skadar, Nicolas Grivas, und wie Fatinitzas Liebe Dich aus Deinem Kerker geholt?«

Er beugte das Haupt.

»Ich gedenke dessen, Fatinitza!«

»Als die Kugeln sausten und die Schwerter blitzten vor der Kula des Popowitsch Gradjani – gedenkst Du der Stunde, als die Wölfin von Skadar, die Tochter des Propheten, den Feind ihres Volkes und ihres Glaubens aus den Armen Azraëls gerettet, des Todesengels, und geführt zu der Insel im See?«

»Barmherzigkeit! – mit Flammenschrift ist es eingegraben in diesem Herzen!«

»Kennt Grivas, der Grieche, den Kiosk am See von Skadar, wo Fatinitza seine Wunden geheilt? Die dunklen Wellen des Sees, auf denen der Verräter einst geflohen und die das Geheimnis zu wahren, jetzt über den Leichen der drei Sklaven fluten, die den Kranken bedient im Kiosk!?«

Nur das Stöhnen des Mannes antwortete ihr.

»Wie der Pelikan mit seinem Herzblut das Junge nährt,« fuhr die Türkin eintönig fort, »also nährte Fatinitza an ihrem Herzen die Schlange, deren Gift sie verderben sollte. Tausend Eide schwor er ihr, während sie mit Gefahr ihres Lebens den greisen Vater hinterging und seinen Bitten trotzte; und, als die Stunde der Prüfung gekommen, da warf er sie fort wie ein geknicktes Rohr und floh zu seinen Freunden und lud den Fluch und den Tod des Vaters auf ihr verbrecherisches Haupt.«

»Dein Bild, Fatinitza, hat mich aus dem Lande meiner Väter über Land und Meer gejagt!«

»Sie liebte ihn, und er stieß den Dolch des Undanks und der Schande zweimal in ihre Brust! Sie liebte ihn und gab ihr Leben für ihn, und er erschlug ihr den Vater und warf ihren Leib, der sein eigen geworden, den Lüsten seiner Krieger vor! – Fluch – Fluch – dreifacher Fluch über Dich, Nicolas Grivas! die Stunde ist da, es ist Zeit, unsere Rechnung zu schließen!«

Stumm lag er vor ihr im Staube.

»Du mußt nach Sebastopol, Nicolas Grivas?« fragte plötzlich die Türkin.

»Laß mich dort hin oder tödte mich auf der Stelle! Meine Ehre ist verpfändet.«

Sie blickte kalt und ruhig auf ihn hinunter, und ein leichter Hohn zuckte um ihren Mund. »Ich will Deine Bande durchschneiden, wandere durch die Gebirge zu der Stadt Deiner Freunde – auf Dein Haupt komme die Gefahr.«

Sie bückte sich und hatte, ehe er es noch bemerken konnte, die Fesseln an seinen Füßen durchschnitten.

»Geh' – Du bist frei!«

Er versuchte, aufzustehen, aber er taumelte; die Stricke hatten seine Füße so fest zusammengeschnürt, daß sie ohne Empfindung waren. Auch fühlte er, daß der Schlag des Lanzenschaftes, der ihn zu Boden gestreckt, seinen Kopf noch immer betäubte.

»Allmächtiger Gott – ich kann nicht! Wie vermöchte ich Sebastopol zu erreichen ohne Pferd – ohne Mittel durch die Scharen der Deinen zu dringen!«

Wiederum stand sie vor ihm mit in einander geschlagenen Armen und schaute mit Hohn auf den Griechen.

»Nicolas Grivas – die Geschändete, Verfluchte will Dich bis vor den Ort bringen, wohin Du verlangst, wenn Du ihr folgen willst – sie will Dich zur Stelle führen, noch ehe der erste Morgenstrahl über jene Gebirge dämmert. Willst Du ihr folgen?«

»Fatinitza – Retterin in der Not – Du gibst mir doppelt das Leben zurück!«

»So harre meiner hier, indeß ich die Vorbereitungen treffe. Zu dem Ziel, das wir zusammen erreichen wollen, liegt dort der Weg!«

Ihre Hand deutete nach dem Meer – dann glitt sie gewandt und leicht den Abhang hinunter und war im Augenblick verschwunden.

Der junge Mann hatte sie begriffen. Konnte er an der Küste hin in einem Boot den Eingang der Bai von Sebastopol oder eines der Forts erreichen, so war keine Zeit verloren, sein Auftrag erfüllt und die Armee der Feinde in den Schluchten der Tschernaja verloren.

Es verging eine Viertelstunde, die dem jungen Manne zur Ewigkeit wurde. Er versuchte auf dem Felsplateau hin und her zu gehen, doch wenn er sich dem Abhang näherte, an dem Fatinitza verschwunden war, fand er Scheitan, den Molosserhund, ihm den Weg versperrend.

Endlich erschien die Türkin wieder und winkte ihm schweigend, zu folgen. Sie führte ihn hinunter zum Strand, der einsam und verlassen war und an dem in einer Buchtung des Flusses ein Ruderboot schaukelte. Der kleine Mast war eingesetzt, leicht flatterte das Segel daran im Nachtwind.

»Steig ein, Nicolas Grivas,« sagte das Mädchen, »unsere Zeit ist gemessen.«

Er hielt ihr die noch gefesselten Hände entgegen.

»Willst Du die Bande nicht lösen, Fatinitza? – ich verstehe mich auf das Rudern.«

Sie neigte verneinend das Haupt.

»Du bist der Feind meines Volkes und ich ein Weib und allein. Am See von Skadar hat mein Ruder mich oft zu Dir getragen – diese Hand ist stark genug, uns auch jetzt durch die Brandung zu führen.«

Auf ihren Wink nahm er im Vorderteile des Bootes Platz, während sie die Ruder ergriff. Scheitan, der Hund, hockte am Segelbaum, zwischen ihm und ihr, mit klugem Auge den Gefangenen bewachend und zuweilen seine Füße leckend, dann aber wieder, wenn er eine Bewegung machte, sich zu nähern, das scharfe, weiße Gebiß gegen ihn fletschend. Mit kräftiger Hand nahm die Türkin das Ruder, – so stießen sie hinaus in die schäumende Brandung.

Mit den rückprallenden Wellen schoß das Boot über den weißen Rand dahin und war in wenigen Minuten in verhältnismäßig ruhigem Wasser. Eine frische Brise wehte jetzt gegen Morgen von Nord-Osten her, und die Türkin legte die Ruder nieder, spannte das Segel und setzte sich an das Steuer. So saßen sie an beiden Schiffsenden gegenüber, während das Boot wie ein gespornter Renner durch die Wogen dahin flog, hinein in Nacht und Meer.

»Du entfernst Dich zu weit vom Lande, Fatinitza,« sagte der Grieche, »wir werden sicherer sein im Schutz des Ufers, als auf der freien See.«

Das Weib lachte, aber dies Lachen klang heiser und wild.

»Ich habe versprochen, Dich nach Sebastopol zu führen; den Weg überlaß mir. Am Ufer kreuzen die Kähne, welche die Franken zu ihren Schiffen führen. Die Mündung des Bjelbek, wo unsere Krieger lagern, ist belebt von den feuerschnaubenden Booten der Isauris.«

Der Grund schien genügend. In der Tat sah man in den Schatten des Ufers den Feuerschein mehrerer kleiner Dampfschiffe, die dort kreuzten und zwischen der Flotte und dem Lande hin und her glitten. Dennoch konnte der Grieche sich einer unbestimmten Angst nicht entschlagen, als das Boot immer weiter auf die Höhe trieb. Mit Geschick wich die Türkin den dunklen Schiffskolossen aus, die, an den von Ferne leuchtenden Gaffellaternen kenntlich, weithin das Meer bedeckten. Endlich löste sie das Tau, welches das Segel hielt, hob den Baum aus seiner Fuge und warf ihn über die Seite des Bootes.

»Um der Heiligen willen, was tust Du?«

Er war aufgesprungen und haschte mit den gefesselten Händen nach der dahin treibenden Leinwand.

»Bleibe auf Deinem Platz, Nicolas Grivas,« sagte ruhig das Mädchen, »das Segel würde uns verraten, wenn wir an jenen Schiffen vorüber kommen. Die Ruder werden genügen.«

»Aber es ist Zeit, Fatinitza, daß wir wenden. Wir sind auf der Höhe der See und der Eingang der Bucht ist fast eine Stunde ostwärts von uns entfernt. Wenn wir nicht eilen, bricht der Tag herauf und wir wären verloren.«

Ein Plätschern – der Fall beider Ruder ins Wasser, antwortete ihm.

»Wir sind es, Nicolas Grivas – wir sind auf der Höhe von Sebastopol – ich habe gehalten, was ich Dir versprach. Jetzt, Nicolas Grivas, der Du über den See von Skadar schwammst, um Fatinitza zu entfliehen – versuche Deine Kraft, um Dein Ziel zu erreichen.«

»Wahnsinnige, selbst wenn diese Arme nicht gefesselt wären, vermöchte ich nicht den dritten Teil dieser Entfernung zurück zu legen.«

»Es ist eine Sage in Deinem Volke, von der Du mir selbst erzählt hast im Kiosk am See und in den goldenen Gemächern des Harems meines Vaters, daß ein Grieche zu der Geliebten schwamm über die Gewässer, die dieses Meer mit Deiner Heimat verbinden. Abydos nennt man die Stelle, wenn mein Gedächtnis Deine Worte behalten. Was Deine Väter um der Liebe zu einem Weibe willen vermochten, wird ein Grieche doch tun, um die Verratene zu verlassen!«

Ein finsterer Hohn lag in den Worten, – er achtete nicht auf ihn, aufrecht stehend im Boot verfolgten seine Augen die auf den Wogen davon schaukelnden Ruder, die er in der Dämmerung noch zu erkennen vermochte, welche sich im Osten über die Felswände von Sebastopol zu erheben begann.

»Fatinitza – rasch, rasch – löse diesen Strick von meinen Händen, daß ich den Rudern nachschwimmen und sie zurückholen kann.«

Er streckte ihr die Hände entgegen, während sein Auge nicht die Ruderstangen verließ, an deren Wiedergewinnung ihre Rettung hing; noch hatte seine Seele nicht die furchtbare Absicht des Mädchens begriffen.

»Tor – denke an Dein Leben – nicht an jene gebrechlichen Ruder; dort ist Sebastopol, Nicolas Grivas – und hier werden wir sterben!«

Er starrte sie an, wild, verworren – wäre ihm der Tod gekommen im Schlachtgewühl von ihrer Hand, – hätte sie ihn erschlagen, als er gefangen vor ihr lag – er hätte ihr Recht begriffen und wäre mutig gestorben. Jetzt aber, hier so nahe dem Ziel, in dem Glauben, gerettet, frei zu sein, bäumten alle Pulse des Lebens in ihm gegen das Gespenst des Sterbens sich auf, das in den Worten der Wölfin vor ihm empor stieg.

»Du bist der letzte von den Söhnen des Isauri,« fuhr das Weib fort, »die den Leib der Tochter Selims geschaut und berührt! – Jene Frechen, denen Dein Verrat mich vorwarf, sind gestorben von dieser Hand, wie ich es geschworen in jener Stunde. Dich hat Fatinitza geliebt, darum bist Du der letzte und magst sterben in Frieden mit Deinem Gott!«

Ihre Hände zogen die beiden Pistolen aus dem Gürtel und spannten die Hähne.

»Tigerin, Du willst mich kaltblütig morden?«

Er sprang auf sie zu, doch im Nu richtete die riesige Dogge vor ihm sich auf und legte drohend die Pfoten auf seine Schultern. Fatinitza aber lächelte verächtlich.

»Nicht meine Hand soll den Tod Dir geben, Hellene; der Gott unserer Väter richte über uns beide.«

Und die Läufe der Pistolen auf den Boden des Bootes richtend, wo die Fugen der Hölzer sich zusammenbinden, berührten ihre Finger die Drücker und die Kugeln schlugen dicht neben einander ein Loch, durch das im Augenblick das Wasser hereinquoll.

»Halte ihn, Scheitan!«

Sie warf ihre Pistolen über Bord und erweiterte mit drei kräftigen Stößen des Handjars die Öffnung – dann fiel die letzte Waffe ins Meer.

»Fatinitza, halt ein – Du bereitest Deinen eigenen Tod!«

»Der Mann, der in meinen Armen geruht im warmen Leben, wird darin liegen auch in der Tiefe. Der Tod sühnt Deinen Verrat, und Fatinitza wird sterben mit Dir!«

Er fiel auf die Knie, er preßte die gefesselten Hände vor die Augen, während Liebe, Reue, Verzweiflung und Schrecken seine Seele bestürmten, – dann wieder sprang er empor und schaute wild umher auf das Weib im Spiegel des Bootes, das jetzt ein Spiel der Wellen dahin trieb, – auf der Wasserwüste umher – auf Himmel und Land; – seine Hände wandten sich verzweifelnd gegen die Bande, die sie fesselten, und seine Blicke begegneten voll Angst und Wut den traurigen Augen des Mädchens.

Über die Felsenhöhen von Sebastopol, das etwa eine halbe Meile entfernt lag, zog dämmernd der Morgen – und jener liebliche Stern, der Begleiter der Nacht, die Poesie aller Völker begann zu erbleichen in jenem Licht, dessen Nahen er verkündet.

Heilige Ruhe lag über Wolken und See und im Dunkel ruhte noch das Land, das bald erbeben sollte Nacht und Tag im Flammenschein von tausend Geschützen. Deutlich waren in der hereinbrechenden Dämmerung der Eingang der Bai und die riesigen Felsenforts zu seinen Seiten zu erkennen. Nach Norden und Westen zu hoben sich aus den Nebeln, die leise über das Meer wallten, dunkle Kolosse, die Schiffe der Alliierten.

In der Entfernung von kaum dreihundert Faden erblickte der verzweifelnde Mann eines derselben, das nächste von allen. Er hob die Hände winkend empor, sein Ruf um Hilfe, um Beistand scholl über die See, bis seine Stimme heiser ward, bis er erschöpft auf die Bank des Bootes zurückfiel.

Das Wasser, das langsam in das Boot eindrang, stand bereits über den Knöcheln seiner Füße.

Das Mädchen lächelte traurig bei den wahnsinnigen Anstrengungen des Mannes. Sie wußte, daß der Wind jetzt hinein in die Bucht stand und kein menschlicher Ruf jene Schiffe erreichen konnte, daß mit jedem Augenblick dem Strome des Meeres zur Bai folgend, der Todeskahn sich immer weiter von jenen Schiffen entfernte und sinken mußte, ehe die schnellste Rettung sie zu ereilen vermochte.

»Soll Fatinitza, die Wölfin von Skadar, einen Feigling geliebt haben? Willst Du sie beschimpfen noch in ihrer letzten Stunde, da Azraël seinen schwarzen Fittich senkt auf ihr Haupt?«

Er blickte starr auf sie – in seinen Zügen kämpften der Männerstolz, die Scham vor dem schwachen Weibe, seiner Mörderin, die mit ihm sterben wollte, mit der menschlichen Schwäche und Furcht.

O, das Leben – das Leben – das nur einmal verloren geht! – verloren? – oder sollte es eine Wiederkehr geben – einen Kreislauf der Leben – ein Wiederkommen zur schönen Erde – ohne Wissen – in anderer Gestalt! – Wäre jene dunkle Erinnerung von gleichen Szenen, Bildern und Gestalten, die oft wie ein Blitz vergeht, das Zeichen einer Seelenwanderung?


Höher und höher schwoll die Flut im Kahn – ängstlich, keuchend, sprang der Hund auf den Bänken des Bootes hin und her, tiefer und tiefer sanken die Planken, die allein noch waren zwischen ihnen und der Ewigkeit.

»Laß uns beten, Geliebter – Du zu Deinem Gott, wie ich zu Allah und dem Propheten. Mein Haß ist dahin, wie meine Schande; der Gott der Christen und der Moslems wird für die Gereinigten nur ein Paradies haben!«

Und über die Berge zuckte ein lichter Strahl der noch verborgenen Sonne, die Meereshöhe vergoldend, und vom Fort Konstantin donnerte der Reveilleschuß über Land und See.

Der Kahn begann zu schwanken und sich zu drehen – laut heulte der Hund. –

»Dschel! – Dschel!«, und sie erhob sich.


Bis über die Knie reichte die Flut, in der sie jetzt stand und über die Bänke hin mit ausgebreiteten Armen auf ihn zuschritt.

»Dschel! – Dschel!«

Das war jenes Wort, das erste, das er von ihren Lippen gehört – das Sirenenwort, das im Turm von Skadar ihm entgegen scholl, sinnverwirrend, von dem weichen Lager von Wolfsfellen, hinter dem Teppich des stillen Gemachs – –

»Dschel!«

Und rascher und rascher drehte sich das Boot im Wirbel, und die See gurgelte herauf durch das Leck!

Sie hatte ihn erreicht und dann – – –


Am Bord des Niger, der am Abend das 42. Regiment eingeschifft und jetzt, auf den Dampfer wartend, der ihn nach Süden bugsieren sollte, auf der Höhe des Meeres vor Sebastopol lag, hatten Master Malcolm, der zweite Leutnant und der Midshipman Maubridge die letzte Nachtwache. Der Leutnant schritt auf dem Gangweg auf und ab, zuweilen einen Blick nach dem Tauwerk oder unwillig nach den Soldatengruppen werfend, die überall in festem Schlaf umherlagernd, ihm den Weg versperrten.

Die Morgendämmerung kam über die Berghöhen jenseits der Festung und fiel lichter und lichter auf die Fläche des Meeres. Der Leutnant blickte nach der Wanduhr, die ihm zeigte, daß in wenigen Minuten seine Wache zu Ende war, und sah sich nach dem Midshipman um, der dem Mann im Vorderkastell den Befehl bringen sollte, aufzupassen auf die Glocken.

Master Maubridge war jedoch nirgends zu schauen und ärgerlich stieg der Leutnant zum Hinterdeck hinauf und ging nach dem Steuer. Neben dem Steuermannsmat vom Dienst saß der alte Deckmeister Adams, der bereits seine Koje verlassen hatte und heraufgekommen war. Der Alte erhob sich sogleich, da er nur Offizier des Vorderkastells war und kein Recht an dem Platz auf dem Hinterdeck hatte.

»Guten Morgen, Sir,« sagte der Deckmeister. »Ich glaube, wir werden bei Sonnenaufgang eine Brise von Osten haben, und das hat mich heraufgetrieben noch vor den Glocken, damit alles in Ordnung ist. Je eher wir die Landkrebse wieder los werden, desto besser für die Ordnung auf dem alten Niger.«

»Haben Sie den Midshipman der Wache gesehen?«

»Master Maubridge, Sir?«

»Jawohl – Ihren Zögling. Gott verdamm seine Augen! er macht Ihnen wenig Ehre.«

»Es ist ein junges Blut, Sir; aber vor einer Viertelstunde noch traf ich ihn an der großen Luke, wie er die Schildwacht den kleinen Gosset wecken hieß, der nach ihm Wache hat.«

»Master Gosset wird sich hoffentlich bedanken, seine Hängematte zu verlassen, bevor das Glockenzeichen gegeben ist, denn wenn die jungen Hallunken zusammen sind, treiben sie nichts wie Unheil. Goddam! ich glaube, da gibt es schon welches!«

Ein Lärmen auf dem Vorderkastell hatte sich erhoben, und man hörte eine laute Stimme eine Reihe von gälischen Flüchen, untermischt mit den wildesten Drohungen hervorsprudeln.

»So wahr meiner Mutter Sohn Angus-Mac-Mahor ist, ich schneide dem jungen Hunde die Kehle ab. Halte ihn fest, Evan Dhu, den jungen Schänder, bis dieser Brut mein hochländisches Messer die Ohren vom Schädel geschnitten hat.«

Ein fürchterliches Gebrüll des kleinen Gosset, und der Hilferuf des Master Frank Maubridge ließ den alten Deckmeister rasch die Treppe hinunter springen und über die Beine und Tornister der Soldaten stolpernd, nach dem Vorderschiff eilen. Der Leutnant folgte ihm, und die Szene, die sie hier erblickten, war, so lächerlich auch der Anblick war, nicht ohne Gefahr.

Ein riesiger Hochländer hatte den kleinen Gosset an der Kehle und hob und schüttelte ihn wie ein Rohr, im vollen Ernste bemüht, dem jungen Taugenichts mit seinem langen Messer die Ohren abzuschneiden, wogegen dieser natürlich mit Händen und Füßen sich wehrte, von Zeit zu Zeit, wenn die Eisenfaust des Soldaten ihm dazu Luft ließ, ein Zetergeschrei ausstoßend. Frank wehrte sich verzweifelt in den Händen eines zweiten Soldaten; ein Blick genügte dem Leutnant, die Ursache des Streites zu entdecken, denn beide junge Burschen hatten noch große Schiffspinsel in der Hand und Master Frank sogar noch den Blechtopf mit Farbe, dessen sie sich bedient; die Physiognomien der beiden erbitterten Hochländer und mehrerer anderer, die sich, von dem Lärm aufgeweckt, rings erhoben, sahen wahrhaft scheußlich aus, indem die Midshipmen ihren festen Schlaf benutzt hatten, die Gesichter ihnen mit den Querstreifen der Farben ihrer Plaids, Rot und Schwarz, zu bemalen.

Ein Faustschlag des alten Deckmeisters warf den Hochländer zurück, der Frank in seinen Händen hatte, und befreite den jungen Mann, der wie ein gejagter Hund durch die Gefahr drohende Gruppe schoß, auf den nächsten Hühnerkasten und von dort in das Takelwerk sprang, mit der Behendigkeit eines Affen an der Tauwand zum Mastkorb des Vordermastes emporrannte, denn mehrere der erbitterten Soldaten hatten ihre langen Dirks gezogen, als sie einer den anderen so schändlich verunstaltet sahen, und Evan-Dhu, ein Mann von den Inseln, den Adams zu Boden geschlagen, machte sich bereit, dem Deckmeister ernstlich zu Leibe zu gehen.

Größere Mühe hatte der Leutnant gehabt, den Knaben Gosset aus der Faust seines erbitterten Gegners zu befreien, was ihm nur mit Hilfe einiger herbeikommenden Matrosen der Wache gelang, die den halberwürgten Midshipman nach der Konstablerkammer brachten, wo einige Rippenstöße des sich eben zur Übernahme der Wache rüstenden dritten Leutnants und ein ihm ins Gesicht gegossenes Waschbecken voll Wasser ihn wieder auf die Beine brachten.

Die hochländischen Soldaten, die sich anfangs der Rettung der beiden Verbrecher mit Gewalt hatten widersetzen wollen, wurden durch den Sergeant-Major ihrer Kompagnie mit dem Versprechen, daß die Midshipmen streng bestraft werden sollten, zur Ruhe gebracht. Sie legten sich jedoch nicht wieder zum Schlaf, sondern setzten sich, da sie noch kein Wasser zur Reinigung ihrer Pysiognomieen erhalten konnten und die schadenfrohen Matrosen ihnen die Eimer weigerten, in ihre Plaids gehüllt, im Kreis zusammen. Die verdächtigen Blicke, die sie nach dem Mastkorb warfen, weissagten Master Frank, der nach überstandener Gefahr sie, die Hände in den Taschen, über die Brüstung seiner sicheren Stellung von oben herunter angrinste, nichts Gutes.

Leutnant Malcolm, der selbst ein Schotte war, ärgerte sich natürlich gewaltig über den nichtsnutzigen Streich der beiden jungen Burschen, hatte aber den jungen Maubridge doch zu gern, um ihn einer Gefahr auszusetzen, und als die zwei Schläge auf die Schiffsglocke die Ablösung der ersten Morgenwache verkündet hatten und die Förmlichkeiten der Übergabe des Schiffes an den dritten Leutnant erfüllt waren, der mit Gosset heraufkam, riet er, den letzteren auf dem Hinterdeck zu behalten und befahl Frank, über die Verbindungstaue nach dem Mastkorb des Hauptmastes sich zu begeben.

»Sobald Master Hunter auf Deck kommt, Erskine« sagte er zu seinem Nachfolger, »zeigen Sie die Sache an. Ich lasse ihn bitten, den jungen Hallunken da oben den ganzen Tag im Mastkorb zu lassen, damit ihm die Sonne die Haut so rot brät, wie er sie den ehrlichen Kerlen dort gemacht hat, und diesen kleinen Tagedieb dazu. Schade, daß die beiden Burschen wie Gentlemen behandelt werden sollen, während ein Tauende ihnen das dienlichste sein würde. Gute Wache, Erskine.«

»Ich danke Ihnen, Master Macdonald, für die wohlwollende Absicht,« sagte Frank, der von dem unteren Korb des Hauptmastes die Worte gehört, mit echter Midshipmen-Frechheit, »jedenfalls habe ich schon deshalb auf die Behandlung eines Gentleman Anspruch, weil ich als solcher meine Wirtshausrechnungen selbst bezahle.«

Der zweite Leutnant rannte wütend hinunter, während Erskine lachte, denn es war bekannt, das Malcolm, der der Sohn eines Werftaufsehers in Glasgow war, bei solchen Gelegenheiten sehr gern die besser gefüllten Börsen seiner Kameraden benutzte.

»Sie werden sich in ernste Ungelegenheiten bringen, Master Frank,« sagte Erskine, indem er die Treppe zum Hinterkastell emporstieg, »und alle Vorliebe des Kapitäns wird Sie diesmal vor strenger Strafe nicht schützen können. Benutzen Sie die Zeit da oben, um Ausguck zu halten.«

»Halt Sir,« rief der junge Mann, »das hab' ich schon getan, seit ich hier oben bin. Ich bitte Sie, Erskine, lassen Sie mir durch Gosset das Nachtglas reichen. Ich sehe dort in der Entfernung einer halben Meile einen dunklen Gegenstand auf der See – zwischen uns und dem Ufer – aber das Licht ist noch nicht scharf genug, ihn zu erkennen, und James hier sagt mir, daß er schon seit einer halben Stunde das Ding beobachtet hat.«

Auf einen Wink des Leutnants brachte Gosset seinem Freunde das Nachtglas nach oben.

»Was ist es, Maubridge? wahrscheinlich ein Rekognoszierungsboot von der Fury, die einen Kanonenschuß von uns liegt.«

»Es ist ein Boot, Sir, aber keines der unseren. – Warten Sie – jetzt hab' ich den Burschen und der Tag kommt. – So wahr der Baronet, mein Bruder, mir die schönste Odaliske in ganz Konstantinopel gestohlen hat – das Ding ist seltsam! Zwei Personen sitzen in dem Boot, das ohne Ruder und Segel auf den Wellen treibt – in der Mitte ein großer Hund – die eine scheint russische Kleidung zu tragen – die andere ein Weib, ihre langen Zöpfe fliegen im Winde – –«

»Zum Henker was bedeutet das alles?«

»Ich weiß es nicht, – aber das Boot kentert und scheint leck – jetzt erhebt sich das Weib, breitet die Arme aus – Goddam, da kommt der erste Sonnenstrahl über das Gebirge und blendet mich – –«

»Es werden Unglückliche sein, die von einem Schiff abgetrieben und in Not sind,« sagte der wackere Erskine. »Herunter Frank, und in die Jolle, ihnen zu Hilfe. Master Adams, vier Matrosen von der Wache – rasch!«

Über die Felsen und die Bai von Sebastopol schossen glänzend die ersten Strahlen der Sonne empor, weithin Land und Meer vergoldend – in ihrem Glanze ließ Frank Maubridge, der leichtherzige, kecke Midshipman des Niger, seine Blicke über den Spiegel des Meeres irren, das Boot suchend. – –

Er suchte vergebens! – Einen Augenblick schien es ihm, als sähe er eine dunkle Gestalt, gleich einer großen Dogge kräftig gegen die Wellen kämpfen, in ihren Zähnen ein Gewand – doch die Entfernung war zu groß – und die nächste Woge verschlang die Erscheinung. Weithin unterbrach nichts den wogenden Spiegel der Wellen.

»Zu spät – das Boot ist versunken – keine Spur mehr zu sehen!« – –

Da ruhen Sie, der Sohn des geknechteten Hellas von den Armen des Türkenmädchens umschlungen, und in ihre Gewänder verbissen der treue Molosserhund; – da ruhen sie auf dem Felsengrund des Pontus: – Nicolas Grivas, der Bruder des Caraiskakis, und Fatinitza, die Wölfin von Skadar, und der erste Sonnenstrahl über die Felsen von Taurien war ihr Grabbegleiter.

Da ruhen sie – die Donner von tausend Geschützen sangen elf Monde über ihrem Grab das Totenlied.


So geschah es, daß die Armee der Alliierten durch die Schluchten der Tschernaja am 25. September ungehindert die Südseite von Sebastopol erreichte und Balaclawa nahm.


Des Kampfes Beginn.

I. Der Tartar.

Die spanische Tänzerin war wieder in Berlin und hatte zur Captatio benevolentiae ihrer Hüftenexperimente eine Gastvorstellung zum Besten der schlesischen Überschwemmten ankündigen lassen. Das schöne und interessante Weib hing an Berlin wegen der ersten Triumphe, die sie hier gefeiert, und kehrte daher von allen Kunstreisen immer wieder zum komfortablen Hotel Unter den Linden zurück, wenn sie sich auch manchmal mit dem galanten und aufmerksamen Wirt überwarf; denn sie verstand es zu schätzen, daß er an seiner Table-d'hôte mit ihrem Atlasschuh für den wunderkleinen dazu gehörigen Fuß Propaganda machte. Diesmal hatte sie ein Brief mit dem geheimnisvollen Zeichen nach Berlin beschieden, und einstweilen, da die Vorbereitungen zu der neuen Posse von Kalisch: »Die Bummler von Berlin,« ihr Auftreten verzögerten, langweilte sich, weiterer Nachrichten harrend, die Donna. Sie spielte darum die Amazone, indem sie im Hermelin die Peitsche schwang und mit dem eleganten Brougham durch die Straßen der Residenz kutschierte.

Die Sennora hatte, bis auf jenen plötzlichen Ruf, nichts wieder von ihren geheimen Beschützern gehört und gedachte kaum noch des kleinen Dienstes, den sie ihnen durch Empfehlung zweier unbedeutender Diener vor längerer Zeit erwiesen, als sie zufällig in einem Journal den Namen des Fremden zu Gesicht bekam, der ihr damals seinen Besuch gemacht. Er figurierte jetzt als fremder Kondottiere, und der rote Felsen von Helgoland gab das Echo mancher Verwünschung zurück, die betrogene Erwartung und getäuschte Hoffnung dort seinen Lockungen zu spät erschallen ließen.

Dennoch hatte die Erfüllung jenes Auftrages, so gering die Masche auch schien, in dem Netze ereignisschwerer Verwickelungen, das sich über Europa spann, unberechenbare Folgen gehabt. Wenige nur ahnten und wußten, daß die preußische Residenz der Knotenpunkt einer geheimen Spionage geworden war, die ihre Nachrichten nach Paris, London und Turin, in die Heerlager der Despotie, des konstitutionellen Liberalismus und der republikanischen Propaganda verkaufte. Merkwürdigerweise war es gerade das ehrliche Preußen, dessen Fürst in den politischen Wirren ein Bild der Festigkeit und Gerechtigkeit gab, wo politische Intrigue im stillen mächtige Hebel in Bewegung setzte, und den schmutzigsten Verrat verächtlicher Hausdiebe benutzte.

Wir haben gesehen, auf welche Weise über Berlin wichtige Nachrichten aus den Kreisen der angegriffenen Macht in die Hände ihrer Gegner gelangten. Neben diesem Getriebe der Habsucht ging, wie gesagt, auch manches Spiel verdeckten Ehrgeizes und politischer Gegnerschaft seinen Gang und bedurfte in der Tat einer öffentlichen Beschämung und eines blutigen Todes, um jener egoistischen Intriguenwirtschaft vor dem Throne Preußens Halt zu gebieten und ein Ende zu machen, welche zur Demoralisierung der Staaten führt und dem »Bürgerkönig« sein Exil bereitet hat.

Seit vierundzwanzig Stunden jedoch beschäftigte der lebhafte Geist der Spanierin sich angelegentlichst mit der Ankunft mehrerer interessanter Fremder, die das Hotel gewählt. Drei darunter, die sie bei der Ankunft am Tage vorher flüchtig gesehen, schienen ihr nicht unbekannt, und das Fremdenbuch, das der gefällige Hotelier ihr präsentierte, gab ihr wenigstens über das erste Paar Auskunft. Sie erinnerte sich, den Herrn und die Dame einmal in Gesellschaft in Wien, vor Jahresfrist gesehen zu haben: den sardinischen Obersten, Grafen Pisani, der, wie die Nachricht auswies, mit seiner Gattin von London kam. Der dritte, dessen Gesicht ihr nur sehr oberflächlich bekannt schien, war ein kleiner, magerer Mann mit fuchsartigem Gesicht und bereits vor zwei Tagen von Wien eingetroffen. Der Fremdenzettel nannte ihn Bankier Thomas.

Mehr aber als diese Persönlichkeiten, deren sie sich nur unbestimmt erinnerte, interessierte sie eine vierte, welche die schöne Donna noch nicht zu Gesicht bekommen, obschon das ganze Hotel voll von ihren Sonderbarkeiten und dem Rufe ihres unermeßlichen Reichtums schien. Es war ein noch junger, russischer Bojar, den einige übermütige Streiche schon im Sommer aus Petersburg verwiesen hatten und der, da London und Paris ihm durch die Kriegsverhältnisse verboten waren, in den deutschen Bädern und Residenzen umherzog und Geld mit vollen Händen verschwendete.

Es war gegen Mittag des Tages, als die Spanierin, das Ponygespann mit gewandter Hand lenkend, auf der Rückkehr von der Spazierfahrt vor der Tür des Hauses vorfuhr und bemerkte, daß sich ein ungewöhnlicher Auftritt eben zugetragen haben mußte. Mehrere der Gäste standen lachend auf der Treppe oder vor den Zimmern, zwei Konstabler im Flur, und von dem Korridor des ersten Stockes hörte man eine laute Stimme allerlei Verwünschungen auf Deutsch, Französisch und Russisch hervorsprudeln. Während einer der nahestehenden Herren der Tänzerin die Hand reichte, an der sie leicht aus dem Wagen sprang und die Stufen hinaufeilte, kam ein hübsches Mädchen in einfacher, aber netter Kleidung ihr entgegen, das Gesicht freudestrahlend, obschon auf den jugendlichen Wangen noch Spuren von Tränen zu sehen waren. Ihre Hand hielt eine kleine Brieftasche sorgfältig wie einen Schatz und wollte damit hastig aus der Tür eilen, als einer der Konstabler sie rauh am Arme faßte.

»Halt, Mamsell, Sie gehen mit uns!«

»Lassen Sie die Dirne zum Henker laufen,« sagte unwillig eine Stimme hinter dem Mädchen, »und kommen Sie fort. Der Russe ist ein Narr mit seinem Gelde, und wenn unsere Berliner Loretten davon hören, stürmen sie Ihr Hotel.«

Der Wirt, zu dem der Beamte, der ziemlich verdrießlich aussah, die letzten Worte sagte, lächelte spöttisch, schwieg jedoch mit dem Takt des klugen Mannes, der es mit der Polizei nicht gern verdirbt, und führte die Spanierin die Treppe hinauf; von der Höhe aber übernahm die schon früher gehörte scheltende Stimme die Antwort.

»Wenn ich mich von der Polizei belästigen lassen wollte, Skotina!« schalt sie, »dann konnte ich in Rußland bleiben. Zum Henker mit solcher Quälerei, ich mag von Berlin nichts mehr wissen; Herr Wirt, schicken Sie mir meine Rechnung! ich reise in einer Stunde.«

Der Hausherr ließ die Tänzerin erschrocken stehen und sprang zu dem reichen Gast.

»Eure Durchlaucht werden mich doch nicht die Ungeschicklichkeit der Polizei entgelten lassen? Der gnädige Herr haben in Berlin noch so viel zu sehen – und sehen Sie da, eben kommt eine seiner interessantesten Erscheinungen, die spanische Donna, von der ich Ihnen schon gesagt.«

Der Bojar wandte sich zur Seite und kniff das Lorgnon ins Auge. Die Tänzerin stand vor ihm und betrachtete den schönen Mann mit feurigem, festem Blick. Im Moment verschwand das brüske, übermütige Wesen des Russen, er machte eine höfliche Verbeugung, indem er zurücktrat und die Spanierin vorüberrauschte. Seine Hand hielt den Wirt, der ihr folgen wollte, einen Augenblick zurück. »Diniert die Donna an Ihrer Table d'hôte?«

»Zuweilen, Durchlaucht, ich glaube, daß sie es heute tun wird.«

»So benachrichtigen Sie mich davon und belegen Sie ein Kouvert neben ihrem Platz. Man braucht mir nicht in meinem Zimmer zu servieren.« –

An der Tür ihres Salons empfing die Tänzerin bereits den aufmerksamen Wirt.

»War das der Russe, Monsieur?«

»Gewiß, Sennora, und Sie haben bereits eine Eroberung an ihm gemacht. Der Fürst fragte, ob Sie die Table d'hôte beehren würden?«

»Ah – bah! wir wollen sehen! Was war das für eine Szene, als ich kam? bitte erzählen Sie!«

Der Hotelier lachte.

»Das Abenteuer ist wirklich pikant und wird Aufsehen machen. Der junge Fürst besuchte gestern den letzten Sommernachtsball bei Kroll und scheint da mit einer kleinen Grisette soupiert zu haben, denn er kam spät nach Hause. Vor einer Stunde, während er noch schläft, erscheint ein Polizei-Agent, erkundigt sich nach dem Russen und verlangt, gemeldet zu werden. Ich muß nachgeben, und der Fürst erscheint sehr verdrießlich im Schlafrock. Die Szene war Goldes wert! Ich will versuchen, sie Ihnen dramatisch wiederzugeben!«

» Allons, Monsieur, ich warte!«

»Der Agent bittet sehr höflich um Entschuldigung für die Störung und fragt, ob Seine Durchlaucht gestern den Ball bei Kroll besucht? – ›Ja, mein Herr. Darf man das etwa in Berlin nicht?‹ – ›O, doch – nur erlauben Sie mir die Frage, ob Sie nicht dort bestohlen worden sind!‹ – Der Fürst sieht ihn groß an, dann seine Pretiosen nach, die auf dem Tisch liegen, und sagt: ›Ich denke nein. Jedenfalls vermisse ich nichts!‹ – ›Ich fürchte doch!‹ – Der Agent legt eine russische Banknote von hundert Rubeln auf den Tisch. – ›Was soll das?‹ – ›Entschuldigen, Durchlaucht, die Indiskretion – soupierten Sie mit einer kleinen Grisette?‹ – ›Jawohl, mein Herr, aber ich begreife wahrhaftig nicht –‹ – Der Agent öffnet die Tür und führt die junge Schöne herein, der Sie im Hausflur begegnet sein müssen. – ›Ist es diese?‹ fragt er triumphierend. – › Ktschortu! – allerdings – warum weinen Sie, Kind?‹ – ›Die Dirne hat Sie bestohlen, Durchlaucht. Man verhaftete sie heute morgen, als sie bei einem Bankier diese Banknote von hundert Rubeln wechseln wollte. Das Frauenzimmer log, sie hätte dieselbe von einem unbekannten Kavalier geschenkt bekommen und beschrieb die Person, aber wir kennen das! Unserer Aufmerksamkeit gelang es, zu ermitteln, daß der Fremde Eure Durchlaucht waren, und ich habe die Ehre, das gestohlene Gut zurückzustellen und nur ein kleines Protokoll zur Anerkennung der Person aufzunehmen.‹ – Das Mädchen weint und schluchzt und beteuert, daß sie keine Diebin sei; der Fürst aber wird ganz rot im Gesicht vor Ärger und schaut die Polizei an, als wolle er sie mit einem Bissen verschlingen. – ›Zum Teufel mit Ihrer Dienstfertigkeit! Geht Sie das was an, wenn ich diesem Mädchen etwas schenke?‹ – ›Nein – aber – wenigstens liegt ein Irrtum vor – man gibt einer Grisette doch nicht hundert Rubel –‹ – ›So? – nun –‹ der Fürst öffnet ein Portefeuille, holt noch fünf gleiche Scheine heraus und gibt sie dem Mädchen: ›Da haben Sie etwas für den Schreck, Kleine, und Sie, Herr, stören Sie die Leute wegen solcher Lumpereien nicht in ihrem Morgenschlaf.‹ – Sie hätten das Gesicht sehen müssen, Sennora, es war zum Malen!«

Beide lachten.

»Der Russe ist also sehr reich?«

»Sein italienischer Kammerdiener erzählt, daß er eine Million jährliche Einkünfte hat.«

»Demonio! – Nun, Sennor, ich habe mich besonnen – ich werde heut in Ihrer Gesellschaft dinieren.«


In dem Salon des zweiten Stockwerks fand zur selben Zeit eine andere interessante Unterredung statt zwischen zwei Personen, der im Nebenzimmer unbeachtet die Gräfin Pisani beiwohnte.

Noch kannte Helene Laszlo den Betrug nicht, dessen Opfer sie geworden. Aus den Zeitungsblättern hatte sie und zu seinem Erstaunen auch der Oberst erfahren, daß Kapitän Meyendorf im Stabe des Fürsten Gortschakoff der Belagerung von Silistria beigewohnt hatte. Sie erfüllte die Pflichten der Gattin stumm und still, in ihr Schicksal ergeben, aber ihr Leben war freudlos, bleicher wurde täglich die Wange, trüber das sonst so trotzige, feurige Auge, und an dem Herzen nagte der giftige Wurm. Denn wenigstens wußte sie jetzt, wie bitter sie sich in dem Manne getäuscht, dem sie in jener unglücklichen Stunde angetraut worden; sie hatte seinen Charakter voll Habgier und Ehrgeiz sich vor ihr entlarven und sich jener geschickten Maske liberaler Prinzipien und der Begeisterung und Tätigkeit für die Revolution entkleiden sehen. Nur der Egoismus waltete in ihm und leitete seine Schritte und seine trügerischen Handlungen. Schon der erste, den er nach der Heirat getan, war seine Verständigung und Aussöhnung mit der österreichischen Regierung, die ihm somit den Besitz des bedeutenden Grundvermögens seiner jungen Gattin sicherte. Es ging das Gerücht, daß er seitdem zu mehreren diplomatischen Missionen verwandt worden sei, deren Charakter stark das Gegenteil seiner früheren Tendenzen zeigte. –

Die Gräfin saß in dem durch die Tür geschlossenen Nebenzimmer, mit einer weiblichen Handarbeit beschäftigt, am Fenster, während der Graf, in der Bergère lehnend, eine Zigarette rauchte und bald mit hochmütigem, bald scharf beobachtendem Blick seinen Gast betrachtete. Dies war die als Bankier Thomas aus Wien im Fremdenbuch verzeichnete Person. Der sorgfältig arrangierte Haarwurf verdeckte die Tonsur auf dem Scheitel und nur die spitze, schlaue Physiognomie führte auf das Bild des kleinen hageren Abbé zurück, dem wir im Salon der Frau von Czezani in Wien begegneten.

Der Abbé oder Pseudo-Bankier saß in einem Fauteuil, halb hinter der breiten Lehne verborgen; das Manöver, sein Gesicht möglichst im Schatten zu halten, hatte ihm aber wenig genützt, denn der Graf war ein zu erfahrener Kämpe, um nicht auch seinerseits diese Vorsicht zu beobachten. So saßen die beiden Intriguanten einander gegenüber, gleich zwei gewandten, sich ihrer Kraft bewußten Gegner, jeder bemüht, die Blöße des anderen zu entdecken.

»Der Zufall oder das Glück wollten mir wohl, Graf,« sagte der Abbé, »daß ich Sie gerade in Berlin treffen muß. Man erwartete, wie ich höre, in Turin Ihre Rückkehr von London erst im nächsten Monat.«

Es schien ein verborgener Sinn in den Worten zu liegen, denn der Graf nahm die Zigarette aus dem Munde und warf einen raschen Blick auf den Sprecher.

»Bitte – wer erwartet mich?«

»Ei – Graf Cavour und die Brüder La Marmora!«

Der Schlug war direkt, und eine leichte Röte überzog das Gesicht des Getroffenen, der unter einem erkünstelten Lächeln seinen Ärger zu verbergen suchte.

»Unsere Oberen, lieber Freund,« sagte er endlich, »sind zwar immer sehr gut unterrichtet, aber seit sie gezwungen wurden, Paris zu verlassen und in den Kanton Tessin überzusiedeln, scheinen sie doch einige Fäden aus der Hand verloren zu haben.«

» Unsere Oberen?« – der Abbé blickte ihn schlau von der Seite an. – »Wir dürfen also hoffen, in dem künftigen General noch immer ein eifriges Mitglied des Bundes der Unsichtbaren zu besitzen?«

Diesmal wurde der Graf dunkelrot, dennoch überging er die Pointe der Antwort und sagte möglichst unbefangen:

»Wie mögen Sie oder andere Bundesmitglieder daran zweifeln, wenn ich auch in letzter Zeit weniger Gelegenheit gehabt habe, tätig zu sein. Sie wissen so gut wie ich, wenn Sie mich auch, wenigstens vorläufig, nicht daran erinnern wollen, daß uns außer unserem Eide manche Dinge der Vergangenheit unauflöslich verbinden –«

»Auch seitdem – zum Beispiel: Parma und der 26. März!«

»Still – um Gotteswillen l Was ich sagen will, ist, daß ich unverändert der Ihre bin, so weit es meine anderweitigen Verhältnisse nur gestatten.«

»Die sich durch die Heirat mit der schönen Nichte des Fürsten Esterhazy allerdings bedeutend verändert haben. Wir sind gewiß nicht unbillig, lieber Graf, und ehren nicht bloß das Recht der Flitterwochen, sondern selbst des Flitterjahres, tragen auch den Verhältnissen alle Rechnung und wünschen nur, daß unsere ehemaligen Mitglieder – wenn sie uns nicht mehr brauchen – unsere Pläne wenigstens nicht durchkreuzen

»Wie meinen Sie das?«

Der Abbé schien die Frage zu überhören, wenigstens antwortete er nicht direkt.

»A propos, Graf, wie hoch beläuft sich doch die aktive sardinische Armee? Als jetziger Adjutant des Generals La Marmora werden Sie das genau wissen?«

Diesmal schaute der Oberst jenen von der Seite an.

»Fünfundvierzigtausend Mann, Abbé. Seit wann beschäftigen Sie sich mit militärischer Statistik? – Doch,« fuhr er rasch fort, »da ich mich seit zwei Monaten auf Reisen befinde, weiß ich wenig von dem Stande der Verbindung und bitte Sie um einige Mitteilungen.«

»Sehr gern, Herr Graf, umsomehr, als ich Ihre Aufmerksamkeit doch dafür in Anspruch genommen hätte. Sie werden sich erinnern, daß am 26. März die Versammlung des Bundes in Paris gesprengt wurde und die Führer genötigt waren, wenigstens vorläufig Paris zu verlassen.«

»Es war zu der Zeit, wo wir uns zuletzt in Wien trafen.«

»Richtig, Sie brachten Ihre junge Gattin dahin zurück und machten Ihren Frieden mit der österreichischen Regierung.«

Der Graf rückte unbehaglich auf seinem Sessel.

»Können Sie mir das verdenken? Das ganze Vermögen meiner Frau liegt im Kaiserstaat. Ich habe in Sardinien nichts als meinen Sold.«

»O, sicher nicht, und Sie haben gesehen, wie wir es vermieden, Sie mit unseren Angelegenheiten zu behelligen. Die höchste Gewalt war damals zweifelhaft, wohin man den Rat verlegen sollte, ob nach London oder Piemont; zuletzt entschloß man sich für Tessin. Man wünschte Sardinien und Frankreich möglichst nahe zu sein. Der Tod des Bourbons in Parma hat in Ober-Italien tiefen Eindruck gemacht.«

»Ich weiß es. Wir unter uns können uns offen gestehen, daß wir seitdem eine große Niederlage erlitten haben. Die jetzigen europäischen Verwickelungen sind von uns ausgegangen, indem wir bei dem allgemeinen Sturm oder der allgemeinen Erschöpfung hofften, einen durchgreifenden Schlag tun zu können. Diese Hoffnung scheint sich nicht zu verwirklichen. Zunächst steht Deutschland dem Kampf fern durch die zähe Politik dieses verhaßten Preußens, das wir auf Rußlands Seite zu sehen hofften. England weigert sich demnach Polen, Ungarn und Italien zu revolutionieren und begnügt sich mit der Bildung einiger elender Fremdenlegionen, die für uns eine gute Hilfe gewesen wären, aber ein unzureichendes Mittel sind. Der Kaiser Napoleon endlich, unser Zögling und jetzt unser bitterster Gegner, hat die Maske abgeworfen, er hat die Leitung der europäischen Angelegenheiten uns aus der Hand gerissen und in der seinen konzentriert. Er weiß, daß er um die Herrschaft in Europa allein mit uns zu kämpfen hat, und – er hält die Revolution bereits unter seiner Faust, wie die Maßregeln in Paris und die politischen Prozesse durch ganz Frankreich jetzt zeigen.«

»Bis einer jener ›Zufälle‹ eintritt, die so oft die Geschichte geändert haben.«

Der Graf sah seinen Gefährten bei diesen Worten bedeutsam an.

»Wir wollen darauf hoffen. Unsere Stütze gegen die erschöpften und dezimierten Soldaten der kriegführenden Mächte wird dann die von dem jetzigen Krieg unberührte und gekräftigte sardinische Armee sein, das wissen Sie.« – Sein Blick fixierte dabei den Grafen, der eine gewisse Verlegenheit nicht zu bemeistern vermochte. »Selbst unsere geniale Finanzspekulation hat dieser Usurpator an sich gerissen. Sie wissen, daß Baron Ripéra zum Verräter geworden?«

»Ich hörte den Argwohn bei seinem Bankerott; man hat lange nichts von ihm vernommen?«

»Er hält sich gut verborgen mit Hilfe seiner Million, die ihm damals der Coup in Wien eingetragen, aber wir erkennen in vielem seine Hand und es ist kein Zweifel, daß er uns an Napoleon verraten hat. Die Gründung des Crédit mobilier ist sein Projekt, die Pereira`s sind seine Verwandten. Nach den achtzehnhunderttausend Franken, die wir bei seinem gut gespielten Fallissement verloren, sind uns wiederholt harte Schläge beigebracht worden, die beweisen, daß eine mit unseren Geldgeschäften ganz vertraute Hand dabei geholfen hat.«

»Aber was kann den Baron zu dem Verrat bewogen haben?«

»So viel ich weiß, eine Lektion, die er von dem Rat des Bundes erhielt und – ich glaube jener Vorgang im Landhaus der Frau von Czezani. Er war eine Memme, der dergleichen Schrecken einjagt. Doch genug von ihm, wir werden ihn ja zu finden wissen, trotz seines neuen Beschützers. Mein Aufenthalt hier in Berlin jedoch ist nicht ohne Bezug auf seinen Verrat. Wir wollen versuchen, unseren damaligen Verlust wieder zu gewinnen.«

Der Oberst horchte auf.

»Sie gewannen bei unserem Wiener Geschäft mit der Nachricht von der Kriegserklärung der Türkei auf Ihren Privatanteil zwanzigtausend Gulden. Ich glaube Ihnen das Doppelte dieser Summe versprechen zu können, wenn Sie mich unterstützen wollen.«

»Wie das?«

»Ich befinde mich seit drei Tagen hier, seit die Nachricht von der Almaschlacht hier bekannt ist, um den Augenblick für einen Coup abzupassen, der von uns von Wien aus dort, hier und in Paris an den Börsen vorbereitet wird. Indeß – ich fühle mich hier geniert; irgend ein Mißtrauen hat mir einen der verschmitztesten österreichischen Polizeiagenten nachgeschickt und ich sehe mich von dem Menschen auf allen Wegen beobachtet. Er logiert in dem Hotel gegenüber und belauert mich. Im entscheidenden Augenblick – und dieser ist heute – könnte er mir einen unangenehmen Streich spielen, und aus dieser Verlegenheit zieht mich Ihre Ankunft. Sie sind durch Ihre Heirat ein Verwandter des österreichischen Gesandten geworden und es wird Ihnen ein Leichtes sein, eines der jüngeren Mitglieder der Gesandtschaft zu bewegen, mit Ihnen heute die Börse zu besuchen, unter dem Vorwande, das Treiben daselbst kennen zu lernen.«

»Ich begreife aber noch nicht, was Sie eigentlich bezwecken?«

»Überlassen Sie mir die Überraschung; – die Presse ist in eine Falle gegangen, über die man Jahre lang lachen wird. Noch eines – haben Sie Kredite auf Berlin?«

»Auf Mendelssohn und Kompagnie tausend Dukaten.«

»Das wird für Sie genügen, außerdem garantiert leicht die österreichische Gesandtschaft Ihr Vermögen. – Wissen Sie, daß wir im Hotel noch einer bekannten, gewissermaßen zu uns gehörenden Persönlichkeit begegnen?«

»Sie meinen die spanische Tänzerin, die an jenem Abend im Salon zu Hietzing zugegen war?«

»Ja. Sie ist hierher bestellt. Sobald unsere finanzielle Aufgabe in Ordnung, werde ich sie nach Petersburg dirigieren. Wir haben zwar über Berlin Nachrichten von dort, doch scheint unser Spion hier nicht ehrliches Spiel mit uns zu treiben und das wichtigere für Paris und London aufzusparen. Man will einen Versuch mit der verführerischen Schönheit unserer Donna bei gewissen Personen machen. – Doch still – da kommt die Gräfin!«

Die Gräfin trat in das Zimmer.

»Der Kellner des Hotels meldet den Herrn von Treumund – ich weiß nicht, ob Sie den Mann haben rufen lassen?«

Der Abbé fiel ein:

»Ganz recht, lieber Graf – ich habe mir erlaubt, ihn hierher zu bestellen, ich bitte, lassen Sie ihn eintreten.«

Die Gräfin winkte nach der Tür zurück, dann wandte sie sich nochmals zu ihrem Gemahl:

»Ich beabsichtige, bei meiner Kousine einen Besuch abzustatten – werden Sie mich begleiten?«

»Ich habe Geschäfte, die mich daran hindern, und werde später dem Herrn Gesandten meine Aufwartung machen.«

Die Dame entfernte sich. – »Wer ist der Herr?« fragte der Graf.

»Er ist oder wird einer der gewandtesten Kourtiers Berlins. Als Korrespondent mehrerer französischer und deutscher Journale ist er nicht ohne Einfluß, durch seine Tätigkeit in allen Kreisen bekannt, durch das schlaue Geschäft seiner Adoption von einem alten Bummler adeligen Namens für die gute Gesellschaft möglich gemacht – zwar ist er augenblicklich von Schulden gedrückt, aber für unsere Absicht vortrefflich geeignet, und ich zweifle keinen Augenblick daran, daß er sich bald glänzend in die Höhe bringen wird, um so mehr, als er eben mit einem der ersten deutschen Spekulanten zur Benutzung der Presse in Verbindung getreten ist. Kennen Sie das Börsentreiben?«

»Ich habe noch nie einen Fuß in die Börse gesetzt.«

»So ist er gerade der Mann, um Sie in ihre Geheimnisse einzuweihen. Ich bitte, lassen Sie ihn kommen.«

Er nahm einige Papiere aus der Tasche, während der Kammerdiener des Grafen durch die Haupttür einen Fremden in den Salon einführte. Es war ein junger, hübscher Mann mit blondem Haar und Bart, bemüht, aristokratische Manieren zu zeigen, dem jedoch seine große Beweglichkeit entgegen war. Die Augen waren klein, blinzelnd und gutmütig.

Der Abbé – oder vielmehr Bankier – Thomas stellte den Fremden vor und nötigte ihn zum Sitzen.

»Graf Pisani,« sagte er, »ist vollkommen eingeweiht in das Geschäft und wird uns bei unserer heutigen Operation unterstützen. Die Zeit drängt, und so bitte ich sogleich um Ihren Bericht. Welchen Eindruck haben die gestrigen Abend-Nachrichten von Wien gemacht?«

»Das telegraphische Korrespondenz-Bureau hat sie noch am Abend verbreitet. Die heutigen Morgenblätter und die Abendzeitungen melden zwar nur unbestimmt: ›Westmächte im Besitz eines Forts von Sebastopol; Russen 15 000 Mann verloren; Fürst Menschikoff sechs Stunden Bedenkzeit erhalten.‹ Heute morgen ist aber bereits von Paris eine telegraphische Bestätigung eingetroffen, und man erwartet heute bei Beginn der Börse die ausführliche Nachricht.«

»Und die Kurse?«

»Sie gingen in der gestrigen Abendversammlung der kaufmännischen Ressource rapide in die Höhe und werden heute um drei bis vier Prozent steigen.«

»Sie haben russische und Schatzobligationen in verschiedenen kleinen Posten angeboten?«

»Ich bin nach Ihrer Bestimmung verfahren, aber niemand will sie, selbst zu 72 nicht.«

Der Abbé rieb sich vergnügt die Hände. »Es war vorauszusehen. Lassen Sie uns überblicken, wie unsere Geschäfte stehen.«

Der Berliner Kurtier öffnete das Portefeuille, das er in der Hand hielt, und nahm eine Note heraus.

»Rekapitulieren wir! Auf Grund der Kreditive von Eskeles und Sina kaufte ich an der Sonntags-Börse bei unseren drei ersten Bankhäusern 115 000 Gulden Metalliques zu 72¾.«

»Richtig, sie standen gestern bereits 75¼ und werden heute noch mehr in die Höhe gehen.«

»Ich hoffe es, indeß ist das schon ein Gewinn von 2775 Gulden. Ferner 300 000 Gulden Nordbahn zu 173.«

»In diesem Augenblick 179½.«

»Oberschlesische 180 000 Thaler zu 92½, 120 000 Gulden Neueste Anleihe zu 96¼ und 200 000 Thaler Cosel-Oderberger zu 163¼. Sie stehen bereits 205.«

»Der Schlag ist bedeutend. Die Käufe betragen nach meiner Berechnung also 1 060 000 Thaler.«

»Und der Gewinn in diesem Augenblick über 90 000.«

»Nun merken Sie wohl auf, lieber Freund, was ich Ihnen sage. Die Kurse werden heute und morgen noch schnell steigen, und die Nachfrage wird sehr bedeutend sein. Glauben Sie, daß Sie heute sämtliche Papiere, über die wir disponieren, zum heutigen Kurs für den 15. verkaufen können?«

»Unzweifelhaft – wenn wir so töricht sein wollten.«

»Überlassen Sie das mir; ich habe meine Gründe dazu, und Sie sollen an Ihrer Kourtage nicht zu kurz kommen. Doch wird es gut sein, wenn Sie mit dem Verkauf mehrere Agenten beauftragen, denn so bedeutende Summen aus einer Hand würden die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und leicht die Hausse stören. Ich werde auf der Börse zugegen sein, um nötigenfalls Ihnen meine Bestimmungen geben zu können. Im übrigen aber wird es zweckmäßig sein, wenn Sie viel mit dem Grafen hier und seinem Begleiter verkehren, sobald diese an der Börse erscheinen und geschickt das Gerücht verbreiten, daß von diesen bedeutende Ankäufe gemacht würden.«

Der Agent verbeugte sich schlau lächelnd.

»Ich verstehe und werde nicht verfehlen, dies zu tun. Doch erlauben Sie mir, auf einen Umstand Sie aufmerksam zu machen, da es mir scheint, daß Sie neue telegraphische Nachrichten erhalten haben. Man argwöhnt an der Börse seit einiger Zeit, daß viele der eingehenden Depeschen auf irgend eine noch unerklärte Weise verraten werden. Einer unserer Börsenmatadore scheint die Kurse und Aufträge von außerhalb förmlich zu riechen und überflügelt alle mit seinen Kombinationen – oder seinen Nachrichten. Es wäre fatal, wenn er uns in die Quere käme.«

Herr Thomas lächelte. – »Beruhigen Sie sich auch hierüber, auch der Herr wird kaufen.«

Der Kurtier empfahl sich – – – – –


Es war mittags gegen ein Uhr, als Graf Pisani Arm in Arm mit einem Attaché der österreichischen Gesandtschaft auf dem Vorplatze der Börse erschien und langsam durch die versammelten Gruppen wandelte, dem Treiben zuschauend. Die handgreiflichen Differenz-Ausgleichungen einiger Mitglieder hatten damals noch keine Eintrittskarten eingeführt, und jeder Fremde betrat ungeniert das Sanctuarium des Zahlenschwindels. Der Attaché war mehreren der großen Bankiers bekannt, die ihn begrüßten und ansprachen, und wunderbar schnell verbreitete sich die Nachricht auf der Börse, daß ein Mitglied der Gesandtschaft mit einem vornehmen Fremden anwesend sei. Offenbar hatte dabei der Agent Treumund die Hand im Spiele, der alsbald beim Erscheinen der beiden Herren sich dem Grafen anschloß und den Cicerone machte, von Zeit zu Zeit sie verlassend und bald hier bald dort neue Geschäfte abschließend.

Dies Verfahren konnte nicht verfehlen, Aufmerksamkeit zu erregen, um so mehr, als bekannt wurde, daß die Aufträge, die der Agent machte, über große Summen lauteten und die Börse ohnehin in höchster Erregung war. Soeben waren die telegraphischen Depeschen der Korrespondenz-Bureaus von Wien und Paris über die dortigen Kurse eingegangen und der Agent des Hauses Oppenheim verlas diese nach der getroffenen Einrichtung von einer Erhöhung mit lauter Stimme. Die Boten des Staats-Telegraphen-Bureaus durchbrachen mit Privatdepeschen suchend die Menge. Das Geschäft schien im vollen Gang, und die vereideten Makler wurden bestürmt mit Anmeldungen.

Der Graf mit dem Gesandtschafts-Kavalier, der zu unerfahren und zu sehr Edelmann war, um so rasch zu begreifen, daß er hier zur Folie diente, – hatte endlich am Eingang des Hauses einen Platz gefunden, von wo beide das Treiben innen und außen beobachten konnten. Der Agent stand bei ihnen.

Die Szene war wirklich charakteristisch und für einen Unbeteiligten an Stoff zu Betrachtungen überreich. Ein Wirrnis von Geschwätz und Geschrei – oft dem eigentümlichen Idiom einer polnischen Juden-Synagoge gleichend – lag auf dieser sich drängenden, stoßenden, sammelnden und hin und her eilenden, oder fest auf gewissen Stellen ausharrenden Menge, in der die gebogene und kulpige Nase als Typus in hundert Variationen des Alters vorherrschend war. Die gewöhnliche Höflichkeit und Rücksicht großer Gesellschaften schien aus dieser verbannt und jeder im Schreien, Stoßen und Drängen nur auf seine eigenen Zwecke Bedacht zu nehmen. Ein Notizbuch in der einen, den Bleistift in der anderen Hand, mauschelnd, rufend, fragend, horchend, beteuernd und wegwerfend, die gespannteste Aufmerksamkeit in der lauschenden Miene oder mit verächtlichem Achselzucken, schmeichelnd und schleichend, kriechend und hochmütig – überall die Ohren, überall die Augen – hier ein Wort wechselnd, dort ein Opfer in den Winkel drängend, lügend und belogen, täuschend und getäuscht, jede Spannung, jede Heuchelei auf den Gesichtern, bedächtig und hastig, schnöde und freundlich, lärmend und schweigend, so wogte das Chaos der Geldintelligenz, das sich den Reichtum und die Intelligenz des Landes nennt!

»Staats! Börsenausdruck für Staatsschuldscheine. wer kauft?«

»Zehn! Statt Zehntausend, nach dem Börsengebrauch. wie steht?«

»Wer hat Kölner – Enkel? Kinder und Enkel werden die neuen und neuesten Aktien-Emissionen genannt. Achtundachtzig drei Viertel? Ich kaufe!«

»Herr Lion, Herr Lion, wo ist Herr Lion?«

»Franzosen Französisch-österreichische Staatsbahn-Aktien. Hundertsiebenundsiebzig ein Halb!«

»Schreiben Se mer ein, Zwanzig zum Ersten. Wollen Se handeln mit Wittenberger? Herr Friedemann, brauchen Sie Rheinische Kinder?«

»Sechsundachtzig – haben Se gehört, Herr Hertel? Notieren Sie den Kurs – Sechsundachtzig bezahlt.«

»Hören Se zu – Meyer is am Kaufen – Nordbahn und 1854er Lose, lassen Se uns eilen, sonst kommen mer zu spät.«

Dazwischen schellte die Glocke als Signal zum Abschluß.

»Die Zahl Ihrer großen Kaufleute und Bankiers, die an der Börse Geschäfte machen, scheint sehr bedeutend,« bemerkte der Sardinier.

»Der Schein täuscht, – von der großen Zahl, welche die Börse füllt, verdient kaum der vierte Teil, hier zu sein. Vielleicht die Hälfte ist nicht einmal der Kaufmannschaft inkorporiert und besteht aus den sogenannten ›Wilden‹. Wenn es Ihnen Vergnügen macht, will ich Ihnen die Einrichtung und das Treiben unserer Börse in kurzen Worten schildern.«

»Ich bitte darum!«

»Man kann die Börsenleute etwa in vier Kategorien einteilen. Zuerst die großen Bankiers, jene Säulen des großen Geldmarktes, die traditionellen Vermögen und Geschäfte, die eine Vergangenheit haben und einen europäischen Ruf, wie z B. Magnus, Jüterbock, Schickler, Mendelssohn, Anhalt und Wagner, Robert Warschauer usw. Diese Koryphäen des Geldmarktes machen fast nie eigene Spekulationen, sie beteiligen sich an Anleihen oder sind die Kommissionäre derselben. Ihre Repräsentanten erscheinen hier nur um der Gewohnheit des Hauses willen und führen nur die Geschäfte ihrer Kommittenten aus. Sehen Sie da die stabilen Posten auf den Bänken und an dem Gitter? Das sind unsere Geldfürsten oder ihre Vertreter. Das wohlbehäbige, runde Gesicht dort stöhnt über die Unmasse der Geschäfte, und seine Arbeit besteht am Tage darin, sich zwei Stunden lang Herr Von nennen zu lassen und die andere Zeit zu flanieren. – Sehen Sie da das Paar prächtige Waden in den enganliegenden Beinkleidern am Gitter dort im Winkel nach dem Dome zu? Diese muskulöse Kraft ohne besondere geistige Kapazität ist der Börsen-Repräsentant einer unserer nobelsten Firmen, so wie jener jüdische Aristokrat mit den in beliebter Wastelart bis an die Achselhöhlen zurückgeschlagenen Rockplatten, die Frucht eines unserer berühmtesten jüdischen Häuser. Einstweilen läßt er sich von Minna schröpfen, und der achtbare Papa dort in der Banknische an den Säulen neben ihm schlägt mit stiller Behaglichkeit die Beine übereinander, neigt den Kopf zur Seite und harrt der Kursnotierungen. So einfach der Mann aussieht, sein Vermögen wird auf zwei Millionen taxiert, denn hier, Herr Graf, hat alles seine Taxe.«

»Sie erzählen pikant!«

»Journalistenmanier. Kommen wir zu der zweiten Kategorie, den kleinen Bankiers und großen Spekulanten. Diese sind die Hauptfaiseurs der Börse, sie machen die Kurse und treiben einen Umsatz in Ziffern, der ins Kolossale geht. Man kann die Summen, die jetzt an der Berliner Börse umgeschlagen werden, auf durchschnittlich zwei und eine halbe Millionen täglich rechnen. Ein Teil dieser Männer macht noch Bankiergeschäfte, ein anderer Teil bloße Spekulationen. Sehen Sie den großen hagern Herrn dort mit der halben Glatze und dem verlebten Gesicht? In jeder dieser Falten sitzt eine verzehrende Leidenschaft. Der Mann hat in Sachsen schon fünf mal auf nichts gestanden, und seine Spekulationen haben ihn immer wieder auf den Gipfel des Reichtums gehoben. Er kommandiert in diesem Augenblicke wieder ein paar hunderttausend Taler, ist unser größter Baisse-Spekulant, und seine polnische Maitresse holt ihn alle Tage in glänzender Equipage von seinem Tummelplatze ab, bis – –«

»Es liegt etwas unheimliches in seinen Manieren; jetzt schießt er wie ein Stoßvogel durch die Menge.«

»Das ist so seine Manier, – er hat sein Opfer. Dort steht sein Gegenmann – ich meine jenes durchsichtige, blasse Gesicht mit der eigentümlichen Farbe der Wasserleichen, denen man einen Zoll tief durchs Fleisch zu sehen meint.«

»Das Gesicht ist interessant, das Auge scharf und voll Verstand, der Ausdruck ruhig.«

»Und dennoch ist sein Besitzer voll rastloser Beweglichkeit, und es duldet ihn kaum einen Augenblick schweigend auf demselben Platz. Es ist unser bedeutendster und glücklichster Spekulant und ausgezeichnet durch ein so enormes Gedächtnis, daß er zu seinen Geschäften, obschon er ihrer täglich 50 bis 60 abschließt, nie ein Notizbuch braucht. Man fängt übrigens an, auf der Börse ihn mit einem gewissen Argwohn zu betrachten, denn er scheint fast allwissend in betreff aller ankommenden Nachrichten, so glücklich sind seine Kombinationen. Ich habe schon vorhin gegen Ihren Freund meine Besorgnisse geäußert.«

»Der Herr scheint fortwährend umlagert von einem Schwarm, alles drängt sich um ihn.«

»Die Ursache werd' ich Ihnen in einer weiteren Kategorie erklären. Erwähnen will ich nur noch, daß die fünfzehn oder zwanzig Mitglieder der eben bezeichneten jährlich durch ihre Spekulation sechs- bis achthunderttausend Thaler verdienen.«

»Die also das Publikum zahlt,« bemerkte der Attaché.

»Ganz recht, und noch ärgere Blutegel sind die beiden letzten Kategorien. Die dritte besteht aus den privilegierten Jobbern, der eigentlichen kleinen Mauschelei, welche die beiden höheren schon abgeschliffen haben. Hier findet man die kleinen Geschäfte und den jüdisch näselnden Jargon, den ausgehungerten Jobber neben dem behäbigen gemachten Geldmann, wie jenes Exemplar dort zeigt, das vorzüglich in Magdeburg-Wittenberger macht und die orientalische Abstammung durch einen wohlgepflegten Schnurrbart zu kachieren sucht. Das Studium dieses Genres ist interessant. Blicken Sie einmal dorthin auf den alten, grauen Kerl, der so schmutzig aussieht, als käm' er aus einem Trödelladen vom Mühlendamm, und dann wieder auf die stattliche Figur dort, der man die höhere Intelligenz ansieht und wie sie ihre Umgebung dominiert. Der Herr dort ist der Hauptautor der berühmten Inserate der Vossischen, und man hört sie täglich bei den Geschäftchen sans gêne beraten.«

»Aber zu welchem Zweck, wenn man doch weiß, woher sie stammen?«

»Fürs Publikum, lieber Herr! denn es gibt nichts dümmeres, als das Publikum im Allgemeinen. Es ist eine Hammelheerde, die angeleitet werden muß, das sauer oder glücklich erworbene Geld rasch wieder los zu werden. Die Klasse der Makler und kleinen Bankiers macht nur geringe eigene Spekulationen, indem sie in die Nähe der großen Tonangeber sich drängt, ein Wort aufschnappt und sich mit einigen Tausenden an der Spekulation beteiligt. Freilich bekommen sie dabei oft die ärgsten Ohrfeigen; denn es ist eine alte Regel, daß über kurz oder lang die kleinen Spekulanten der Börse von den großen aufgefressen werden. Die Großen verstehen ihr Handwerk. So wird es dem ›Börsenkönig‹ nicht einfallen, wenn er verkaufen will, dies auf der Börse zu tun. Im Gegenteil, dort kauft er einzelne Posten des Papiers und streut den Leuten damit Sand in die Augen, während in allen Ecken seine lange vor Beginn der Börse instruierten Agenten die wahren Geschäfte für ihn machen. Im übrigen zahlt ihre Existenz das Publikum durch die Courtage und die Kunst des Schneidens. Bitte, wenden Sie das Auge dort auf jenen Mann. Der Schacher ist ihm in jedem Zuge aufgeprägt und der Mensch ein originelles Exemplar der Jobberei. Er hat immer eine Partie Uhren, Brochen, Brillanten und dergleichen zur Hand, die er förmlich als Prämie für ein Geschäft ausbietet. Sehen Sie, eben ist er wieder daran, ein Geschäft zu machen, lassen Sie uns den Spaß haben, einen Augenblick näher zu treten und ihm zuzuhören.«

Der alte Mann, den das charakteristische Zeichen orientalischer Schlumperei, die über den fettigen Rock heraushängenden Kragenbänder und eine fast in den Mund sich krümmende Nasenspitze kenntlich machte, hielt einen jungen Kaufmann beim Rockknopf fest. »Woll'n Se mer liefern acht Mecklenburger zu Einundvierzig ein Viertel, Herr Lehmann? Wissen Se was, ich gebe Sie diese gold'ne Uhr mit de dicke Berlocks zu. Wie, Se wollen nich machen den Rebbes? Aach gut. Se sollen haben vier Nordbahn-Kinder, Fünfundvierzig drei Viertel und diese Busennadel.«

»Der Wert der beiden Pretiosen,« sagte lachend der Kourtier, »ist mit einem kleinen Profitchen den Prozenten gleich, um die der Alte die Papiere höher oder niedriger schachert. Doch lassen Sie uns zu Ende kommen mit der allgemeinen Charakteristik. Die vierte Kategorie besteht aus einem Troß, der neben den beiden anderen herläuft und den Vermittler und Pfuschmakler spielt: die sogenannte Kulisse, alte bankerotte Gauner und junge, unverschämte Bengels von fortgejagten oder fortgelaufenen Kommis, eine Rotte von Tagedieben, zu faul, um wirklich zu arbeiten, aber schlau genug, um sich hier überall aufzudrängen und täglich ein oder zwei kleine Geschäftchen zu erluchsen, die ihnen durchschnittlich vier, fünf Thaler, häufig auch noch Besseres abwerfen, jedenfalls weit mehr, als der ehrliche Kommis bei angestrengter Arbeit verdient. Wenn sie am Ultimo nicht zahlen können, bleiben sie eine kurze Zeit fort oder lassen sich hinauswerfen. Die Sorte ist wie die Schmeißfliegen, zu jeder List und jeder Gaunerei bereit; es laufen ihrer über hundert umher, und das Publikum muß sie täglich mit fast tausend Thalern ernähren, um die ihm die Papiere verteuert werden. Zum Glück ist wenigstens unsere Börse noch ziemlich rein von dem Besuch der Privaten; das Publikum, das bereits in allen Ständen massenhaft spekuliert, liegt noch in den Händen der kleinen und großen Bankiers, und nur wenige kommen selbst. Da ist ein Exemplar. Sehen Sie an dem Baum links den langen, schwarzgekleideten Herrn, der mit meinem Kollegen spricht?«

»Den mit der Brille? ja.«

»Es ist ein Hauslehrer bei dem ***Gesandten. Bei der türkischen Kriegserklärung, die er von seinem Prinzipal erfahren, wagte er sich auf das Glatteis der Börse und gab mir einen Auftrag. Er gewann, indem er sein ganzes Erbteil, 400 Thaler, wagte, damit das Doppelte und spekuliert seitdem fortwährend, bis – – Da drüben am Gitter des Museums neben Piefke mit seinen weißen Mäusen und Inseparables, die nur zusammen leben, und die er einzeln verkauft, – steht ein Bild von dem gewöhnlichen Ende solcher Privatspekulanten.«

»Der Mensch in dem desolaten Aufzug, der so unverwandt hierherschaut?«

»Vor zwei Monaten noch hatte er Kredit für Tausende, obschon er längst ruiniert war. Der Mann besaß zwei Häuser in der Friedrichstraße und ein gutes Geschäft. Als der Aktienschwindel bei uns begann, wollte er mit Gewalt seinen Wohlstand zu Reichtum machen und ließ sich, obschon er nicht das Geringste davon verstand, mit einem Spiritusspekulanten ein. Später, um sich herauszureißen und die erlittenen Schlappen zu decken, machte er in rheinischen Aktien und verlor in einem Vierteljahre 75 000 Thaler. Er ist jetzt ein Bettler, aber so auf das Börsenspiel versessen, daß er täglich wenigstens hierher kommt, um von Ferne zuzusehen. Seine Familie hat jetzt oft kaum das trockene Brot.«

»Solche Beispiele werden durch die entgegengesetzten aufgewogen, es fehlt gewiß auch hier nicht an Leuten, die rasch reich geworden.«

»Im Gegenteil, sie schießen wie Pilze aus der Erde, und niemand weiß oft, woher die Mittel zu der Verschwendung kommen, die sie so plötzlich entwickeln. Der Herr im grünen Reitfrack, der sich dort rechts nach Kalau drängt, – entschuldigen Sie, Sie verstehen den Kunstausdruck nicht, jener Fleck heißt bei uns Kalau, und die große Gesellschaft der beschriebenen dritten Kategorie, die sich dort zu postieren pflegt, heißt man Kalauer, also jener Herr hatte, wie unsere meisten Kleiderjuden, bereits zweimal Bankerott gemacht, sich aber damit, im Gegensatz zu diesen, völlig ruiniert, so daß er, um den Exekutoren zu entgehen, nirgends eine bleibende Wohnung hielt. Seit vier Wochen fährt er in einem eleganten Tilbury, nimmt im Opernhause nur Fremdenloge, trägt täglich vier Paar strohgelbe Handschuhe und führt Signora Caspari in den Pariser Keller. Bis zu einer Tänzerin hat er es freilich noch nicht gebracht, so gern er auch den Baron spielen möchte.«

»Welche Papiere haben ihn denn so plötzlich reich gemacht?«

»Reich? – Börsenpapiere? Beides weniger. Er ist Kommissionär geworden und makelt in Rittergütern; auf die Börse kommt er nur so nebenbei.«

»In Rittergütern? – Ich denke der preußische Adel konserviert sein Grundeigentum?«

»Die Güterkommissionäre sind jetzt ein koulantes Geschäft und vermehren sich täglich. Die Zeitungen wimmeln von ihren Anzeigen, in denen sie herrschaftliche Güter jeder Art und Größe zum Verkauf anbieten, und wenn auch drei Viertel dieser Annoncen notorisch erlogen sind, so verstehen sie doch bei dem bleibenden Viertel die beiden Parteien so gründlich zu schröpfen, daß der Wucher, der mit dieser Erscheinung eng zusammenhängt, daneben eine Tugend ist. Nun, Herr Levi,« – er sprang rasch zu einem Vorübergehenden – »wollen Sie noch eine kleine Post Nordbahn-Väter?«

Der kleine dicke Mann, den er angeredet, rieb sich innerlich lachend die Hände.

»Was soll ich tun damit, Herr von Treumund? Einstweilen wollen wir abwarten die Bestätigung von die Nachrichten von die Tartaren und von die Schiffskapitäne vons Schwarze Meer. Sie wissen, Freund, ich bin vorsichtig.«

»Das ist ein schlimmes Zeichen,« flüsterte zurückkehrend der Kourtier dem Grafen zu. »Der Mann ist der Geldfaiseur höchst einflußreicher, ja hoher Personen, die rechte Hand von Leuten, die am Staatsruder sitzen, und in vielen Beziehungen ein höchst scharfsinniger Patron. Eine Hand wäscht die andere, und Geldgeschäfte und Lieferungen haben ihn zum reichen Mann gemacht. Gewiß sinnt er dafür schon, welchen Patriotismus er an Königs-Geburtstag ans Lampenlicht stellen oder welche neue finanzielle Denkschrift er für einen seiner Mäcene von Stapel lassen wird. Der Mann wirft Hunderte fort für eine seiner rastlosen Launen und schlägt dafür einen jungen Handwerksmann halb tot, weil dieser sich nicht ein Viertel seiner Rechnung kürzen lassen will. Aber ich muß ihm nach und ihn zu einem, wenn auch noch so kleinen Geschäft bewegen. Hier auf der Börse achtet man auf alles.«

Er schoß davon.

Aus dem Menschenstrom, der aus dem Börsensaal nach dem Vorplatz und zurück wogte, drängte sich ein kleiner, noch ziemlich junger Mann mit orientalischer Physiognomie und etwas Kreuzfeuer in den Augen, voll zuckersüßer Aufdringlichkeit zu dem österreichischen Kavalier.

»Ganz gehorsamer Diener, Herr Baron, freut mich, die Ehre zu haben, Sie wiederzusehen. Sagen Sie mir, – Sie müssen's wissen, – Sie sind Diplomat, – ist es wahr, daß gedonnert haben die Kanonchens am Invalidendom? Wie käme der Tartar dazu, zu bringen eine falsche Nachricht an Omer-Pascha, er muß es wissen, wenn auch versiegelt geblieben ist die Depesche; 22 000 Russen gefangen, der Kaiser Napoleon ist bei Gott ein großer Mann! Was sagt der Herr Gesandte dazu?«

Der junge Diplomat betrachtete mit einem gewissen vornehmen Mißbehagen den kleinen Hebräer.

»Ich habe nicht das Vergnügen –«

»Herr Baron, Sie werden mir kennen, ich habe die Ehre gehabt, auf dem großen Ball von Herrn Magnus; unsere Firma ist unter den Linden – was meinen Sie, könnte man einen Schlag wagen? Ich werde Sie beteiligen mit zehn Prozent.«

Der Attaché verbeugte sich ablehnend.

»Bemühen Sie sich nicht, ich spiele nicht an der Börse.«

»Schade – auf ein Wort, Herr Meyer! Was denken Sie? Die österreichische Gesandtschaft ist auf der Börse, sie hat mir eben eine wichtige Mitteilung gemacht; lassen Sie uns kaufen, Dreiundachtzig ein Halb, das Geschäft ist gut.«

Das Gedränge entführte ihn. In seinem Schutz war der Abbé zu dem Sardinier getreten.

»Sehen Sie dort die beiden Männer, die eben mit unserem Kourtier sprechen?«

»Der eine sieht hierher?«

»Richtig, es ist der Wiener Polizei-Agent, der andere ein hiesiger Beamter.«

»Der Mensch hat eine vertrackte Physiognomie, so schmutzig und tückisch. Unser würdiger Bandit Sta-Lucia, der wer weiß wo ein Ende genommen haben muß, war ein Apollo gegen dieses Galgengesicht. Wie heißt das Subjekt?«

»Heller. Er ist ein verdorbener Advokat von wenig ehrenvollem und moralischem Ruf, machte schon vor 48 den Polizeispion in Pesth und lieferte manchen Patrioten nach dem Spielberg. Bei der Revolution spielte er plötzlich den Republikaner, half das Zeughaus stürmen, wenigstens rühmt er sich dessen, drängte sich bei allen Demonstrationen vor und verteidigte die Hochverräter und Majestätsbeleidiger. Später, nachdem das Handwerk der Demokratie nicht mehr ging, wußte er sich wieder in den Polizeidienst zu bringen und nimmt zur Schande des Kaiserstaates und zum Ärger aller ehrlichen Leute eine hohe Stellung ein, ja, man hat sich so weit vergessen oder mit ihm eingelassen, daß man ihm sogar Orden des Landes aufgehängt hat.«

»Und wie benimmt er sich jetzt gegen die Demokratie?«

»Er verfolgt sie als Renegat auf das bitterste, obschon ich überzeugt bin, er würde gern Kartell mit uns machen, wenn wir dazu geneigt wären. Im übrigen erlaubt er sich jede Willkür und Dinge, die jeden anderen vor die Schranken des Kriminalgerichtes bringen müßten. Man hat ihn entweder zu tief in die Karten schauen lassen, oder braucht ihn notwendig. Wir können dabei nur gewinnen, denn sobald das monarchische System erst zu dem Grundsatz kommt, die sogenannte Treue und die Ehrenhaftigkeit und Moralität des Standes einer Nützlichkeit der Person zu opfern, untergräbt es selbst das vielgepredigte Rechtsbewußtsein im Volke, entkleidet seine Ämter und Auszeichnungen des Nimbus, und das Gewissen des Volkes fällt in unsere Hände. Vorläufig aber müssen wir uns der Macht des Augenblickes fügen, und ich bitte Sie daher, daß Sie mich in einer nicht auffallenden Weise mit ihrem Begleiter bekannt machen und ins Gespräch bringen. Das wird vorläufig jenen irritieren und uns vor Belästigungen und Nachfragen sichern.«

Der Gesandtschafts-Kavalier hatte sich eben wieder nach dem kleinen Intermezzo zu seinem Begleiter gewendet, der ihm rasch den Gefährten als seinen Bankier und Geschäftsführer vorstellte und beide in ein Gespräch verwickelte.

» Mon Dieu! Diese Leute scheinen mir alle den Kopf verloren zu haben über die gestrigen und heutigen höchst unzuverlässigen Depeschen,« sagte der junge Diplomat. »Wer wird einer türkischen Depesche glauben und noch dazu einem bloßen Gerücht! Aber überall, wo man sich hinkehrt, hört man von nichts, als von diesem merkwürdigen Tartaren und der Schiffernachricht.«

»Ich bitte Sie, Baron,« flüsterte der Graf, »stören Sie die Leute nicht in ihrem Glauben. Die erste Regel in der Diplomatie ist, keine eigene Meinung zu haben. Wir sind hier, um uns über dieses Treiben zu amüsieren, und da kommt auch unser gefälliger Cicerone zurück.«

Ein Blick verständigte den Abbé mit dem Kurtier darüber, daß die Geschäfte im vollen Gange. Der Attaché wollte die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, sich über preußische Verhältnisse zu unterrichten. – »Ich habe gehört, daß Ihrem Hypothekenwesen jetzt in gefährdender Weise die Kapitalien entzogen und der Spekulation zugewendet werden,« sagte er. »Auf meinen Gängen durch die Straßen bemerkte ich, daß sich die Zahl Ihrer Bankiers bedeutend vermehrt!«

Der Kurtier verzog den Mund.

»Was die Zahl dieser sogenannten Bankiers betrifft,« sagte er, »so vermehrt sie sich allerdings, und geht unter dieser Firma frei aus vor der Staatsanwaltschaft. Denn alle Geschäfte dieser kleinen Meute des Geldmarktes gehören eigentlich vor deren Forum.«

»Wie das?«

»Es ist leicht erklärt. Jeder angehende Handelsagent, der ein bißchen Witz und Kredit hat und die Anfertigung einer eleganten Firma nebst einer Pränumerandomiete in einer noblen Verkehrsstraße bezahlen kann, etabliert sich jetzt als Bankier, sucht Bekanntschaften und offeriert seine Dienste zu Geldgeschäften. Bei der Art, wie sie diese Geschäfte dem Publikum gegenüber ausbeuten, müssen die Leute sämtlich reich werden, wenn sie nicht wieder auf eigene Hand spekulieren. Ich will Ihnen einmal vorrechnen, wie das Publikum von den Bankiers in die Scheere genommen wird. Ein Besitzer, der kaufen, oder verkaufen will, gibt z. B. einem Bankier den Auftrag, 6000 Thaler Berlin-Hamburger Aktien ihm zu verkaufen. Der Bankier rechnet dafür an erlaubten Vorteilen zunächst halbe Kurtage für den Makler, während er wahrscheinlich das Geschäft selbst gemacht hat, das heißt ½ per Mille, also hier 3 Thaler, Provision für die Besorgung ¼ Prozent, also hier 10 Thaler. Sie werden mir zugeben, daß 13 Thaler für ein ganz kleines müheloses Geschäft schon ein recht hübscher Verdienst wären. Aber man ist weit entfernt davon, sich damit zu begnügen! Es gilt, den Kommittenten nach dem Kunstausdruck zu › schneiden‹, und das geschieht in folgender Weise. Der Agent schlägt die Papiere an der Börse für 109½ los und berechnet seinem Auftraggeber 109, höchstens 109¼ dafür, vielleicht auch gar nur, wenns ihm bei den Notierungen glückt, 108½. Das ist demnach ein kleiner Profit von 12, 30 oder 60 Thalern bei dem einzigen unbedeutenden Geschäft, ohne das geringste Risiko, und im Grunde doch nichts anderes als Betrug.«

»Aber kann derselbe nicht nachgewiesen werden?«

»Das ist fast unmöglich. Sie werden bereits gemerkt haben, daß zu gewissen Personen fortwährend die Leute sich herandrängen und ihnen eifrig zusprechen. Es sind dies die vereideten Makler, welche die Kurse zu notieren haben, oder die Börsen-Berichterstatter der Zeitungen. Diesen Personen, wenn sie nicht selber beteiligt sind, was bei der Presse sehr häufig der Fall ist, weiß man auf alle mögliche Weise die Notierungen aufzudrängen. Man sagt ihnen, hier hab' ich eben zu dem und dem Kurs gekauft, oder verkauft, und auf ein Viertel oder ein halb Prozent ist die Sache oft gar nicht zu unterscheiden. Deshalb auch finden Sie erstens in den öffentlichen Notierungen die bezahlten Kurse oft in verschiedenen Steigerungen notiert und in fünf oder sechs Kurszetteln, die hier an der Börse herauskommen und zum Teil auf diese Spekulation gegründet sind, die Kurse sehr häufig ganz verschieden angegeben. Der Bankier hält nun die sämtlichen Kurszettel, vielleicht von jedem ein Dutzend im Abonnement, er sucht sich für das bezeichnete Geschäft gerade den Kurszettel heraus, der ihm zum »Schneiden« am vorteilhaftesten paßt, legt ihn bei der Berechnung seinem Kommittenten bei, und dieser schwört noch darauf, wie solide der Mann ihn behandelt, während er schändlich übers Ohr gehauen ist. Das, meine Herren, nennt man ›Börsen-Usance‹, und diese Usance herrscht nicht etwa bloß bei den Jobbers und Kalauern!«

»Die gesamte Presse könnte hier viel dagegen tun.«

»Die Presse, Herr Baron, wird im Gegenteil auf das Schändlichste mißbraucht und verbreitet die Täuschung im ganzen Lande. Die Redakteure der großen politischen Zeitungen verstehen fast durchgängig nichts von den Börsengeschäften und müssen diesen Teil ihres Blattes den engagierten Berichterstattern überlassen. Nun ist es leicht, zu begreifen, wie die auftauchenden großen Geld-Institute bedacht sind, die Notierungen ihrer Papiere zu treiben. Wir haben Skandalfälle gehabt nicht bloß in Wien, sondern auch hier, daß die Börsen-Berichterstatter der politischen Zeitungen mit 20, 30, 50 000 Thaler Aktien beteiligt werden, bloß um ihr Interesse dafür zu gewinnen. Das Manöver ist ganz gewöhnlich; die geheimen Akten der Institute in Braunschweig, Darmstadt, Dessau usw. könnten Wunderdinge davon erzählen. In den meisten Fällen bleibt die Sache natürlich diskret, nur zuweilen bei widerwärtigen Zänkereien platzt die Bombe, es kommt ein förmlicher Handel mit den Notierungen und Poussierungen zum Vorschein, wie es vor einiger Zeit mit einer großen hiesigen Zeitung passierte; man wechselt die Berichterstatter und – die Sache bleibt beim Alten! Zum Teil auch spekulieren die Herren – wie jener kleine Orientale dort, der so eifrig umherschiebt – auf eigene Hand. Mundus vult decepi!«

»Aber den großen Bankiers kann diese Pfuschbörse doch unmöglich recht sein?«

»Es ist nichts dagegen zu machen; das einzige, was sie tun können, ist, manchmal einem oder dem anderen einen Genickschlag beizubringen, der ihm eben so rasch zum Bettelstab verhilft, wie er reich geworden. Bemerken Sie den großen Mann da? – er erbte ein Vermögen von 200 000 Talern und eines der brillantesten Geschäfte; das Vermögen ist durch die Spekulation in Spiritus und Getreide binnen zwei Jahren verloren gegangen. Sehen Sie dort die orientalische Physiognomie? – der Besitzer kam reich von Breslau hierher, spekulierte vortrefflich und verzehnfachte sein Vermögen. Seit drei Monaten schlägt ihm jede Spekulation an der Börse fehl, es ist, als ob er mit Blindheit geschlagen wäre. Ich gebe nicht 100 Thaler mehr zu Gunsten seiner Bilanz, und fährt er noch vierzehn Tage so fort, so ist die Pleite unausbleiblich.«

»Aber warum stürzt sich der Mann in sein Unglück?«

»Jeder ist der Schmied seines Schicksals und seines Goldes. Es ist das Börsenfieber, das ihn ergriffen, und das so gut existiert, wie das Fieber am Roulette. Er wird daran zu Grunde gehen, denn er ist ein ehrlicher Jude, dem der ehrliche Name über das Leben geht, und statt Bankerott zu machen, wie hundert andere tun würden, wird er es mit dem Leben zahlen. Der Fall ist noch kürzlich mit einem reichen Bankier vorgekommen, der des Wuchers angeklagt war. Glauben Sie mir, meine Herren, das Spiel an der Börse ist verführerischer und zeigt ärgere Leidenschaften, ruft krasseren Jammer hervor, als der verpönte grüne Tisch in Homburg oder Baden-Baden. Nicht alle wollen aus dem Bankbruch ihrer Habe oder ihres Rufes hervorgehen, wie jener Herr dort mit der ruhigen, gemessenen Physiognomie, der vor einiger Zeit auf der Leipziger Messe den englischen Fabriken, die ihm Hunderttausende anvertraut, seine Zahlungseinstellung anzeigte, aus gesicherter Ferne 20 Prozent bot und, nachdem dies Arrangement geschlossen war, sich jetzt Palast über Palast baut. Da, da – laufen zwei Spekulanten, die, der eine zweimal, der andere dreimal Bankerott gemacht haben, und die jedesmal reicher aus den Arrangements hervorgingen, wie sie gewesen waren. Für jenen dort schossen vor vier Wochen, als er pleite war, seine guten Freunde an der Börse 1000 Thaler zusammen, und heute hat er bereits wieder 20 000 erspekuliert. Und hier – sehen Sie den Wicht im blauen Frack mit goldenen Knöpfen? – der Mensch hat mehr als einmal wegen Diebstahls in Spandau gesessen und in seinem Vorzimmer antichambrieren jetzt Barone und Grafen.«

»Ich habe gehört,« bemerkte der Attaché, »daß sich der norddeutsche Adel mehr mit Geldspekulationen beschäftigt, als der unsere.«

»Warten Sie, bis Sie die gehörige Anzahl Spiritusbrennereien haben, und es wird ebenso sein. Der Spiritus und das Korn ist jetzt ein Spekulationsartikel, so gut wie die Eisenbahn-Aktien. Darum hat man die Börsen zusammengeworfen. Dort am Fenster rechts steht ein Stettiner Jude, der jährlich hier an der Berliner Börse in Zahlen gerade noch einmal so viel Getreide in Zeitkäufen verhandelt, als ganz Europa produziert. Er hat zu gewissen Zeiten tausend Wispel fortwährend unterwegs von einem Börsenort zum anderen, bloß um die Lieferungen fingieren zu können. Noch vor einigen Tagen machte er einen kolossalen Schlag, indem er über Nacht sämtliches Bahnhofsfuhrwerk mietete, sodaß die Verkäufer nicht imstande waren, die herbeigeholten Vorräte, wie die Börsen-Usance, von den Bahnhöfen in die Stadt zu schaffen, und deshalb Tausende als Differenz zahlen mußten. Kaufmann und Produzent spekulieren jetzt mit dem täglichen Brot des Unbemittelten. Jener Mann, der hier vorbeigeht, hat an einem der letzten Lieferungstage alles Korn aufgekauft und war so bescheiden, den Preis von nur hundert Prozent für vierundzwanzig Stunden zu verlangen. Die Differenz wurde diesmal mit den Fäusten ausgeglichen und die Zahlungsart scheint jetzt Börsengebrauch zu werden.«

Graf Pisani, der nur wenig auf die Redseligkeit seines Kommissionärs gehört, sondern sich leise mit dem Abbé unterhalten hatte, wandte sich zu ihm. – »Die beiden Herren, mit denen Sie vorhin sprachen, sind Polizeibeamte? Was tun sie hier?«

»Der hiesige Beamte, der bei dem anderen dasselbe Geschäft, wie ich bei Ihnen, das des Cicerone versieht, scheint die Geschäfte eines unserer Hauptfaiseurs zu beobachten. Der Fremde scheint Sie, Herr Thomas, zu kennen, er erkundigte sich besonders nach Ihnen und dem Herrn Grafen und fragte, ob Herr Thomas mit dem Herrn Attaché bekannt sei.«

»Und Sie bejahten?«

»Versteht sich; es standen gerade zwei unserer Fixer in der Nähe und hörten jedes Wort. Die Vormundschaft eines unserer Privattheater ist in jener Ecke stark vertreten. Des Abends erscheinen die Herren als Protektoren der Kunst, obschon sie zum Teil nicht im besonderen Geruch stehen, des Vormittags gehören sie zur Kategorie Nummer Zwei an der Börse. Der ältliche Herr dort, der auch dazu zählt, ist mir einer der liebsten der ganzen Börse, solid und nobel; dem kleinen Orientalen an seiner Seite ist neulich ein Gastwirt mit 20 000 Thalern durchgegangen, und es schwebt ein interessanter Prozeß über die Sache. – Doch in fünf Minuten ertönt die Schlußglocke, und ich muß die Notierungen von meinen Geschäftsfreunden sammeln. Da wird die telegraphische Depesche eben verlesen, die seit einer Stunde kein Geheimnis mehr ist. Wenn es Ihnen Vergnügen macht, hören Sie zu.«

Der bereits erwähnte, mit der Veröffentlichung der Börsennachrichten betraute Makler stand, von der Menge umdrängt, auf einer Erhöhung und verlas eben jene Depesche, mit der sich damals ganz Europa blamierte.

Sie lautete:

»Paris, vom 3. Morgens. Der heutige Moniteur bringt eine aus Wien datierte Depesche des dortigen französischen Gesandten Baron Bourqueney, mit der Meldung, daß am 30. vorigen Monats in Bukarest ein Tartar mit Depeschen für Omer-Pascha eingetroffen, die wegen dessen Abwesenheit nicht geöffnet worden sind. Nach dem mündlichen Berichte des Tartaren ist Sebastopol eingenommen, 22 000 Russen sind gefangen, 18 000 getötet, das Fort Konstantin ist in die Luft gesprengt und sechs russische Linienschiffe sind untergegangen.«

Die geheimen Faiseurs, deren Intrigue und Mittel wir angedeutet, machten damit die glänzendste Spekulation. Nachdem die Kurse durch ihre wohlberechneten Manöver bedeutend im Steigen waren, verkauften sie enorme Summen zu diesen hohen Sätzen für die nächste Abrechnung, gewiß, daß schon in den folgenden Tagen das Ausbleiben der Bestätigung und die entgegengesetzten Nachrichten die Kurse wieder herabdrücken würden. Die Profite, die damit an den Börsen von Wien, Berlin und Paris in demselben Augenblick gemacht wurden, betrugen über eine Million.

Der Abbé war den darauf folgenden Tag mit den Bilanzen beschäftigt. Als er am zweiten der spanischen Tänzerin seinen Besuch machte, und ihr ein Gastspiel in Warschau vorschlug, fand er jedoch unerwartete Ausflüchte, ja zuletzt völlige Weigerung.

Zwei Tage darauf war die Spanierin verschwunden, – wie es hieß in Begleitung des Fürsten Jaboloff. Erst im Frühjahr kam sie unter dem Schutz ihres neuen Mäcens in den böhmischen Bädern wieder zum Vorschein. Man sagt – so unwahrscheinlich es bei einer Tänzerin lautet – daß sie den Fürsten wirklich geliebt, wenigstens sprach dafür, daß die eigensinnige Donna in alle Launen ihres Geliebten sich mit sklavischer Hingebung fügte. Wie es auch sei, Liebe oder Weiberlaune hatte das Band gesprengt, das sie bisher den geheimen Plänen dienstbar gemacht.


II. Die Feuertaufe.

Der Morgen des 17. Oktober zog heiter und lieblich herauf, denn in dem Klima Sebastopols ist der Oktober gewöhnlich der schönste Monat des Jahres. Der Himmel war wolkenleer, und auf dem Meere herrschte vollkommene Windstille.

Die Festungswerke Sebastopols hatten vor der Krim-Expedition offenbar nur den Zweck, die Flotte des schwarzen Meeres und die ungeheueren Arsenale und Vorräte dieses Zwingpontus zu sichern und waren daher auch nur auf der Seeseite stark. Ein Angriff von der Landseite durch die Türken, während die russische Flotte das Schwarze Meer beherrschte, schien undenkbar, und wir haben gesehen, daß man in unbegreiflicher Verblendung selbst damals, als die verbündeten Armeen schon in Varna lagerten, ihn noch für kaum möglich hielt.

In den letzten Jahren der Regierung des Kaisers Nikolaus war ein Plan zur Befestigung auf der Landseite entworfen worden, aber nur teilweise ausgeführt worden. Die Festungswerke in einer Länge von 6 Werst sollten sowohl die eigentliche Stadt, als auch die Schiffer-Vorstadt (Karabelnaja) decken und sich von der Mündung des Kilengrundes um die Schiffervorstadt herum bis an die äußerste Spitze der Südbucht, von hier um die Stadt ziehen und an das Quarantänefort anschließen.

Diese Verteidigungslinie bestand zur Zeit der Landung der Verbündeten auf der größten Strecke nur aus einer einfachen Steinmauer, durch unvollendete Werke und an einigen Stellen durch zur Verteidigung eingerichtete Kasernen (Defensiv-Kasernen) gedeckt. Ganz vollendet war der Teil auf der westlichen Seite der Stadt von dem Seefort Alexander an, und auf der Ostseite der Südbucht (des großen Kriegshafens) der Turm auf dem Malachof-Hügel (die Karnilowski-Bastion).

Die Annäherung von der Seeseite wurde durch die Seeforts mit 700 Kanonen großen Kalibers verteidigt, die in zwei und drei kasemattierten Etagen plaziert waren.

Der Mann, den General Schilder von seinem Sterbebett dem Fürsten gesandt, Tottleben, dessen Patent als Oberst-Leutnant zum Dank für die in Silistria geleisteten Dienste bald nach ihm in Sebastopol, vom Kaiser unterzeichnet, eingetroffen, hatte sein kühnes Anerbieten gegen den Fürsten wahr gemacht. Während der vierzehn Tage der Waffenruhe entstand wie durch Zauberschlag ein Gürtel von Festungswerken um die Südseite. Mit jedem Tage wuchsen neue Bastionen und Batterien aus der Erde, für deren Armierung das Arsenal und die Schiffs-Artillerie unerschöpfliche Quellen boten. Die Matrosen, die Sappeurs, die Truppen, die Einwohner – Männer, Weiber, Kinder selbst arbeiteten und lösten sich Tag und Nacht ab, jeder bot willig seine Habe, seine Kräfte zur Verteidigung der Vaterstadt und des Bollwerks Rußlands im Süden, und nach Verlauf der zwei Wochen – die der Feind mit seinen Vorbereitungen verbrachte – starrten mehr als 200 Geschütze starken Kalibers von trefflich angelegten Wällen ihm entgegen, bereit, ihn mit Geschossen aller Art zu begrüßen, und hinter dieser harrten todesmutig die tapferen Land- und Seesoldaten.

Während dieser kurzen Zeit entstanden die Bastionen Nr. 2, 3 und 4, beendigt wurde der Bau der Bastionen Nr. 5 und 6 und der Batterien vor der projektierten Bastion Nr. 1 und bei dem Turm auf dem Malachof-Hügel. Den Raum zwischen den Bastionen deckten neuerbaute Batterien, die unter sich mittelst Trancheen verbunden waren. Am Ende der Südbucht lag das Schiff »Jehudil,« dessen Artillerie den Savandanakina-Laboratornaja-Grund bestreichen konnte.

Zugleich war die Garnison, die am Tage nach dem Abzug des Fürsten Menschikoff und der Besetzung Balaclawas durch die Alliierten tatsächlich nur aus 11 000 Mann Seesoldaten und Matrosen und 3 Bataillonen der Reserve-Brigade der 13. Infanterie-Division bestand, bedeutend verstärkt worden. Am 28. September schon trafen von Baktschiserai in den nördlichen Festungswerken 29 Bataillone in der Stärke von 23 000 Mann ein. Das Offensivkorps, mit dem sich der Fürst jenseits der Tschernaja nach dem Mekensiewaja-Berg zurückgezogen, betrug zu dieser Zeit nur 25 000 Mann.

Hätten die Verbündeten gleich am Tage nach der Besetzung Balaclawas eine Rekognoszierung gegen die Festung unternommen, so würden sie unfehlbar die Schwäche der Südseite erkannt und einen Sturm unternommen haben, der sie bei der heldenmütigsten Verteidigung in den Besitz der Stadt gesetzt hätte. Wie jedoch die Gefangennahme und der Tod des Boten die Verbündeten vor einem verderblichen Angriff bewahrte, so rettete wiederum die Flucht des greisen Tabuntschik nach jener Führung, die eine Opferung sein sollte, und ein Verrat wurde, die Stadt, denn die Generäle der Feinde glaubten ihre Pläne und ihre Schwäche entdeckt und waren in den ersten Tagen nur darauf bedacht, sich gegen jeden Angriff von russischer Seite zu schützen.

Lageskizze

Hierzu trug noch bedeutend der Wechsel des Oberkommandos und die Eifersucht zwischen den Führern der beiden Nationen bei. Der Marschall Saint-Arnaud hatte, bereits zum Tode krank, den Marsch nach Balaclawa in einer Sänfte begleitet – er wollte durchaus vor Sebastopol stehen. Schon vor Balaclawa trat jedoch das Delirium ein, und gänzlich entkräftet wurde er am 29. mittags an Bord des »Berthollet« gebracht, der sofort nach dem Bosporus absegelte. Kaum eingeschifft, kam der Kranke wieder zu sich und unterhielt sich zuweilen mit seinen Offizieren bei vollem Bewußtsein. Augenzeugen erzählten, daß er dabei wiederholt auf den schrecklichen Zug der französischen Kolonnen in die verpesteten Sümpfe der Dobrudscha zurückkam. Um 4½ Uhr wandte er sich plötzlich in seinem Bette um und verschied – an derselben Krankheit, der er zwei Monate vorher Tausende nutzlos und hilflos geopfert. Am Abend des 30. warf der »Berthollet« in Therapia mit gestrichener Flagge seine Anker und setzte die Leiche ans Land.

Am 1. Oktober erst unternahmen von Balaclawa aus die verbündeten Generale mit 4 Bataillonen eine Rekognoszierung gegen die Festungswerke von Sebastopol und fanden diese bereits so weit vorgeschritten, daß sie sich überzeugten, ein starkes Bombardement müsse einem Sturm vorangehen. Man beschloß demnach, die Trancheen zu eröffnen und begann mit den Vorarbeiten am 4. Oktober.

Zunächst galt es, sich die Rücken- und Flankenlinien der Belagerungsarbeiten zu sichern. Auf der Seite nach Westen deckte das Meer die Belagerer. Die Franzosen hatten an der Kamiesch-Bai (Kamischewaja-Bai – Rohr-Bai) eine feste Stellung genommen und schifften hier ihr Belagerungsmaterial und ihre Verstärkungen aus. Am 7. Oktober trafen bereits die 5. und 6. französische Division unter den Generalen Levaillant und Paté und die afrikanischen Jäger hier ein. Die Operationsbasis und der Hafen der Engländer und Türken blieb Balaclawa, und hier schifften sie die von Konstantinopel eintreffenden Verstärkungen aus.

Die rechte Flanke der Verbündeten, beim Beginn der Belagerung hauptsächlich von den Engländern eingenommen, war von der Bodenbeschaffenheit überaus begünstigt. Zunächst trennte das tiefe Tal der Tschernaja mit den steilen Talrändern auf eine weite Strecke nach Süden hin die Aufstellung der Alliierten von der auf dem gegenüberliegenden Ufer, dem Mekensiewaja-Berg und den Inkerman-Höhen, befindlichen Operationsarmee des Fürsten Menschikoff. Dieser Terrainschutz, den die beiden feindlichen Armeen genossen, erklärt auch, daß, ungeachtet der zahlreichen Streitkräfte, die Operationen im Felde keinen großen Einfluß auf den Gang der Belagerung und Verteidigung Sebastopols haben konnten.

Zwischen der Tschernaja und Balaclawa bildeten die unzugänglichen Schluchten des Sapunberges den Schutz der Verbündeten, die hier 16 Feldschanzen aufgeworfen hatten, um diese natürliche Mauer noch zu verstärken.

In der Nacht vom 9. zum 10. Oktober eröffneten die Belagerer ihre erste Parallele, die Franzosen mit 1900 Arbeitern unter dem Schutz von 8 Bataillonen gegen die Mast-Bastion (Nr. 4) in einer Entfernung von 400 Saschen. Etwa 400 Schritt. Die Parallele sollte sich bis zur Quarantäne-Bucht erstrecken und mit 5 Batterieen die russischen Werke auf dieser Seite beschießen. Die Engländer erbauten ihre Parallele in der größeren Entfernung von 600 Saschen gegen die Bastion Nr. 3 und verlängerten sie in den folgenden Tagen gegen den Malachof-Hügel und die östliche Seite der Schiffer-Vorstadt. Die Nacht war dunkel, ein starker Nordostwind jagte schwarze Wolken daher, die den ganzen Horizont bedeckten und es der Garnison unmöglich machten, den Beginn der Belagerungsarbeiten sogleich zu bemerken und zu stören. Als der Tag anbrach, eröffneten die russischen Batterien ein starkes Feuer, doch konnte dasselbe den Fortgang der Arbeiten nicht mehr hindern. Am 13. bereits führten die Franzosen 53 Geschütze in ihre Batterien ein, die Armierung der englischen mit 73 Geschützen großen Kalibers, darunter 4 Lancaster-Kanonen, war erst am Abend des 16. beendet. Eine zahlreiche Artillerie stand in Reserve.

Am 15. Oktober versammelten sich die verbündeten Generale und Admirale zu einem Kriegsrat. Der Kommandant der englischen Eskadre, Dundas, erklärte sich entschieden dagegen, mit den Kanonen seiner Flotte die Landbatterien durch einen Angriff auf die Seeforts zu unterstützen, wurde aber überstimmt.

Am Morgen des 17. sollten die Flotten in zwei Linien gegen die Reede vorrücken. Von der französischen Eskadre, die den linken Flügel gegen das Quarantäne-Fort, die Batterie Nr. 10 und das Alexander-Fort bildete, waren dazu bestimmt, in erster Reihe die Schiffe: Charlemagne, Montebello, Friedland, Ville de Paris, Valery, Heinrich VI. und Napoleon; in zweiter: Algier, Marengo, Marseille, Souffrant, Bayard und Jupiter. Das englische Geschwader, gegen das Fort Konstantin gerichtet, bestand aus der Queen, Vengeance, Albion, Britannia, London, Aretusa, Bellerophon, Rodney, Trafalgar, Agamemnon, Sanspareil, Terrible und Samson. In der Mitte zwischen den englischen und französischen Schiffen, standen zwei türkische – demnach 28 Schiffe mit ungefähr 500 Geschützen ihrer Breitseiten gegen die drei mit 260 Kanonen besetzten Seeforts. Tausend Geschütze harrten am Morgen des 17. des Signals zum gegenseitigen Feuern.

Der Oktobermorgen dämmerte hell über die Berghöhen im Osten empor, die Luft war rein, ein leichter Südostwind, welcher den ganzen Vormittag anhielt und die Bewegungen der Flotte erschwerte, strich über die Felsenplateaus. Aus dem Morgendunst tauchten die langen, weißen Häuserreihen der »weißen Stadt« empor, die Schiffe lagen noch träge und regungslos auf den spiegelglatten Fluten des Meeres und der Reede, daß man sie für tote Bilder auf einem gemalten Ozean zu halten versucht war. Terrassenförmig steigt hinter der krenelierten Mauer auf dieser Seite die Stadt mit ihren Kirchen, stolzen Gebäuden aus weißem oder rotem Sandstein, ihren Gärten und Baumgängen am Hügel empor, der sich auf der Südwestseite an 200 Fuß hoch erhebt und sich dann zu der Reede, der Bucht und den Südforts hinabsenkt.

In einer Embrasüre der Kapitale der Mast-Bastion saß der junge Fürst Barjatinski, der wackere Leutnant des Wladimir, mit mehreren seiner Kameraden plaudernd, während um ihn die Matrosen die schweren Schiffsgeschütze in Stand setzten, Kugeln häuften, und die Werkzeuge der Vernichtung von dem Tau polierten, der sich über Nacht auf das blanke Metall gelegt. Der 30. Flottenequipage nebst der Mannschaft des »Wladimir«, unter dem Oberbefehl des Vize-Admirals Nowossilski, war die Verteidigung der wichtigen Mast-Bastion anvertraut worden.

Der Fürst legte das Fernrohr, das er einige Augenblicke am Auge gehabt, aus der Hand und holte aus der Tasche seines grauen Paletots den goldgestickten Tabaksbeutel mit der duftenden Latakia, um sich eine neue Zigarette zu drehen.

»Reich mir die Lunte, Koschka,« sagte er nachlässig, »wir werden noch zu verschiedenen Rauchwolken Zeit haben, ehe wir die ihren da drüben aufsteigen sehen. Willst Du Dich bedienen, Birjulew

Er warf einem in seinem Paletot auf dem Boden liegenden Offizier den Beutel zu, während der riesige Matrose, den er angesprochen, mit der brennenden Lunte eines Geschützes herbeisprang.

»Ich bin neugierig,« sagte der Offizier am Boden, »ob sie ihre Schiffe ins Gefecht bringen?«

»Bah – vielleicht versuchen sie's, aber die Quarantäne und Konstantin würden ihnen eine Lektion geben, die sie künftig in gehöriger Entfernung hielte. Wie steht der Wind, Kusmenko?« Der junge Aristokrat war zu blasiert, um den Wolkenzug eines Blickes zu würdigen.

»Süd-Süd-Ost, Euer Gnaden!«

»Ein trefflicher Strich, um nach Odessa zu fahren.«

»Was gibt es neues in Petersburg?« fragte der Leutnant Birjulew. »Ich sah, daß Sie gestern einen Brief erhielten.«

»Gagarin von der Garde hat mir geschrieben. Der liebe Junge wußte noch nichts von unserer Affäre an der Alma und glaubt schwerlich, daß ich hier mein Nachtlager auf dieser verteufelten Mauer halte. Der Kaiser hat ein Witzwort gemacht, und das läuft durch die Stadt, weil ihm dergleichen ziemlich selten passiert.«

»Erzählen Sie, Fürst.«

»Der Kaiser begegnet nach den neulichen Unterhandlungen mit Wien – Sie wissen, daß Heß, unser erbitterter Gegner, das Kommando der Invasionstruppen erhalten hat – dem General Fürst Radziwill. – »Du bist ein Pole, Fürst,« sagte der Kaiser, »und wirst die Geschichte Deines Vaterlandes kennen. Kannst Du mir sagen, welches die beiden dümmsten Regenten von Polen gewesen sind?« – Der General schaut ihn verlegen an und stottert: »Nein, Sire!« – »Dann will ich es Dir sagen, Sobieski ist der eine, weil er Wien entsetzte, und ich bin der andere, weil ich Österreich rettete.«

Der Leutnant lachte. – »Ich meine eigentlich, welche Neuigkeiten man vom Kriegsschauplatz im Norden meldet?«

»Ei so, ich dachte, Du verlangtest Hofgeklatsch. Nun, daß sich Bodisco in Bomarsund gefangen gegeben, statt sich und das Nest in die Luft zu sprengen, ist keine Neuigkeit mehr – die Flotten haben seitdem einige Plünderungen an der finnischen Küste verübt und beziehen ihre Winterquartiere in Kiel, während die unsere in Kronstadt fault. Der Teufel hole das Glück, zur Marine zu gehören, ich habe es immer dem Großfürsten Constantin verdacht. A propos, weißt Du, daß die Engländer das Schloß meines Onkels an der Yalta geplündert haben?«

»Massandra?«

»Gewiß. Auch des Grafen Potocki himmlische Besitzung Livadja und des Fürsten Dundukoff Gut Korjakoff sind von den Halunken unter dem Vorwand einer Fouragierung völlig ausgeplündert worden. General-Leutnant Rischef hat jetzt eine starke Rekognoszierung nach dem Baidartal gemacht und die Feinde können nur an den Küsten fouragieren. Ich würde Iwan Oczakoff raten, seine schöne Schwester von Schloß Aya in Sicherheit zu bringen, so fest es auch auf den Klippen am Meere gelegen ist. Wie ich höre, befindet sich überdies eine zweite Dame da, eine Freundin des Obersten Wassilkowitsch, und das Beispiel der Fürstin Tschestsawade lehrt uns, daß es für Damen gefährlich ist, in der Nähe allzusehr auf die Sicherheit der Wohnung zu trauen.«

»Hat man von den Unglücklichen nichts weiter gehört?«

»Ei freilich! Schamyl hat die Damen – Du weißt, daß auch die Fürstin Orbelion und eine Verwandte der Tschestsawadse's, eine junge polnische Gräfin, die in der Kachetie eingetroffen war, kurz bevor die Tschetschenzen sie überfielen, mit gefangen genommen wurden, – in das Innere der Berge nach seiner Felsenveste Pokhalski geschleppt und fordert ein unverschämtes Lösegeld. Er will vierzigtausend Rubel und seinen Sohn Djemala-Din zurück.«

»Wenn ich nicht irre, ist dieser ja Offizier?«

»Er steht bei den Ulanen in Podolien. Der Fürst hat sich an den Kaiser gewandt und ihm das Verlangen des Imams vorgelegt. Man kennt die Entscheidung noch nicht. Schorte wos mi! Da regen sich die Franzosen, und da drüben auf der Batterie des Krähennestes geben die Unseren Signale. Wir wollen den Admiral benachrichtigen lassen. – Heda, Fähnrich Bitschesko, meldet Seiner Exzellenz, daß der Feind sich rührt.«

»Da kommt er selbst und Korniloff mit ihm.«

Das Ravelin herauf kamen mehrere Reiter mit nebenhergehenden Offizieren sprechend. Es war der Admiral Korniloff, der mit seinem Kollegen Novossilski herankam. Seit dem Tagesgrauen war der Generalstabschef des Fürsten Menschikoff, dem die Verteidigung der Festungswerke anvertraut war, zu Pferde und beritt die einzelnen Teile. Ein Hurrah der Matrosen begrüßte den geliebten Führer.

»Nun, Kinder,« sagte der Admiral, »ich fürchte, es wird heute heiß hergehen, aber ich kenne Euch und weiß, was Ihr leisten könnt. Bei Euch wird der Lärm zuerst ausbrechen, deshalb bin ich hierher gekommen. Sieh da, Barjatinski! Guten Morgen, Kamerad!«

Er reichte dem Fürsten die Hand. »Ah, meine Wackeren von der ›Maria‹ – toller Koschka und Du, Bolotnikow, und der alte Schewtschenko. Wo ist Rostislaw, Euer Batterieführer?«

»Ich habe ihm die Batterie dort drüben anvertraut, welche die Leute das Krähennest nennen.«

»Charoscho. Er wird seine Schuldigkeit tun. Was starrst Du mich so trübselig an, Fürst Petrowitsch, da wir doch zum Tanz gehen?«

Der junge Mann trat an den Admiral und deutete mit der Hand auf eine seltsam geformte breite Waffe, die letzterer als Seitengewehr angeschnallt trug. Es war eine Schaschka (tscherkessisches Schwert) von altertümlicher Arbeit, die breite Scheide mit großen Stahlbuckeln belegt, der Griff von künstlich ziselierter Arbeit.

»Exzellenz,« sagte der junge Fürst, »es betrübt mich, daß Du die Waffe heute trägst. Ich bitte Dich, lege sie ab und nimm meinen Säbel.«

»Närrchen! kommst Du wieder mit der alten Geschichte? Ich hatte die Schaschka zufällig zur Hand, und da sie an meinem Gehenk ist, mag sie daran bleiben. Wir haben keine Zeit zu Ammenmärchen, und vor den Kugeln der Feinde steht der Admiral wie der Leutnant. Leih' mir Dein Glas, Söhnchen, und laß mich sehen, was die Franzosen beginnen.«

Er stieg vom Pferde und setzte sich an den Posten des Signalmannes auf die Blende, während seine Begleiter und die Offiziere der Bastion ihre Blicke gleichfalls nach den Batterieen der Feinde richteten.

»Wir werden das Feuer der drei Batterieen dort auszuhalten haben,« sagte der Admiral, »ich zähle 27 Enceinten, und wenn mich das Auge nicht täuscht, dort in der rechten sechs stattliche Mörser. – An die Geschütze Kinder – ich glaube, sie beginnen ihr Feuer!«

Von dem Turm der Kathedrale schlug es eben halb Sieben. Die Glockenschläge waren noch nicht verklungen, als aus der dritten französischen Batterie eine Rauchsäule sich emporkräuselte und ein dunkler Punkt im Bogen mit jenem prasselnden Zischen durch die Luft kam, das den Bomben eigen ist. Der Knall hallte durch die Luft und zwei weitere Schüsse folgten unmittelbar darauf.

Im nächsten Moment schien die Erde zu erbeben, die Luft zu erzittern. Über dreihundert Geschütze schweren Kalibers hatten, als hätten sie auf dieses Signal gewartet, von beiden Seiten auf dem ganzen Halbkreis von der Quarantänebucht bis zum Kilengrund ihr furchtbares Feuer begonnen und schütteten einen Hagel eherner Todesboten rings umher.

Korniloff beobachtete unbeweglich auf seinem ausgesetzten Posten die Wirkung des Feuers, während der Unteroffizier, der mit der Signalisierung beauftragt war, ungeduldig und besorgt daneben stand. – »Deine Kugeln schlagen zu niedrig, Birjulew,« sagte der Admiral, »lasse etwas weniger Pulver nehmen, oder visiere höher – da – der Schuß tat seine Wirkung, der Mörser ist demontiert!« Er sprang von der Brustwehr herunter und reichte dem Mann das Glas, der alsbald den gefährlichen Posten einnahm. »Und jetzt, Lieblinge, da ich Euch in voller Arbeit sehe, will ich Euch verlassen und weiter. Gott schütze das heilige Rußland!«

Der Ruf, wie ein Donnerrollen sich über die ganze feuerspeiende Bastion fortpflanzend, übertönte das Krachen der Geschütze. Nur einen Blick konnten die an den Kanonen arbeitenden Leute auf den geliebten Führer werfen, der, mit der Hand winkend, sie verließ und am Eingang des bedeckten Weges noch einige Momente bei den auf den Tod oder die Verwundung ihrer Kameraden harrenden Ersatzmannschaften verweilte. Dann drückte er Novossilski die Hand, bestieg den harrenden Schimmel und ritt unter dem Regen der Kugeln nach der Bastion 3 am jenseitigen Ufer der Südbucht.

Fürst Barjatinski hatte den Admiral mit den Augen verfolgt, so weit er ihn sehen konnte. Mit einem trüben Kopfschütteln wandte er sich zu dem neben ihm kommandierenden Birjulew. – »Der heilige Andreas möge ihn schützen, aber ich fürchte, wir sehen ihn nicht wieder. Die verfluchte Schaschka!«

Fragend schaute ihn der Offizier an. Aber die Antwort blieb der Befragte ihm schuldig unter dem Donner der Geschütze. – »Eine Bombe für uns – sie ist bitterböse! Aufgepaßt links!« schreit der Signalist, und das Krachen der einschlagenden Hohlkugel in die Batterie selbst mahnt zur Vorsicht. Man wirft sich zur Seite, dennoch reißt die platzende Bombe sechs Mann zu Boden. Einige sind tot, anderen hat sie Arme und Beine abgerissen, Blut und Fleisch spritzen umher – aber die Geschütze sind zum Glück unversehrt. Man hört kein Stöhnen, keine Klage; die Träger springen herbei und bringen die Verwundeten nach dem Verbandsplatz im Schutz der Kasematten. Andere Leute treten an das Geschütz – »Eins! – Zwei! – Sechs! – Feuer!« und die Kugel fliegt wieder gegen den Feind. Matrosen schleppen ein Reservegeschütz herbei für eine von einer Vollkugel getroffene Kanone oder bringen frische Kartouchen. Eine Granate schlägt in die Brustwehr ein, platzt und nimmt ein Stück Erde mit hinweg. »Leute nach oben!« ertönt die Stimme des Kommandeurs der Batterie. »Eine Bombe ist in die Blendung geschlagen!« – »Ja, Euer Gnaden.« – Die Todesmutigen springen nach der Decke der Wölbung, und in einem Augenblick ist der gewaltige Trichter mit Erde und Steinen verschüttet. Da saust eine zweite Bombe durch die Luft und das unglückliche Geschick führt sie auf die selbe Stelle, die Decke wird durchgeschlagen, die gewaltige, fünfzigpfündige Kugel springt und zerschmettert ein Dutzend Tapferer!

Es ist 10 Uhr. Dicker Pulverdampf erfüllt die Batterieen. Die Bastion gleicht dem speienden Krater eines Vulkans, die Männer an den Geschützen, bis an die Hüften entblößt, von Schweiß, Erde und Pulver mit einer dicken Kruste überdeckt, aus dem schwarzen Gesicht nur das Auge weiß und grimmig leuchtend, arbeiten wie die Teufel; die Offiziere gehen auf und ab und dirigieren das Feuer. Vollkugeln, Granaten, Bomben fliegen, pfeifen, zischen, schlagen ein, platzen, rikochettieren nach allen Richtungen. Jeder ist nur mit dem Zerstörungswerk beschäftigt, niemand achtet auf die eigene Gefahr.

Ein donnerndes Hurrah! erschüttert das Gewölbe der Batterie. Aus der ersten Schanze der Feinde ist ein mächtiger Feuerstrahl durch den Pulverdampf emporgestiegen, ein gewaltiges Krachen übertönt den Donner der Geschütze auf der meilenlangen Feuerlinie: das Pulvermagazin der französischen Batterie ist in die Luft geflogen; drei Viertelstunden vorher hat die vierte feindliche Batterie dasselbe Schicksal gehabt, und mehr als 50 Mann wurden dabei getötet und verwundet. Die übrigen drei französischen Batterieen waren jetzt nicht mehr imstande, das fürchterliche Feuer der 3 Sebastopoler Bastionen und der zahlreichen Batterieen kräftig zu beantworten, und der General Canrobert überließ es dem Kommandanten der Artillerie, Thiry, den Kampf nach eigenem Ermessen einzustellen. Um 11 Uhr schwiegen sämtliche französische Batterieen. Von den fünf war die eine durch das explodierende Pulvermagazin gänzlich vernichtet, in den anderen waren 19 Geschütze demontiert. An 400 Tote und Verwundete blieben in der französischen Parallele.

Aber auch der Verlust und die Zerstörung in den russischen Werken war nicht unbedeutend. Auf dem Kampfplatz lagen zwischen Blut und Trümmern, keuchend von der gewaltigen Anstrengung, die erschöpften Kämpfer an ihren Kanonen, die frische Luft in die erhitzten Lungen saugend, die der Wind durch die breiten, von den Kugeln der Feinde erweiterten und zerrissenen, Schießscharten herein wehte.

Auf der Blendung standen die Offiziere, die dem Kugelregen glücklich entgangen, oder doch nur leicht verwundet worden waren, und schauten nach der feindlichen Flotte, deren letzte Schiffe merkwürdiger Weise eben erst von den Dampfern in die Schlachtlinie bugsiert worden waren und jetzt ihre Breitseiten gegen die Reede-Forts und die drei östlichen Bastionen kehrten, zum Gefecht fertig.

»Der Spektakel,« sagte Novossilski, »wird sogleich aufs neue wieder angehen; es ist gut, daß wir die Luft von der Landseite haben. Ich begreife nicht, warum die hölzernen Rosse Alt-Englands uns so lange Ruhe gelassen.«

»Ich wette fünfzig Rubel, der Admiral befindet sich in der Quarantäne und wartet dort auf den ersten Gruß, sonst hätten wir ihn längst wieder hier gesehen.«

»Ich glaube eher,« sagte Barjatinski, »er ist auf der anderen Seite der Bucht, das Feuer ist dort noch sehr heftig und er mag die Engländer nicht leiden.«

»Was meintest Du vorhin mit dem Schaschka, Kamerad?« fragte der Leutnant Birjulew.

Der Fürst blickte nach den feindlichen Schiffen. »Ihre Signale fangen an zu spielen, wir haben also noch fünf Minuten Zeit, und ich kann Ihnen die unheimliche Geschichte erzählen, die mir das Herz schwer macht. Der Teufel hole die Schaschka!«

»Was hat der Teufel mit der Schaschka zu tun, die mir eine schöne alte Waffe zu sein schien?«

»Vorzüglich; der Stahl der Klinge ist wundervoll. Sie gehörte dem armen Schelesnow, den vielleicht einige von Ihnen gekannt haben. Er war als Kurier nach Tiflis geschickt worden und hatte sie auf der Reise von dort nach Suchum-Kale für dreißig Rubel gekauft.«

»So billig?«

»Das meinte ich auch, doch Schelesnow erwiderte mir, daß sie niemand hätte kaufen wollen eines Aberglaubens wegen. Die Schaschka hatte unter den Tschetschenzen den Ruf: ›Jeder, der mit derselben in den Kampf ginge, würde unfehlbar umkommen oder tötlich verwundet.‹«

»Und er kaufte sie dennoch? Ich meine, gerade die Seeleute sind sonst abergläubisch.«

»Schelesnow spielte den Freigeist und lachte über die Sage, als er sie mir erzählte. Es war am Bord des ›Wladimir‹, als wir mit dem Admiral Korniloff von Varna kamen. Wir stießen auf ein türkisches Dampfschiff ›Pervas Bachre‹ und unsere Kanonenkugeln begrüßten es. Wir fuhren auf Kartätschenschußweite heran und unsere Mannschaft machte sich fertig zum Entern. Ich sah, wie Schelesnow den kaukasischen Säbel umschnallte. ›Haben Sie die verhängnisvolle Eigenschaft vergessen?‹ fragte ich ihn. Er antwortete: ›Gott bewahre, aber ich glaube nicht daran,‹ und eilte auf das Verdeck. Der Kartätschenschwarm sauste uns über die Köpfe, als ich zur Batterie kam, um die Anordnungen zur Abordage zu treffen. Da sehe ich, wie die Matrosen einen verwundeten Offizier aufheben, aus dessen Brust sich das Blut stromweise ergießt; es war Schelesnow, eine Kugel hatte ihn in die Brust getroffen, fünf Minuten später, nachdem er die Schaschka umgeschnallt, und nun klirrte sie, von der Leiche nachgeschleppt, gegen das Verdeck. Ich ergriff die verhängnisvolle Klinge und wollte sie in meiner ersten Aufwallung über Bord werfen: aber unwillkürlich erfaßte mich ein unüberwindliches Gefühl, sie zum Andenken an den gefallenen Kameraden aufzubewahren, und ich tat es.«

»Aber wie kommt die Schaschka in den Besitz des Admirals?«

»Er befahl mir, den Nachlaß Schelesnow's aufzunehmen, dieser wurde, wie es Sitte, vor dem Mast versteigert. Dem Admiral gefiel die unglückliche Waffe, und er überbot mich.«

»Und sagten Sie ihm nichts von ihren schlimmen Eigenschaften?«

»Ich tat es, aber er lachte mich aus und meinte, er glaube nicht an Vorurteile, und ich wäre ebenso gefährdet, wie er. Sie haben es vorhin nochmals mit angehört. Mir war weh um das Herz, als ich ihm die Schaschka überreichte, und ich zürnte mit mir selbst, daß ich nicht dem unbegreiflichen Wunsche, sie aufzubewahren, statt ins Meer zu schleudern, widerstanden. Der Admiral aber scheint eine besondere Liebhaberei für die Waffe zu haben, denn schon mehrfach sah ich sie ihn tragen.«

»Ohne daß sie ihm geschadet hat?« lachte der Sappeur-Kapitän.

»Der Admiral ist seitdem noch in keinem Gefecht gewesen,« sagte kopfschüttelnd der Seemann. »Ich wünschte, es wäre Abend, wie es jetzt –« er sah nach der Uhr – Mittag ist. Und da kommt Arbeit für uns!«

An der Signalleine der »Queen« flatterte das Signal »Fertig zum Feuern!« und die Breitseite des riesigen Dreideckers hüllte sich in Feuer und Rauch. In der nächsten Minute legte sich ein Flammengürtel über die ganze Breite der Reede, Land und See war in Dampf gehüllt, die Bomben krachten hoch durch die Luft und schmetterten auf die Stadt und hinüber über die Bucht zum Malachof-Hügel, und der furchtbare Kampf begann auch auf dieser Seite aufs Neue.

Während die Batterieen der Westseite der Stadt, das Konstantin-, Alexander- und Quarantänefort mit einem furchtbaren Feuer der vereinigten Flotte antworteten, währte der Kampf auf der Ostlinie gegen die englischen Batterieen ununterbrochen fort. Diese waren, zweckmäßiger als die französischen, in der Entfernung von 600 Schritt von den russischen Werken erbaut und litten daher weniger von dem Feuer. Zahlreich mit schwerem Geschütz – dreiundsiebenzig 68-, 46-, 32- und 24pfündigen Kanonen und zehnzölligen Mörsern bewaffnet und mit einem Ofen für die glühenden Kugeln versehen, erzielte die englische Artillerie bei diesem ersten Bombardement größere Resultate als die französische. Dennoch widerstanden die Russen auch hier mit Glück. Die Erde zitterte wie bei einem Erdbeben von der gewaltigen Erschütterung der Atmosphäre, der Luftzug hatte bei dem heftigen Feuer aufgehört, und der Pulverdampf bedeckte so dicht die Umgegend, daß man nur nach dem Blitzen der feindlichen Schüsse die Geschütze richten konnte.

Es war 12 Uhr, als der tapfere Leiter der Verteidigungsanstalten, Vize-Admiral Korniloff, nachdem er wiederholt die Linien beritten, sich auf dem Malachof-Hügel befand. Er hatte sich eben von seinem Freund und Kameraden Nachimoff getrennt, der mit riesenhafter Tätigkeit die Verteidigung auf der Bastion 3 leitete, deren Geschützbedienung bereits dreimal hatte ersetzt werden müssen. Als er vom Turm bis zur Brustwehr gehen wollte, um sein Pferd zu besteigen, traf ihn eine Kanonenkugel und riß, die unheilkündende Waffe zerschmetternd, ihm das linke Bein am Unterleibe weg.

Heulend vor Schmerz und Wut warfen sich die treuen Matrosen auf den geliebten Führer und trugen ihn zur nächsten Verbandsanstalt. Nur noch bis zum Abend lebte der tapfere Kommandant der Matrosen des Schwarzen Meeres. Als ihm kurz vor seinem Tode die Nachricht wurde, daß die feindlichen Batterieen zum Schweigen gebracht worden, rief er ein »Hurrah!« und starb.

Um drei Uhr nachmittags begannen die Schiffe, eines nach dem anderen, mit Hilfe der Dampfer sich aus der Kampflinie zurückzuziehen, um 6 Uhr war die ganze alliierte Flotte aus dem Schußbereich der russischen Batterieen und steuerte teils der Rohr-Bai, teils der Mündung der Katschka zu, um Havarie auszubessern.

Diese war sehr bedeutend – namentlich hatte das Feuer des Fort Konstantin furchtbar gewirkt. Auf dem französischen Admiralschiff – »Ville de Paris« – war der ganze Stab Hamelin's verwundet, nur er selbst blieb in dem Regen der Bomben wie durch ein Wunder verschont. Auch der »Montebello«, »Friedland«, »Napoleon« und »Karl der Große« hatten schwer gelitten. Von den englischen Schiffen, die dem Fort Konstantin gegenüber gestanden, waren die »Agamemnon«, »Albion« und »Queen« bedeutend beschädigt. Bei keinem späteren Bombardement wagten die Flotten wieder, den Forts so nahe zu kommen.

Aus den englischen Batterieen hatte sich das Feuer hauptsächlich gegen die Bastion 3 gerichtet, deren Geschütze um die dritte Nachmittagsstunde fast sämtlich demontiert waren. Doch war auch der Schaden in den britischen Linien bedeutend; um vier Uhr flog dort gleichfalls ein Pulvermagazin in die Luft und am Abend erwiderten nur noch zwei Geschütze das Feuer.

Mit einbrechender Dunkelheit schwieg das Feuer der Kanonen gänzlich und die Stille der Erschöpfung, des Todes, lagerte sich über die Stadt und Umgebung.

Der Verlust der Alliierten betrug auf den Flotten allein nach den offiziellen Berichten 527 Mann, in den Trancheen mindestens ebenso viel. Die Russen zählten gleichfalls 1200 Tote und Verwundete.

Sebastopol hatte seine Bluttaufe siegreich bestanden.


Balaclawa und Inkerman.

Die Namen Balaclawa und Inkerman stehen blutig eingezeichnet im Buch der Weltgeschichte!

Das erfolglose Bombardement vom 17. Oktober, dem sie nicht einmal den Versuch eines Sturmes folgen lassen konnten, nötigte die Alliierten zu einer regelrechten Belagerung der Festung. Ihre erste Sorge war dahin gegangen, durch Befestigung des Sapunberges und der Zugänge nach Balaclawa ihre Operationsbasis zu sichern. Hierhin richteten sich natürlich auch die Blicke des Oberkommandanten der russischen Armee.

Einstweilen erwarteten beide Teile die Ankunft neuer Verstärkungen. Die Alliierten, auf ihre bedeutenden Hilfsmittel und ihre Überlegenheit an Zahl vertrauend, hofften durch eine regelmäßige Belagerung die Stadt bis zum Einbruch des Winters zu erobern. Die Engländer setzten ihr Feuer aus 68 Geschützen fort, und am 19. waren auch die französischen Batterieen so weit hergestellt, um das ihre beginnen zu können. Die Beschießung wurde fortgesetzt, ohne daß der eine oder der andere Teil wesentliche Nachteile davon hatte. Die Russen, die durch das Bombardement täglich etwa 300 Mann verloren, besserten über Nacht regelmäßig ihre Schäden wieder aus, ersetzten die zerstörten Mauern durch zweckmäßige Erdwerke und errichteten neue unter der rastlos tätigen Leitung durch Totleben, der nach dem ersten Bombardement zum Obersten ernannt worden war. Die Linie der Befestigungswerke war zur besseren Oberleitung der Verteidigung in vier Abteilungen geteilt, die zu dieser Zeit der General-Major Asnalowitsch, Vize-Admiral Novossilski, Kontre-Admiral Pansilof und Kontre-Admiral Istomin befehligten. General-Leutnant Kirjakof kommandierte die Reserven, Kommandant der gesamten Truppen, die aus 57 Bataillonen bestanden, war der General-Leutnant Moller, Hafen-Gouverneur der Vize-Admiral Stajukowitsch, Kommandant der 13 See-Equipagen der Vize-Admiral Nachimoff.

Die englischen Truppen warfen zahlreiche Raketen in die Stadt, doch ohne vielen Erfolg: dagegen litten die Verteidiger durch das Büchsenfeuer der Zuaven und Jäger von Vincennes bedeutend. Die Franzosen waren bis zum 26. mit ihren Trancheen bis auf 750 Schritt an die Festung herangekommen und die Besatzung unternahm seit dem 20. allmählich kleine Ausfälle gegen sie, oft mit bestem Erfolg.

Die Operationsarmee der Russen war nach der Almaschlacht, wie bereits erwähnt, zu schwach, um etwas Entscheidendes gegen die Belagerungsarbeiten der Verbündeten unternehmen zu können. Der Fürst, der seitdem nur durch 12 Schwadronen Reiter unter General-Leutnant Rischof und einige Bataillone aus Kertsch und Feodosia verstärkt worden, mußte die Ankunft des 3. Infanterie-Korps abwarten, das in Eilmärschen aus Bessarabien nach der Krim beordert war. Leider für den Erfolg der Russen vermochte er seine Ungeduld nicht zu zügeln und beschloß, als am 22. in der Nähe von Sebastopol die 12. Infanterie-Division eingetroffen war, ohne die übrigen Abteilungen des Korps abzuwarten, die Operationsbasis der Verbündeten anzugreifen und sie von Balaclawa abzuschneiden.

Das Zentrum der Russen befand sich im Dorfe Tschorgun auf dem rechten Ufer der Tschernaja. Zwei Wege führten von hier nach Balaclawa, der eine rechts durch das stark verschanzte Dorf Kadikoi, im Tal zwischen dem Sapunberg und den Bergen südöstlich von Balaclawa gelegen, und der linke näher den letzten Bergen. Beide liefen quer über die große Woronzoff-Straße, die sich von Sebastopol nach der Yalta zieht. In dem Tale um Balaclawa und Kadikoi standen die englischen Truppen, durch eine doppelte Reihe von Verschanzungen gedeckt, deren vorderste an der Woronzoff-Straße von den Türken besetzt war. Hinter Kadikoi lag die englische Kavallerie. Jenseits des Sapunberges standen auf den Höhen desselben in gesicherter Stellung als Observations-Korps gegen die an der Reede sich hinwendende, von Sebastopol zunächst nach Inkerman führende Straße die beiden französischen Divisionen des Generals Bosquet.

Die Leitung des Angriffes am 25. Oktober war dem General Liprandi übertragen. 17 Bataillone, 22 Schwadronen mit 10 Sotnien Kosaken und 52 Geschütze sollten denselben von drei Richtungen unternehmen. Der Fürst ließ außerdem, um die rechte Flanke des Angriffs zu decken, eine Brigade mit zehn Geschützen unter General-Major Schabokritski in der Nacht die Tschernaja überschreiten und sich gegen den Sapunberg aufstellen. Die Dispositionen waren, nach dem Urteil aller Militärs, vortrefflich, aber das zur Ausführung kommandierte Korps zu schwach, um einen dauernden Erfolg zu sichern. General-Leutnant Rischof führte von der Traktierbrücke (Wirtshausbrücke) her die rechte Kolonne, General-Major Semiakin die mittlere direkt auf Kadikoi los; General-Major Gribbe die linke gegen Kamari zur Umgehung der feindlichen Stellung. Schon bei Tagesanbruch waren die russischen Kolonnen auf dem Marsch, um 6 Uhr gelangte das mittlere Korps an die ersten Redouten, eröffnete das Feuer und nahm sie im Sturm. Die Türken verließen sie zum Teil in wilder Flucht und um 7½ Uhr wehte die russische Flagge auf allen vier Schanzen. Die Geschütze wurden vernagelt oder unbrauchbar gemacht, die Vorräte zerstört und die russische Artillerie begann von dieser Position aus die bei Kadikoi und Balaclawa aufgestellten englischen Truppen und das Lager zu beschießen. Die linke russische Kolonne hatte sich gleichfalls glücklich des Dorfes Kamari bemächtigt.

General-Major Colin-Campbell eilte mit dem 93. schottischen Regiment zur Unterstützung der Türken herbei, die Kavallerie der Engländer unter Lucan schloß sich ihm an und die flüchtigen Türken sammelten sich unter ihrem Schutz. Um 8 Uhr erschienen Lord Raglan und Canrobert auf dem Schlachtfelde und beorderten eilig von Balaclawa her starke Reserven, um die verlorene Stellung wieder zu gewinnen.

Die vierte englische Division Cathcart und die erste Garde-Brigade des Herzogs von Cambridge rückte gegen die Woronzoff-Straße vor. Zugleich ließ Bosquet einen Teil der 1. Division und einige Schwadronen reitender afrikanischer Jäger in das Tal vorgehen.

General Liprandi erteilte jetzt dem General-Leutnant Rischof den Befehl zum Kavallerie-Angriff, und die Husaren-Brigade mit den uralskischen Kosaken und zwei reitenden Batterien stürzten sich im Galopp auf die Hochländer Campbells und die Dragoner des Generals Scarlett, die Wagenburg, welche die Schotten vor ihrer Stellung aufgefahren, attackierend. Aber festen Fußes – Schulter gegen Schulter, wie das berühmte Kommando der Hochländer sagt, – empfing sie die Infanterie, und eine Batterie der Brigade Scarlett begrüßte die kecken Steppenreiter mit Kartätschenladungen. Die russische Kavallerie wurde geworfen und hinter ihr drein donnerten die schweren Dragoner der Briten, bis an die eroberten Redouten. Hier jedoch wandte sich das Glück – ein vernichtendes Feuer der russischen Batterien brach die Reihen der Dragoner und brachte sie in Unordnung. Mit großem Verlust zogen sie sich zurück.

Lord Raglan sah mit Groll die Niederlage seiner Reiterei unter den Augen der Franzosen und wollte um jeden Preis die englischen Geschütze wieder haben, welche die Russen mit den Redouten erobert hatten. Der stolze Sommerset, der Adjutant und Neffe des eisernen Herzogs, der seine Sporen beim jammervollen Siege von Kopenhagen geholt, sie dann aber auf den blutigen Schlachtfeldern von Fuentes d'Onores, Badajoz und Salamanca verdient hatte, der bei Quatre Bras gegen Kellermanns schwere Reiter mit dem tapferen 42. Regiment gekämpft und vor Waterloo den rechten Arm gelassen, hatte in dem siebenundzwanzigjährigen Kamaschendienst voll Untätigkeit und militärischer Pedanterie, welche die englische Armee zur am schlechtesten organisierten Europas hat werden lassen, die Rittertaten seiner Jugend nicht vergessen. Seine Adjutanten flogen zu dem Kommandanten der Kavallerie, dem Grafen Lucan, und überbrachten ihm den Befehl, die russische Stellung durch Lord Cardigans leichte Kavallerie-Brigade, die den linken Flügel bildete, attackieren und die zurückgehenden Husaren und Kosaken verfolgen zu lassen.

So unfähig sich beide britische Reiterführer auch im Fortgang des Feldzuges gezeigt haben, so hatten sie doch Einsicht genug, zu sehen, daß die Ausführung dieses Befehls mit großer Gefahr verbunden war. Selbst wenn die englische Reiterei die russische Schlachtlinie durchbrach, konnte sie leicht in das Kreuzfeuer der Artillerie zweier Korps geraten.

Der Adjutant des kommandierenden Generals harrte daher, nachdem er dem Grafen den Befehl überbracht, vergeblich einige Minuten auf Antwort, während sich dieser ängstlich mit seinem Stabe beriet. Ungeduldig fragte er endlich: »Wollen Euer Herrlichkeit dem General-Feldzeugmeister eine Antwort senden?«

»Mein Herr –« sagte der Graf, »ich gestehe Ihnen, ich glaube den Befehl des Lords mißverstanden zu haben. Er kann unmöglich verlangen, daß die Kavallerie die verlorenen Redouten wiedernimmt?«

»Ich habe Eurer Herrlichkeit nur die Befehle zu überbringen, das weitere ist Ihre Sache.«

»So haben Sie die Güte,« sagte der Graf hochmütig, »die Ordre in Gegenwart dieser Herren langsam und deutlich zu wiederholen.«

Der Adjutant tat es.

»Jetzt, mein Herr, melden Sie dem General, daß wir tun werden, was englische Kavallerie tun kann, daß es aber nicht meine Schuld ist, wenn heute Abend die britische Krim-Armee keine Kavallerie besitzt. Vorwärts, Mylord Cardigan! Lassen Sie die 4. und 13. leichten Dragoner die Höhe der Redoute links umgehen und den Angriff beginnen, während das 14. Regiment und die Husaren als zweites Treffen vorrücken.«

Die Trompeten bliesen, und die leichten Dragoner trabten mit jenem todesverachtenden Trotz gegen die Batterien, die immer den Bulldog-Charakter der britischen Soldaten ausgezeichnet hat. Die Regimenter umgingen die Höhe und attackierten die russischen Husaren und Kosaken trotz des Kartätschenfeuers zweier russischen Batterieen, in beiden Flanken und ohne auf das Heckenfeuer des Odessa'schen Jäger-Regiments zu achten. Das 14. Dragoner-Regiment und die beiden Husaren-Regimenter 8 und 11 drangen nach und warfen sich auf eine donische Batterie, deren Bedienung sie in Stücke hieben. Das blutige Handgemenge wogte gleich einem Knäuel zwischen den Hügeln hin und her, und das Feuer der russischen Batterieen mußte inne halten, um nicht Feind und Freund zugleich zu vernichten. Der Kommandeur der 2. Brigade der russischen Kavallerie, Generalmajor Ghaletzki, fiel; nur mit Anstrengung behaupteten die Husaren und Kosaken das Gefecht.

In diesem Augenblick stürzte sich der Oberst Jeropkin mit seinem Ulanen-Regiment, das soeben erst auf dem Schlachtfelde eingetroffen war und hinter den Odessaer Jägern eine verdeckte Aufstellung genommen hatte, auf die rechte Flanke der englischen Kavallerie. Der Stoß war furchtbar und von glänzendstem Erfolge begleitet. Die ganze Reiterbrigade wurde vollständig geworfen, geriet in die größte Unordnung und wandte sich zur wilden Flucht, verfolgt von den Ulanen, niedergeschmettert von den Kartätschen der Batterieen auf den Hügeln und des Schabokritski'schen Korps. An fünfhundert Reiter ließen die Engländer auf dem Kampfplatz.

Die Flucht war so ungestüm und unaufhaltsam, daß sie selbst die schwere Dragoner-Brigade Scarlett's, welche Lord Raglan seiner leichten Kavallerie zu Hilfe gesandt, mit sich fortriß – die englische Reiterei verschwand vom Schlachtfeld. Vom Sapunberg aus hatte man die Vernichtung der leichten britischen Kavallerie beobachtet. Der französische Oberkommandant ließ daher – freilich etwas spät – drei Schwadronen seiner afrikanischen Jäger einen Angriff auf die Batterieen Schabokritski's am Abhang der Peninujedi-Berge machen; die herbeieilende Infanterie warf sie jedoch zurück.

Um neun Uhr hatten die Verbündeten bereits 20 000 Mann im Tal von Kadikoi vereinigt und verstärkten sich fortwährend. Aber die unglückliche Attacke der englischen Kavallerie hatte einen solchen Eindruck auf die Generale und die Truppen gemacht, daß man nicht wagte, nochmals gegen die von den Russen besetzten Höhen vorzugehen. Hätten diese zu Anfang des Treffens mit einer genügenden Macht ihre Vorteile verfolgen können, so ist wohl kein Zweifel, daß es ihnen gelungen wäre, Balaclawa zurück zu erobern, ein Sieg, der die Verbündeten zur Wiedereinschiffung in die Kamiesch-Bai gezwungen hätte.

Die Artillerie setzte von beiden Seiten ihre Kanonade bis zur vierten Morgenstunde fort, dann zogen die Alliierten ihre Truppen ins Lager zurück; die Russen behaupteten das Schlachtfeld.

Die englische leichte Kavallerie war fast zur Hälfte vernichtet – was noch übrig war, machte bald die grenzenlose Unordnung der Verwaltung und die Fahrlässigkeit der Führer kampfunfähig.


Die Belagerung der Stadt schritt nur langsam vorwärts, da die Stellung der Russen bei Tschorgun und gegen Balaclawa die Alliierten nötigte, hierhin alle ihre Kräfte und all' ihre Aufmerksamkeit zu richten. Die Gegner verschanzten sich Aug' in Aug' in ihren festen Stellungen.

Unterdessen waren auf beiden Seiten bedeutende Verstärkungen eingetroffen. In den ersten Tagen des November zählte die französische Armee wieder 49 Bataillone, 8 Schwadronen und 96 Feldgeschütze, die englische 32 Bataillone, 20 Schwadronen und 24 Geschütze, die türkische Division bestand aus 8 Bataillonen, – sodaß die gemeinsame Stärke etwa 70 000 Mann betrug: 35 000 Franzosen, 23 000 Engländer und 12 000 Türken.

Die russischen Landtruppen in Sebastopol und der Umgegend bestanden jetzt aus 103 Bataillonen, 58 Schwadronen, 22 Sotnien Kosaken und 282 Geschützen, im ganzen 82 000 Mann, waren also stärker als die Verbündeten, aber geteilt in die Verteidigung der Stadt und das Observationskorps.

Unter diesen Verhältnissen beschloß Fürst Menschikoff, jene Offensive zu ergreifen, die eine bleibende und ruhmvolle Stelle in der Geschichte der blutigen menschlichen Kämpfe mit dem Namen der » Schlacht von Inkerman« bewahren wird.

Der strategische und taktische Plan dieser Schlacht ist einer der vorzüglichsten, die je gefaßt wurden, und würde dem Genie Friedrichs des Großen und Napoleons nicht zur Unehre gereicht haben. Was ihn scheitern ließ, waren Dinge, die außer der Berechnung des Feldherrn lagen.

Die Brücke von Inkerman führt über die Tschernaja nahe ihrem Ausfluß in das Ende der großen Bucht von Sebastopol. Die neue Sappeurstraße und die alte Poststraße laufen, von der Festung kommend, an ihr zusammen, die erste in der Nähe des Buchtufers hinführend, die andere zieht sich eine Strecke durch den Kilengrund und windet sich dann in engem Defilee durch die Höhen, wobei auf der Seite nach der Tschernaja das Tal so morastig ist, daß die Straße mehr als tausend Schritt über enge Faschinendämme läuft.

Während die Franzosen auf dem südost liegenden Sapunberg mit zwei Divisionen unter Bosquet sich stark verschanzt hatten, war den Engländern die Deckung des Terrains zwischen dem Sapunberg und dem Kilengrund durch das eben die beiden Straßen von der Tschernaja her führen, überlassen. Sie hatten jedoch ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Belagerungsarbeiten gerichtet, ohne an die Deckung der Wege zu denken, und erst Ende Oktober wurden drei Redouten zum Schutz des rechten englischen Flügels und des Lagers hier flüchtig aufgeworfen, von denen die erste, auf der Höhe über der alten Poststraße gelegen, diese vollständig beherrschte, während die beiden anderen weiter rückwärts lagen.

Diese Umstände waren dem Fürsten Menschikoff wohl bekannt, und er beschloß daher, die Engländer durch die gefährlichen Defileen anzugreifen. Durch die Besitznahme der Höhen, die sich auf beiden Seiten des Kilengrundes befanden, wäre das russische Offensiv-Korps in unmittelbare Verbindung mit der Garnison Sebastopols gekommen; es konnte seine überlegene Kavallerie gegen den Feind verwenden, und dieser wäre gezwungen gewesen, die Belagerung des östlichen Stadtteiles aufzuheben, die später eben den Sieg entschied.

Wir haben bereits erwähnt, daß die Disposition des Fürsten eine ausgezeichnete war. Der Angriff sollte, um die Feinde zu täuschen, von verschiedenen Seiten her geschehen. Zunächst sollte eine starke Kolonne von 29 Bataillonen und 38 Geschützen unter General-Leutnant Ssoimonoff aus der Stadt, und zwar von der Bastion 2 hervorbrechen und die Höhen des Kilengrundes in Besitz nehmen; eine zweite Kolonne mit 20 Bataillonen und 96 Geschützen unter General-Leutnant Pawloff sollte über die Inkermanbrücke durch die Schluchten und auf der alten Poststraße vordringen und das englische Lager angreifen. Zugleich aber sollte das Korps des Generals der Infanterie, Fürsten Gortschakoff (I.), von Tschorgun südwestlich her einen Scheinangriff mit 20 000 Mann gegen die französische Stellung auf dem Sapunberg unternehmen, und auf der Ostseite der Festung selbst zwei Regimenter der Garnison unter Generalmajor Timofjef einen Ausfall aus der Bastion 6 gegen die französischen Belagerungslinien machen. Die Russen führten somit an 60 000 Mann mit 234 Geschützen ins Gefecht, wovon nur etwas mehr als die Hälfte für den wirklichen Kampfplatz bestimmt war, genügend, die Engländer zu erdrücken, wenn die Zufälle der Schlacht es nicht anders gefügt hätten.

Der Abend des 4. November, Sonnabend, war von höchst widrigem Wetter begleitet. Es regnete ununterbrochen in Strömen, die Wege und Schluchten waren grundlos von Wasser und Schmutz, und ein dichter Nebel lagerte über Tälern und Bergen, kaum im Umkreis von zehn Schritten die Gegenstände erkennen lassend; die ganze Natur hatte ein trübseliges Aussehen, und die Schildwachen suchten unter den Vorsprüngen des Gesteins, an den Stämmen der Bäume und den Erdhängen jeden kleinen Schutz gegen die Unbilden des Wetters.

In der englischen Redoute Nr. 1, die eine Kompagnie des 95. Regiments von Lacy-Evans Division besetzt hielt, war eine Baracke für die Offiziere aufgeschlagen, die auf der einen Seite offen, kaum den strömenden Regen abhielt; indeß die armen Soldaten dem Unwetter ohne allen Schutz als ihre Mäntel und die drei Feuer, die sie auf der Leeseite der Baracke angezündet hatten und mühsam unterhielten, preisgegeben waren. Es fehlte am Nötigsten für die Überwinterung der englischen Armee, und man war notorisch in Besitz von höchstens einem für 10 bis 15 Mann berechneten Zelte auf 100 Köpfe.

In der Baracke lagen drei Offiziere in ihre Mäntel oder englische Reisedecken gehüllt, der eine sogar in einen prächtigen persischen Teppich, der die Zierde eines fashionablen Salons gewesen wäre, und jetzt hier in Schmutz und Regen umher gewälzt wurde. Die Offiziere sahen sehr mißmutig aus, und das einzige, woran sie sich trösten konnten, waren die türkischen Papierzigarren, denn durch die Vorsorge der englischen Proviant-Kommissäre fehlte es an nichts weniger, als an allem!

»He, Mickey!« rief der Kapitän Armstrong, indem er sich halb auf den Armen emporrichtete und nach dem Feuer hin schnüffelte, »es riecht verteufelt gut, ich glaube, Du braust Kaffee, Schurke, und läßt Deinen Herrn hier ohne Gewissensbisse verschmachten!«

Der Angeredete, ein rothaariger Irländer, dem selbst die Beschwerden des Wetters und Mangels die angeborene Laune nicht zu verderben vermocht hatten, warf beide Arme in die Luft – »O, Du grundgütige Mutter aller Schmerzen, was sind Seine Gnaden ungerecht gegen den armen Mick! Hab ich darum diese gesegnete sechspfündige russische Kanonenkugel ganze zwei Meilen weit unter diesem meinem Arm mitgeschleppt, um nun beschuldigt zu werden, ich tränke den schlechten Kaffee, den der Kommissär geliefert, und ließe meinen Herrn und dessen Freunde verdursten? Nein, mein süßes Augenlicht, Mick macht Kaffee für seinen Herrn und begnügt sich mit einem Tropfen Whiskey.«

Die Offiziere sprangen wie von einer Feder geschnellt in die Höhe und Kapitän Armstrong vor die Baracke, wo er eben noch zeitig genug ankam, um seinen würdigen Diener eine ziemlich umfangreiche Lederflasche nach einem tüchtigen Zug absetzen zu sehen. Der Kapitän war mit einem Schritt seiner langen Beine bei ihm und hatte die Flasche dem Verdutzten aus der Hand gerissen, dem die Unvorsichtigkeit, die er begangen, klar wurde.

»Höllenhund, Du hast ein Getränk, das besser ist als Wasser, und Du sagst mir nichts davon?«

»Ach, Euer Gnaden,« winselte Mickey, »ein so vornehmer Gentleman wird einen armen Kerl, wie ich bin, nicht der kleinen Erfrischung berauben wollen. Bei meines Vaters Seele, die Pater O'Donnaghue, der Schurke, noch immer im Fegefeuer brennen läßt, weil ich ihm keine Messen mehr bezahlen wollte, ich habe mich nur versprochen, es ist schlechter, türkischer Branntwein, den die vermaledeiten Schurken von Kameelmist brennen sollen! Mögen sie dafür ewig schmoren, wo das höllische Feuer am schärfsten brennt!«

Der Kapitän hatte jedoch ungeschreckt von diesem wenig empfehlenden Patenbriefe, die Flasche an den Mund gesetzt und einen tüchtigen Schluck getan. »Den Teufel auf Deine lügnerische Zunge, Schuft,« sagte er, indem er die Flasche an Leutnant Cavendish, einen etwas gelb aussehenden, schmächtigen Offizier weitergab, »es ist guter Rum!«

»Gott verdamm meine Augen,« rief der Fähnrich O'Malley, ein Landsmann des armen Mick, der mit trübseligen Blicken den Inhalt seiner Flasche sich vermindern sah, »der Kerl muß den Lord Ober-Kommissar zum Freunde haben, oder eine ganz besondere Quelle. Woher hast Du den Rum, Mick, mein Jüngelchen?«

»Ich habe ihn gekauft, Euer Gnaden,« jammerte der Bursche, »ehrlich bezahlt, oder ich will in meinem Leben nicht wieder Betty Flanagans runde Waden ansehen, wenn sie den Rasen von Mullingapatna im Zweitritt stampft. Ein Tartar, wie sie die Juden hier zu Lande nennen, hat mir die Flasche für bare zehn Schilling und sechs Pence verkauft.«

»Das ist billig genug in anbetracht der Umstände,« sagte der Kapitän, »und Du sollst nicht um Dein Geld kommen. Hier hast Du Deine zehn Schillinge und dafür überläßt Du uns die Flasche, von der Du bereits Deinen redlichen Anteil geschluckt haben wirst. Sollte der Jude oder Tartar sich wieder blicken lassen, so will ich Dir wohlmeinend raten, ihn festzuhalten, damit sein Vorrat nicht in andere Hände fällt. Solche Lieferanten muß man sich zum Freunde halten.«

»Wenn Euer Gnaden nichts dawider haben,« schmunzelte der Ire, »ich habe ihm wohl so einen kleinen Wink gegeben, daß wir seiner bedürfen, aber dem vermaledeiten Juden ist das Wetter zu schlecht gewesen.«

»Er würde auch nicht durch die Posten kommen, und mein Befehl gilt bloß für das Lager. Jetzt mach uns den Kaffee, mit dem Zusatz von Rum wird das schlechte Zeug gut tun und Leutnant Stuart muß gleich von der Ronde zurückkehren.«

»Schickt das Kommissariat denn noch immer den fatalen grünen Kaffee?« lispelte Leutnant Cavendish.

»Möchten die Halunken daran ersticken,« schimpfte der Kapitän. »Was denken sie in Alt-England, daß wir nichts anderes zu tun hätten, als Kaffee zu brennen!«

In der Tat war der Unwille in der ganzen britischen Armee neben den hundert anderen Ursachen auch darüber allgemein, daß als Proviant der schlechteste grüne Kaffee geliefert wurde. Die Soldaten hatten endlich die Erfindung gemacht, ihn in ihren Feldkesseln zu rösten und in Ermangelung von Kaffeemühlen mit Kanonenkugeln und Steinen zu zermalmen, sodaß die russischen Kugeln zu diesem Zwecke sogar ein gesuchter Artikel waren.

»O'Malley,« sagte der Kapitän, »ehe Sie wieder unter ihrem Zelt sich einrichten, »gehen Sie gefälligst, wecken Sie Leutnant Lundgreen und fragen Sie ihn, ob er an unserer Schlemmerei teilnehmen will. Der arme Bursche hält hier seit fünf Tagen aus und wird selten genug etwas warmes gehabt haben.«

Gleich darauf gesellte sich der Artillerie-Offizier, der die zwei Geschütze, mit denen die Redoute armiert war, kommandierte, zu ihnen, und alle harrten des Kaffees, den Mickey jetzt in dem Kessel über dem Feuer hatte. Der Regen begann aufzuhören, aber der dichte, dampfende Nebel aus dem feuchten Boden verstärkte die Finsternis.

»Es wundert mich, Kamerad,« meinte der Kapitän, »daß die vorgeschobene Schanze nur mit Ihren zwei Sechspfündern versehen ist, da sie doch eigentlich die Hauptposition an der Straße bildet. Ohnehin scheint sie mir nicht besonders zweckmäßig eingerichtet.«

»Ein Kind kann das sehen,« brummte der alte Artillerie-Leutnant, »und sie ist auch von Kindern und Narren angelegt. Erst auf dringendes Verlangen Lacy-Evans bequemte man sich dazu, und was denken Sie, wie die Coldstreams, welche die Wache hatten, die Schanze erbaut? Ich will verdammt sein, wenn so ein Muttersöhnchen aus einer Lordsfamilie, dem das Patent gekauft worden, ohne daß er einen rechten Winkel zu nehmen versteht, die Schießscharten nicht mit der breiten Seite nach Innen eingeschnitten hatte!«

Die Offiziere lachten. – »Wissen Sie nicht, wie dieser moderne Vauban hieß?«

»Leutnant Elliot, ich glaube ein Vetter oder Neffe des Herzogs von Norfolk!«

»Das kommt von dem System unserer Militärverwaltung. Wär' die Nation und jeder einzelne nicht an und für sich so brav, die schmachvolle Einrichtung müßte uns längst zur schlechtesten Armee Europas degradiert haben! – Ich meine das im allgemeinen,« fuhr der Kapitän zu seinem ersten Leutnant gewendet fort, der die Wendung des Gespräches mit offenbarer Verlegenheit angehört hatte. »Was können Sie für die Einrichtungen Ihres Vaterlandes, und überdies haben wir bis auf den braven Stuart, der es am Kap unter mir erwarb, alle unsere ersten Patente bezahlen müssen!«

»Wenn ich nicht irre, Kamerad,« sagte der Artillerist zu Leutnant Cavendish, »sind Sie erst vor kurzem zu unserer Armee gestoßen?«

»Ich diente in Indien.«

»Ost oder West?«

»In Bombay, Herr Kamerad! Doch befand ich mich nur zwei Jahre im Regiment.«

»So konnten Sie das Klima nicht ertragen?«

»O,« sagte der Leutnant, »daran hatte ich mich bereits so ziemlich gewöhnt. Es ist gerade nicht ganz schlecht leben in Indien für uns Engländer.«

»Hören Sie, Cavendish,« sagte der Kapitän, »Sie sind kein übler Bursche, wenn Ihnen auch mitunter noch die Manieren des Hofdienstes etwas ankleben. Wir haben Sie nie gefragt darum, wie es kam, daß Sie Indien verließen und das Patent in unserem Regiment eintauschten, wodurch Stuart um die erste Aussicht auf die Kompagnie gekommen ist. Ich sollte meinen, Sie hätten warten können, bis sich eine Gelegenheit bei der Garde bot. Kommen Sie, wir sind unter uns, erzählen Sie uns die Gründe, wenn es angeht, und ich glaube, Ihr Vertrauen wird Ihre Stellung bei uns nicht gerade verschlechtern.«

Der junge Offizier zögerte einige Augenblicke, dann sagte er: »Wenn Sie es wünschen, bin ich bereit, obschon das Geständnis Ihnen keine besondere Meinung von mir beibringen wird. Ich – ich fürchtete mich in Indien!«

»Was zum Henker! – Ich hoffe, doch nur vor der Cholera oder den Klapperschlangen? Das ist erlaubt.«

»Nein, Sir – ich fürchtete mich – vor einem Braminen.«

»Das ist seltsam. Ich habe Sie bei dem Angriff auf Kamiesch tapfer im Feuer stehen sehen und kann daher nicht glauben, daß es Ihnen an Mut fehlt. Es müssen also ungewöhnliche Sachen im Spiel sein. Sie machen mich neugierig, bitte, wickeln Sie uns Ihr Garn ab, wie unsere Freunde auf den Schiffen zu sagen pflegen; bei dem Becher Kaffee, den Mickey eben bringt, wird es uns die Wache verkürzen halfen.«

Der Irländer reichte die blechernen Trinkschalen mit dem Kaffee umher, in den die Offiziere zu seinem Ärger den Rum gossen.

»Sie wissen,« erzählte Cavendish, »daß der Herzog von Norfolk mein Oheim ist und ich Page am Hofe war. Teils um mich für einige sogenannte schlechte Streiche zu bestrafen, teils, damit ich dem Lord, meinem Bruder, und meinen werten Verwandten nicht zu sehr auf der Tasche liegen, sondern eine möglichst rasche Karriere im Diesseits oder Jenseits machen möge, gab man mir vor zwei Jahren das Leutnantspatent bei unserer Armee am Ganges – der Teufel hole sein Gedächtnis!

Sie dienten alle, so viel ich weiß, nie in Ostindien,« fuhr er fort, die Asche von seiner Zigarre klopfend, »es ist ein seltsames Land und namentlich die malabarische Küste, die noch lange nicht so europäisiert ist, wie Kalkutta. Ich stand mit meiner Kompagnie in der Nähe von Bombay in einem kleinen Hafenorte, und da ich ein Neuling war, interessierten mich tausend Dinge, an denen meine Kameraden, die länger im Lande waren, gleichgiltig vorübergingen. Stellen Sie sich einige Schritte von dem flachen, sandigen Ufer eine frische, grüne Ebene vor, die von Kanälen bewässert wird. Diese, mit eleganten, phantastischen Holzbrücken überbaut und mit unzähligen Booten bedeckt, verlieren sich in die Tiefe der Wälder, überall an ihrem Ufer liegen alle Arten Wohnungen zerstreut; die buntbemalten, mit kunstreichem Tafelwerk bekleideten Magazine, die die schönsten Arbeiten der indischen Industrie vor den Blicken entfalten; ungeheuere Lagerhäuser, die im weiten Umkreis die Luft mit dem betäubenden, durchdringenden Duft der Gewürze erfüllen; daneben die elendesten Hütten von Palmblättern, von dem üppigen Pflanzenwuchse beinahe verdeckt. Keine Plätze, keine Straßen, nur eine Menge Fußpfade, die sich durchkreuzen oder in einem Kokuswald verlieren. Rings um den Hafen, wo den ganzen Sommer über eine große Menge arabischer Fahrzeuge liegt, die von Maskad oder Dindad kommen, bewegen sich ungeheure Elephanten, welche die Ballen herbeischleppen, die jene einladen wollen. Braune, gelbe, schwarze Gesichter, von dem Olivengrün der Bronze bis zur feinsten Hautfarbe der Chinesen, ein wirres Geschnatter von hundert Dialekten; die schlanke Gestalt des Hindu, der tückisch-trotzige Blick des Malayen; die bewegliche Figur des Chinesen neben dem ernsten Araber; der Parse, der das Feuer anbetet, neben dem Moslem von den Ufern des Roten Meeres und dem geduldigen Sohne des Lotos, Bramine und Paria, der reiche Kaufmann zwischen der Schar der Bettler und Gichtbrüchigen, die sich auf den Händen fortschleppen! Armenier von Trapezunt, Juden von Aleppo und Bassora, Perser und Kurden; hundert bunte, schillernde Farben, Gold und Seide, – die Gazellenaugen und schlanken Glieder der Tänzerinnen neben Aussätzigen, deren Haut mit weißen Flecken bedeckt ist, und anderen Elenden, die von Krankheiten geplagt werden, für welche unsere Sprache keine Namen hat: das ist Indien!

Wir wohnten in einem Palast von Holz, einer uralten Residenz der Rajah's, hatten aber bald herzliche Langeweile und sehnten uns nach der Promenade von Bombay zurück, wo allabendlich die schöne Welt Europas und Asiens sich am Klang der britischen Militärmusik ergötzt, denn Bombay ist der Stapelplatz des Orients. So machten wir denn täglich, um die Zeit tot zu schlagen, ziemlich weite Ausflüge in die Umgegend, bald allein, bald in Gesellschaften, denn die Jagd gewährte in diesem Teile des Landes wenig Interesse.

Auf einem dieser Ritte, die ich mit dem ältesten Leutnant unseres Bataillons machte, kamen wir in die Nähe einer indischen Pagode am Meeresstrande und fanden unter einem großen Feigenbaume mit hängenden Zweigen, von dessen Wipfel ein ganzer Wald faseriger Wurzeln auf die Erde herabhing, die Hütte eines Braminen. Der Mann hieß Nikalanta, wie ich später erfuhr, und hatte im Dienst seines Götzenbildes seinen Unterhalt gefunden, bis zu seinem Unglück sich Missionäre in seiner Nähe festsetzten und die Gläubigen von dem Bilde mit dem Elephantenkopf fortlockten. Seitdem war er Schreiber bei einem reichen Babu (Bankier) geworden, der die Europäer haßte. Als wir um den Baum kamen, sahen wir den alten Mann mit seiner Tochter, einem wunderschönen Hindumädchen, vor der Tür sitzen. Unser Anstarren verscheuchte das Mädchen in das Innere des Hauses, der Bramine aber blieb unbeweglich sitzen, mit den Augen in die Luft starrend, obschon ich ihn mehrmals anrief. »Der alte Narr,« sagte Staunton, »befindet sich in dem Zustande religiöser Verzückung, eine Kanone vor seinen Ohren würde ihn schon wecken!« – »Das wäre! ich will ihn schon zum Antworten bringen!« – und ich klatschte mit der Peitsche dicht vor seinem Gesicht, aber er rührte sich nicht. – »Wir haben die Eitelkeit des scheinheiligen Hindu herausgefordert,« meinte der Begleiter, »er tut, als ob er uns nicht hörte, aber ich kenne dennoch ein Mittel, woran seine Geduld scheitert. Soll ich es anwenden?« – »Versteht sich!« – Er sprang vom Pferde, ergriff die Pantoffeln, die der Bramine in die Nähe der Tür gestellt und legte sie mit dem indischen Gruß: »Mögen Deine Wege leicht und angenehm sein!« auf seinen Kopf, gerade über der dreifachen roten und blauen Linie, die seine Stirn schmückte. Ein wilder, herzzerreißender Schrei machte mich in diesem Augenblick erbeben, es war das junge Mädchen, welches jammernd hinzustürzte, aber es war zu spät, – der leichtsinnige Streich, von dem ich damals noch nicht wußte, was er bedeutete, war geschehen, und Staunton saß bereits wieder zu Pferde. Der Alte rührte sich noch immer nicht, nur sein schwarzes Auge ruhte mit einem furchtbaren Ausdruck auf uns, während auf das Geschrei des Mädchens mehrere Hindus, die in der Nähe beschäftigt waren, herbeieilten, und als sie den Braminen mit seinem seltsamen Kopfputz erblickten, gleichfalls ein Wehklagen erhoben. Auf ein Zeichen Staunton's gaben wir unseren Pferden die Sporen und waren bald weit entfernt von der seltsamen Szene, deren Erklärung ich vergeblich von meinem Kameraden verlangte. Er schien vielmehr ärgerlich über sich selbst und sagte mir endlich, daß ich ihn zu einer törichten Handlung verleitet hätte, die uns beiden Gefahr bringen könne.«

»Aber was sollten die eigenen Pantoffeln denn dem alten Indier für Schaden tun?« warf O'Malley ein.

»Dieselbe Frage tat ich am Abend, den wir bei einem reichen Kaufmanne zubrachten, ohne jedoch weiter den Namen zu nennen und erfuhr, daß durch die Berührung eines unreinen Gegenstandes jeder Bramine der Rechte seiner geheiligten Kaste verloren geht und zu einer niederen degradiert wird. ›Wer auch den Übermut verübt,‹ sagte der erfahrene Mann, ›er kann ihm teuer zu stehen kommen. Vielleicht überlebt der Bramine seine Schande nicht, wenn er aber lebt, wird er leben, um sich furchtbar zu rächen.‹

Ich gestehe Ihnen, mir wurde bei dieser Erklärung nicht ganz wohl zu Mute, und ich begriff jetzt, warum Staunton ärgerlich auf sich und mich war und in der nächsten Zeit unser Quartier möglichst selten nach der Dämmerung verließ. Indeß es folgte nichts, und wir vergaßen die Geschichte um so rascher, als wir bald darauf nach Bombay zurückbeordert wurden. Der Winter war uns dort äußerst angenehm verflossen, und wir bereiteten uns beide vor, einen Urlaub, den wir erhalten, zu einer Reise nach Bengalen zu benutzen, um an den großen Tiger- und Elephanten-Jagden Teil zu nehmen, als am Tage vor unserer Abreise, an welchem wir mit einigen Freunden zusammen speisten, gegen das Ende der Mahlzeit ein Kuli – ein Hindu-Kommissionär – eintrat und ein sauber eingeschlagenes Paket brachte, das an Staunton, der unterdeß zum Kapitän vorgerückt war, und mich selbst adressiert sich ergab. – ›Von wem?‹ fragte ich. – ›Nouloum mahin Sahib‹, (Ich weiß es nicht, Herr,) antwortete der Kuli und verschwand, Staunton öffnete das Paket an einer Seite, und ich sah, wie er beim Erblicken des Inhaltes erblaßte. Sein Wink bedeutete mich, keine Frage zu tun, als wir aber allein waren, gab er mir das Paket mit den Worten: ›Ich wußte es wohl, der törichte Scherz würde seine Folgen haben!‹ – In dem Paket waren die alten Pantoffeln des Braminen, die Staunton diesem auf meinen Wunsch auf die Stirn gelegt.

Wir schifften uns am Morgen in einem Boot ein, das uns von Bombay nach dem Festland bringen sollte, wo wir die vorausgesandten Pferde zur Weiterreise treffen wollten. In dem Augenblick, als wir das Ufer verlassen wollten, drängte sich einer jener indischen Heiligen zu uns, die in fanatischem Wahnsinn sich selbst oft die größten Martern bereiten. Der Sanniassy war ein alter Mann, sein Haar in Unordnung, seine Nägel lang und gekrümmt, wie die Krallen des Greif, der Körper beinahe nackt und ganz mit Asche überschmiert. Auf dem Rücken trug er ein kleines Kupfergefäß, unter dem Arm die Antilopenhaut, auf die er sich zum Beten setzt, und in der Hand den aus den drei Zweigen schlangenförmig gewundenen Stock. Als er uns nahe war, blitzten seine Augen von wildem Haß, während er mit einem seltsam ergreifenden Ton uns die Abschiedsworte zurief: »Geht, wohin Eure Wünsche Euch rufen, und mögen Eure Wege leicht und angenehm sein!« – Ich sah, daß er die Münze, die Staunton ihm zuwarf, im Staube liegen ließ, und als das Boot durch die Wellen schob und der Fakir nur noch wie ein dunkler Punkt auf dem weißen Sande des Ufers zu erkennen war, hörte ich die Laskaren den Namen unter sich flüstern: Nikalanta!«

Der Erzählende erfrischte sich durch einen Trunk aus seinem Becher und fuhr dann fort: »Zwei Mal noch fand ich die unheimliche Erscheinung auf unserem Wege, wenigstens glaubte ich sie zu erkennen, das eine Mal in einem alten Schwärmer, der auf einem indischen Markt, auf dem wir verweilten, sich mit dem eigenen Fleisch an der Spitze eines Eisenhakens aufgehangen, an dem er von einer wagerecht auf dem Gipfel einer Säule sich drehenden Stange in der Luft schwebte; das andere Mal in der Gestalt eines Bettlers, als wir mit Abscheu in einem indischen Dorfe die Folterqualen betrachteten, welche die gierigen Einnehmer der armen Bevölkerung bereitet hatten.«

Der Kapitän nahm die Zigarre von den Lippen. »Sagen Sie ehrlich, Cavendish, ist das Geschwätz der Journale wahr?«

»Hören Sie, was wir mit eigenen Augen erblickten. Das Dorf war zwei Jahre nach einander hart durch Wolkenbrüche und andere Plagen Indiens, wie ich mir von einem alten Manne erzählen ließ, mitgenommen worden, und hatte nur sehr klägliche Reisernten gemacht, sodaß die Bevölkerung die Steuern der Regierung seit einem Jahre schuldig war. Gerade am Tage vor unserer Ankunft waren zwei Steuereinnehmer mit einem Kommando Sepoy's eingerückt um die rückständigen Steuern zu erpressen. Und in der Tat – man erpreßte sie. – Wir fanden die Bevölkerung, Männer, Weiber, Kinder und Greise, auf dem Platze der Pagode jammernd und wehklagend. An vielen der Männer, ja selbst an Greisen war das nichtswürdigste Annundal angewendet, eine Folterart, die darin besteht, daß den Unglücklichen der Kopf an die Füße, oder ein Bein an den Kopf gebunden wird, kurz, daß sie in die verrenkteste Stellung gebracht werden, in der sie unter bitteren Qualen in der glühenden Sonnenhitze tagelang zubringen müssen. Andere waren an den Ohren, an den Haaren oder am Bart aufgehängt –«

»Unmöglich – Sie übertreiben!«

»Auf meine Ehre, – ich schildere Gesehenes und weiß, daß dies im Augenblick noch ein ganz gewöhnlicher Vorgang ist. Ja, was ich Ihnen bisher gesagt, ist nur Spielwerk gegen die Martern, welche im Namen und unterm Schutz – ich will zu ihrer Ehre nicht sagen, mit Kenntnis und Zustimmung – der Regierung des freien Großbritanniens verübt werden. Nicht selten geschieht es, daß man dem armen Opfer eine Schlange oder irgend ein ekelerregendes Insekt in den empfindlichsten Teil des Körpers steckt und den Mann so lange martern läßt, bis er zahlt. Eine andere, häufig angewendete Martermethode besteht darin, daß man den armen Hindus Pfeffer in die Augen, in die Nase oder in die Schamteile bringt und ihnen die entsetzlichsten Schmerzen verursacht. Die Folterart, die wir neben dem Annundal angewendet sahen, war das abscheuliche Kitten.«

»Bei Sankt Patrik,« sagte Fähnrich O'Malley, »die Leute haben ja ein ganzes Wörterbuch von Kunstausdrücken. Bitte, worin besteht das Kitten?«

»Es ähnelt der früheren Tortur in Europa und besteht aus einer hölzernen Zange, in welcher die Hände, Füße und bei den Frauen auch die Brüste, Ohren und andere empfindliche Körperteile so lange gekneipt werden, bis der Gefolterte das Bewußtsein oder auch den Gebrauch des gemarterten Organs verloren hat. Oder die Henker reckten die Finger des Opfers, bis der Schmerz unerträglich wurde –«

»Hören Sie auf, Kamerad,« sagte der alte Artillerist mit Ekel, »und erzählen Sie lieber von Ihren eigenen Abenteuern.«

Die Fortsetzung wurde jedoch durch den Anruf der Schildwache am Eingang der Redoute unterbrochen; dann hörte man die Stimme des von der Ronde zurückkehrenden Leutnant Stuart, die mit fröhlichem Tone nach dem Kapitän rief.

Der Herankommende, ein Schotte von Geburt, war eine hohe, schlanke Gestalt, etwa 30 Jahre alt, mit sonnverbranntem, hübschen Gesicht. »Der Teufel soll mich holen,« sagte er lachend, indem er sich wie ein nasser Pudel schüttelte, daß von der Feuchtigkeit des Mantels die Flamme hoch aufspritzte, »wenn ich in diesem Augenblick nicht der willkommenste Leutnant im ganzen Lager bin. Aufgeschaut, meine Herren – Lord Raglan sollte mich zum General-Proviantmeister machen, denn kein anderer als Ronald Stuart von Kinrose würde es in dieser verwünschten Nacht fertig gebracht haben, zwischen Schlamm und Regen Proviant für eine Generalstafel aufzufischen!«

»Was, zum Henker, meinst Du, Ronald, mein Junge?« fragte der Kapitän, »und was sind das für ein paar Schurken da hinter Dir? Hast Du Gefangene gemacht?«

»So wahr Pater O'Donnaghue den hübschen Dirnen lieber Beichte hört als alten Weibern,« mischte sich Mickey ungerufen ins Gespräch, »ich glaube 'r Gnaden, das ist der kosakische Jude, unser Rumlieferant, von dem ich 'r Gnaden gesagt habe.«

Der Fremde wurde herbeigewinkt. Es war seiner Kleidung und seinem Aussehen nach ein tartarischer Bewohner der Gegend, wie er in einigen geradebrechten englischen Worten erzählte, aus dem Dorfe Kadikoi. Er hatte einen Knaben, seinen Bruder, bei sich, und beide trugen in ihren Körben allerlei Mundvorrat, mit dem sie nach ihrer Angabe Handel trieben. Das Wetter hatte den Leuten offenbar hart zugesetzt, und Leutnant Stuart erzählte, daß er beim Rückzug im Nebel auf sie in der Nähe der Redoute gestoßen und aus ihrem Kauderwälsch vernommen hätte, daß sie dahin wollten.

Es war zwar sehr gewöhnlich, daß sich die tartarischen Einwohner im Lager umhertrieben, dennoch war Kapitän Armstrong unzufrieden, daß sein Offizier die beiden Fremden in die Verschanzung geführt. Indeß die Gelegenheit, bei diesem Wetter ungehoffte Erfrischungen erhalten zu können, überwog alle Bedenklichkeiten, und der Kapitän gestattete, daß die Tartaren einige Flaschen ziemlich guten einheimischen Branntweins unter Mickey's Vermittelung an die Soldaten verkauften, während die Offiziere eine Flasche Rum und ein Hammelviertel von ihnen erhandelten.

Der Irländer erhielt den Auftrag, alsbald, so gut es die Umstände erlaubten, Fleischschnitten zu braten, und Fähnrich O'Malley bereitete einen warmen Grogk.

»Und nun, Kamerad,« sagte der Leutnant Lundgreen, »erzählen Sie uns Ihre Geschichte zu Ende, ehe die Reihe der Nachtrunde Sie trifft.«

»Ich habe bereits erwähnt,« fuhr der Erzähler fort, »daß wir auf dem Wege zu den Elephanten-Tigerjagden waren, die im Innern Bengalens um diese Zeit stattfanden. Eine eigene Scheu hatte mich abgehalten, Staunton von dem Wiedererscheinen des Braminen zu sagen, teils weil ich die unangenehme Erinnerung nicht wieder zur Sprache bringen wollte und uns Mannes genug wußte gegen alle Angriffe des alten Schwärmers, teils auch, weil ich glaubte, ich könne mich in der Person geirrt haben. Überdies fesselte die Aufregung der wechselnden Szenen und Umgebungen, in die wir jetzt gekommen, alles Interesse.

Wir waren in der Nähe von Hyderabad und mit einer Gesellschaft Offiziere und Gentlemen von Madras zusammengetroffen, mit der vereint wir in die große Dschungelwüste eindrangen. Acht Tage hatten wir an ihren Grenzen schon mit der Elephantenjagd zugebracht, ohne doch das gefürchtete Wild Bengalens, den Königstiger, zu Gesicht zu bekommen. Mehrere Treiben, zu denen die Bauern der nächsten Dorfschaften aufgeboten worden, hatten in dem Distrikt, den wir betreten und der von einem Tiger verheert werden sollte, zu keinem Resultat geführt. Das Lager wurde nicht aufgespürt, und wir bekamen selbst den schlauen Feind nicht einmal zu Gesicht, obschon fast an jedem Morgen neue Räubereien erzählt wurden, die er im Schatten der Nacht verübt. Wir hatten uns deshalb auf eine ziemliche Strecke hin verteilt und lagen Nacht um Nacht auf dem Anstand in Hütten von Bambusstäben, die man uns zwischen den Ästen der Bäume erbaut hatte. Es war eine ziemlich hohe Wette zwischen den Mitgliedern der Jagdgesellschaft geschlossen worden, wer den Tiger erlegen würde, und Staunton setzte eine besondere Ehre darein, den Sieg für unser Regiment zu gewinnen.

»Eines Morgens, nachdem ich eine Nacht vergeblich auf dem Anstand zugebracht und mich an den Tropenwundern entschädigt hatte, kam Staunton hastig zu mir und weckte mich aus dem Schlaf, in dem ich im Schatten einer riesigen Palme lag. ›Die Wette ist unser, Cavendish,‹ sagte er aufgeregt, ›wenn Sie den Mut haben, ein Wagestück mit mir zu unternehmen. Ein junger Indier hat sich erboten, uns für eine gewisse Summe das Lager des Tigers zu verraten, das er zufällig entdeckt. Er schlägt vor, uns in dieser Nacht dahin zu führen, während der Tiger auf Beute umherstreicht, und uns in der Nähe ein Versteck zu zeigen, aus dem wir ihn bei der Rückkehr in der Morgendämmerung erlegen können.

So verwegen der Versuch auch war, unsere Jagdlust war erregt, dazu unser Stolz, und ich erklärte mich, wiewohl mich eine unheimliche Ahnung beschlich, die ich als ein Gefühl der Furcht unterdrückte, zu dem Abenteuer bereit. Wir trafen während des Tages so heimlich unsere Vorbereitungen, daß keiner von unseren Jagdgefährten, ja nicht einmal unsere Diener das Vorhaben ahnten, und statt beim Anbruch der Nacht den Lauerposten in der Bambushütte einzunehmen, bestiegen wir unsere Pferde und ritten, mit unseren Doppelbüchsen bewaffnet, nach der Stelle am Rande des Dschungelwaldes, an der uns der Indier erwarten wollte. Der junge Mann, fast ein Knabe noch und mit weichen, schönen Gesichtszügen, die mir selbst im Sternenlicht nicht ganz unbekannt schienen, harrte unser und lief alsbald im Trabe vor unsern Pferden her, so daß wir, je weiter wir in das Dickicht kamen, ihm kaum mit gleicher Schnelligkeit zu folgen vermochten.

»Wir ritten sichtlich auf einem breiten Elefantenpfade dahin, den die riesigen Tiere durch Wald und Gestrüpp gebrochen. Es war eine wundervolle Nacht, der Sternenhimmel funkelte über uns, Myriaden grün- und goldleuchtender Feuerfliegen bedeckten die Büsche und die Blätter und füllten die Luft. Das Geschrei der Rohrdommel und das Quaken der riesigen Ochsenfrösche schallte aus den Sümpfen, der Duft der Magnolien und der narkotischen Pflanzen, die bei Nacht ihre Kelche öffnen, erfüllte die Luft. Wenn wir uns einem jener Sumpffelder näherten, in denen die Eingeborenen ihren Reis bauen, erhoben sich große Scharen weißer Reiher mit eintönigem Geschrei in die Nachtluft.

»Plötzlich erzitterten unsere Pferde und blieben wie angewurzelt stehen. Ein leiser Pfiff scholl von vorn her zu uns, und unser jugendlicher Führer faßte die Zügel der Pferde und drängte sich zwischen sie. Ein gurgelnder, stöhnender Laut übertönte all' das seltsame, mannigfaltige Geräusch einer indischen Nacht, und dann folgte ein heulendes Schnauben, das den Wald ringsum zu erschüttern schien, und vor dem das Gekrächze der Hyäne, der klagende Ton des Schakals, die uns im Walde begleitet, verstummten. Der Knabe, unser Führer, drängte sich an uns und flüsterte: ›Der Tiger! es ist der Tiger!‹ – Im Nu waren unsere Büchsen von der Schulter, und wir schauten nach der Seite, von welcher der Laut gekommen war – aber nur einen Moment lang sahen wir zwei rollende grüne Feuerpunkte etwa 50 Schritt von uns entfernt funkeln, dann schoß es wie ein dunkler Streif über die Lichtung und war verschwunden. – ›Wischnu beschützt uns!‹ flüsterte der Indier, ›und hat den großen Würger geblendet, daß er seinen Weg verfolgt. Eilen wir, der Pfad ist jetzt sicher!‹

»Es war mir während des Rittes schon wiederholt vorgekommen, als sähe ich hin und wieder durch die Büsche eine graue Gestalt vor uns hingleiten, nach deren Gang sich unser Führer richtete. Doch hielt ich die Erscheinung immer wieder für ein Tier, oder einen Schatten und merkte nicht weiter darauf. Jetzt, nachdem wir dem Tiger glücklich entgangen, sah ich sie wieder mehrmals ganz deutlich, und als wir nach einem halbstündigen Ritt auf einen freien Platz gelangten, stand sie an ein Felsstück gelehnt vor uns. Als wir näher kamen, zeigte es sich, daß es ein Hindu war, tief in sein weißes Lenden- und Schultertuch gegen die Nebel der Nacht eingehüllt.

Wir befanden uns hier auf einem ziemlich hohen und freien Felsplateau, an dessen Fuß wir eine große sumpfige und morastige Dschungel sich ausdehnen und in den giftigen Dünsten, die aus dem Boden emporstiegen, verschwinden sahen. Der junge Hindu erklärte uns, daß unsere Pferde hierbleiben müßten, die er in Obacht nehmen werde, und daß wir nun zu Fuß, unter Führung seines Vaters, unseren Weg zu dem Lager des Tigers fortsetzen könnten. Nachdem wir uns einmal so weit gewagt, wäre es Feigheit gewesen, zu zögern, und wir nahmen daher unsere Waffen, empfahlen dem Knaben unsere Pferde, die auf dem hohen und steilen Felsplateau sicher waren vor dem Angriff der Raubtiere, und befahlen dem alten Indier, voran zu gehen.

»Seine gebückte, hagere Gestalt, in das weiße Tuch gehüllt, glitt im Sternenlichte vor uns hin auf einem durch Binsen und Dornen vielfach gewundenen Pfad, der unseren Augen nicht einmal erkennbar war und der mitten durch den Sumpf in hundert Krümmungen enge sich wand, so daß nur einer nach dem anderen ihn passieren konnte, wobei wir oft auf den Zuruf des Indiers genötigt waren, von einer festen Stelle zur anderen über den trügerischen Grund zu springen. Ich kann nicht sagen, was Staunton dachte, aber ich gestehe offenherzig, daß ich bereits sehr bereute, mich auf das Abenteuer eingelassen zu haben.«

»Ich kann mir die Lage lebhaft denken, Kamerad,« sagte Leutnant Stuart, während der Erzähler eine Pause machte und dem Grogk zusprach, »und hätte kaum geglaubt, daß Sie sich schon in so ernsten Gefahren befunden haben. Im Kaffernkrieg unter Sir George Cathcart ist es mir mehrfach passiert, daß wir die höllischen Dschungeln der Erogi-Gebirge bei Nacht durchziehen mußten, von wilden Feinden auf beiden Seiten bedroht, und bei der Distel von Schottland! die Assagayen der Kaffern waren nicht minder zu fürchten, als die Klauen Ihrer Tiger!«

»Es scheint, jede unserer Kolonien hat ihre Annehmlichkeiten,« sagte der Offizier. »Wir waren kaum zehn Minuten, die Büchse im linken Arm, durch dies furchtbare Dickicht vorgedrungen, als der Mond aufging und seine Strahlen die Gegend ringsum erhellten. Vor uns aus dem Grau der Nebel stiegen riesige, seltsam geformte Massen empor, bald schlanken Säulen, bald riesigen Kuppeln und Felswänden gleich. Wir riefen unserem Führer, zu halten und uns zu sagen, wo wir uns befänden, doch er sprang, ohne Antwort zu geben, von Stelle zu Stelle immer weiter, und es blieb uns nichts übrig, als ihm zu folgen, bis wir endlich atemlos auf festem Grund und in der Gegend jener phantastischen, riesigen Gebilde anlangten, die wir jetzt als die Ruinen Jahrtausende alter indischer Tempel und Bauwerke erkannten. Wir befanden uns in den sagenhaften, unzugänglichen Ruinen von Bidjeagur, die, wie ich wußte, etwa acht Meilen entfernt von dem Dorfe Anagundy liegen mußten.

»Der Hindu, unser Führer, schien in dieser Trümmerwelt, aus der unser Nahen mehr als einmal den Schakal und die Hyäne aufstörte und riesige Vampyre durch die Nachtluft scheuchte, wohlbekannt, denn er führte uns, noch immer wortkarg auf unsere Fragen, durch diese modernden Tempel und Paläste, bis zu dem Eingang einer halb verfallenen, von riesigen Marmorwänden umgebenen Pagode, an deren Säulen und Mauern wir im Mondlicht hundertfach wiederholt die Verwandlung des Götzen Wischnu erkennen konnten. – ›Der Tiger hat da drinnen sein Lager,‹ sagte er leise, als fürchtete er selbst die Schauer der Umgebung, ›eine Stunde vor Sonnenaufgang kehrt er von seinem Raube zurück. Ihr werdet am besten tun, Sahib's, zwischen diesen Steintrümmern Euch zu verbergen und ihn zu belauern.‹ – Eine kurze Beratung zwischen uns beiden ließ uns denselben Entschluß fassen. – ›Und Du, Sudners,‹ denn zu dieser Kaste glaubten wir, daß der Führer gehöre, was willst Du tun?‹ – fragte Staunton. – ›Ich bin ein Ausgestoßener, Sahib, ein Paria,‹ sagte der Mann. ›Bei den vier Köpfen dessen, den ich nicht nennen darf, mein Leben gehört Euch!‹ – Wir beschlossen, den Ort näher zu untersuchen und legten unsere Büchsen und Schießtaschen, die uns am Klettern hinderten, auf die nächsten Quadern, sie unter der Obhut des Hindu lassend, worauf wir aus unserem Jagdvorrat ein Windlicht anzündeten, über die Trümmer stiegen und in das Innere des Tempels eindrangen. Der Schein der Fackel scheuchte einige Fledermäuse auf, sonst jedoch schien das Gewölbe frei von allem Getier, was dafür sprach, daß hier das Lager des Königstigers sein mußte. Wir erhielten im nächsten Augenblick noch die Gewißheit durch eine Menge von Knochen, die teils glatt und gebleicht, teils noch mit Fleischresten, rings umher zerstreut lagen. In diesem Augenblick hörten wir aus einem Winkel ein Miauen und Winseln, und als wir den Schein unseres Lichtes dahin wandten, sahen wir etwas sich regen und bewegen, wie zwei kleine, unbehilfliche Tiere. Drei Schritte brachten uns nahe heran – es war das Lager des Tigers und darin lagen kaum vier Wochen alte Tigerkatzen!«

»Da waren Sie ja doppelt glücklich bei Ihrer Jagd,« sagte der Fähnrich.

»Den Teufel auch! Wie ein Blitz fuhr der Gedanke durch unsere Seele, daß wir nicht in dem Lager eines Tigers, sondern einer Tigerin uns befanden und daher wahrscheinlich zwei furchtbare Feinde zu erwarten hatten. Staunton gab zuerst diesem Gefühl Worte. – ›Das geht selbst über britische Nerven, Cabendish,‹ sagte er. ›Ich dächte, wir nehmen die jungen Katzen hier als Beweis unseres Abenteuers, erreichen unsere Pferde und attackieren morgens bei Tage mit der ganzen Jagdgesellschaft dies Nest. Ein Tigerpaar für zwei Mann liegt außerhalb unserer Wette.‹

Damit hatte er eine der Katzen beim Hals gepackt und schnitt ihr die Kehle durch. Ich machte es mit der zweiten ebenso, und wir kletterten dann hastig über die Steintrümmer des Ausganges zurück.

Der Hindu war verschwunden!

Im ersten Augenblick glaubten wir, da unsere Gewehre und Taschen auf den Steinen lagen, er habe seinen Posten nur zufällig verlassen und befände sich in der Nähe, und wir riefen nach ihm, um ihm die drohende Gefahr und unseren Beschluß mitzuteilen. Unser Ruf weckte das Echo der Ruinen, ohne den Führer herbeizubringen. »Wo zum Teufel,« sagte Staunton, »mag der Schurke stecken? Er kann unmöglich aus Furcht davon gelaufen sein, denn seine Angabe, daß die Tiger erst mit dem Morgengrauen zurückkehren, ist, wie ich aus Erfahrung weiß, richtig. Ich schlage dem Schuft das gelbe Fell braun und blau, da er uns hier unnütz aufhält.« – Ein wildes Hohngelächter antwortete diesem Ausbruch der Besorgnis und Ungeduld; dann sahen wir auf der Höhe der Tempelruine eine menschliche Gestalt wie durch Zauberei erscheinen, am Nachthimmel sich abmalend, und wie aus den Wolken klang eine unheimliche, höhnende Stimme mit dem Ruf:

»Zwei Sahib's – zwei Tiger! – Möge Euer Weg leicht und angenehm sein!«

Im Augenblick war mir das Geschehene klar – der Führer war Nikalanta, der entweihte Brahmine, wir unabänderlich die Opfer seiner Rache. Der Gedanke hatte kaum Zeit gehabt, mir durch das Gehirn zu fahren, als auch schon die Büchse an meiner Wange lag, gegen den Verräter erhoben, und mein Finger den Drücker berührte.

»Das Zündhütchen sprühte, ohne daß das Gewehr sich entlud. Ein neues Hohngelächter antwortete meinem Versuch.

Bestürzt schaute Staunton mich an und dann auf die Stelle, von der die Gestalt unseres unversöhnlichen Feindes jetzt verschwunden war. ›Was soll das heißen? was tun Sie, Cavendish?‹ – Meine fliegenden Worte verkündeten ihm die furchtbare Lösung. Er blieb einige Zeit finster und nachsinnend, dann sagte er: ›Ich glaube, Sie haben Recht, und auch mich wollte es bedünken, als hätte ich das Gesicht des Knaben schon gesehen, der uns zu dem Gange verlockte. Es war die Tochter des Brahminen, den wir damals an der Hütte fanden. Die Lage, in die uns jener Teufel versetzt, ist wahrhaft furchtbar, und wir werden ihr schwerlich entrinnen. Indessen lassen Sie uns als Männer tun, was wir vermögen, und komme dann, was da wolle. Zuerst bringen Sie Ihr Gewehr in Ordnung, damit es im Augenblick der Not nicht nochmals versagt.‹ – Ich hatte es bereits aufgenommen, aber zu meinem Entsetzen bemerkte ich, daß es feucht war, – Nikalanta hatte Wasser, das er in der hölzernen Flasche an seiner Seite trug, in den Lauf gegossen. Dasselbe war mit Stauntons Büchse geschehen. Unser erster Gedanke war jetzt an das Pulverhorn, das an meiner Jagdtasche hing – es war leer, wir waren, fast waffenlos, den Tigern preisgegeben.

Sprachlos setzten wir uns auf die Quadern und schauten uns an. Wir wußten nicht, ob unser Feind noch in der Nähe weilte und über welchem neuen Unheil er brütete, aber unsere Lage schien kaum schrecklicher, gefährlicher werden zu können, denn wir fühlten beide, ohne es auszusprechen, daß an einen Versuch zur Rückkehr durch den Dschungelsumpf ohne Führer und vor vollem Tageslicht nicht zu denken war, und daß das Gelingen auch dann noch sehr zweifelhaft blieb. Bis dahin aber waren die Tiger längst zur Stelle. Ohnehin machte allem Zweifel über diesen Weg ein aus der Entfernung schwach herüberdringender, eigentümlicher Schrei ein Ende, dem gleich darauf ein zweiter folgte. Ich hatte nie in meinem Leben den seltsam klagenden, die Nerven erregenden Ton vernommen, doch Staunton, der die Schlachten gegen die Sikhs mitgeschlagen, belehrte mich darüber: ›Es sind unsere edlen Pferde, denen der blutdürstige Schurke sein Messer ins Herz stößt, um uns jeden Weg der Flucht abzuschneiden.‹

Endlich hatten wir uns so weit gefaßt, daß wir unsere Lage ruhiger besprechen konnten. Mitternacht war vorüber, also noch etwa zwei Stunden Zeit, bis die Morgendämmerung begann. Verschiedene Pläne wurden gefaßt und verworfen, endlich beschlossen wir, uns in dem Tempelgemäuer selbst, das zum Lager der Tiere diente, so gut wie möglich zu verbarrikadieren, da es nur an einer Stelle einen offenen Eingang zeigte. Wir schleppten mit aller Anstrengung Steintrümmer heran, die Öffnung zu verengen, und arbeiteten, daß uns der Schweiß von der Stirne lief. Als wir keine leichten, für unsere Kräfte geeigneten Steine mehr fanden, setzten wir uns hinter die leichte Brustwehr. ›Kamerad,‹ sagte der Kapitän, ›ich bin ein älterer Jäger als Sie und weiß, daß die Tigerpaare nie zusammen jagen. Es ist wahrscheinlich, daß nach ihrer Gewohnheit die Tigerin zuerst und weit früher als der Tiger zurückkehrt. Unser Leib muß hier die Spalte, durch welche die Bestie in unsere Wohnung eindringen kann, verteidigen. Uns beide auf den Tiger zu stürzen, hieße wahrscheinlich uns beide kampfunfähig machen. Lassen Sie uns also losen, wer zuerst dem Tiere sich entgegenstellen soll; der Zufälle und Schickungen sind so mancherlei und irgend ein glücklicher Umstand könnte wenigstens einen von uns retten, wenn es dem anderen gelingt, mit seinem Leben die erste Bestie abzuschlagen.‹ Nach einigen Bedenken willigte ich ein, indem wir übereinkamen, daß der, den das Los getroffen, den vordersten Posten einnehmen und von seinem Kameraden nur unterstützt werden sollte. Ein Geldstück sollte entscheiden. Staunton wechselte es in beiden Händen – wer die Guinee traf, hatte den ersten Kampf zu bestehen; ich wählte – die Hand war leer, der Kapitän sollte der Tigerin entgegentreten.

Ich weiß nicht, wie ihm zu Mute war, mir wollte fast Herz und Kopf zerspringen, während er seinen Jagdrock ablegte und sich diesen von mir um den linken Arm wickeln ließ. Indem ich dies tat, fühlte ich einen harten Gegenstand – ich zog ihn heraus – allmächtiger Gott! – es war ein sechsläufiger Revolver, den er in der Tasche bei sich trug und den er in der Aufregung gänzlich vergessen. Schon glaubte ich uns bewaffnet und gerettet, aber der Kapitän benahm mir den Wahn. ›Hätte ich eher daran gedacht,‹ sagte er, ›so wäre es vielleicht möglich gewesen, unsere Büchsen zu reinigen und das Pulver aus den Pistolenläufen zur Ladung zu benutzen. Doch wäre es immer nur ein Vielleicht, und die geringste zurückgebliebene Feuchtigkeit würde den Schuß verloren machen. Überdies ist es jetzt zu spät – mich dünkt, ich sehe bereits die ersten Boten der Dämmerung. Nehmen Sie das Pistol, und wenn Sie kaltes Blut genug besitzen, so warten Sie den Augenblick ab, wenn ich mit der Bestie handgemein bin und setzen es ihr an das Auge.‹ – Er weigerte sich auf das Bestimmteste, das Pistol selbst zu nehmen, indem er erklärte, daß es ihm in meinen Händen nützlicher sein würde. Ich band ihm eben das lange, scharfe Jagdmesser mit dem Taschentuch in der rechten Hand fest, während die linke in der dicken Umhüllung des Armes frei blieb, als wir plötzlich in einiger Entfernung das Röhricht knistern und brechen und zugleich ein wildes Schnauben hörten. Mit den Worten: ›Da ist sie! – nun Gott befohlen, Kamerad und vor allem kaltes Blut!‹ riß er sich von mir los und sprang an die Öffnung.

»Er hatte Recht, es war die Tigerin, die mit langen Sätzen, ein Reh im Rachen, von der Dschungel her durch die Trümmer sprang. Die Dämmerung hatte im Osten bereits begonnen und wir konnten das Tier, eines der größten seiner Art, deutlich sehen. Plötzlich hielt es in seinem raschen Lauf an und schnupperte umher, – es hatte die Witterung seiner toten Jungen empfangen, die wir außerhalb der Pagode, an der Stelle, wo wir unglücklicher Weise zuerst unsere Büchsen zurückgelassen, hatten liegen lassen. Im nächsten Augenblick war die Tigerin bei den kleinen Leichen und ein so wildes Geheul und Gewinsel scholl durch die Luft, daß ich fühlte, wie mir das Blut in den Adern gerann. – Jetzt hatte sie ihre Feinde gewittert und flog mit gewaltigem Satz gegen den Eingang, ihre Pranken rissen wie Spreu die Steine zur Seite und ihr Oberkörper füllte die Öffnung. Zum Glück erlaubte die kletternde Stellung ihr nicht die Anwendung ihrer vollen Kraft, wie ein Sprung diese entwickelt, und ehe sie sich durch die Steine zwängen konnte, sah ich, wie Staunton sich ihr entgegen warf. Die Szene, die jetzt folgte, ging rascher vor meinen Augen vorüber, als ich es hier zu erzählen vermag. Ich sah, wie der linke Arm meines tapferen Kameraden in den offenen Rachen der Bestie stieß und seine Hand wahrscheinlich ihre Zunge fest packte, ich hörte das Knirschen der Zähne in den brechenden Knochen, ich sah, wie die Tatze des Tigers in seine Brust schlug und zugleich seine rechte Hand zwei – dreimal zustieß, wie jedesmal ein dicker Blutstrahl sich über das Tuch ergoß – dann war es mir, als ob meine Sinne in dem betäubenden Odem des Tieres sich verwirrten, als hörte ich den Ruf: ›Zu Hilfe, Cavendish! zu Hilfe!‹ ein Knall – ein zweiter – ich fühlte, daß ich geschossen, das Wie? wußte ich nicht – dann verlor ich das Bewußtsein.«

Der Erzähler machte eine Pause; kein Laut unterbrach die atemlose Aufmerksamkeit, mit welcher die Offiziere der Beschreibung zugehört hatten.

»Meine Schwäche,« fuhr der junge Mann fort, »wird in Ihren Augen vielleicht verächtlich erscheinen; aber bedenken Sie, daß ich auf dem Parkettboden von Windsor erzogen, noch nie Gelegenheit gehabt, meine Nerven für solche furchtbaren Szenen zu stählen. Dennoch konnte meine Ohnmacht nur wenige Augenblicke gedauert haben, als ein schmerzliches Stöhnen an meiner Seite und mein leise ausgesprochener Name mich zum Bewußtsein und zu meiner Pflicht zurückrief. Ich war entschlossen, mich auf das Untier zu stürzen, aber – der Kampf war zu Ende; kaum zwei Fuß von mir lag die Tigerin mit durchschnittener Kehle, das eine Auge rollte noch im Verscheiden, während das andere, von den Schüssen zerschmettert, blutig aus der Höhle hing und Wellen schwarzen Blutes aus Hals und Rachen quollen. Ich schaute mich nach Staunton um, er kniete neben mir – entsetzlich anzuschauen. Sein linker Arm war bis in die Schulter zermalmt und hing, ein Gemisch von zerrissenen Sehnen, Fleisch und Kleiderfetzen, herunter, während die Brust eine breite, bis auf die Knochen gehende Wunde zeigte. ›Es ist vorbei mit mir, Cavendish‹ flüsterte er stöhnend, ›die Klauen des Tigers hatten die Lebensarterien schon getroffen, als Ihr Schuß sein Gehirn zerriß.‹ – Ich hob ihn in meinen Armen auf und schleppte ihn einige Schritte weit fort von dem blutigen Tier. Ich sah, jeder Versuch, ihn zu verbinden, selbst wenn ich die Mittel dazu gehabt hätte, wäre vergeblich gewesen. – ›Lassen Sie mich ruhig sterben, Cavendish,‹ sagte er, ›und denken Sie an Ihre Rettung. Der Tiger kann jeden Augenblick kommen, aber mir ist ein Mittel eingefallen,‹ er sprach mit Anstrengung in abgebrochenen Sätzen – ›das uns beide gerettet hätte, wenn ich eher daran gedacht. In meiner Tasche ist Feuerzeug. – Sie müssen die Dschungel in Brand stecken – unter diesen Steingewölben sind wir sicher. Aber eilen Sie – eilen Sie!‹ – –

»Die Überzeugung fuhr mir durch den Kopf, daß das Mittel vortrefflich sein mußte, dennoch wollte ich den Sterbenden nicht verlassen. – ›Fort, fort – eilen Sie,‹ rief er mit Anstrengung, ›jede Minute ist unwiederbringlich – Sie finden mich noch lebend!‹ – Ich sprang über die Leiche des Tigers und die Steine und eilte zum Rand der Dschungel. Das Morgenrot zeigte sich bereits und ein leichter Luftzug wehte über die Fläche. Rasch war einiges dürre Gesträuch zusammengerafft und in Brand gesteckt, ich warf es in das Rohrdickicht und im nächsten Augenblick schon quollen Rauch und Flammen in die Höhe.

Nach kaum fünf Minuten war ich wieder bei dem Verwundeten. Er hatte sich zur Leiche der Tigerin geschleppt und betrachtete sie mit einem gewissen Stolz. – ›Lassen Sie mich auf ihr sterben, Cavendish,‹ sagte er, ›es wird nicht viele Männer geben in der britischen Armee, die sich rühmen können, eine Tigerin mit dem Jagdmesser bekämpft zu haben. Hören Sie – wie die Flamme knistert – mein Rat war gut, aber er kam zu spät!‹ – In der Tat zeigte ein Blick mir, daß das ganze Dickicht bereits in Flammen stand, die, von dem Wind angefacht, mit rasender Schnelle über das dürre Geröhr flogen. Tiere aller Art, wilde Kaninchen, Schlangen, Eidechsen, Schakale und schwarze Eber flüchteten, von dem Feuer aufgejagt, aus ihrem Lager in den Sumpf und nach den höher und freier gelegenen Ruinen. Staunton faßte meine Hand; an dem starren, gläsernen Ausdruck konnte ich sehen, daß der Tod ihm nahe war. – ›Cavendish‹, sagte er, ›wenn Sie entrinnen, verlassen Sie Indien sogleich – denn der braune Satan wird Sie verfolgen bis –‹ Er fuhr plötzlich empor, die Sinne des Sterbenden waren, wie dies häufig der Fall sein soll, merkwürdig geschärft, und er hörte durch das Zischen und Knistern der Flammen ein Geräusch, das mein Ohr noch nicht unterscheiden konnte. – ›Gott erbarme sich Ihrer, Kamerad – der Tiger kommt – der Tiger.‹ – Ich hatte kaum Zeit gehabt, empor zu springen, da erschütterte ein wütendes entferntes Heulen die Luft und schien mit Sturmeseile näher und näher zu kommen. Durch das Prasseln der Flammen hörte ich das Brechen des Rohres und der Gebüsche und dann« –

» Stop!« klang der Ruf der Schildwache vor der Brustwehr. – »Werda? – Feldgeschrei? – Parole?«

»Abukir und Waterloo!« sagte eine Stimme. »General Codrington zur Visitation!«

Ehe noch die Schildwache ihr »Passiert« hatte entgegnen können, waren die überraschten Offiziere schon emporgesprungen und eilten dem Hals der Verschanzung zu. Außerhalb dieser hielt in der Tat der Brigade-General mit einer kleinen Begleitung. Einige Nachrichten, die ihm am Tage vorher von Bewegungen der Russen zugekommen waren, hatten ihn besorgt gemacht, und er beritt die britischen Linien, um sich von der Wachsamkeit der Posten zu überzeugen.

»Wer kommandiert die Batterie?«

»Leutnant Lundgreen, Exzellenz. Die erste Kompagnie des 95. Regiments, Kapitän Armstrong, zur Deckung.«

»Gut, meine Herren, ich sehe, das Höllenwetter hat keinen Einfluß auf Ihre Wachsamkeit geübt. Doch möchte ich Ihnen raten, Kapitän, obschon ich nicht Ihr kommandierender General bin, einen Offizier mit einem Piket während der Dunkelheit die Straße zwischen den Höhen bis zur Wasserleitung hin patrouillieren zu lassen. Die Russen stehen, wie wir wissen, in bedeutender Stärke am anderen Ufer des Flusses.«

»Zu Befehl, Exzellenz. Leutnant Cavendish, nehmen Sie einen Sergeanten und zehn Mann, verstärken Sie unseren Posten auf der Straße nach der Tschernaja, und senden Sie Patrouillen bis an den Talrand.«

Der Leutnant salutierte mit etwas saurer Miene. – »Zum Henker!« flüsterte O'Malley, »da kommen wir um den Schluß Ihrer Geschichte. Ich hätte gar zu gern erfahren, wie Sie noch davongekommen.«

»Gedulden Sie sich, bis wir uns wiedersehen,« entgegnete Cavendish ebenso. Er eilte, sich fertig zu machen, denn der General zögerte offenbar, um den Abmarsch der Patrouillen zu sehen.

Beide ahnten nicht, daß zwischen dem Jetzt und dem Wiedersehen die Ewigkeit lag.

»Fertig, Kapitän. Gewehr auf! Marsch!« Das Kommando verließ die Schanze. Als Cavendish, bei General Codrington vorbeimarschierend, salutierte, klang von der Festung her ein fernes melodisches Summen durch die schwere Nebelluft. Der Leutnant blieb stehen – auch die anderen Offiziere horchten aufmerksam auf die Klänge, die offenbar von der Festung herkamen. Lord Codrington lachte. – »Kehren Sie sich nicht daran, meine Herren, ich habe es vorhin schon vernommen, als ich meine eigene Brigade visitierte. Die Russen läuten zur Nachtmesse in der Stadt, es ist morgen Sonntag, und sie feiern wahrscheinlich ein Fest ihrer hundert Heiligen. Gute Nacht oder – Guten Morgen und gute Wache, Gentlemen!« – Der General ritt grüßend weiter nach der Richtung der anderen Redouten.

Als er fort war, wurden die Wachen abgelöst, dann hüllten sich Offiziere und Soldaten in ihre Mäntel und suchten eine möglichst trockene Stelle für die Ruhe einiger Stunden. Auf seine Frage erfuhr der Kapitän Armstrong, daß der Tartar und sein Knabe zugleich mit der Patrouille die Verschanzungen wieder verlassen hatten, was ganz gegen seine Absicht geschehen, aber nicht mehr zu ändern war.

Der Tartar hatte übrigens nur eine kurze Strecke weit bis zur alten Poststraße das britische Detachement begleitet, dann verließ er die Soldaten unter dem Vorgeben, nach Kadikoi zurückkehren zu wollen. Die Patrouille war kaum im Dunkel des Hohlweges verschwunden, als er auch die Straße verließ und an den Hügelseiten emporkletterte. – »Jetzt wissen wir, was wir wollen, Mauro,« sagte er, »Du kennst die Parole und das Feldgeschrei für den Notfall, wenn Du auf die Soldaten stoßen solltest. Also rasch nach der Stadt und General Ssoimonoff entgegen. Ich schlage den Weg durch die Steinbrüche ein und bin in einer Stunde an der Brücke. Die Narren haben uns alle ihre Verteidigungsanstalten sehen lassen und ich denke, Mungo's Probestück wird auf diesem ihm fremden Boden der Empfehlung Deines Herrn keine Schande machen.«

Der Spion verlor sich in dem dunklen Schatten der Berge, während der Knabe nach der Richtung der Stadt schlich.

Als General Codrington von seiner Inspektion der britischen Linie, die er bis gegen den Sapunberg hin ausgedehnt hatte, zurückkehrte, – der Tag brach bereits an – fielen plötzlich auf dem linken Flügel der Vorpostenlinie vor der Division Brown einige Schüsse, und bald darauf hörte man von der Seite von Inkerman heftiges Gewehrfeuer.

Codrington ließ seine Brigade unter Waffen treten.

Das Glockengeläute in der Nacht von den Türmen Sebastopols hatte nicht der Sonntags-Frühmesse gegolten, sondern die Einwohner zusammengerufen zum Gebet für den glücklichen Ausgang der Schlacht. Die Truppen standen bereits auf den Sammelpunkten.

Als die Morgenröte sich am Himmel zeigte, während auf den Bergen und in den Tälern dichter Nebel lag und im englischen Lager noch alles ruhig schlief, ohne an die nahe Gefahr zu denken, begannen die russischen Truppen auch von den Höhen des rechten Tschernaja-Ufers herabzusteigen, und von der Stadt her näherte sich die Spitze der Kolonnen Ssoimonoffs.

In diesem Augenblick schon war es, wo das Geschick der Schlacht durch den Fehler eines Führers entschieden wurde, der die Folgen selbst nicht durch die heldenmütige Opferung seines Lebens abwenden konnte. Die Disposition für die Kolonne des General-Leutnants Ssoimonoff, der von der Bastion Nr. 2 aus gegen die Engländer vorbrechen sollte, lautete: auf der linken Höhenseite des Kilengrundes vorzugehen und die Engländer anzugreifen. Der Fürst hatte damit die westliche Seite des Kilengrundes gemeint, bei der Bestimmung von rechts und links den Lauf des Talgrundes nach seinem Ausgang zum Meere annehmend.

General Ssoimonoff tat das Gegenteil – er rechnete in der Richtung, nach welcher er marschierte.

So überschritt seine Kolonne denn gleich beim Austritt aus der Stadt die Mündung des Kilengrundes und rückte auf dem Plateau des östlichen Randes vor, statt sich auf dem breiten Terrain des westlichen zu entfalten und hier den linken Flügel der englischen Stellung anzugreifen, nach dem Zentrum hin aufzurollen und so zwischen die englischen Trancheen und das Lager einzudringen, das am Anfang des Kilengrundes lag. Dies war jedoch nicht der einzige überwiegende Nachteil. Infolge des Irrtums schob sich das Ssoimonoff'sche Korps vor den von der Inkerman-Brücke her vordringenden rechten Flügel der Angriffs-Kolonne des General-Leutnant Pawloff, der von dieser Seite gegen das englische Lager vordringen sollte, während sein linker Flügel auf der alten Poststraße und durch die Schluchten die englischen Redouten und den rechten Flügel der Feinde angriff. Die Russen verloren damit ihr numerisches Übergewicht, da sie nicht aufzumarschieren vermochten. Die russischen Regimenter mußten in Kompagnie-Kolonnen zum Angriff gehen, auf welche die englischen Bataillone, in Front in zwei Gliedern aufgestellt, mit ihren vorzüglichen Gewehren schon in weiter Entfernung ein sicheres, vernichtendes Feuer eröffneten.

Der dichte Nebel und die graue Farbe der Platschtschs (Militärmäntel) der Russen machte es neben der Ermattung der englischen Schildwachen den feindlichen Tirailleurs möglich, unbemerkt dicht heran zu kommen. Das Tarutinskische Jäger-Regiment unter seinem Kommandeur, Generalmajor Wolkow, rückte auf der alten Poststraße vor, während das Borodinskische Regiment parallel die Schluchten hinabstieg.

Leutnant Cavendish, der kaum eine halbe Stunde vorher von einer Rekognoszierung bis an die Tschernaja zurückgekehrt, sah sich plötzlich im Rücken und in den Flanken von russischen Jägern umgeben, und ein Offizier rief ihm auf russisch zu, er solle sich ergeben. Der junge Mann jedoch, dem es durchaus nicht an Mut fehlte, erwiderte mit einem Schuß seines Revolvers, um die nächsten Schildwachen zu alarmieren, und versuchte dann an der Spitze seiner kleinen Truppe, sich durchzuschlagen. Ein Bajonettstich in die Brust warf ihn verwundet zu Boden, indeß gelang es ihm, aus dem wütenden Kampfe, der jetzt folgte, zu entkommen, und, auf dem Boden sich hinschleppend, den Schutz des nächsten Gebüsches zu erreichen.

Binnen wenigen Minuten war jetzt Alarm auf der ganzen Linie. Der Angriff zeigte sich aber so ausgedehnt, das Kanonen- und Kleingewehrfeuer krachte von so verschiedenen Seiten, daß die englischen Generale anfangs vollständig im Zweifel waren, woher der Angriff sie bedrohe. Von der linken Seite her donnerten die Batterien der Stadt und unterstützten die Artillerie Ssoimonoffs, die mit 38 Geschützen sich auf den rechten Kilenhöhen aufgestellt hatte. Die Spitzen des Pawloff'schen Korps erstiegen bereits die Höhen der Poststraße; von Südosten verkündeten Kanonenschüsse die Diversion des Fürsten Gortschakoff gegen den Sapunberg.

Zuerst glaubten die Engländer, es gelte aufs Neue einen Angriff auf Balaclawa, und hielten das Vordringen von Inkerman für eine Scheinattacke. Die blutige Wirklichkeit belehrte sie bald eines anderen. General Pennefather, der wegen Krankheit Lacy-Evans die Division führte, erschien zuerst auf dem Kampfplatz und sandte die drei Regimenter der Brigade Adams zum Schutze der Redoute Nr. 1, mit der eigenen Brigade links gegen Ssoimonoff Stellung nehmend. Buller und Codrington setzten mit ihren Brigaden die Schlachtlinie fort, und hinter diesem ersten Treffen gelang es den Engländern, ihre weitere Stellung zu bilden.

Noch im Schutz des Nebels drängten das Borodinskische und Tarutinskische Jäger-Regiment von der Kolonne Pawloffs, nachdem sie die Hohlwege erstiegen, die Brigaden Pennefathers zurück und griffen die Redoute Nr. 1 an. Das Tomskische und Kolivanskische Regiment, unterstützt durch das Regiment Catharinenburg, warfen sich, trotz des furchtbaren Flankenfeuers der vier englischen Brigaden Codrington, Buller, Campbell und Gordon, mit dem Bajonett auf die Brigaden Adams und Pennefather. Der Ruhm, den die Engländer sich bis dahin lächerlicherweise stets angemaßt, daß keine Truppen der Welt sich mit ihnen im Bajonettkampf messen können, wurde hier gründlich vernichtet. Die russischen Bataillone drangen mit unwiderstehlicher Macht vor, obschon die Kräfte auf diesem Teil des Schlachtfeldes ganz gleich waren. Das Gemetzel war entsetzlich, fast jeder Stoß der Bajonette brachte eine tödtliche Wunde, aber über die Fallenden und Sterbenden stürmten neue Kämpfer in die Reihen. Das »Hurra« der Russen, wie sie in dem Talgrund in geschlossenen Kolonnen vordrangen, klang wie der Donner einer Lawine, und wie eine solche rollten sie die englischen Bataillone auf. Die Artillerie Ssoimonoffs sandte zugleich von der Höhe ihre Kugeln bis in die Zelte des englischen Lagers, ein Bataillon der Tomskischen und zwei Bataillone der Kolivanskischen Regimenter stürmten die Redoute Nr. 2, vernagelten zwei Lancaster-Kanonen und drangen bis ins Lager der 2. Division. Zwei Bataillone Catharinenburg, unter ihrem tapferen Oberst Uwaschnow Alexandrow, umgingen sogar das obere Ende des Kilengrundes, gelangten so auf das Terrain, das die Kolonne Ssoimonoff von Anfang an hätte okkupieren sollen, stürzten sich hier auf das Lager und vernagelten die Geschütze.

Doch sie blieben ohne Unterstützung; Generalmajor Wilboa, der Kommandierende der drei Regimenter, fiel von einer englischen Kugel getroffen, die Miniébüchsen der Schützen der leichten Division Brown räumten furchtbar unter den Russen auf, und die tapferen Bataillone mußten ihre Vorteile wieder aufgeben und, fast aller Offiziere beraubt, bis an den Hohlweg zurückgehen, der die Steinbrüche an dem Kilengrund bildet.

Hier war es, wo der unerschrockene Ssoimonoff mit seinem Blute den begangenen Fehler sühnte. Der Kommandant seiner Artillerie, Oberst Saghoskin, fiel, die Artilleriebedienung, die Zugpferde wurden von den weithin treffenden Kugeln der Engländer niedergeworfen; erst unterm Schutz der vom Generalmajor Schabokritski in vorteilhafter Stellung aufgefahrenen Batterien gelang es den russischen Regimentern, sich wieder zu formieren. Sie hatten furchtbar durch den Heldenkampf gelitten und mußten aus der Schlachtlinie zurückgezogen werden. In den drei Regimentern waren nur noch zwei Stabs- und fünfzehn andere Offiziere ohne schwere Wunden. Neue russische Regimenter nahmen hinter den Batterien Stellung, und eine Kanonade begann. – Auf der Höhe hinter diesen Batterien der ersten Linie hielt der Oberbefehlshaber der russischen Angriffskolonnen, General Dannenberg, und der Tod mähte um ihn her eine reiche Ernte. Offiziere des Generalstabes, Adjutanten und Ordonnanzen wurden ringsum getötet, dem General selbst zwei Pferde unter dem Leibe erschossen.

Während dieses wilden Kampfes an dem oberen Ende des Kilengrundes hatten die beiden Regimenter des Pawloffschen Korps, die sich gegen die Redoute Nr. 1 und die Brigaden Adams und Pennefathers gewendet, diese zurückgedrängt und stürmten wiederholt die Redoute, in der sich Kapitän Armstrong mit den erhaltenen Verstärkungen mit Löwenmut schlug. Dem munteren O'Malley schlug eine Kugel durch den Mund und schloß ihn auf ewig; der treue Mickey schleppte seinen tapferen Herrn schwer verwundet aus dem Kampf; die Russen drangen wiederholt bis an die Mündungen der Kartätschen sprühenden Geschütze Lundgreens vor, und für die Toten, die Bajonett und Kolben der Engländer von den Brustwehren schleuderte, klommen mit jener zähen Gleichgültigkeit gegen Gefahr und Leiden neue Scharen empor. Schon waren einzelne in das Innere der Batterien gesprungen und kämpften mit den Artilleristen, da – – – –

» Vive l'Empereur!« – –

Früh 7 Uhr war Lord Raglan mit seinem Stabe auf dem Schlachtfelde eingetroffen, wo bereits, mit Ausnahme der Brigaden Colin-Campbell und Eyre, die in den Trancheen und bei Balaclawa standen, die ganze englische Macht im Feuer war. Um den Gang des Gefechtes besser zu überwachen, ritt er in die Schlachtlinie vor – an seiner Seite fiel hier der Chef seiner Artillerie, General Strangways, der bei Leipzig als Kommandant einer Raketen-Batterie ruhmvoll seine Laufbahn begonnen.

Bald nach Beginn des Angriffs schon eilte General Bosquet, der Kommandant des französischen Observations-Korps auf dem Sapunberg, in das britische Lager, gefolgt von vier Kompagnien Vincenner Jäger, zwei Bataillonen Infanterie und zwei reitenden Batterien. Er bot den Generalen Cathcart und Brown seine Hilfe an, doch die hochmütigen Briten, noch nicht gedemütigt von der Dezimierung ihrer Regimenter, lehnten den Beistand ab und erklärten, noch Truppen in Reserve zu haben. Nur wenn die Redoute Nr. 1 in die Hände der Feinde fiele, würden sie um Unterstützung ihres rechten Flügels bitten. Bosquet, weit verständiger als die Engländer, sandte ohne weiteres die mit ihm gekommenen Truppen der Redoute zu Hilfe und kehrte nach seinem Posten auf dem Sapunberg zurück, um sich selbst von der Wichtigkeit des Angriffs zu überzeugen, der dort von Tschorgun her drohte. Sein Scharfblick erkannte sofort, daß hier nur von einer Scheinattacke die Rede war, um ihn zu beschäftigen. Er traf demnach seine Vorbereitungen, um auf die erste Botschaft der Engländer nach dem Schlachtfelde eilen und mit seinen Truppen das Schicksal des Tages entscheiden zu können.

Aber der beleidigte General wartete auf die Bitte der Briten, die, wie er sah, kommen mußte. Der tapfere Republikaner, der mit seiner ganzen Division keck gegen das Kaisertum gestimmt, der, als Liebling der Armee, nur auf Fürsprache Canroberts beim orientalischen Kriege wieder eine Division erhalten und seitdem durch sein Organisationsgenie bei der Landung in Gallipoli die Engländer in Staunen gesetzt, die faulen Türken mobil gemacht, der an der Alma schon durch den Sturm auf die Höhen am Meer die Schlacht entschieden hatte, – er haßte als echter Franzose die anmaßenden Verbündeten seines Kaisers, die natürlichen Feinde Frankreichs, und beschloß, sie zu demütigen.

Seine ersten Bataillone waren es, die im letzten Augenblick den tapferen Verteidigern der Redoute zu Hilfe kamen und sie befreiten, während zugleich General Bentink mit der Garde-Brigade der geworfenen zweiten Division zu Hilfe eilte und die Russen zurücktrieb.

Es war neun Uhr, der erste Akt des blutigen Dramas war beendet.

Doch nur auf kurze Zeit. Aufs neue rollte der Vorhang empor und ließ das Spiel beginnen, in dem der Kanonendonner die Rede, der Tod die Aktion war.

Die drei hintersten Regimenter der Kolonne Pawloffs, das Ochotskische Jäger-, das Jakutskische und Selenginskische Infanterie-Regiment, die nach Ueberschreitung der wieder hergestellten Inkerman-Brücke rechts auf der Sappeurstraße vorgerückt waren, trafen um 8 Uhr auf dem Schlachtfelde ein, zur Zeit, als die vorderen Truppen Ssoimonoffs nach dem Fall ihres Führers zum Steinbruchgrund zurückgedrängt wurden.

Neben General Dannenberg hielten zu Pferde zwei junge Offiziere, mit den Abzeichen hohen Ranges unter dem bei ihren Bewegungen sich öffnenden Mantel geschmückt, der eine etwa 23 Jahre alt, mit ernsten Gesichtszügen, die an ein majestätisches Bild erinnerten, in der Uniform des Genies; der zweite, wenig jünger, aber von freundlichen, runderen Zügen und dennoch unverkennbarer Aehnlichkeit, die Abzeichen der reitenden Garde-Artillerie tragend. Die drei Regimenter, das Ochotzkische an der Spitze, marschierten eben zwischen den Hügeln auf und formierten sich in Angriffskolonnen, und der Brigade- und die Regimentskommandanten sprengten zu dem Befehlshaber.

»Wir müssen die Redoute unter allen Umständen haben, General Ochterlone,« sagte der Kommandierende, indem er sein Glas vom Auge nahm. »Ich sehe, die Garden halten sie jetzt; lassen Sie Bibikoff links abschwenken und die Höhen stürmen; Ihrer Majestät Coldstreams werden auf den nächsten Almacs nicht so stark vertreten sein, wie ich hoffe.«

Während der greise Kommandant des Regiments salutierte und davonsprengte, wandte General Dannenberg sich wieder zu dem Kommandeur der ersten Brigade. »Sie müssen über den Hohlweg der Straße, um die Höhe zu gewinnen, ehe jene Kolonnen dort – wenn ich nicht irre ist es die vierte Division unter Cathkart – sie besetzen. Kapitän Kowaleff, reiten Sie zu Pawloff, und sagen Sie ihm, was ich über die Regimenter bestimmt habe, er soll die Reserven nachrücken lassen und die Batterien so nahe wie möglich bringen. Vorwärts, meine Herren, und Gott segne Rußland!«

Eine Hand faßte seinen Arm; es war der eine junge Offizier an seiner Seite, während der andere verschwunden war. »General,« sagte der junge Mann, »mit Ihrer Genehmigung werde ich mich Oberst Sabatinski anschließen.«

»Unmöglich, Kaiserliche Hoheit,« entgegnete der General höflich, aber bestimmt; »ich kann es unter keinen Umständen gestatten. Euer Kaiserliche Hoheit und Großfürst Michael sind bereits hier – – –« er sah sich erstaunt um – »wo ist der Prinz?«

»Mein Bruder,« sagte der Großfürst Nikolaus – denn dieser war der Offizier, der mit seinem jüngsten Bruder am Abend vorher zum Jubel der Armee in Sewastopol eingetroffen war –; »mein Bruder ist bereits Oberst Bibikoff dahin gefolgt, wohin Ehre und Pflicht ihn rufen, und ich bitte Sie, Herr General, zu bedenken, daß der Kaiser, unser Vater, uns nicht hierher geschickt hat, um Schlachten schlagen zu sehen, sondern sie mit unseren braven Soldaten zu schlagen.«

Der General verbeugte sich. »Diese Herren sind Zeuge, daß ich meine Pflicht getan. Ich kann Eure kaiserliche Hoheit nur bitten, Ihr kostbares Leben nicht unnütz auszusetzen.«

»Das kann nie geschehen, wo es Rußlands Ehre gilt. Auf Wiedersehen, Herr General!«

Der Prinz, dem sein Vater auf den Antrag des Fürsten Menschikoff nebst seinem Bruder für das tapfere Benehmen später den St. Georgs-Orden 4. Klasse verlieh, sprengte mit seinen Adjutanten den Regimentern nach und verließ sie während des folgenden Gefechts im heftigsten Feuer nicht.

Mit Ungestüm warfen sich die russischen Jäger auf die Redoute, die jetzt von den Coldstreams – der berühmten englischen Garde – verteidigt wurde, und ein Kampf, fürchterlicher, blutiger denn zuvor, entspann sich. Die Briten, gänzlich von den Ihren abgeschnitten und zugleich von der russischen Artillerie auf den gegenüberliegenden Höhen beschossen, schlugen sich mit Heldenmut. Viermal drangen die Ochotsker bis zu den Schießscharten, und viermal wurden sie von dem Bajonett und dem Feuer wieder zurückgeworfen. Zweihundert Mann des kaum Siebenhundert starken Regiments waren bereits gefallen, da gab es endlich die Hoffnung auf, die Redoute halten zu können, warf sich hinaus und bahnte sich mit dem Bajonett den Rückweg durch die Feinde.

Das Gemetzel war furchtbar, mehr als ein Drittel des Regiments fiel, aber auch der Sieg der Russen wurde teuer erkauft. Ihr tapferer Oberst Bibikoff stürzte tödtlich verwundet; beinahe alle Stabs- und Ober-Offiziere des Regiments lagen auf dem Kampfplatz.

Aber von der Redoute wehte die russische Fahne!

Die Brigade Ochterlone warf sich auf die Reste der zweiten englischen Division und trieb sie zurück. Da eilten Cathcart – der Liebling Wellingtons – mit seiner Division und Lord Bentink mit den übrigen zwei Garde-Regimentern und dem wieder gesammelten Rest der Coldstreams zur Unterstützung und zum Angriff herbei. Während die Grenadiere und die tapferen schottischen Garde-Füsiliere unter den wilden Klängen des Pibroch von Donald Dhu und dem Ruf: »Schottland für immer!« die Redoute wieder erstürmten und die Ochotskischen Jäger warfen, stürzte sich Cathcart mit dem 29. und 63. Regiment in den Hohlweg, um der russischen Brigade den Rückweg abzuschneiden. Oberst Bjalui mit den Jakutzkischen Jägern stürmte, unbekümmert um die Gefahr im Rücken gegen die Garden – Lord Bentink wurde verwundet, zwölf britische Offiziere waren gefallen, die Redoute aufs neue den Garden entrissen und diese zurückgetrieben. Die Engländer im Hohlwege sahen sich durch die besonnenen Befehle General Ochterlones von dem Selenginskischen Regiment umringt. Das Blutbad war hier entsetzlich, ein Kampf der Verzweiflung von seiten der Briten, die mit dem Bulldoggengrimm fochten, der noch im Tode sich an den Feind klammert, ein Kampf wütenden Hasses von seiten der Russen, deren Erbitterung während des ganzen Krieges in allen Ständen weit größer gegen die Briten als gegen die Franzosen sich zeigte. Vergeblich war alle Tapferkeit, alle persönliche Aufopferung des tapferen Cathcart, der in ihren Reihen kämpfte. In seinen Ohren dröhnte verzweifelnd der Ruf der Soldaten: »Wir haben keine Patronen mehr!« – »Nun, so habt ihr Bajonette!« rief der General. »Also vorwärts für den Ruhm von Alt-England!« Und vorwärts stürzten die Kompagnien, aber sie zerstoben an den russischen Phalangen und eilten in Unordnung den Höhen zu. Hier jedoch empfing sie das Jakutzkische Regiment mit einem Kugelhagel, Cathcart, durch den Kopf geschossen, fiel – Goldie, Torrens, seine beiden Brigade-Generale, wurden verwundet, dichter Pulverdampf umhüllte das Todesfeld.

An allen Punkten begannen die Engländer sich zurückzuziehen; die zweite Redoute war in den Händen der Russen, und zum zweiten Male drangen sie in das britische Lager.

Neben Lord Raglan befand sich während des ganzen Gefechts der französische Oberkommandant Canrobert, ohne die Wunde an der Hand zu achten, die er erhielt. Gegen 10 Uhr morgens brachten ihm die Adjutanten die Nachricht, daß die Russen unter Timofjef aus der Bastion Nr. 6 auf der Westseite der Festung einen Ausfall gegen die französischen Approchen gemacht hatten und mit der Brigade Lourmel in Kampf waren. Die drei französischen Divisionen der Westseite waren in Alarm und warfen die Russen zurück, dort hatte man also nichts zu besorgen, und der kleine, bewegliche Oberkommandant der französischen Armee blieb auf seinem Posten, den Augenblick erwartend, in dem sich der englische Stolz beugen mußte.

Und er beugte sich. Lord Raglan, die ganze englische Position verloren sehend, wenn nicht schleunige Hilfe einträfe, verlangte die französische Unterstützung und erlitt die Demütigung, daß er, auf Canroberts Wunsch, seine eigenen Adjutanten zu dem früher abgewiesenen Bosquet schicken und um rasche Hilfe bitten mußte.

Durch den Donner der Geschütze und das Rollen des Gewehrfeuers vernahm man den hellen Klang der langen Hörner der Zuaven, der algerischen Schützen und der Jäger von Vincennes. Bosquet, der General Kaiser Napoleons, spielte diesmal die Rolle der Preußen bei Waterloo und kam mit seinen drei Brigaden im Geschwindmarsch vom Sapunberg heran, sie rechts von den Engländern in die Schlachtlinie werfend auf den linken Flügel der Russen.

So wechselt die Geschichte – so wechseln die Freundschaften der einzelnen und der Reiche!

Der dritte und letzte Akt der blutigen Tragödie von Inkerman begann!

Das eigentümliche Marschexerzitium der Zuaven – der Trab oder vielmehr das springende Laufen in Kompagnie- und Bataillonskolonnen – brachte sie mit überraschender Schnelligkeit heran. Die Brigade Monet folgte den beiden anderen als Reserve.

Einen Augenblick war General Dannenberg unentschlossen, ob er nicht die vier Regimenter, die noch nicht in den Kampf gekommen waren, und von denen das Uglitzsche und Butinskische die Artillerie gedeckt hatten, das Wladimirsche und Susdalische als Reserven zurückbehalten worden, dem neuen Stoß entgegenwerfen und um den Sieg ringen sollte; indeß, die Erwägung, daß bei einem Mißlingen sein ganzes Korps, das gefährliche Defilee von Inkerman im Rücken, verloren sein mußte, entschied, und er beschloß den Rückzug. Während die Artillerie den Befehl erhielt, nach der Inkerman-Brücke abzufahren, flogen die Adjutanten zu den bedrohten Regimentern mit dem Befehl zum Rückmarsch.

Der General schaute sich suchend um, es galt, eine persönliche Order auszuführen, nachdem die Pflicht des Feldherrn erfüllt worden. Ein junger Offizier vom Generalstabe des Fürsten Menschikoff, der, wie viele seiner Kameraden, sich dem Stabe des Generals Dannenberg anschlossen, hielt mit mehreren Kosaken in der Nähe.

»Kapitän Iwan Oczakoff!«

Der Offizier salutierte.

»Sie kennen den Großfürsten Nikolaus persönlich. Er begleitet, wie Sie gesehen haben, das Selenginskische Regiment, das in diesem Augenblick sich in der größten Gefahr befindet. Suchen Sie Seine Kaiserliche Hoheit auf und sagen Sie ihm, ich ließe bitten – nein, als kommandierender General befehlen, er solle Sie auf der Stelle hierher begleiten.«

Der junge Fürst beugte sich über den Sattelknopf seines Pferdes und flog davon, indem ein Wink seiner Hand seine Begleiter bei der Suite des Generals zurückhielt. Ihre ängstlichen Blicke sahen ihn in dem Meer von Pulverdampf verschwinden, der in der Richtung der genommenen Redouten Berg und Tal bedeckte.

Oberst Sabatinski, der Kommandierende des Selenginskischen Regiments, hatte bereits die Order zum Rückzug erhalten; das Ochotzkische Regiment war schon auf dem Rückzug begriffen und somit das seine dem vollen Stoß der frischen französischen Regimenter preisgegeben. In drei Bataillonskolonnen formiert, dicht geschlossen erwarteten die Russen den Stoß. In diesem Augenblick gelangte Fürst Iwan zum Regiment und erkannte in der mittelsten Kolonne den Großfürsten.

Er war an seiner Seite, als die französischen Hörner dicht vor den Fronten im Pulverdampf erklangen und unter dem donnernden Kaiserruf das dritte Zuaven-Regiment auf die Russen stürzte, während rechts und links die afrikanischen Jäger attackierten.

Der erste tolle Anlauf der Franzosen prallte an der Unbeweglichkeit der russischen Massen ab. Die Gloire der Zuaven ist der Einzelkampf. General Saint-Pol, der sie führte, sammelte in kurzer Entfernung das Regiment zur neuen Attacke, während die Russen langsam zurückgingen. Die französischen Plänkler unterhielten ein scharfes Feuer aus ihren kurzen Büchsen.

Der Großfürst weigerte sich, das bedrohte Regiment zu verlassen – erst die bestimmte Erklärung des Obersten Sabatinski nötigte ihn dazu, als ein Schuß sein Pferd traf. »Du siehst, Fürst,« sagte der junge Kaisersohn, »daß ich nicht fort kann. Ich werde zu Fuß mit den Braven kämpfen!« Fürst Iwan war bereits vom Pferde gesprungen. »Eure Kaiserliche Hoheit kennen meinen Befehl und werden mein Pferd nehmen!« Nur mit Mühe verstand sich der Großfürst endlich dazu und verließ unter dem Kugelregen die Kolonne. Er war kaum entfernt, als der zweite Ansturm der Franzosen in die Reihen der Russen brach und sie diesmal zu sprengen drohte. Die ersten Glieder wurden zu Boden geworfen, ein blutiges Handgemenge mit Bajonett und Kolben begann. Von zwei Seiten drangen die Zuaven in die russische Stellung. –

»Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht der verrückte Jean ist, welcher der hübschen Hexe, Deiner Schwester, davongelaufen sein muß,« sagte mitten im Gewühl des Angriffs ein bärtiger Zuaven-Sergeant zu seinem Nebenmann, einem kräftigen, mutigen Krieger, der eben wieder sein Gewehr lud.

»Wo, Papa Fabrice? – Der junge Russe im Mantel? – Parbleu! es ist Jean und wir müssen ihn wieder haben, den blödsinnigen Burschen!« Damit warfen sich die Zuaven in eine Lücke des Getümmels und schlugen sich nach der Stelle durch, wo sie den jungen Offizier bemerkt hatten. Ein Degenstoß empfing den Bruder der Marketenderin, so daß er ihn nur mit Mühe zu parieren vermochte. – »Der Bursche ist verrückt wie ein Märzhase oder ein wirklicher Ueberläufer,« schalt der Sergeant und schleuderte den jungen Mann zu Boden, der sich verzweifelt wehrte, indes Bourdon mit zwei russischen Infanteristen vollauf beschäftigt war, die ihn angriffen. »Der Tölpel ist schlimmer, als ich dachte, und mir lang' im Weg gewesen! Zum Teufel mit ihm!« Der Sergeant, erbittert über den Pistolenschuß, den der Offizier, schon am Boden, nach ihm abfeuerte und der seine bärtige Wange streifte, hob das Gewehr, um dem Gefangenen einen Kolbenschlag auf den Kopf zu geben, als ein Säbel schützend dazwischenfuhr, der Säbel eines französischen Offiziers. » Quartier, camarade, pour cet enfant!« Zugleich wurde der Zuave von der Seite her angegriffen, und das Gewühl trennte ihn im Augenblick von der Gruppe. Der französische Offizier aber, der die Uniform eines Bataillons-Komandanten trug, beugte sich vom Pferde und riß den jungen Russen in die Höhe. » Vous êtes mon prisonnier, mon Prince, mais sauvez vous-en! – Vite!« – Der Vicomte, denn dieser war es, der Fürst Iwan erkannt, warf sein Pferd nach einer anderen Richtung des Gefechts, durch diese Bewegung die Flucht seines Feindes deckend. Als er sich noch einmal umsah, war der junge Fürst glücklich in den Reihen der Seinen, die, von der zweiten Bataillonskolonne unterstützt, sich wieder gesammelt hatten und den Franzosen im langsamen Rückzug die Spitze boten.

Der kurze Zwischenfall des Kampfes war an dem Vicomte wie eine Erscheinung vorübergegangen, und nur die Wunde am linken Arm, die er bei der edlen Sicherung des Entkommens seines Feindes durch einen Bajonnetstich erhalten, bewies ihm die Wirklichkeit der Begegnung. –

Die Regimenter Pawloffs, durch den fünfstündigen Kampf erschöpft, vermochten der Uebermacht, die jetzt durch die Ankunft der Franzosen auf Seite der Alliierten war, obschon die Engländer nicht mehr als 8000 Mann zum Gefecht disponibel hatten, nicht zu widerstehen und räumten das Schlachtfeld. Es galt nur noch, den geordneten Rückzug zu decken, und dies geschah mit heldenmütiger Aufopferung. Während die Artillerie nach der Inkerman-Brücke abfuhr, schlugen sich das Jakutskische und Selenginskische Regiment an den Abhängen der Höhe, und Bosquet mußte wiederholt die Reihen seiner Brigaden aufs neue ordnen.

Nachdem die Artillerie in Sicherheit war, bewerkstelligte die russische Infanterie ihren Rückzug, indem die Regimenter Wladimir und Susdal denselben deckten, den Boden mit ihren Leichen besäend unter den wiederholten Angriffen der Franzosen. Erst das Feuer der am Ausfluß der Tschernaja postierten Dampfschiffe Wladimir und Chersones machte der Verfolgung ein Ende. Die Russen zogen sich teils über den Fluß, teils auf der Sappeurstraße nach der Stadt zurück. Um halb drei Uhr nachmittags war die Schlacht zu Ende.

Dreitausend russische Leichen deckten die Walstätte, außerdem fast ein Drittel der Verwundeten, deren Zahl an sechstausend betrug.

Der Verlust der Verbündeten war nur wenig geringer. Lord Raglan hat, wie die eigenen Zugeständnisse der englischen Korrespondenten beweisen, ganz einfach gelogen, indem er den Verlust der Briten auf 464 Tote und ca. 2000 Verwundete angab. Der Verlust der Engländer betrug in der Tat 5000 Mann, und die Franzosen verloren 2000 Tote und Verwundete.

Nach den Briefen des französischen Garde-Chefs Bourbaki befanden sich im englischen Lager nach der Schlacht nur noch 10 000 Kampffähige; die 2. Division war bis auf 300 Mann zusammengeschmolzen, das 95. Regiment der Brigade Pennefather zählte nur 64 Mann. 31 Offiziere der Garde waren gefallen.

Das Schlachtfeld bot einen gräßlichen Anblick. – Die Hohlwege und Abhänge waren bedeckt mit Haufen von Toten und Sterbenden. Achtundvierzig Stunden dauerte nach dem geschlossenen Waffenstillstand das Suchen und Fortbringen der Verwundeten.

Das war das Drama von Inkerman, ein Gemetzel ohne Sieg, ein Kampf ohne Erfolg. Glücklich, die der Ehrentod auf dem Schlachtfelde den furchtbaren Leiden und Schrecken entzogen hatte, welche der nahende Winter über beide Armeen bringen sollte.


Ende des vierten Bandes.

 


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