Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Bunte Bilder.

Auf der Rennbahn.

Der vierte Tag – Dienstag, der 20. Juni – der so rasch im Sporting berühmt gewordenen Berliner Rennen nahte sich bereits dem Ende. Obschon der Hof bald nach den Festlichkeiten zur Feier der silbernen Hochzeit des Prinzen und der Prinzessin von Preußen, an der das ganze Land so patriotisch Teil nahm, sich nach der Provinz Preußen begeben hatte, war doch noch immer viele hohe und vornehme Gesellschaft in der preußischen Königsstadt und namentlich das diplomatische Korps vollständig geblieben, da jeder Tag jetzt neue wichtige Botschaften und Verhandlungen brachte.

Ein leichtes Gewitter war gegen Abend heraufgezogen; der kurze, dünne Regenschauer hatte jedoch nur dazu gedient, den Staub des weiten Sandfeldes, auf dem die Bahn ausgestreckt ist, zu mildern, ohne die zahlreichen Sportsmen vom innern Turf zu vertreiben oder die farbenreichen Toiletten der Damen – denn die Berlinerinnen lieben das Bunte – zu verderben, die in großer Zahl und etwas pikanter Mischung die Tribünen rechts und links von der erhöhten Hofloge füllten, während das Publikum zu vier Groschen, das man bereits zum Volk zählt, seine Stehplätze auf den Flanken behauptete, unterstützt von den nie fehlenden fliegenden Marketenderinnen in Kümmel und Schinkenstullen.

Der Platz im Innern zeigte ein lebhaftes Treiben; sehr viele Offiziere, die mit großer Vorliebe an den Aufregungen der Bahn hängen, die Mitglieder des Rennvereins und des Jockey-Klubs, die Aristokratie aus den Provinzen, die Wollmarkt und Rennen hierher geführt, hohe Beamte, Attachés, pferdeverständige Bankiers, jene zahlreiche Sorte Berliner Flaneurs, teils Juden, teils Christen, die überall sind, ohne daß man weiß, wer sie sind, überall unverschämt und absprechend – des Morgens in irgend einem vornehmern Weinlokal, zur Kaffeezeit auf der Kranzler'schen Rampe, abends im Foyer des Opernhauses oder im Kroll'schen Garten, aber niemals an einem Mittagstisch. Da waren die vornehmen Industriellen in Gold, Edelsteinen, Seide und Bronze, die, weil der Hof bei ihnen kauft, glauben, sie gehörten dazu, die im März 1848 aufs schleunigste das Hoflieferanten-Wappen beiseite brachten, in der Vossischen Zeitung mit einem anständigen Beitrag für die Hinterbliebenen der Märzhelden zeichneten und jetzt über den Undank die Nase rümpfen, daß sie noch nicht das Hohenzollern-Kreuz erhalten haben, einstweilen aber keine Gala-Vorstellung im Opernhause und keine Gelegenheit versäumen, wo das Entree ihnen erlaubt, sich unter Hof und Adel zu mischen. Da fehlten auch nicht die markierten Physiognomien, die ein Konto gegen 150 Prozent offen halten für die Ehrenscheine junger Sprossen aus Preußens alten Familien, jene Blutegel am großen Grundbesitz der Aristokratie. Die Berliner Börse endlich in ihren älteren und jüngeren Prachtexemplaren, die junge Litteratur und die Hotelbesitzer, die ihre Fremden zum Rennen fahren, wenn die Frau Gemahlin nicht etwa die Equipage mit Groom und Bedienten für sich selbst gepreßt hat.

Kurz, alles Bewegung, alles Glanz, alles Sehen und Gesehenwerden.

Das Hürden-Rennen um den von des Königs Majestät gesetzten Preis war eben im Gange; die vier Pferde, von den adligen Besitzern oder Offizieren geritten, hatten das letzte Hindernis dicht zusammen genommen, und es entwickelte sich nun ein interessanter Kampf. Selbst auf den Tribünen hatte sich alles erhoben und war in Bewegung, die Linien im Innern des Platzes drängten möglichst weit vor zum Ärger des Flanken-Publikums, das seine Rechte mit lauten Rufen verteidigte, und die Aufregung und Teilnahme hatte selbst Männer erfasst, die sich sonst herzlich wenig um den Turf zu kümmern pflegen.

»Caurire siegt – Breidbach ist eine Länge voraus! Hundert Friedrichsd'or Paré! Haben Sie Lust, Baron?«

»Angenommen, Hoheit! Ich wette auf ›Shakespeare‹; Lüttwitz weiß, wann es Zeit ist.«

»Sie kommen – sie kommen! – ›Trial‹ und der ›Emperor‹ bleiben zurück!«

»Sie werden galant sein und mich zwei Louisd'or gewinnen lassen,« flüsterte es aus der ersten Reihe der Tribüne zu dem Herrn mit starker Nase und Backenbart, Frack von Heymann Unter den Linden, der an der Linnenwand der Tribüne auf die Bank gestiegen, mit allerlei schwedisch-gymnastischen Körperverdrehungen dem Lauf der anstürmenden Pferde folgte, – »ich wette auf die Blaukappe – die Equipage an den Renntagen ist so teuer!«

» Avec plaisir, reizende Amanda! Was werd ich nicht tun! – Wollen Sie zwei Friedrichsd'or auf den ›Shakespeare‹ halten, Herr von Walter?« – Der galante Verlust der Wette war so gesichert.

»In des Teufels Namen, stehen Sie doch ruhig, Herr Wolff. Sie werfen noch die Bank um. Ich wette nie!«

Lauter Jubel begrüßte die jetzt am Pfosten vorüber stürmenden Pferde – »Shakespeare« voran, »Caurire« als Zweiter.

»Das macht mit den gestrigen Wetten vierhundertundzwanzig Friedrichsd'or, Hoheit!«

»Ich weiß, ich weiß! – Wir haben morgen noch das Jagdrennen, – der Brin d'Amour siegt gewiß!«

»Heute Abend, holder Engel, bringe ich's!« flüstert Herr Wolf und springt von der Bank, sich unter das Gedränge mischend, das wieder den Platz füllt und die dampfend zur Wage zurückkehrenden Pferde umgiebt. »Wissen Sie, lieber Freund, wie viel ich eben hab' verloren auf die ›Caurire?‹ – Zwanzig bare Louisd'or! Aber 's schadet nischt – 's ist an eene vornehme Dame!«

Alles drängt durcheinander, die Freunde den Sieger begrüßend, andere mit den Besiegten jeden Satz der Pferde diskutierend.

»Sind Sie heute Abend zu Hause, Herr Meyer?«

»Zu untertänigstem Befehl. Wie viel? – Es ist schwer, Geld aufzutreiben – die Cöln-Mindener und Ludwigshafen-Bexbacher nehmen alles in Anspruch – 115 Prozent heute!«

Ein verächtliches Achselzucken. »Das ist Ihre Sache – ich kann mich hier nicht mit Ihnen aufhalten; um neun Uhr schicke ich.«

Die jugendliche Bettelgeneration mit Blumensträußchen macht ihren letzten Angriff – einzelne Equipagen nehmen bereits ihre Besitzer auf – die Prinzen haben die Königliche Loge verlassen und bewegen sich, freundlich über das eben beendete Rennen plaudernd, unter der Menge – die neuen Nummern werden aufgezogen, und sechs Jockeys machen sich fertig zum nächsten Handicap.

Zwei Herren gehen auf und ab in der Bahn, an den Tribünen entlang – beide offenbar keine Sportsmen, doch den gebildeten Klassen angehörend; der eine in Reiserock und Mütze.

»Ich wußte Sie wirklich an keinen Ort zu führen, lieber Doktor,« sagte der andere, »der Ihnen, da Sie zum ersten Male in Berlin sind, rascher und prägnanter ein Bild unseres Lebens und der Klassen, Sünden und Annehmlichkeiten der Berliner Gesellschaft gegeben hätte. Sie finden hier alles, was auf diesen Namen Anspruch macht, und ein buntes pêle-mêle ist es in der Tat.«

»Bitte, bezeichnen Sie mir einige pikante oder hervorragende Persönlichkeiten.«

»Da sehen Sie unsern preußischen Premier; Sie kennen ihn bereits. Er unterhält sich eben mit dem Chef unserer Polizei.«

»Herr von Hinckeldey hat in der Tat sich bereits einen europäischen Ruf erworben.«

»Ich fürchte, er wird an diesem und seiner Energie scheitern. Bei der Macht ist es schwer, die richtige Grenze zu treffen.«

»Die öffentliche Stimme nennt Ihre Finanzen, Ihr Postwesen und Ihre Polizei vortrefflich.«

»Ich erkenne an, daß ohne einige kleine Sünden gegen die Paragraphen über die persönliche Freiheit nicht Ordnung zu halten ist. Dennoch lieben wir auch hier manche Neuerungen aus dem Jahre 1848 nicht.«

»Sie haben wenigstens in Preußen den Vorzug, daß zu Ihren Sicherheitsbeamten stets nur Personen von unbescholtenem Ruf und bewährter Treue, keine Vidocq's gewählt werden.«

Der Preuße zeigte nach einem Herrn, der im feinen Reitfrack vorüberging, den weißen Bibi auf dem etwas kahlen Kopfe und einen großen Brillant im Chemisett. »Wissen Sie, daß der Mann dort, der rechts und links grüßt, zehn Jahre in Spandau gesessen hat und einen der berüchtigtsten Gaunernamen der Residenz trägt?«

»Und er kommt hierher?«

»Warum nicht! Sie werden noch ganz andere Dinge auf unserer Runde erfahren. Der Mann ist reich und man antichambriert bei ihm Unter den Linden. – Sehen Sie den kleinen Herren dort – er trägt einen vornehmen Namen, ist ein rastloser, tätiger Geist und hat vieles geleistet auf dem Felde der politischen Intrigue in den bösen Jahren. Er hat manchen künftigen General-Konsul gemacht. Man hätte ihn zum Diplomaten kreiren sollen, wenn er nicht ebenso gut im Hause der Wucherer, als im Hotel der Minister bekannt wäre.«

»Der Herr, um den er eben einen Umweg macht?«

»Ein ehemaliger Schulkamerad von mir; vor ihm und seinem Bruder liegt viel Zukunft, obschon ihn die Gegenwart in eine schiefe Stellung gebracht hat. Die Majestät soll 1849 von ihm gesagt haben: ›Der … will wohl gar Minister werden?‹ – Und dennoch, Freund, wird er's einst sein, denn er ist vielleicht am meisten von der konservativen Partei mit Undank behandelt worden. Ich weiß, welche zähe Tätigkeit er im Jahre 1848 entwickelt hat! Es sind viele in den Reihen unserer Kammeropposition, die damals Männer von Treue und Aufopferung waren.«

»Man sagt im Auslande, das Prinzip der preußischen Regierung nach dem Jahre 48 sei mehr darauf gerichtet gewesen, die Nichtbewährten an sich zu ziehen, als das Verdienst der Bewährten anzuerkennen?«

Das Gesicht des anderen wurde ernst – »Das Gleichnis vom verloren gegangenen Lamm,« sagte er mit einem gewissen Hohn, »ist christlich, aber nicht politisch. Die Treue ist kein Verdienst, aber die Untreue ist eine Schmach; das ist ein ewig geltender politischer Satz, und für das Rechtsgefühl treuer und ehrlicher Herzen ist es eine tiefe Verletzung, Leute, die sich jetzt brüsten und blähen und überall mit ihrem Patriotismus für König und Thron sich in die vordersten Reihen drängen zu sehen, die, als die Wogen hochgingen, nicht bloß feig den Posten verlassen, sondern die zu den offenen Gegnern und Schmähern des Thrones gehörten.«

»Sie haben zwei Stände in Ihrem Lande, deren Gesinnung sich unverbrüchlich bewährt hat; den Adel und das Heer.«

»Sie sprechen da eine schwere Beschuldigung aus, die ich auf meinem Vaterlande nicht haften lassen kann. Das ganze Land ist treu dem Throne und ehrlich konservativ – der Graf wie der Bauer, der Soldat wie der Bürger. Was schlecht und faul war und ist, das sind zwei Dinge: der Schachergeist des christlichen und orientalischen Judentums und der rabulistische Advokatengeist von Westen. Beide sind Früchte der gepriesenen Neuzeit.«

»Ihr Adel –«

»Unser Adel – sehen Sie dahin auf jene zahlreiche Gesellschaft, markige, frische Gestalten und Gesichter – ich liebe die geborene Noblesse des Körpers. Unser Adel hat sich brav bewährt und ich gönne ihm selbst seine wieder stark hervortretende Exklusivität. Aber der Schachergeist nagt leider auch an ihm, schmutziger Rost an gutem Stahl, die Spiritusspekulation und der Handel ruiniert mir den noblen Eindruck. Der Berliner Wechselwucher hat schon manchen berühmten Namen zu Fall gebracht.«

»Es sind dies leider Korruptionen, die Sie überall finden – die Sucht, reich zu werden, die Börse, die sogenannte Geldaristokratie, sind Übel, die nicht allein demoralisieren, die auch materiell untergraben.«

»So möge man den kaufmännischen Geist, den sogenannten Segen des Handels nicht allzusehr poussieren. Ich bin kein Feind des Judentums als solches, aber ich hasse das Judentum als soziale Macht aus tiefster Seele, und unser ganzes Ringen, unser ganzer Kampf, ist hauptsächlich mit ihm. Wollen Sie materielle Beweise? – Berlin bietet sie in reichem Maße. Seit 1848 sind erst sechs Jahre verflossen. Gehen Sie durch den Tiergarten – mehr als die zweite prächtige Villa ist jüdischer Besitz. Sehen Sie unsere Etablissements, die glänzenden Warenbazare, die Schneider- und Tischlermagazine an – zwei Dritteile befinden sich in den Händen der Juden. Der Handwerkerstand ist durch die Spekulation der Geldmacht förmlich ruiniert. Das Judentum herrscht in der Kunst, freilich nicht in der schöpferischen, aber in der reproduzierenden – unsere ersten Schauspieler sind fast sämtlich Juden! – wie in der Literatur und Wissenschaft. Ich wiederhole es Ihnen, ich bin kein Feind der Juden als Juden, und habe liebe, geschätzte Freunde unter ihnen, – aber ich hasse das spekulative, zersetzende Judentum, das alles unter die Herrschaft der Zahlen bringt.«

Der Arzt lächelte. »Sie werden eifrig! Das sind Fragen, über die Staatsmänner und Zeitungen verhandeln mögen.«

»Entschuldigung für die Abschweifung, und dennoch wird sie Ihnen auch einigermaßen hiesige Verhältnisse charakterisieren, die Faktoren des jetzigen Berliner Lebens: den Hof, den Adel und das Militär, das Geheimratstum, die jüdische Geldherrschaft und zuletzt – das bürgerliche Philistertum.«

»Sie vergessen Ihre Presse, zu der Sie ja selbst gehören, und die immer eine Macht ist.«

Der Berliner lächelte. »In Berlin nicht. Es gibt in der ganzen Residenz zwei Blätter von journalistischer Würde und Gesinnung: die Kreuzzeitung und die Nationalzeitung. Die Presse? Wissen Sie, aus was unsere Presse besteht? Aus einem kleinen Häufchen anständiger und gesinnungsvoller Männer, aus einigen wenigen Talenten, aus einem Schwarm politischer Apostaten und aus einer ziemlichen Anzahl unfähiger Judenjungen, die in anderen Geschäften nicht vorwärts kamen. Bewährte Republikaner redigieren konservative Organe, von Eitelkeit geplagte Krämer fabrizieren Leitartikel, Frauen und Narren machen die Kritik, ehemalige Bänkelsänger und durchgefallene Referendare die Politik und naseweise Jungen die Korrespondenzen. Es gibt verteufelt wenige, zu denen man mit Anstand sagen kann: Herr Kollege! und die Kollegenschaft der Anständigen ist so jämmerlich, daß sie noch niemals den geringsten Gemeingeist gezeigt hat, selbst gegenüber der politischen Zuchtrute des Herrn von Hinckeldey.«

Sie waren beide stehen geblieben im Gespräch und schauten dem Abritt der Jockey's zum neuen Rennen zu, als sich zwischen ihre Köpfe der eines hochbeinigen, störrischen Gaules steckte. Vergebens zerrte der jugendliche Sonntagsreiter, in einen jener duftigen Gummiröcke gehüllt, die das Grauen der Damennerven sind, an den Zügeln, um der Rosinante eine andere Richtung zu geben, der Gaul wollte nicht und eine Gruppe lachender, junger Offiziere und Sportsmen bildete sich um den Unglücklichen.

»Verehrungswürdiger James,« sagte der Journalist spöttisch, »verschiedene Tiere aus dem alten Testament waren auch höchst störrischer Natur, also ärgern Sie sich im neuen nicht; für den Aufkauf der Billets zum Auspfeifen meines letzten Stückes will ich Ihnen den Gefallen tun, Ihren altertümlichen Fuchs gleich einem Hirsch ins Feld galoppieren zu machen.«

Er gab lachend dem Gaul einen Hieb mit dem Spazierstöckchen, und der unglückliche junge Orientale galoppierte wirklich zum Gelächter der Tribünen, deren ständische Flanken ihn mit dem Rufe: »Pietsch kommt!« begrüßten, über die Bahn.

»Ein Sprößling jener Aristokratie, die Sie vorhin so anfeindeten?« fragte lachend der Arzt.

»Ein Kandidat des künftigen Berliner Löwentums. Der Vater ein verständiger Geschäftsmann, der junge Narr ein Affe, der noch nicht begreift, daß sich lächerlich zu machen das größte Übel. Er hat ein pikantes Vorbild an seinem Oheim, der viel Geld an die Schreier von Achtundvierzig verlieh und natürlich nichts wiederbekam. Ich sah ihn an einem Ballabend im Gesellschaftshause das Champagnerglas zweimal mit blanken Dukaten füllen und es einer Phryne für seine Wahl bieten, das Mädchen schlug sie lachend aus und wählte ihren Louis – Sie kennen doch die Benennung von Herrn Arago her, gesandtschaftlichen Andenkens!«

»Wer ist der Herr dort, der mit der Gruppe von Offizieren spricht und Sie vorhin grüßte?«

»Ah – das Embonpoint! Überall und nirgends? Seine Familie ist vor kurzem geadelt worden und zeugte Künstler, Bankiers, Diplomaten und Bummler. Der Herr da ist der stereotype Flaneur aller öffentlichen Orte, eine gutmütige Haut und seit seiner verunglückten theatralischen Karriere in Dessau von der Familie als amüsanter Müßiggänger unterhalten. Da drüben sitzt seine Schwester ohne »von«, und das ist ein trüber Kummer, der sich vielleicht durch eine vornehme Heirat redressieren läßt. Papa gab zur Feier seiner Adelung einen prächtigen Ball, zu dem nur pure Aristokratie geladen war. Das Fräulein vom Hause tanzte mit einem unbekannten, durch seine noblen Manieren ausgezeichneten Kavalier und amüsierte sich an seinen pikanten Bemerkungen über die Toilette der Gäste. › Vraiment, Monsieur le Baron, Sie machen höchst scharfsinnige Bemerkungen über die Garderobe der Herren!‹ – ›Meine Gnädige, warum sollte ich das auch nicht verstehen? Ich arbeite doch schon drei Jahre bei Heymann Unter den Linden!‹ Sie können den Eklat denken!«

Beide lachten. Der Journalist erwiderte mit kaltem Nicken den Gruß eines Vorübergehenden. »Der Mann rühmt sich, am 18. März den Leutnant von Zastrow vom Pferde geschossen zu haben. Doch seine Küche ist gut.«

Ein großer Herr mit kahler Stirn grüßte im Vorbeigehen.

»Sie haben meinen Artikel noch immer nicht gebracht, Doktor?«

»Es ist unmöglich, auch nur zwei Worte zu lesen. Ich besitze keine Dechiffrier-Anstalt. Ein schmutziger Geizhals,« sagte er im Weitergehen, »obschon einer der ersten Spiritusbrenner, und einst der Vorstand einer ganzen Provinz. Jetzt hat er das Verdienst, mit seinen Reden jedesmal die Bänke der Kammer zu leeren. – Doch sehen Sie da die beiden Herren – sie sind in der Tat aus dem Herrenhause und beide Träger erster Namen Preußens, der eine der Nachkomme eines berühmten Generals, der andere der Sohn eines energischen Ministers. In diesen beiden Gestalten liegt wahre Aristokratie und Noblesse.«

»Die dunklen, runden Augen des zweiten haben einen ergreifend melancholischen Ausdruck.«

»Sie meinen den, der eben mit dem Polizeipräsidenten eine Verbeugung wechselt – vom Scheitel bis zur Sohle ein Edelmann. Der Offizier, mit dem er spricht, macht in Paris Aufsehen durch seine Reiterkünste. Es fließt edles Blut in seinen Adern, und er ist einer unserer bekanntesten Kavaliere. Die Künstlerinnen wissen davon zu erzählen. Ah! – da – sehen Sie die stolze Figur dort, die Donna Diana unserer Bühne? Ihr Bett soll einen förmlichen Pavillon abgeben, größer als das der Königin von England, das ein besonderer Kurier im Schlosse von Brühl einrichtete.«

»Sie haben eine böse Zunge.«

»Man lernt dergleichen in Berlin; es gilt, sich zu wehren. Der Angreifer hat den Sieg. Die Glocke hat uns von der Bahn gejagt, lassen Sie uns im Vorübergehen die Schönheiten der Tribünen mustern.«

»Die Damen da dicht an der Königlichen Loge?«

»Es sind die einzigen Plätze, die sich die hohe Aristokratie und Repräsentation der Westmächte zu bewahren vermocht hat. Und dennoch werden auch diese bereits blokiert. Sehen Sie die vierschrötige Gastwirtin dort, die sich gar zu gern in die zweite Reihe drängen möchte? Sie wusch einst für einen gutmütigen Rentier, und seit ihr würdiger Gatte in patriotischen Konzerten machte, fiel sie während der Bade-Saison auf allen Wegen den höchsten Damen durch ihr Knixen zur Last, bis beide endlich, weil man sie los werden wollte, ihren Zweck erreicht haben.«

»Und jene mit dem blassen, orientalischen Gesicht?«

»Wahrhaftig, diesmal nur in der zweiten Reihe? – die Mama mit der ganzen Familie von sieben hoffnungsvollen Sprößlingen ist zu spät gekommen. Die junge Dame trägt nur Unterröcke von Valencienner Spitzen, hat damit einem reichen, jungen Handlungsherrn durch ihren Papa 60 000 Thaler als Abstandsgeld einer Heirat abgegaunert, tanzt ziemlich schlecht und läßt mit dem Gelde Wuchergeschäfte machen. Die Familie ist ganz vorzüglich auf ähnliche Spekulationen dressiert und ausgezeichnet geachtet.«

»Ich muß Ihnen gestehen, ich begreife die Möglichkeit einer so gemischten Gesellschaft nicht.«

»Ich auch nicht, mein Lieber, aber wie gesagt, das Geld gewinnt bei uns alle Tage mehr Boden. Reines Blut ist wahrhaftig bald nur noch in den Vierfüßlern von Rasse zu finden. Sehen Sie, da kommt die Karriere an, Graf Reichenbachs ›Despair‹ voran.«

Die Aufregung im Turf war groß, denn der Sieg blieb lange unentschieden. Despair, Brandenburg und des Fürsten Sulkowski Renner »Exhibition« rangen wacker Kopf an Kopf.

»Zum Henker! Der Pole hat wahrhaftig gesiegt!«

Das Gedränge hatte sie hinter zwei Personen gebracht, deren Äußeres einen scharfen Kontrast bot. Die eine breit und aufgeschwemmt mit einem nichtssagenden, gedunsenen, fast bleifarbenen Gesicht, aus dem allein die runden Augen Schlauheit und Bosheit leuchteten, zeigte in allen Bewegungen großes Phlegma und Sicherheit; die andere von ziemlicher Größe, schlanker Statur und einem gewissen aristokratischen Aussehen wies jene unruhige Bewegung und Rastlosigkeit auf, die auf den Sanguiniker oder ein schlechtes Gewissen schließen läßt.

Die Hintenstehenden hörten unwillkürlich einige Worte des Gesprächs.

»Was sagte Ihnen der Franzose?« fragte der Dicke.

»Nichts als das Losungswort und die Bestellung auf heute Abend 11 Uhr in den Tiergarten.«

»Dann können wir das gelbe Tuch einstecken, es hat seine Dienste getan. Wird Ihr Mann auch sicher kommen?«

Die beiden Männer wandten sich beim Fortgehen, und das Auge des Dicken begegnete dabei dem finstern und festen Blick des Journalisten. Er zuckte sichtlich zusammen und sein fahles Gesicht wurde fast noch aschbleicher, während er seinen Gefährten fortzog.

»Ein fatales Gesicht!«

»Und ein Schurke durch und durch. Ich war einst töricht und unvorsichtig genug, ihn zu benutzen und, durch seine Eigenschaften als vortrefflicher Gesellschafter bestochen, viel mit ihm umzugehen. Er lohnte mir zahllose persönliche Wohltaten mit einer öffentlichen Verleumdung.«

»Und was taten Sie?«

»Was konnte ich tun? Ich ohrfeigte ihn, als ich ihm das erste Mal wieder begegnete, auf offener Straße, und damit war die Sache abgetan. Er ist jedoch einer der gefährlichsten Menschen Berlins, und ich möchte wohl wissen, zu welcher Nichtswürdigkeit er seinen Begleiter dort verlocken will – denn er selbst ist als Winkeladvokat schlau genug, sich zu sichern. Am 19. März saß er bei der Fahrt der Polen neben dem Fanfaron Mieroslawski.«

»Wer ist der andere?«

»Ich glaube, ein ehemaliger Polizei-Offiziant, ein Herr von Hassenpflug oder dergleichen, ich kenne ihn nur vom Sehen.«

»Man bricht auf; ich dächte, auch wir suchten unsern Wagen.«

Die Hof-Equipagen mit jenen prachtvollen Gespannen preußischer Zucht, die selbst in England Staunen erregt haben, waren bereits abgefahren, Reiter und Wagen füllten den Weg, betreßte Lakaien suchten ihre Herrschaften, Herren und Damen ihre Equipagen, berittene Konstabler die Ordnung aufrecht zu erhalten. Das Gedränge und die Verwirrung waren trotzdem ziemlich groß.

»Sehen Sie, Doktor, da fährt eben der russische Gesandte ab, dem Sie morgen vor der Abreise nach Warschau Ihre Aufwartung machen wollen, der hagere blasse Herr.«

»Sein Einfluß und seine Tätigkeit hier scheinen bedeutend zu sein?«

Der Journalist lächelte.

»Sie haben keinen Begriff von der Apathie der Russen; sie waren der Ansicht, sie hätten Deutschland im Sack, und das ist ihr Unglück. Glauben Sie wohl, daß mir neulich noch ein angehender russischer Diplomat, als ich mit ihm über die Stimmung der deutschen Presse sprach, im vollen Ernst sagte: Wir werden ihnen mit unseren Kanonen antworten!«

»Ich glaube selbst, daß ich manche Erfahrungen in Rußland machen werde.«

»Ich erinnere mich beiläufig einer guten Anekdote, die mir dieser Tage erzählt wurde. Bei der vorletzten Anwesenheit des Kaisers Nikolaus wollte dieser einem von ihm sehr geschätzten und stets sehr freundlich behandelten hiesigen Künstler ein Zeichen seines Wohlwollens zurücklassen; es sollte in Form einer wertvollen goldenen Uhr geschehen. Einige Tage darauf kommt der Hofmaler zu einer hohen Person, und diese sagt ihm: ›Ich gratuliere, mein lieber X., zu der schönen Uhr, die Sie vom Kaiser erhalten haben.‹ Der Künstler zieht dieselbe lächelnd hervor und fragt: ›Wollen Eure Hoheit sie sehen?‹ – Die hohe Person nimmt das mohnblattartige Fabrikat in die Hand, besieht es staunend und sagt entrüstet: ›Das ist wohl kaum möglich, da muß ein Irrtum stattgefunden haben. Ich bitte, lassen Sie mir die Uhr, der Kaiser kommt morgen zurück, und ich möchte sie ihm zeigen.‹ – Das geschieht, und der Kaiser, als er die Uhr sah, antwortete lachend: › Voila que je connais mon Prince de … off!‹«

»Sie müssen in Ihrem bewegten Leben einen Schatz von Anekdoten gesammelt haben.«

»O ja – so ziemlich. Meine Memoiren sind so reich, wie die meines kleinen pikanten Freundes, den wir heute morgen trafen. Doch – was geht da vor? – welche Unverschämtheit!«

Es hatte sich dicht neben ihnen eines jener kleinen Dramen abgespielt, wie sie oft so hohnneckend einschneiden in glänzende Szenen und glänzendes Leben.

Eine noch junge, elegant gekleidete Frau, sichtlich den höchsten Ständen der Gesellschaft angehörend, war mit ihrem Gatten die Stufen der Tribüne heruntergestiegen und dieser hatte sie einen Augenblick allein gelassen und sich entfernt, um seine Equipage zu suchen.

Die Dame war groß und schlank, aber von blassem, leidendem Aussehen. Wer ihr damals unter das verhüllende Capuchon und den Schleier geschaut hätte, wie jenes dicke, von Branntwein und Völlerei gerötete Weibstück es einst getan, das jetzt bei dem fliegenden, von einem Hunde gezogenen Marketenderkarren stand und kein Auge von der blassen Dame wendete, der hätte leicht darin die Gräfin Marie wiedererkannt, die einst mit dem heimlich Geliebten zu der Wiege ihres armen verstoßenen Kindes gegangen war.

Eines Jahres Gram und Schmerzen vermögen im glänzenden Sommer des Lebens die Züge noch nicht so zu verändern, daß sie nicht wiederzuerkennen wären – das ist den Herbststürmen aufbehalten!

Plötzlich ließ das Weib die Karre stehen und sprang auf die Dame zu, mit der schmutzigen, schwieligen Hand die seidene Robe derselben erfassend und festhaltend, als solle ihre Beute ihr unter keiner Bedingung entwischen.

»Donnerwetter! – der Deibel soll mir holen, oder det is ja des gnädige Madamken von de Jöhre, des Mariechen, det ick gepeppelt habe. Sie werden mir doch noch kennen, de Müllendorfern aus de Luisenstraße?«

Die Blässe der jungen Dame ging ins Leichenhafte über, als ihr Blick auf das Weib fiel, und ein Schaudern überlief ihre Glieder bei der Berührung. Dennoch hatte sie Mut und Fassung genug zu dem leisen Versuch, ihr Kleid los zu machen: »Ich kenne Sie nicht, Frau.«

Das Weib, dem man ansah, daß sie während des Nachmittags ihrem eigenen Verkaufsartikel reichlich zugesprochen hatte, bekam jetzt ein ganz rotes Gesicht, stemmte den Arm in die Seite und schrie, ohne die Dame loszulassen:

»Wat – Sie kennen mir nich, de Müllendorfern, die Ihren Bankert sieben Monate lang gepeppelt? Na, det sollt' mir fehlen! Meenen Sie, ick hätte keene Ooogen nich? Eeenen eenzigen Blick – und ob Sie zehn Schleiers hätten, ick kenne meine Leute wieder.«

Die Geängstigte stammelte:

»Was wollen Sie von mir? – Gehen Sie!«

»Aha!« schluchzte das Weib, das in seinem Rausch jetzt anfing, die Gekränkte zu spielen; »sehen Sie, nu kommt all die Erinnerung. Der arme Wurm, ick hatte ihn so lieb und hätt ihn niemals nich von mir jejeben, wenn mir nich der Neid anjeschwärzt bei die Polizei von wejen die Jöhre mit die Masern, Sie wissens schon, da im Korbe, und der Kummissarius mich die Kinder verboten hätte. Aber ich habe noch eene Rechnung für Extra-Milch und Medizin – die Zeiten sind schlecht – drei Thaler und zehn – nee, zwanzig Jroschens – Ihr Amant war mir wegjeblieben und ick halte mir an Sie!«

Die Dame war mehr tot als lebendig, fliegende Röte und Blässe wechselten mit Gedankenschnelle auf ihrem schönen Gesicht, während ihr Auge ängstlich in der Ferne suchte.

»Um Gotteswillen, Frau – ich habe kein Geld bei mir – Sie sollen mehr als das haben, nur machen Sie jetzt kein Aufsehen.«

»Nee, ick kenne die Vornehmen – daruf läßt sich die Müllendorfern nicht fangen.«

»Heute abend – um 10 Uhr am Potsdamer Tore links – ich komme bestimmt.«

In dem Augenblick drängte sich der Journalist durch einige Neugierige, die sich bereits um die Szene sammelten, deren Schauplatz zum Glück etwas abseits und durch einen Vorsprung vom Menschenstrom gesondert war.

»Gnädige Gräfin, ich bitte, meinen Schutz zu genehmigen.«

»Befreien Sie mich von dieser Frau, mein Herr, um Gotteswillen, beruhigen, befriedigen Sie sie, oder ich bin verloren! Mein Gemahl kommt …«

Der Journalist winkte dem Freunde.

»Geben Sie schnell dieser Frau das Geld, was sie verlangt, lieber Koch.«

Er bot der Dame den Arm und führte sie dem herbeikommenden Grafen entgegen.

Dieser war eine große, hagere Gestalt, schon über die Mitte des Lebens hinaus – ein kaltes, graues Auge, ein hochmütiges, etwas abgespanntes Gesicht.

»Was hatten Sie da, meine Liebe? ich sah Sie von Leuten umringt und beeilte mich – dieser Herr …«

»Dieser Herr,« sagte die Gräfin mit gewaltsamer Fassung, »hat mich aus einer großen Verlegenheit befreit, in die Sie mich durch Ihre Abwesenheit gebracht. Eine unverschämte Bettlerin belästigte und insultierte mich.«

Der Graf verbeugte sich mit süßlich kaltem Lächeln gegen den Zurückgetretenen und griff nach seiner Börse.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden – Sie haben für meine Gemahlin eine Auslage gemacht – darf ich bitten –«

Die Gräfin legte errötend rasch die Hand auf den Arm ihres Gemahls, und der Schriftsteller, dem bereits eine spitze Antwort auf der Zunge saß, hörte, wie sie ihm das Wort: »die Karte!« zuflüsterte.

»– um Ihren Namen?« beendete der vornehme Herr seine Rede.

Jener nahm schweigend die Karte aus dem Portefeuille und übergab sie mit einer kalten Verbeugung.

»Ah! Herr Walther, es freut mich, bei der Gelegenheit Sie kennen zu lernen, habe von dem Namen viel gehört; gehören ja gewissermaßen zu uns. Ich hoffe, Sie bei mir zu sehen. Leben Sie wohl indeß, mein Lieber.«

Die Gräfin saß bereits in der glänzenden Equipage – ein flehender, dankender Blick der schönen Frau traf ihn, während ihr Gemahl einstieg, und deutete dann rasch nach der Gegend, wo sie jenes drohende Weib verlassen hatte. Der Journalist verstand, seine Augen senkten sich zusagend, eine wiederholte Verbeugung, und dahin rollte der Wagen.

Als er zu der Gruppe um den Marketenderkarren zurückkam, sah er voll Verdruß und Besorgnis, daß der Winkelkonsulent mit dem bleigrauen Gesicht sich herangemacht hatte und mit dem Weibsbild eine Unterhaltung pflog. Sein Hinzutreten scheuchte Jenen zwar hinweg, aber er bemerkte wohl, wie er fortfuhr, sie aus der Ferne zu beobachten, und von dem Freunde erfuhr er, daß der Bleifarbene, während jener dem Weibe fünf Taler gab, auf die sie ihre offenbar aus der Luft gegriffenen Ansprüche steigerte, unter dem Vorwande, einen Kümmel zu trinken, hinzugetreten war und allerlei neugierige Fragen über ihr Gespräch mit der Dame an sie gerichtet hatte.

»Seine Schurkenseele,« sagte verstimmt der Journalist, »wittert ein Geheimnis, durch dessen Kenntnis er eine Familie bedrohen und im Trüben fischen zu können hofft. Es muß hintertrieben werden.«

»Ich stelle mich gern zu Ihrer Disposition. Die arme Frau tat mir in der Seele leid.«

»Gut, so nehme ich Ihre Güte für einen Weg zu Fuß in Anspruch, statt daß wir fahren. Ich kenne zufällig Einiges aus dem Leben jener vornehmen Dame, und dies gibt mir ein trauriges Licht zu der erlebten Szene.«

»Darf ich es wissen?«

»Warum nicht? Sie sind ja fremd hier und vergraben morgen schon die kurze Mitteilung in die weiten Steppen Rußlands. Die Dame ist die Tochter einer unserer ältesten Familien, ihr Vater war ein vielgenannter Staatsmann, aber die Lenkung der öffentlichen Angelegenheiten ließ ihm wenig Zeit, sich um das Vertrauen seines einzigen Kindes zu kümmern. Stolz und Koketterie ließen ihn und die Tochter in der Jugend manche Partie ausschlagen – vielleicht suchte sie auch Besseres, als eine Konvenienz-Heirat. Die Jahre vergingen, sie kam an die Dreißig. Zu dieser Zeit scheint das Herz seine Rechte gefordert zu haben, und man flüstert von einer geheimen Liebe zu einem Abenteurer – einem fremden Offizier – der sich einige Zeit hier aufhielt und auf irgend eine Weise Karriere zu machen suchte, nachdem er vergeblich den Liberalismus und die Revolution als Leitersprosse benutzt hatte. Seiner ehrgeizigen Spekulation scheint sich jetzt eine Chance zu bieten – man nennt seinen Namen als Zugabe zum orientalischen Feldzug. Ich kenne das Nähere jener tendre liaison nicht und weiß nicht, wie sie zum Abbruch gekommen, sondern nur, daß die Gräfin im letzten Winter von ihrem Vater genötigt wurde, ihren jetzigen Gatten, den Typus steifer, hohler Form und geistlosen Hochmuts, einen Mann, der ihr an Jahren weit überlegen, zu heiraten. Einen Monat darauf starb ihr Vater, das neue Ehepaar aber ist erst vor zwei oder drei Wochen von seiner Reise zurückgekehrt.«

»Aber das Verhältnis zu jenem Weibe, das doch den untersten Volksklassen angehört?«

»Das lieber Freund, kann ich vielleicht ahnen, ich mag es aber nicht wissen, ehe mir die Kenntnis nicht von anderer Seite aufgedrängt wird. Glauben Sie mir, man lernt in Berlin manche trübe Blicke in das Leben der Familien tun, die allen Schimmer und allen Glanz zum Moder machen und zeigen, wie selten das ›Hemd des Glücklichen‹ zu finden ist. Es ist so viel Schein, so viel Trug und Elend in der großen Stadt, die dort vor uns sich hinstreckt, daß dem scharfen Beobachter bange wird ums Herz, wenn er ein solches hat. Wahre Humanität fehlt.«

Sie waren unter diesen Gesprächen – immer in einiger Entfernung hinter dem Marketenderkarren jenes Weibes hergehend und sie beobachtend – über den Berg gekommen, auf dessen Höhe nach Westen das prächtige eiserne Denkmal der unerschütterten heiligen Allianz steht, zu dem am 5. August 1848 die Bauern von Tempelhof her, Choräle singend, mit ihren schwarz-weißen Fahnen zogen, während aus der Metropole bereits sich der lange Zug Berliner Gewerke, fliegender Buchhändler, demokratischer Tribunalsräte und Abgeordneter, der versammelten Lindenklubbs und Zubehör mit allen jenen Harlekinszeichen der Berliner Revolution wälzte, um sich am Fuße des Denkmals preußischer Ehre vom Reformator Held die Huldigung an den Reichsverweser empfehlen zu lassen. Längst schon hatten sie den Mann, dessen Zusammentreffen mit dem Weibe der Journalist eben vermeiden wollte, mit seinem Gefährten in einem Torwagen an sich vorüberkommen sehen, und jener glaubte die Gefahr vollends zu beseitigen, indem er am Fuße des Berges, wo der Weg sich rechts und links abzweigt, der Frau nochmals ein Geldgeschenk unter der Bedingung machte, daß sie zu einem der anderen Tore ihren Weg nehmen sollte. Die Vorsicht erwies sich beim Weitergehen nicht als unnütz, denn die Freunde bemerkten später in einem der zur Seite der Straße liegenden Lokale das spionierende Auge des Konsulenten.

Dennoch sollte die Bosheit durch die unglückliche Begünstigung des Zufalles ihr Ziel erreichen. – – –

Es war schlechtes Wetter geworden bei der Rückkehr von der Rennbahn, und der Abend finster und regnerisch. Es war gegen 10 Uhr, als unter dem Schutz ihrer Schirme in der Nähe des Potsdamer Tores zwei Männer umherstrichen, auf die Ankunft des Bahnzuges wartend.

»Sie wollen also bestimmt nicht bei der Zusammenkunft zugegen sein?« fragte der Größere, Elegantere der beiden Männer, in dem man im Licht der städtischen Gaslaterne leicht jenen Gefährten des Winkelkonsulenten von der Rennbahn wiedererkennen konnte.

»Warum auch, lieber Freund?« entgegnete der andere. »Sie wissen, ich verstehe wenig französisch, und die Gegenwart eines Dritten könnte überhaupt nur genieren. Wir haben es ja ausgemacht, daß ich ganz aus dem Spiele bleibe und Sie nur mit meinem guten Rat und meiner Gesetzkenntnis unterstütze. Ich will weder wissen, was der Inhalt dessen ist, was Sie von der dritten Person erhalten, noch, was Sie damit tun. Ich kann Ihnen nur sagen, daß Privatgeheimnisse, mit Ausnahme der Beichte und des Arztes, von keinem Gesetz geschützt werden.«

»Sie sind sehr vorsichtig!« sagte der erstere bitter.

»Vorsicht ist die Mutter der Sicherheit; meine Lage ist ziemlich prekär und ich habe Familie, Sie aber stehen so gut wie frei da, und es wäre Torheit, wenn Sie den Vorteil und die Gelegenheit nicht benutzen wollten. Über einfältige Skrupel sind Männer, wie wir, doch wohl hinaus. Da tönt das Signal, der Zug kommt eben an – ich wünsche ein gutes Geschäft und Sie wissen, wo Sie mich um 11 Uhr treffen. Nur keine Unvorsichtigkeit vor den Leuten.«

Er ließ den Gefährten, ohne seine Antwort zu erwarten, allein und ging die Straße an der Mauer entlang. Dann aber wandte er sich rasch links nach dem Tiergarten. Er war kaum einige Schritte gegangen, als er vor sich her ein Frauenzimmer gehen sah, das manchmal, wie halbtrunken, einzelne Worte vor sich hinmurmelte. Ein etwas in der Gestalt schien ihm nicht unbekannt, der Schein der nächsten Straßenlaterne, der auf das rote, gemeine Gesicht fiel, belehrte ihn, daß er das Weib vor sich hatte, das am Nachmittag auf der Rennbahn die Dame attaquiert; im Augenblick übersah er den Zweck des Ganges, und sein schlechtes Herz jubelte über den glücklichen Zufall. Er mäßigte seine Schritte, ging auf die andere Seite des Weges und behielt sie scharf, aber vorsichtig im Auge. So gelang es ihm, an dem Kreuzgang der Bellevue-Allee zeitig genug eine Frauengestalt zu sehen, die dort, tief verhüllt, zu warten schien, und noch ehe das Weib diese erblickte, unbemerkt in den dunklen Gang zur Rechten zu gelangen, da er mit teuflischer Schlauheit berechnete, daß sie ihren Weg dorthin nehmen würden.

Als nach einer Viertelstunde die beiden Frauen sich trennten, wobei in der Hand der ehemaligen Haltefrau eine Rolle von Thalern blieb, folgte der Lauscher eben so gewandt und schlau der arglosen Dame, die mit einem Dank zu Gott für die glücklich abgewandte Gefahr mutig ihren einsamen Weg durch die dunkelsten Gänge zum Tore wählte.

Die schlimmere, drohendere schlich hinter ihr – die Schlange, die aus dem Geheimnis ihres freudenlosen Lebens einen Quell der perfidesten Erpressungen machen wollte. Der graue Winkelkonsulent rieb sich die Hände. »Die Politik entläuft mir nicht,« sagte er abgebrochen vor sich hin, »sie sind heute sicher vor mir, hier ist ein besserer und leichterer Gewinn. Aufgepaßt also!«

Kein schützendes Auge, das diesmal über der armen Frau gewacht hätte, keine schirmende Hand, die den lauernden Schurken zu Boden geschlagen hätte! – wenige Minuten darauf sah er sie in eines der glänzenden aristokratischen Hotels der Wilhelmsstadt eintreten. – – –

Der Zug von Potsdam war eingetroffen. Droschken und Fußgänger drängten sich durch das Tor. An der ersten der halb verkommenen Bildsäulen zur Linken des Leipziger Platzes lehnte der Gefährte des Konsulenten wartend. Nach wenigen Minuten schon kam ein Mann, in den Mantel gehüllt, aus dem Strom der Fremden und wandte sich nach der Stelle, wo jener stand. Der Ankommende war ein alter Mann, etwa siebenzig, wie sein weißes Haar zeigte, von großer, magerer Statur, das Gesicht faltenreich, spitzig und schlau.

Am Briefkasten beim Tore hielt er einen Augenblick still, sah sich rasch um und steckte dann schnell zwei Briefe hinein. Die Adresse des einen lautete an einen britischen Namen in einem der Hauptstationsorte der Bahn nach dem Rhein, und es lag offenbar eine Absicht zu Grunde, daß der Fremde, der von Potsdam kam, den Brief in Berlin zur Post gab. Der zweite Brief war nach Helgoland adressiert. Gleich darauf schaute der Alte sich nach dem Harrenden um, und als er ihn bemerkt, trat er zu ihm.

»Guten Abend, Leutnant! Sie sehen, ich bin prompt.«

»Bringen Sie Nachrichten?«

»Einige. Lassen Sie uns hier zur Seite gehen nach der Verbindungsbahn, wir sind dort ungestört. Haben Sie die Verhandlung angeknüpft?«

»Es ist geschehen und alles geordnet; man rechnet auf meine regelmäßigen Mitteilungen. Ich habe mir, wie Sie mich angewiesen, ausdrücklich bedungen, daß man nicht forsche wie und woher?«

»Und die Bezahlung?«

»Die Frage wird heute noch geordnet werden und gewiß zu Ihrer Zufriedenheit. Was bringen Sie für Berichte?«

»Die Kabinettsordre zur Realisierung der Hälfte der Anleihe ist am 17. unterzeichnet worden. Am selben Tage war Graf Münster von Petersburg in Gumbinnen und hatte eine zweistündige Audienz. Der russische General Grünwald hat ein Handschreiben überbracht.«

»Haben Sie nichts über den Inhalt erfahren?«

»Noch nicht. Der Kabinettsrat hat unsern Mann mitgenommen und an mich zu schreiben habe ich ihm verboten. Der andere hat mir heute morgen jedoch die Abschrift eines früheren Briefes aus Petersburg gebracht, der wichtige Details über die wahren Verluste an der Donau, die Stärke der russischen Truppen beim Rückgang über den Pruth und die gegenwärtigen Aufstellungen und disponiblen Mittel in den südlichen Gouvernements in sehr genauen Zahlen enthält. Der Brief ist etwas wert.«

»Geben Sie her – mein Wort! Ich werde daraus zu machen versuchen, was möglich ist, und Sie sollen redlich Ihre Hälfte erhalten.«

Mit einem habsüchtigen Zögern reichte ihm der Alte einige Papiere.

»Wollen Sie mich vielleicht selbst mit der Person zusammenbringen?«

»Das geht vorläufig unter keinen Umständen, denn ich selbst spreche sie zum ersten Male,« entgegnete der andere entschieden. »Die Einleitung hat mich viel Mühe gekostet, da man selbst von jener Seite mit großem Mißtrauen verfährt; Sie müssen sich also vorläufig auf meine Ehre verlassen. Ich bekümmere mich nicht um Ihre ursprünglichen Auftraggeber und ihre kleinen Nebengeschäfte, aber was ich in die Hand genommen, will ich auch selbst durchführen. Sie hatten das Vertrauen zu mir, mich zum Mitwisser zu machen, haben Sie es also auch ferner. Unser Vorteil geht Hand in Hand.«

»Meinetwegen denn – wir werden ja sehen, ob man sich honorig zeigt, und haben die Fortsetzung und das Abbrechen der Verbindung in Händen. Geben Sie sich nur keine Blöße, und nennen Sie keine Namen. Noch eins, wenn man's noch nicht weiß! Der Minister-Präsident wird morgen nach Bromberg entgegenreisen. Der Telegraph hat ihn zitiert.«

»Meine Ansicht ist, wir geben möglichst wenig Nachrichten über hiesige Vorgänge.«

»Mir recht! Nun adieu, Kamerad denn ich muß jetzt zur Stadt und mein altes Quartier aufsuchen. Machen Sie gute Geschäfte – wir treffen uns also bestimmt morgen früh um Neun, ehe ich zurückfahre?«

»Bestimmt! Gute Nacht, Leutnant!«

Die beiden trennten sich, der Alte ging, nachdem er seinen Gefährten hatte aus dem Tor gehen sehen, die Straße entlang und wandte sich links, der andere richtete seinen Weg nach dem Tiergarten.

Viele Gedanken schienen ihn zu bestürmen – Zweifel – Bedenken – vielleicht Gewissensbisse. Er blieb wiederholt stehen und murmelte einzelne Worte vor sich hin – – – – mehrmals auch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. – Zeigten sich ihm ahnungsvoll die verdienten Schrecken der Zukunft? – sandten giftgeschwängerte Dünste des glühenden Guyana, die furchtbaren, öden Sandküsten des Äquators ihre warnenden Schatten in seine Seele?

»Es ist nichts,« sagte er leise; »was geht mich Rußland an? Mag es seine Geheimnisse selbst wahren! Es ist nicht mein Vaterland – ich bin kein Verräter an diesem – es gibt kein Gesetz – ein bloßer Handel wie jeder andere!« – Er schien entschlossen und wandte sich nach den dunklen Laubengängen.

Auf einer der Steinbänke saß ein Mann, in einen Paletot mit hohem Kragen gehüllt.

» Bon soir, Monsieur!«

» Quelle heure de la nuit?«

» Les comédies ont finies et le spectacle commence.«

» Ah, le mot! – Je vous attends dejà une demi heure.«

Der Rubikon war überschritten.


In der Steppe.

Hui! Hui!

»Väterchen, halte Dich gut, mein Liebling! Denke, daß wir in drei Stunden die Station erreichen müssen. Pfui, Brauner, wer wird stolpern, wo der Boden so fest und das Gras so weich ist! Strenge Deine Muskeln und Sehnen an, Närrchen, die gnädige Herrschaft will es, die gnädige Herrschaft zürnt mit dem armen Jämschtschik (Postillon) wenn wir vor Nacht die Stanzia nicht erreichen.«

Es war auf der Steppe – gegen Abend. Ein schwüler Abend, der auf die glühende Tageshitze des Juli-Anfangs gefolgt war. Der heiße Sommer lag schon auf der nogaischen Steppe, die sich vom Dniepr bis zum Asowschen Meere hinzieht und den Zugang der Krim von der Landseite bildet. Zwei Straßen, wenn man die Bahn durch die trockene Wüste so nennen kann, laufen nach dem Eingangspunkt der Landenge von Perekop, welche die taurische Halbinsel mit dem Festlande verbindet: westlich von Odessa und Cherson her in der Nähe des Meeres über Aleszki und Kalanczig, – vom Norden, dem Wege von Czarkow und Jekaterinoslaw sich anschließend, die Straße von Berislaw über Czaplynka.

Kennst Du die Steppe, diesen Anfang einer großen Zukunft, diese Hoffnung Rußlands im Süden? Die mächtigen, weiten Strecken, die sich von den Donaumündungen um den Pontus bis zu den Felsenwänden des Kaukasus hindehnen, auf der Karte wie in der Wirklichkeit nur unterbrochen durch die großen Ströme Don, Dniepr, Bug, Dniestr und wenige Städtenamen; auf den Karten nur bezeichnet durch die Namen: Kosakenlinie, nogaische Steppe von Otschakow, Taurien. Unermeßliche Grasfelder unter der schattenlosen Glut der Sonne, die im Sommer breite Erdspalten in den braunen Boden reißt, über die im Winter der eisige Orkan braust. Weite, endlose Ebenen, aus denen sich nur die Mogilen, die geheimnisvollen Grabhügel vergangener Völkerschaften, erheben, – die nur das schilfbedeckte, tief eingeschnittene Flußtal der großen Ströme oder der sumpfigen Limans unterbricht, oder die jähe Regenschlucht, vielleicht das seit Jahrhunderten ausgedörrte Bett eines Nebenstromes.

Das Land der Scythen, – das so lange unbekannte Gebiet, von dem einst die Ströme wilder Barbarenhorden sich über das gesittete Europa ergossen, nach Süden bis zu den Mauern des goldenen Byzanz, nach Westen bis in die Fluren des sonnigen Italiens und Frankreichs, nach Norden hinauf bis zum blutigen Lechfelde, bis zu den Türen Merseburgs, bis zum Felde von Wahlstatt, wo der Sohn der heiligen Hedwig mit seinen Rittern fiel; von dem aus Pugatscheff den Thron des Zaren bedrohte.

Seit Peter der Große das erste russische Kriegsschiff aus dem Don ins Asowische Meer gleiten ließ, seit Katharina ihren Gemahl am Pruth losgekauft mit ihrem Schmuck aus den Händen der Türken, seit ihre große Nachfolgerin und Namensschwester durch den Frieden von Kainardschi (21. Juli 1774) die Krim und das Schwarze Meer eroberte, ist unendliches schon geschehen für diese Länderstrecken. Große Handelsplätze entstanden, wo sonst nur der Tatar seine wilden Rosse getummelt, die Öde der Steppe wurde zum Garten an ihrem Rande, Oasen blühenden und fruchtbaren Landes tauchten auf aus diesem endlosen Gebiet, hervorgerufen durch den Fleiß fremder Kolonisten, die religiöse oder politische Unduldsamkeit aus ihrer Heimat vertrieben und die hier Schutz und Reichtum fanden; blühende Militär-Kolonieen entstanden, weite Strecken trugen das goldene Korn, und die öde Graswüste wurde zur Fruchtkammer des halben Europas, das an den Molos von Odessa sein Brot holt.

Dennoch ist es noch immer die Steppe, die sich hier ausdehnt und alle jene Städte, Gärten und fruchtreichen Kolonieen sind eben nur Oasen in der grünen Wüste. Tagelang findet der Reisende, der sie auf der Britschka durchfliegt, nur die einsame Militär-Station, wo er die Pferde wechselt, die aus der Steppe meilenweit erst geholt werden, oder die Rasenhütte des Tabuntschick, (Heerdenbesitzer) und selten die freundliche, weiße Kolonie des deutschen Mennoniten.

Die Steppe ist schön in ihrem Frühlingsschmuck, so weit das Auge trägt, ein bunter, duftiger Teppich von Blumen und Gräsern, von frischen Quellen bewässert, die der Winterschnee genährt hat. Aber es sind nur wenige Monate. Wenn der Sommer kommt, verdorren Blumen und Gräser – die Quellen vertrocknen – der Boden wird zu harter Rinde, von tausend Falten und Rissen durchzogen, die Heerden der mächtigen Rinder, der wilden Rosse und geduldigen Schafe drängen sich zusammen und suchen das letzte trübe Schlammwasser der Cisterne; eine dumpfe, staubige Hitze ruht auf dem braunen Erdreich und die wunderbaren Bilder der Fata Morgana täuschen den verschmachtenden Reisenden.

Denn der Mensch trotzt auch hier der Natur und ihren Schrecken; durch die weite, dürre Wüste marschiert die Kolonne, die der Wink des Kaisers von weiter Ferne her zum Süden sendet, fliegt der Wagen, der den eilenden Kurier, den unermüdlichen Reisenden trägt.

Die Rosse, die der eingeborene Jämschtschik mit Schmeichelworten antrieb, waren vor einen ziemlich eleganten Pariser Reisewagen gespannt und zogen ihn rasch über die öde Fläche. Die Reisenden, welche anfangs die Straße von Aleszki am Meere entlang gewählt, hatten dieselbe schon nach dem ersten Dritteil auf den Rat des Postmeisters verlassen, der sie versicherte, daß sie auf keiner Station weiter Pferde bekommen würden, da diese für die Regierung in Beschlag genommen, und sie versuchten daher, quer durch die Steppe reisend, die große Straße von Berislaw nach Perekop zu erreichen.

In dem gegen die Hitze fest verschlossenen Wagen saß ein russischer Offizier, den gebrochenen linken Arm in der Binde, und auch am Kopfe Spuren tragend von durch Quetschungen oder einen heftigen Fall erlittenen Verletzungen. Sie waren gewiß nicht geeignet, das hagere Gesicht mit der hoch-kahlen Stirn, dem aufgeworfenen Mund und dem grünlich grauen Auge zu verschönern.

Die Dame war groß und schlank, das Haar cendré, der Teint und das Auge matt und dennoch voll Lüsternheit, das fest geformte Kinn Entschlossenheit ausdrückend.

Sie war voller Ungeduld und Ermattung. Bald brauchte sie heftig den Fächer, bald das Flacon, oder öffnete und schloß das Glas der Wagentür, ohne auf ihren Nachbar viel Rücksicht zu nehmen.

»Lassen Sie das Fenster ruhen, Celeste,« sagte dieser endlich in französischer Sprache; »Sie verbessern das Übel der Hitze dadurch nicht und lassen unnütz Staub herein.«

»Abscheulich!« rief die Dame; »nennen Sie das ein Land, in dem man atmen kann, Graf? Was versprachen Sie mir alles in Bukarest? – den Himmel Italiens oder der Provence, Orangendüfte und die prachtvollsten Szenerieen, und hier bekommen wir, eingeschlossen in einem Wagen, in einem Meer von Staub und erstickender Hitze, kein menschliches Wesen zu sehen, als höchstens einmal des Tages einige Halbwilde und eine Baracke, die Sie ein Posthaus zu nennen belieben.«

»Warten Sie!« sagte der Russe gleichgiltig.

»Warten! Geduld!« rief die Französin heftig; »das mögen Sie Ihren Leibeigenen empfehlen, nicht einer Dame. Warum ließen Sie mich denn nicht lieber in Bukarest, wo doch noch ein Schimmer von Zivilisation und Gesellschaft herrscht, statt mich solchen Fatiguen auszusetzen?«

»Sie sind unverständig, Celeste. Herr Bibesco, Ihr sogenannter Gemahl …«

»Mein Herr,« unterbrach ihn heftig die Dame, »keine Beleidigung!«

»Nun, Ihr wirklicher Gemahl,« verbesserte sich spöttisch der Offizier, »sitzt im Gefängnis und wird für seine Korrespondenz mit den türkischen Ministern entweder erschossen oder wenigstens über den Pruth mitgenommen werden. Überdies wissen Sie sehr wohl, daß sein Vermögen hin, der Rest mit Ihrer freundlichen Hilfe verschwendet ist, und daß Sie von seiner Familie nichts zu erwarten haben. Als ich nach meiner Verwundung beim Sturm auf Silistria – der Teufel gesegne es dem französischen Schurken! – in Ihr Haus nach Bukarest gebracht wurde und Sie die Güte hatten, sich meiner körperlichen und – Herzensfrage anzunehmen, wofür ich Ihnen dankbar die Hand küsse, waren die Verhältnisse zwar noch nicht zum Eklat gekommen, indes geschah es doch bald darauf, und ich glaube, ich war damals Ihre Hauptstütze.«

»Man hat es mir bitter zum Vorwurf gemacht.«

»Bah! – ich weiß es, daß der größere Teil der Bojaren gerade nicht sehr russisch gesinnt ist, aber ich wiederhole Ihnen, von der Familie Ihres Gatten hätten Sie ohnehin wenig zu erwarten gehabt, und Sie hätten mit Ihren Eroberungen, an deren Erfolg ich keineswegs zweifeln will, von vorn beginnen müssen. Unter diesen Umständen konnte der Vorschlag, meine Begleiterin und Freundin zu sein, als ich zur Erholung von meinen Verletzungen einige Monate Ruhe oder wenigstens leichten Dienst in dem schönen Klima der taurischen Küste genießen sollte, Sie nur verschiedenen Verlegenheiten entreißen.«

»Ihr Antrag war nicht der einzige, Graf, ich hatte die Wahl,« sagte die Dame mit jenem schamlosen Hochmut der pariser Demimonde, der aus solchen Verhältnissen ein gesellschaftliches Recht macht.

»Ich weiß das, schöne Celeste,« erwiderte der Russe halb galant, halb apathisch, »und daß Sie mir den Vorzug gaben, ist mir sehr schmeichelhaft. Aber Sie müssen sich doch auch in das Unvermeidliche fügen. Der Weg, den wir gezwungen sind zu machen, hat allerdings sein Unangenehmes und seine Beschwerden, namentlich für Damen. Aber sie sind unvermeidlich, um an unser Ziel zu gelangen, da der Seeweg für die Dampfboote gesperrt ist.«

»Warum haben Sie uns dann nicht wenigstens den Weg an der Küste fortsetzen lassen?« beharrte die Dame eigensinnig. »Ich hätte dort doch weniger von der Hitze und dem Staub zu leiden gehabt, auch sollen die Stationen zahlreicher sein als in dieser Wüste.«

»Sie haben selbst in Kostogrysowo gehört, Celeste, daß auf der ganzen Tour keine Pferde mehr zu haben waren, und daß auch die Reisenden, gleichfalls eine Dame, die eine Stunde vor uns abgefahren sind, vorgezogen hätten, die Hauptstraße zu erreichen. Noch einige Stunden, und wir sind auf der Station und werden die Nacht dort zubringen.«

»Es dunkelt bereits,« sagte furchtsam die Dame; »sehen Sie dort drüben die düstere Wolke, die so rasch am Horizont emporgestiegen ist? Diese öde Gegend ist doch sicher?«

»Bah! – Es lebt des Gesindels genug hier, denn alle entlaufenen Leibeigenen flüchten in die Steppen, und alle Verbrecher lassen sich hier nieder, weil niemand fragt, wer und woher? Aber selten finden sich hier Leute genug zusammen, um eine Gefahr zu werden. Doch – die Wolke da drüben ist seltsam – die Sonne muß noch hoch über dem Horizont stehen und dennoch ist kein Schein mehr zu sehen. – Skotina! (Tölpel, Narr) warum hält der Wagen? Was ist's mit den Jämschtschiks, Ossip?«

Er hatte das Fenster geöffnet und fragte den auf dem Bock neben dem einen Postillon sitzenden Leibdiener.

»Dort hält ein Wagen, Erlaucht, die Telege, die uns vorangegangen ist; aber mehrere Reiter sind um sie her.«

»Paschol! Vorwärts, Tölpel! Die Leute haben vielleicht ein Unglück gehabt – je eher wir hinkommen, desto eher werden wir es erfahren.«

Der Wagen, aus dem man die etwa anderthalb Werst noch entfernte Gruppe am Rande der immer tiefer und näher sich senkenden Wolke bemerkt hatte, rasselte aufs neue über das dürre Erdreich – aber die Pferde schienen wild und unruhig und wurden es mit jedem Augenblick mehr. Auch die Postillone schien eine bestimmte Besorgnis zu erfassen, sie riefen sich in tatarischem Idiom mehrfach zu und fuhren sichtbar nur mit Widerwillen weiter.

Um sie her schien sich jetzt die Steppe zu beleben. Die zierlichen Gestalten der Erdhasen huschten an ihnen vorbei oder suchten ihre Löcher. Zwei große Trappen mit erhobenen Flügeln und vorgestreckten Köpfen rannten scheu an ihnen vorüber; hoch aus der Luft tönte das scharfe Geschrei eines Adlers, der über ihnen weite Kreise zog und sich über die immer näher und näher kommende Wolke empor zu schwingen schien.

Wiederum, etwa noch eine starke halbe Werst von jener Gruppe entfernt, hielt der Wagen. Schon seit einigen Augenblicken hatte ein leises eigentümliches Summen und Schwirren in der Luft begonnen. Die Räder schienen über weiches, knirschendes Gras zu gehen; das halb verdorrte Gestrüpp der weiten Steppe schien sich, obschon kein Lufthauch zu spüren war, zu regen und lebendig zu werden.

»Was gibts?«

»Erlaucht,« sagte der nächste Jämschtschik, »möge der heilige Iwan Dich segnen – aber es sind die Heuschrecken!«

» Tscherti tjebie by wsiali! Was geh'n die Heuschrecken uns an? – Vorwärts!«

Nur einer, der diese furchtbare Landplage noch nie in der Nähe gesehen, konnte so sprechen, und noch ehe die Equipage jene Gruppe erreicht hatte, wurde der Oberst inne, daß er sich hier in ein Übel gestürzt, das keine Macht – nur Geduld – zu beseitigen vermochte.

Nicht Tausende, sondern Millionen und aber Millionen dieser widrigen, seltsamen Insekten füllten den Boden und schwirrten zum Teil durch die Luft. Dennoch bildeten diese Massen offenbar nur die Flanke des fliegenden Stromes; denn wie die Reisenden jetzt deutlich bemerkten, bestand die große Wolke, die nun massiv an ihrer Seite hing, die Strahlen der sinkenden Sonne gänzlich verbarg und zu Anfang von ihnen für eine Wetterwolke gehalten worden war, nur aus Myriaden ziehender Heuschrecken.

Sie waren jetzt dicht an der früher bemerkten Gruppe und die Jämschtschiks hielten zum dritten Male an, diesmal offenbar mit dem Willen, nicht weiter zu fahren. Die Pferde schnoben und schlugen um sich her und waren kaum zu bändigen. Der Oberst, um nicht genötigt zu sein, die Scheiben länger geöffnet zu halten, öffnete auf der dem Anzuge der Insekten entgegengesetzten Seite die Tür für einen Augenblick und sprang heraus. Sein Fuß zertrat mit jedem Schritt Hunderte des Gewürms, und er stand sofort bis an die Knöchel in dem widerlichen Strom.

Vor ihm hielt eine halb offene, aber durch einen ausgespannten Leinenschirm vor den Sonnenstrahlen geschützte und möglichst bequem eingerichtete Telege, in der zwei Damen saßen, die eine jung, zart und schön, offenbar den vornehmen Ständen angehörend, die andere anscheinend die Zofe, beide eifrig beschäftigt, sich von dem Gewürm möglichst frei zu halten, welches, teils durch die Luft fliegend, teils an den Rädern emporkriechend, den Wagen, die Kleider, ja Hände und Gesicht der Reisenden bedeckte. Zur Seite des Wagens, dessen Bespannung verschwunden war, stand ein kräftiger Mann in der Halblivree eines Jägers, ohne auf sich zu achten, bemüht, die junge Dame von der lästigen Plage zu schützen, die sie übrigens mit großer Fassung ertrug.

Um die Telege hielten auf ihren kleinen mit Feldgepäck belasteten Pferden ruhig fünf Kosaken, deren Kleidung und Ausrüstung zeigte, daß sie nicht zu den regulairen Truppen, sondern zu den freien Kontingenten gehörten, welche die nomadisierenden oder Steppenvölkerschaften stellen. Vier waren noch jung, der Fünfte jedoch ein Greis von riesiger Figur, das braune asiatische Gesicht von Narben und Furchen durchzogen und mit einem Auge – das zweite war durch eine quer über das ganze Gesicht laufende und dasselbe spaltende Wunde verletzt und geschlossen. Langes, weißes Haar und ein eben solcher Bart faßten sein durch die große Narbe wirklich Furcht erregendes Antlitz ein. Bei einer Bewegung des Greises, die seinen grauen Militärmantel öffnete, sah der Graf, daß er unter diesem eine alte mit drei oder vier Orden und Medaillen dekorierte Uniform trug. Alle Kosaken rauchten, wie die Jämschtschiks, aus kurzen Pfeifen einen eben nicht sehr duftenden Tabak, der jedoch den Vorteil hatte, das fliegende Gewürm wenigstens von ihrem Gesicht abzuhalten; um das andere kümmerten sie sich wenig.

Das alles hatte der Graf mit einem Blicke erfaßt; denn die zwar keineswegs wirkliche Gefahr mit sich führende, ja halb lächerliche, aber um so widrigere Lage erlaubte kein langes Besinnen. Indem er an die Telege trat, sagte er höflich:

»Ich bin der Oberst Graf Wassilkowitsch und ein Reisender durch die Steppe wie Sie, meine Damen! Sie scheinen sich jedoch in einer noch schlimmeren Lage als wir zu befinden, und ich erlaube mir die Frage, inwiefern ich Ihnen nützlich sein kann?«

Ehe noch die Dame antworten konnte, nahm der Jäger das Wort:

»Unsern Dank, gnädiger Herr! Die Gräfin Wanda Zerbona ist meiner Fürsorge anvertraut und auf dem Wege nach der Krim, um von Kertsch aus ihre Verwandte, die Fürstin Tscheftzawade im Kaukasus, zu erreichen. Die Hallunken von Postillons haben, als die Heuschrecken nahten, die Stränge abgeschnitten und sind auf- und davongeritten.«

»Wie kommen diese Kosaken hierher?«

»Die braven Leute sind uns begegnet und auf unsere Bitten und gegen das Versprechen einer Belohnung bei uns geblieben. Wir befinden uns bereits fast eine Stunde in dieser unangenehmen Lage.«

Der Oberst wandte sich zu dem alten Kosaken.

»Wer bist Du?«

»Iwan, der Steppenteufel, Batuschka!«

»Skotina! – Woher kommst Du? Ob Du Soldat bist?«

»Zweiundfünfzig Jahre war ich's, Väterchen, teils für den Zar, teils auf eigene Hand. Der Zar ist mir gnädig gewesen, ich bin der Ataman meines Stammes.«

Er wies auf die Dekoration seiner Brust.

»Bist Du hier zu Hause? – Sprich rasch!«

Der alte Kosak lächelte, wenn das Grinsen dieses verwitterten Gesichts ein Lächeln zu nennen war.

»Die heilige Mutter von Kasan beschütze Dich! Ich bin kein Tatar, sondern ein ehrlicher Kosak vom Don. Das sind meine Enkel, und zwei habe ich fortgeschickt, die spitzbübischen Jämschtschiks für diese armen Leute zurückzuholen. Wir hörten, daß der Zar im Süden Soldaten brauche, und da sind wir.«

Der Offizier sah, daß er von dieser Seite keine Auskunft erhalten könne; er wurde aber in den weiteren Nachforschungen durch seine Begleiterin unterbrochen, die mit weiblichem Takt und Teilnahme ihm zurief, die fremde Dame in ihren Wagen bringen zu lassen, der mehr Schutz gegen die Belästigung gewährte, als die offene Telege. Das geschah augenblicklich durch die Diener des Grafen.

»Wie weit sind wir hier noch von der großen Straße entfernt, oder ist irgend ein Ort in der Nähe, wo wir Schutz vor diesem abscheulichen Gewürm finden können?«

»Die Straße ist noch fünfzehn Werst entfernt, Erlaucht,« sagte der älteste Postillon, »und die Stanzia (Station) noch weiter. Aber auf der Hälfte des Weges zur Rechten ab liegt eine Kolonie der Frommen.«

»Wahrscheinlich Mennoniten,« erläuterte Bogislaw.

»Zum Henker! Mögen sie sein, wer sie wollen, wir müssen sie zu erreichen suchen. Wir müssen den Strom dieser Heuschrecken durchbrechen, denn umzukehren würde nun nichts mehr nützen. Bringt rasch die wertvollsten Sachen aus der Telege nach meinem Wagen, und dann müssen zwei von Euch den Mann hier und das Mädchen zu sich auf die Pferde nehmen, denn im Wagen ist kein Platz.«

»Unser Gepäck ist vorausgesandt, wir sind fertig.«

»Desto besser – die Sache wird unerträglich. Zehn Rubel jedem von Euch Trinkgeld, wenn Ihr uns glücklich durch diese Wolke von Gewürm bringt.«

Er sprang in den Wagen zurück.

Der Jäger hatte die sich sträubende Zofe beruhigt und, den Plan des Grafen verbessernd, zu Ossip auf den Kutschbock gehoben, während der Jämschtschik, der diesen Platz bisher eingenommen, sich auf das linke Pferd des hintern Dreigespanns schwang und Bogislaw selbst das rechte Seitenpferd bestieg.

»Vorwärts, Kamerad!« rief er dem alten Kosaken zu, »es bleibt bei der Belohnung. Brich uns die Bahn.«

Der Alte pfiff seinen Enkeln. Fest aneinander jagten die fünf Reiter in die dunkle Wolke von Gewürm hinein; die Jämschtschiks gaben ihren Pferden den Kantschuh und zwangen die sich bäumenden und schnaubenden Tiere, im Galopp den Reitern zu folgen.

Einige Minuten lang vernahm man nichts als das Schnauben der Tiere und das weiche, zermalmende Knirschen der Räder; denn selbst der ermunternde Zuruf der Männer war verstummt, da jedes Öffnen des Mundes diesen sofort mit den eklen Geschöpfen gefüllt hätte.

Ringsum war die Luft von ihnen verdichtet, der Boden mehrere Zoll hoch bedeckt, jedes Gestrüpp, jeder Halm, auf den sie niederfielen, war im Nu verzehrt und auf ihrem Wege durchs Land die öde Steppe in wenig Augenblicken noch öder geworden.

Wenn die Glut des Sommers kommt und die Sonnenstrahlen heiß und giftige Dämpfe entwickelnd auf die sumpfigen Gegenden fallen, dann erheben sich aus den endlosen Morästen der Dobrudscha die Myriaden jener häßlichen Insekten und nehmen, gleich Gewitterwolken vom Winde getrieben, ihren Weg nach dem Süden oder über das Schwarze Meer hinüber nach Bessarabien und der Krim und ziehen oft weit hinein in die Steppen des südlichen Rußlands. Millionen und aber Millionen dieser Geschöpfe verschlingt das Meer, – doch was ist das bei der Menge, – wo sie niederfallen, da sind sie dichter als die Tropfen des Regens, verwüstender als der gewaltige Orkan, und nur selten vermag der Mensch mit all seinem Witz seine Ernte gegen sie zu schützen.

Die Glieder der Pferde, die Räder, der ganze Bau des Wagens, die Körper der Reiter waren mit den Insekten bedeckt, die selbst die Stoffe der Kleider anfraßen. Das Mädchen und der Diener des Obersten hatten ihre Köpfe, so gut es ging, in Tücher verhüllt und ließen alsdann den kriechenden Strom über sich ergehen. Selbst die in der durch Glasscheiben geschlossenen Kutsche Sitzenden litten außer der drückenden widrigen Atmosphäre von dem Gewürm, denn Hunderte waren bei dem Öffnen eingedrungen und krochen durch alle Ritzen herein, sodaß sie fortwährend in einem Kampf bleiben mußten. Die Französin war fast ohnmächtig, nur Gräfin Wanda unterwarf sich ruhig und tätig dem Mißgeschick.

Der Zug hatte sich geradezu in den Strom der Heuschrecken geworfen, um ihn an seiner schmalen Seite zu durchbrechen. Die Eingeborenen wußten, daß er auch hier wohl eine Viertelmeile breit, aber gewiß das Doppelte und Dreifache lang sein konnte. Man war bereits ziemlich weit gekommen, als ein Augenblick wirklicher Gefahr zu drohen schien. Der Zug der Heuschrecken veränderte aus einer noch unbekannten Ursache plötzlich seine Richtung und erhob sich; das Tageslicht, ohnehin schon geschwächt durch den sinkenden Abend, schien auf Minuten lang gänzlich verfinstert, denn die Luft umher war buchstäblich gefüllt mit schwirrenden, fliegenden Insekten. Die Pferde, die anfangs schnaubend und wild sich geberdet, standen nunmehr zitternd und ruhig, und selbst die Männer der Steppe hatten jetzt, so gut es ging, ihren Kopf verhüllt und überließen sich gleichgiltig dem Kommenden.

Selbst das Atmen wurde immer schwieriger – die französische Dame im Innern des Wagens war leichenblaß vor Furcht und Erschöpfung.

»O, dieses verwünschte Land! – Wasser, Wasser! – Ich ersticke!« –

Zum Glück dauerte dieser Zustand nur wenige Minuten. Wir haben bereits bemerkt, daß ein den Reisenden noch unbekannter äußerer Einfluß auf den Zug der Insekten einzuwirken schien. Sie erhoben und drängten sich immer mehr und erhielten eine Eile, die ihnen nicht erlaubte, sich an Gegenstände zu hängen. Nach kurzer Zeit wurde es lichter, das Geschwirre in der Luft umher hörte auf, und Menschen und Tiere vermochten freier zu atmen.

Das erste Geschäft, was alle vornahmen, gleichgiltig gegen alle sonstigen Beobachtungen, war natürlich, sich von den Überresten des widrigen Abenteuers zu reinigen, und die Nüstern und Ohren der Pferde von einzelnen zurückgebliebenen Insekten zu befreien. Die Jämschtschiks mit dem Jäger waren eifrig damit beschäftigt, denn sie wußten, daß jetzt die Pferde, nachdem ihre Angst überstanden, durch das kleinere Übel scheu und unbändig gemacht werden konnten.

Die Gesellschaft im Wagen war jetzt auch imstande gewesen, die Fenster niederzulassen, um frische Luft zu schöpfen. Die Postillone saßen auf und waren bereit, aufs neue davon zu fahren; doch zögerten sie noch einige Augenblicke, da sie unschlüssig schienen, nach welcher Richtung sie sich wenden sollten.

Die Aussicht war nämlich, obschon der furchtbare Schwarm sich immer mehr und immer rascher verlor, noch immer gesperrt. Eine graubraune Wolkenwand schien den ganzen Horizont zu bedecken und die Sonnenhitze des Mittags aufs neue mit sich zu bringen. Die Reisenden befanden sich eingeschlossen wie in einem Tale, ohne selbst die Richtung der Himmelsgegenden beurteilen zu können.

»Diese Tiere scheinen widrigen, brandigen Geruch zurückzulassen,« sagte die junge Gräfin; »es ist noch immer schwül und drückend. Bedienen Sie sich meines Flacons, Madame!«

Der Oberst, ohne sich viel um die Frauen zu kümmern, lehnte aus dem Fenster.

»Was soll das Zaudern? Vorwärts, Tölpel! – Was soll's?«

Die letzte Frage war an den alten Kosaken und den Jäger Bogislaw gerichtet, die nach einer kurzen Besprechung auf den Wagen zukamen.

»Väterchen,« sagte der Kosak mit jener, den gemeinen Russen so eigentümlichen Manier, einer direkten Antwort auszuweichen, »die Heiligen haben Dich und die Frauen zu keiner guten Stunde die Reise antreten lassen.«

»Um es kurz zu machen, Herr Graf,« fiel der entschlossene Jäger ein, »denn die Augenblicke sind kostbar – diese mit dem Lande vertrauten Leute meinen, es drohe uns eine größere Gefahr als die vergangene: die Steppe stehe in Brand!«

Die beiden Damen hatten zum Glück die russisch gesprochene Meldung nicht verstanden; doch sahen sie an dem Zurückfahren des Obersten, an der Blässe, die unwillkürlich sein Gesicht überzog, daß eine große Gefahr im Anzuge sein mußte, und die verwöhnte Pariser Lorette, die entführte Bojarendame, faßte laut aufschreiend seinen Arm.

»Mein Himmel! Graf, was gibt es? Was spricht der Mann? Ich will es wissen!«

Der Oberst machte sich ungestüm frei.

»Zum Henker, Madame! Das ist kein Augenblick für Ihre Narrheiten. Unser Leben steht auf dem Spiel. – Woraus schließt Du das?«

Der Jäger wies auf die Wolkenwand ringsum, die immer dichter emporstieg und in der einzelne hellweiße Wolken emporzukräuseln schienen. Ruhig hielt der alte Kosak an der Seite des Wagens, während seine Enkel beschäftigt waren, den Jämschtschiks im Bändigen und Festhalten der fünf Pferde zu helfen.

»Atmen der Herr Graf nur die Luft, die Sinne werden Sie bereits überzeugen.«

In der Tat wurde der brandige Geruch immer schärfer, die Schwüle immer drückender.

»Wie ist das Feuer entstanden – woher kommt es?«

»Gott weiß es! – Die Kolonisten oder Hirten haben es wahrscheinlich zum Schutz vor den Heuschrecken angezündet. Ich muß gestehen, daß ich selbst ratlos bin, da ich nicht einmal die Richtung des Himmels anzugeben vermag. Euer Erlaucht würden am besten tun, diesem alten Manne zu vertrauen.«

Der Oberst wandte sich zu diesem:

»Du siehst, daß ich Stabsoffizier bin, und daß es Deine Pflicht ist, mir zu gehorchen. Wo ist die Gefahr für uns?«

Der Alte deutete ruhig ringsum im Kreise.

»Überall? – Sollen wir umkehren?«

Der Kosak schüttelte mit dem Kopfe.

»Es nützt nichts, Väterchen. Unter den Heuschrecken würdest Du desto schneller verbrennen.«

»Weißt Du einen Ausweg? Kannst Du uns führen, uns retten? Denn ich hoffe, Du wirst uns nicht verlassen.«

»Nein, Väterchen, Iwan wird bei Dir ausharren. Du bist ein vornehmer Herr, aber Du verstehst nichts von der Steppe. Willst Du mir die Anordnungen überlassen?«

»Es sei! Hundert Rubel für Dich und jeden der Deinen, wenn Du uns rettest.«

Der Alte hielt sich, nachdem er auf diese Weise das Recht, zu befehlen, erlangt hatte, mit einer Erwiderung nicht auf, sondern wandte sich sofort an seine Enkel:

» Wanka, jag' dem Feuer entgegen und sieh', welche Richtung es nimmt. Alexei Petrowitsch, fort, nach Mittag zu und schau, ob dort ein Ausweg. Olis, mein Liebling, wende Dich gegen Abend. Möge der heilige Iwan über Euch sein, Ihr hört unser Pulver. Fort!«

Die drei jungen Kosaken sprengten nach verschiedenen Richtungen in die Wolkenwand hinein.

Während der Alte mit dem seltsamen Namen dem Jäger Bogislaw, den er rasch als den Tätigsten und Geeignetsten der ganzen Gesellschaft erkannt, einige Instruktionen gab, deren Inhalt sich bald dadurch zeigte, daß Bogislaw von Zeit zu Zeit ein Pistol in die Luft schoß und wieder lud, – suchte der Graf die Damen zu beruhigen, denen die Natur der Gefahr längst nicht mehr verborgen war. Celeste war außer sich, bald weinte sie zaghaft, bald stieß sie mit französischem Wortschwall die bittersten Vorwürfe gegen ihren Beschützer aus, bald wieder bat und flehte sie, daß man die Pferde antreiben und dem Feuer entfliehen möge. Auch der Oberst war mehrere Male im Begriff, den Befehl zu geben, die Rosse, die nur mit Mühe festgehalten werden konnten, loszulassen, doch gab ihm ein Blick auf die ruhige Haltung des Kosaken und die Überlegung die Überzeugung, daß man der Erfahrung und dem Instinkt des greisen Eingeborenen der Steppen am besten vertrauen werde und ihm jede Anordnung überlassen müsse.

Die Hitze war fortwährend gestiegen; die umgebenden Rauchwolken begannen bereits eine rötliche Farbe anzunehmen. Durch den Wolkennebel hatten sie häufig dunkle Gestalten in vollem Lauf vorüberhuschen sehen – die Wölfe, die wilden Hunde und anderes Getier der Steppe – aus der Luft herab hörten sie das ängstliche, kreischende Geschrei großer Schwärme wilder Enten und anderer Wasservögel, die, von der Glut aufgescheucht, hoch über dem Brand weg zu ihren sumpfigen Nestern eilten. Die Minuten, die sie in der quälenden Ungewißheit zubrachten, schienen Stunden.

Der Kosak Wanka war der Erste, der in voller Karriere seines kleinen, zottigen Pferdes, dem Mähne und Hufhaar verbrannt waren, zurückkam.

»Fort, Djeduschka, – das Feuer ist hinter mir – kaum drei Werst entfernt und nimmt die Richtung hierher.«

»Haltet die Pferde bereit, Lieblinge! Schließ die Fenster Deiner Karosse, Väterchen. – Auf!«

Aus dem Nebel zur Rechten jagte Alexei Petrowitsch.

»Hierher, hierher! Es ist eine Lücke in der Wand von Rauch und der Boden nur von Heuschrecken verwüstet.«

»Schießt Eure Pistolen zusammen los, daß Olis uns hört. Der heilige Andreas schütze den Jungen! Feuer! Und nun vorwärts, dort hinein!«

Die Pferde wurden zur Seite gerissen, und im Galopp jagte die Kutsche, von den Reitern umgeben, in die Rauchwand – von Zeit zu Zeit feuerte der wackere Jäger noch einen Schuß ab.

Der Wagen war etwa zweihundert Schritt vorgedrungen, als die Dunst- und Wolkenwand sich lichtete und sie in eine verhältnismäßig freie Atmosphäre kamen. Es zeigte sich, daß ein leiser Luftzug die Dampfwolken vor sich her trieb und die klare, helle Glut schlug zu ihrer Linken in die Höhe und knisterte über die weite Ebene.

Die Rosse jagten wie toll über die Fläche und rissen den Wagen in wilden Sprüngen über die Risse und Unebenheiten des Bodens. Züngelnd liefen die Flammen über diesen, wenn auch der Luftstrom sie in bestimmter Richtung vorwärts trieb, und an vielen Stellen jagten die Pferde geradezu durch die bereits emporschlagende Lohe.

Celeste lag ohnmächtig im Wagen, die Gräfin atmete schwer, das Gesicht an das Wagenfenster gepreßt, dessen Scheiben in der Glut bereits zersprungen waren, während der Graf in finsterer Entschlossenheit die schreckliche Szene beobachtete.

Plötzlich sperrte ein breiter Erdspalt die Fahrt und die Postillone hielten still. Der vordere Jämschtschik sprang sogleich aus dem Sattel und begann die Stränge seiner zwei Pferde zu lösen.

»Was tust Du, Kanaille?«

»Wo der Tod uns vor Augen, hast Du uns nichts zu befehlen, Väterchen. Diese Pferde hindern nur den Wagen, die Heiligen werden uns durchhelfen, wenn wir allein sind!«

»Sukiensyn!« – Eine Pistolenkugel pfiff dicht am Ohr des ungehorsamen Postillons vorüber.

»Gnade, Exzellenz, ich bin Dein gehorsamer Knecht!«

»Den ersten, der uns zu verlassen wagt,« schrie der Oberst durch das geöffnete Fenster, »schieße ich nieder! Iwan, wo bist Du?«

»Hier, Erlaucht,« entgegnete der alte Kosak, »ich untersuchte die Erdspalte. Wiederholt das Schießen! Pascholl!«

Wiederum donnerte der Wagen davon, rechts und links von ihnen schlugen am Gestrüpp die Flammen bereits in die Höhe – die Fesseln, die Mähnen, die Schweife der Rosse waren angesengt, kaum noch vermochten die Menschen zu atmen.

»Heilige Mutter Gottes, vergib mir Sünderin!« jammerte Celeste in der Angst des Todes. »Das ist die Strafe dafür, daß ich die arme Nini um ihr Eigentum bestohlen, das mir der Russe gab, daß ich nun mit diesem Manne so elend verderben muß.«

Gräfin Wanda hatte die Hände gefaltet, sie betete still – vor ihrer Seele stand in dieser letzten Stunde das Bild des jungen Tschetschenzen-Offiziers, des Imams Sohn, der einst mit ihr eine ähnliche Stunde der Todesnot geteilt.

Heilige Mutter von Kasan! – das war ein Schuß aus der Ferne, ein Signal, das nicht von den Männern um die dahinfliegende Equipage kam!

»Kuli! Kuli! Olis – hierher!« donnerte die Stimme des alten Atamans.

Ein zweiter Schuß –

Dann brach aus der Rauchwand vor ihnen ein Reitertrupp, fünf Männer zu Pferde: zwei junge russische Offiziere und ein älterer Mann in braunem, langschößigem Rock, die weiße, weite Halsbinde trotz der Hitze sorgfältig um den Hals geknüpft, einen dreieckigen Hut von altmodischer Fasson auf dem, mit langem, schlichten Haar umgebenen Kopf. Mit ihnen zwei Kosaken.

»Zu Hilfe! Zu Hilfe! Hierher!« schrie der Oberst – im nächsten Augenblick waren die beiden Offiziere am Wagen

Ein gellender Schrei scholl aus diesem.

»Da ist er! Da ist er! Vergebung, Fürst, einer Sterbenden! Ich ließ sie im Elend!«

» Schorte wos mi! Fürst Iwan Oczakoff, Sie in dieser Höllenglut?«

»Oberst Wassilkowitsch, so wahr ich lebe! Wir wagten uns in die Gefahr, um eine Dame zu retten.«

»Sie ist hier – doch sprechen Sie rasch, gibt es einen Ausweg aus dieser Höllenglut, die uns lebendig röstet?«

»Für den Wagen schwerlich. Hesekiah, wissen Sie Hilfe?«

Der Mennonit wandte sich zu ihm.

»Es muß ein Tabun hier in der Nähe sein, ich kenne den Tabuntschik, obschon er ein finsterer, menschenscheuer Greis ist. Aber es ist unmöglich, mich in diesem Rauch zu orientieren, und es gibt hier überall gefährliche Erdspalten.«

»Halt!« schrie der Kosak, »still, Väterchen, so lieb Euch Euer Leben ist, ich höre einen Ton, – ein Signal!«

Die Jämschtschiks hatten auf einer vom Feuer noch nicht erfaßten Stelle die Pferde angehalten. Alle lauschten gespannt, einige Augenblicke war nichts zu hören, wie das Knistern und Zischen der Flammen, die fast ringsum emporschlugen – dann klang es erst leise und immer lauter, wie der Ton einer metallenen Glocke – bald war eine Täuschung unmöglich.

»Das ist die Glocke des Tabuns für die Heerden,« sagte ruhig der Mennonit, »Gott vergebe es mir, daß ich dem Manne kaum diese Menschenfreundlichkeit zugetraut habe. Der Herr ist mit uns – wir dürfen nur dem Schall der Glocke folgen, doch rate ich Dir, Freund Offizier, die beiden Gespanne zu trennen. Diese Frauen werden sicherer fahren mit der Troika.«

Der Rat war bei der rissigen Beschaffenheit des Bodens zu gut, um nicht befolgt zu werden. Im Nu waren die Stränge der zwei Vorderpferde vom Jäger Bogislaw und den Kosaken abgeschnitten, und der erstere befahl dem Jämschtschik, voranzureiten nach dem Schall der Glocke, um zugleich den Zustand des Weges zu prüfen. Die Todesgefahr war so groß, daß der junge Postillon, kaum die Möglichkeit der Rettung vor sich sehend, und von dem drohenden Pistol des Obersten befreit, wie blind und toll davonjagte. Hinter ihm her flog, von den Reitern umgeben, der Wagen durch Rauch und Flammen.

»Links! links, Freund! so lieb Dir Dein Leben ist!« schrie der junge Mennonit, während schon näher und näher der Schall der Glocke erklang und sie bereits den Zuruf einer menschlichen Stimme zu hören vermochten.

Es war zu spät –

Ein wilder furchtbarer Schrei des Entsetzens – und vor ihren Augen verschwanden im Nebel und Rauch, kaum zehn oder fünfzehn Schritte vor ihnen, die Gestalten des Jämschtschiks und seiner zwei Pferde, wie von der Erde verschlungen.

»Links! links! Gott sei Seele und Leib gnädig!«

Der Mennonit hatte sich mit seinem Pferde quer vor das Gespann geworfen. Bogislaw riß mit Aufbietung aller seiner Kraft das rechte Sattelpferd, das er bestiegen, zurück und drängte das Gespann nach links – so flogen sie davon, dem Rufen und Läuten entgegen, ohne daß einer von dem schrecklichen Schicksal des jungen Postillons Kunde nehmen konnte; wenige Augenblicke darauf war das Läuten vor ihnen.

»Paßt auf, Brüder,« rief der Mennonit, »der Graben kommt – hopp!«

Er setzte mit seinem Pferde hinüber, Iwan folgte – dann der Jämschtschik mit dem Dreigespann – ein Ruck, Angstgekreisch – der Wagen stürzte um, aber war glücklich über den rettenden Graben, den die Hirten zur Sicherung ihres Tabuns gegen das Feuer aufgeworfen.

Die Voransprengenden hatten jenseits desselben den jungen Kosaken Olis gesehen, wie er eifrig eine kleine Glocke schwang, die zum Herbeirufen der Heerden zu dienen schien, und neben ihm eine hohe Greisengestalt in wildem Kostüm, teilnahmslos die Arme übereinander geschlagen und den Anstrengungen des jungen Mannes zuschauend.

Im nächsten Augenblick waren alle, mit Ausnahme des seltsamen Greises – um den umgefallenen Wagen beschäftigt, um den Insitzenden herauszuhelfen. Der Oberst war der erste, der durch die geöffnete Tür sich herausschwang, sein kranker Arm schmerzte ihn infolge des Stoßes heftig und schien aufs neue beschädigt. Er rief nach seinem Leibdiener und befahl, sogleich aus dem geretteten Gepäck ein Arzneinecessaire zu suchen, während die Damen herausgehoben, in der Nähe eines gegen die Hitze verdeckten Brunnens niedergesetzt und von den beiden jüngeren Offizieren mit Wasser benetzt wurden. Gräfin Wanda, die erst bei dem Todesruf des Jämschtschiks die während der ganzen furchtbaren Szene bewahrte Fassung verloren und ohnmächtig geworden, erholte sich zuerst und leistete nun mit dem Kammermädchen der Französin Hilfe.

Sie schlug die Augen auf, – ihr erster Blick fiel auf den jungen Fürsten, den sie auf dem Ball des General-Konsuls von Meusebach sich hatte vorstellen lassen, und der sie mit sichtlichem Interesse betrachtete.

Eine dunkle Röte überzog bei der Erinnerung an Worte, die sie in der Todesangst ausgestoßen, das Gesicht der ehemaligen Lorette.

Während diese kurze Erkennungsszene unter der Gruppe der vornehmen Reisenden spielte, die sich so eigentümlich zusammengefunden, war ein noch seltsamerer Auftritt unfern von ihnen vorgegangen.

Der Tabuntschik hatte sich von der zahlreichen, so plötzlich in sein Gebiet eingedrungenen Gesellschaft zurückgezogen. Die Szene umher gewährte einen eigentümlichen Anblick. Obschon das Feuer, so schnell es gekommen, sich nach dem raschen Verzehren des trockenen Grases entfernte und den Tabun, die Niederlassung der Roßhirten, ganz unberührt gelassen hatte, da dieser auf der einen Seite durch die tiefe, jähe Regenschlucht, auf der anderen durch einen von den Hirten aufgeworfenen Graben gesichert worden, so sah man doch an einzelnen Stellen in der Nähe noch immer die Flammen emporschlagen, und Rauchwolken ballten sich über die freigebliebene und abgebrannte Stätte hin. Wo sie sich öffneten, sah man große Heerden Viehes – Pferde und Schafe dicht zusammengedrängt auf der gesicherten Oase, von den Hirten oder den Knechten des Tabuntschiks bewacht, und ein eigentümliches Schauspiel gewährte es, als diese jetzt zwischen den Schafen zwei Wölfe hervorzerrten, die sich in der Angst vor dem Feuer schmiegsam unter die Heerden verkrochen hatten, und die sonst so gefährlichen Bestien ohne Widerstand totschlugen.

Der Tabuntschik stand in der Nähe seiner Semlanke – der kaum mannshoch aus dem Boden hervorragenden, größtenteils in diesen gegrabenen aber geräumigen Hütte, – deren Dach nach beiden Seiten hin in den Rasen selbst auslief. Er war eine hagere, aber kräftige Gestalt, fast nur Sehnen und Muskeln, das von einem weißen, krausen Bart umgebene Antlitz lederfarben geworden von der Glut der Sonne und den eisigen Wettern des Winters. Ein dunkles, unruhiges Auge lag unter den buschigen Brauen, die linke Wange zeigte eine tiefe, querüber laufende Narbe. Die ungebeugte, kräftige Haltung, durch den fortwährenden Aufenthalt im Freien, die Art seiner Beschäftigung und die einfache Nahrung über die gewöhnliche Zeit erhalten, ließ das Alter des Mannes nicht erkennen, dennoch mußte es hoch und selbst über die Jahre des greisen Kosaken reichen. Er war ganz in gegerbtes Fohlenleder gekleidet; eine eng anschließende Jacke, Beinkleider, an denen die Haarseite nach außerhalb gekehrt war, und derbe, hoch hinaufreichende Stiefeln von Roßleder mit starken Sporen bildeten seine Tracht. Eine lederne Kapuze mit eingeschnittenen Öffnungen für Augen, Ohren und Mund hing ihm über den Nacken; in dem breiten Gürtel, auf den er die Hand stützte, staken ein kurzes Beil und verschiedene Zangen, Werkzeuge und Büchsen, die er in seinem Berufe als Besitzer großer Roßheerden brauchte; die Hand hielt die derbe, kantschuartig geflochtene Peitsche.

Der alte Kosak, der um die Geretteten genug Personen beschäftigt sah, hatte sich von ihnen gewandt, und näherte sich dem einsam stehenden Tabuntschik.

»Die Heiligen mögen Dich segnen, Väterchen. Wir sind gekommen, bei Dir Hilfe und ein Nachtlager zu suchen, Du wirst uns nicht von Dir weisen.«

»Ich lade niemand zu mir,« sagte finster der Roßhirt, »doch weigere ich auch niemand mein Brot und Salz. Du bist mein Gast – weshalb starrst Du mich so an, alter Mann?«

Das Tageslicht war zwar dem Erlöschen nahe, aber seine letzten Strahlen brachen eben noch scharf durch die sich teilenden Rauchnebel und fielen auf das Antlitz des greisen Roßhirten.

Der Ataman sprang auf ihn zu und faßte seinen Arm:

»Dies Gesicht kenne ich und wenn es Methusalems Alter hätte – schau diese Narbe auf meinem Gesicht an, Kaisermörder, und erinnere Dich an die Nacht des 23. März!«

Seine Rechte faßte nach dem Pistol in seinem Gürtel.

Das Antlitz des alten Tabuntschik war fast schwarz geworden, seine tiefliegenden Augen schienen Blitze zu schießen.

» Tschort w twaju Duschu! (Der Teufel in Deine Seele) Du bist verrückt.«

»So wahr die Heiligen an meinem Sterbelager stehen und die finsteren Geister verscheuchen mögen – ich kenne Dich, Fürst Michael, und Gott der Herr hat dem armen Kosaken der Steppe das Leben erhalten, um noch an der Pforte des Grabes seinen Todfeind zu finden.«

Der Tabuntschik lächelte verächtlich.

»Lege den Finger auf Deine eigene Wange und Du wirst das Zeichen finden, mit dem der Degen des Zaren Dich gebrandmarkt. Du mußt sterben von meiner Hand!«

Er zog den Hahn des Pistols – doch die Hand des Roßhirten drückte es jetzt zur Seite:

»Ich weiß nicht, wer Du bist, und welchen Anspruch Du an mich hast,« sagte er finster. »Aber bedenke, daß Du mein Gast und ich Dein Wirt! Fluch auf den Russen, der die heilige Sitte der Väter verletzt! Wenn die erste Stunde eines neuen Tages da ist, wirst Du, ein Greis wie ich, mich über der Grenze dieses Tabuns finden, bereit, Dir Rede zu stehen.«

Er wandte sich unerschüttert von ihm und verschwand in die Semlake.

Der alte Kosak blieb in tiefem Sinnen, auf seinen Säbel gestützt, zurück.


Varna.

Wenn der Schiffer aus dem Bosporus an den felsigen, seltsam schroff geformten Westküsten des Pontus Euxinus mit günstigem Wind hinaufstreift, an der Stätte des alten Apollonia vorüber, wo jetzt das Dorf St. Nicol seine Fischerhütten ausgestreut, gelangt er mit dem milden Hauch des Südens zu einem breiten, schönen Golf, der sich so weit hineinstreckt ins Land, daß die Flotten der Welt hier stattlich, wenn auch eben nicht sehr sicher vor Anker liegen könnten. Der Golf wird von dem Ausfluß des Dewno-See's ins Meer gebildet, oder der See bildet eine Fortsetzung des Golfes, wie man will. Im Süden erheben sich begrenzend die Felsen des Galata-Vorgebirges, die Nordseite steigt in leichter Hebung plateauförmig bis an den Fuß des mächtigen Hämus, dessen breiter Kamm mit unzähligen Ausläufern vom Schwarzen Meere bis zu den Felsenwänden der Adria die bulgarischen und slavischen Provinzen der Türkei durchschneidet. Zwischen dem Gebirge und dem Golf, seine Wälle und Mauern unmittelbar in die blauen Wellen des Letzteren tauchend, liegt Varna, das Odessus der Alten.

Stets ein wichtiger, militärischer Vorposten Konstantinopels in den seit 140 Jahren andauernden russisch-türkischen Kriegen, war Stadt und Festung, nachdem ihre Wälle bei der letzten Eroberung durch Diebitsch und bei dem Bombardement durch Admiral Greigh im Jahre 1828 zerstört worden, in Schmutz und Unbedeutendheit versunken, bis plötzlich die rollenden Donner des orientalischen Krieges sie mit einem Zauberschlag zum wichtigsten Stapel- und Sammelplatz zuerst der türkischen Donau-Armee, dann selbst der westmächtlichen Expeditionskorps machten. Durch die Verdrängung der russischen Flotte aus dem Schwarzen Meere konzentrierte sich der ganze Transport auf Varna; Truppenmassen wandten sich von hier aus nach dem Feldlager des Krieges, Schumla, oder bildeten in weiten Lagerungen um die Stadt eine neue. Kolossale Vorräte aller Art wurden hier aufgehäuft und der breite Golf wimmelte von Kriegs- und Transportschiffen jeder Gattung.

Vom April bis Ende August 1854 war das sonst kaum 16 000 Einwohner zählende Varna eine Weltstadt, in der sich drei Weltteile – Europa, Asien und Afrika – ihr kriegerisches Rendezvous gegeben hatten.

Bereits zu Ende Februar hatten die Sendungen französischer und englischer Truppen nach dem Orient begonnen. Am 20. März wurden auch die ersten afrikanischen Truppen eingeschifft; General Canrobert traf mit Bouat und Espinasse zu Anfang April in Gallipoli ein, was zum ersten Sammelpunkt der anglo-französischen Armee bestimmt war. Der Marschall St. Arnaud, der am 22. April mit einer Proklamation in Marseille den Oberbefehl übernommen, folgte im Mai; Prinz Napoleon, der Vetter und präsumtive Thronerbe des Kaisers, hatte sich, mit einem Divisions-Kommando betraut, am 1. April eingeschifft, war nach Beseitigung der über die Ausweisung der Griechen zwischen dem französischen Gesandten und der Pforte entstandenen Differenzen in Konstantinopel eingetroffen, und hatte den Palast von Defterdar-Burnu bezogen. Von englischer Seite folgten im März Lord Raglan, der britische Oberbefehlshaber, und der Herzog von Cambridge, dem vom Sultan das Palais Tschirigan eingeräumt wurde; in der Mitte des Aprils standen bereits 40 000 Mann englisch-französischer Truppen auf türkischem Boden.

Schon in Gallipoli zeigte sich der große Nachteil, in dem die englische Armee durch die jammervolle Fahrlässigkeit ihrer Intendanzen und Verpflegungs-Kommissariate gegen ihre kriegerischen und gewandten Rivalen sich befand. Die Franzosen hatten rasch die besten Quartiere für sich genommen, während es dem ersten englischen Detachement, das ankam, selbst an Booten zur Landung fehlte. Es klingt unglaublich, aber es ist wahr, daß der englische Konsul in Gallipoli nie Befehl erhalten hatte, für die Unterbringung der erwarteten Truppen Vorkehrungen zu treffen. Wenige Tage früher waren zwei englische Verpflegungsoffiziere, die kein Wort türkisch verstanden, angekommen, um Proviant einzukaufen, das war aber auch alles, was für die Expeditionsarmee geschehen war. Schon damals fingen daher die aufs trefflichste bedienten Franzosen an, mit Spott und Achselzucken auf die Engländer zu schauen und John Bull zu hänseln, was häufig zu ernsten Händeln führte.

Mitte April begannen auch die ersten Translokationen der Truppen nach Scutari, Adrianopel und Varna. Durch die strategischen Operationen der Russen gegen die Dobrudscha und Silistria beunruhigt, sahen die Alliierten ein, daß sie zum Schutz Konstantinopels eine Position einnehmen müßten, um das bereits ziemlich lau gewordene Vertrauen der Türken zu stärken, und Varna wurde als Operationsbasis für alle weiteren Zwecke gewählt. Anfangs Mai trafen englische Sappeurs und Mineurs in Varna ein und steckten ein Lager am Südende der Bucht ab. Am 18. kamen Marschall St. Arnaud und Lord Raglan in Varna an, wo der bereits früher erwähnte große Kriegsrat über den Entsatz von Silistria gehalten wurde. Die Feldherren begleiteten Omer-Pascha nach Schumla, und in der am Bord des Agamemnon, des Flaggenschiffs des Vice-Admirals Sir Edmond Lyons, nach ihrer Rückkehr gehaltenen Beratung wurde zuerst auf die Instruktion des Kaisers, die Expedition nach der Krim beraten und beschlossen.

Tiefes Geheimnis sollte diesen Beschluß begleiten, dennoch war er bald den gewandten griechischen Spionen kein Geheimnis mehr. Freilich hatten sie das Schicksal Kassandras, die auch bei der modernen Iliade nicht fehlen sollte, – die Russen glaubten sich sicher und Sebastopol uneinnehmbar – von der Seeseite. Eine Belagerung zu Lande hielt man für eine Unmöglichkeit.

Im Juni trafen die erste und dritte Division der französischen Hilfsarmee, die Divisionen Canrobert und Prinz Napoleon, zur See in Varna ein. Die Divisionen Bosquet und Forey (die zweite und vierte) folgten auf dem Landwege über Adrianopel.

Mitte Juli standen mit den Türken und Egyptern ungefähr 100 000 Mann in Varna. Die Engländer hatten ein festes Lager bei Dewno an der Straße nach Schumla und auf der Südseite des Golfes bezogen, die Egypter und Baschi-Bozuks lagerten neben den Zuaven auf dem Campo und das Hauptkorps der Franzosen hinter dem alten Wall der Festung.

Ein Treiben, wie die bewegteste Phantasie es sich nicht zu malen vermag, herrschte am Nachmittag des 20. Juli in den Straßen, Gassen und Gäßchen von Varna und auf dem Spiegel des Golfs. Eine starke Eskadre der ankernden Kriegsschiffe machte sich offenbar fertig, in See zu gehen und nahm Munition und Wasser ein. Am Dewno-Kai wimmelte es von Matrosen und Mariniers, Soldaten und türkischen Lastträgern, Pferden, Kamelen und Maultieren. Bergehoch waren hier die Munition, die Tornister, die Brotsäcke aufgetürmt. Angebundenes Schlachtvieh brüllte und blökte, betrunkene Matrosen standen und lagen überall im Wege, jeden mit Grobheiten traktierend, der in ihre Nähe kam, schreiende Griechen, plaudernde und lachende militärische Flaneurs, marschierende Kolonnen, Araber und Lasttiere aller Art. In den Straßen, die zum Staunen der gläubigen, über solche Neuerungen die Augen zu den sieben Himmeln aufschlagenden Muselmänner, von den Franzosen rasch mit Namen und Nummern versehen worden, war die Bewegung und das Gedränge nicht minder groß. Der Spahi mit seinem abenteuerlichen afrikanischem Kostüm und dem wehenden Mantel, der Araber mit seinem schmutzigen Burnus, den nackten Beinen und dem gelben, durch einen Strick um den Kopf befestigten Tuch; die englischen Uniformen, rot mit blauen Pantalons, mit den steifen, erstickenden Halsbinden und den hohen Bärenmützen, die Franzosen mit den leichten Kaskets, die sie auf Befehl des Marschalls schon in Gallipoli gegen die schweren Tschakos vertauscht hatten, blau oben, rot unten; der Gamin der Armee: der Zuave mit den weiten, türkischen, roten Pantalons, dem koketten Jäckchen und bloßem Halse und dem langen, blauen Schweif am großen Fez; Marketenderinnen in ihrer kecken, zierlichen Tracht; griechische Kaufleute und bulgarische Ochsentreiber mit den quietschenden und knarrenden Wagen; Stabsoffiziere zu Pferde; die irregulären Egypter in ihren Hosen und Jacken von gelb, rot oder weiß gestreiftem Kattun, die wie ein wandelnder Bettüberzug aussahen; Juden und Maultiere, Jäger von Vincennes und Bergschotten, faule Moslems, die Hände auf dem Rücken, den langen Tschibuk hinter sich her schleifend; Baschi-Bozuks in ihrer malerisch-wilden Tracht; Matrosen in den Rinnsteinen, lachende Midshipmen, Mohren, Araber, Europäer, Nord- und Südländer, der Hut neben dem Turban, der Helm neben der braunen bulgarischen Pelzkappe, Filz und Seide, Gold, Tuch, Silber, blinkende Waffen, Pferde, Esel, Kamele, zwanzig Sprachen durch einander – das war das Babylon von Varna!

Welche Feder vermöchte die bunten Szenen zu malen! Dort die beiden Zuaven, die lachend, den Fez schief auf dem Ohr, zum Tor hineinschreiten, jeder in der Hand ein großes Huhn, während hinter ihnen schreiend und gestikulierend der Grieche herrennt, mit den vierzig Sous nicht zufrieden, die sie ihm als Kaufgeld oktroyiert haben; – vor einer der zahllosen, rasch in den Straßen voll Knoblauchsgeruch, Staub und Schmutz etablierten offenen Schänken ein halb Dutzend französischer Offiziere und Unteroffiziere mit dem Frühstück aus freier Faust, der Wurst, dem Zwieback und dem Gläschen Absynth oder Wermut; – ein betrunkener englischer Matrose mit einem Soldaten der irländischen Brigade zusammenrennend und Pat im nächsten Augenblick im derben Handgemenge, während die Franzosen einen Kreis um beide bilden lassen; – der türkische Philister, neugierig zuschauend, bis er bei einer falschen Bewegung des Trunkenen selbst einen heftigen Faustschlag ins Gesicht bekommt, worauf beide Kämpen gemeinsam über ihn herfallen und das lange Rohr seines Schibuks auf seinem Rücken zerschlagen; – auf eine Araba, die nicht durch das Gedränge kann, klettern vier Chasseurs d'Afrique und ziehen ein schmutziges Spiel Karten hervor, mit dem sie, trotz aller Protestation des Fuhrmanns, eine Spielpartie dort etablieren; – um die Garküche des Türken, der mit seiner einfachen Dampfmaschine Hammelschnitte am hölzernen Spieß brät, eine Reihe Rotjacken, hungrigen Blickes auf das Garwerden des Bratens harrend, denn das Brot, welches die englische Bäckerei liefert, ist nur halb gebacken und ungenießbar; – die Menge plötzlich rechts und links auseinander drängend: eine Kolonne, die vom Exerzieren kommt, – eine Wache des Profoß mit zwei gefangenen, französischen Voltigeurs, die mit Gewalt in ein bulgarisches Haus eingedrungen sind, hinter dessen Jalousieen sie ein Paar Mädchenköpfe bemerkt haben, ein seltener Artikel jetzt in Varna; – oder gar vier Krankenträger mit zwei verhüllten Bahren, von Schildwachen begleitet, auf dem Wege zum Lazarett. –

» Fi donc! Le choléra! – De quelle troupe les malheureux, mon brave?«

» Des huzards!«

» Merci! Place, Messieurs, pour les malades!«

Der Zuave stößt den langen Engländer bei Seite, der sich mit einer gewissen Unbehaglichkeit den Leib hält.

» Damn your eyes!«

»Beliebt, Herr Kamerad?«

» No!«

Lachend, tobend drängt die Menge hinter dem Krankenzug wieder zusammen, der nahe Tod ist vergessen, solange voll das Leben pulsiert. Auf dem Tschardak eines Hauses kramt ein armenischer Handelsmann sein Bündel aus, Pfeifenköpfe, Rosenöl, Filigranarbeiten, Wundpflaster und schlechte Seidentücher. Seine gewandte Zunge preist sie in einem Gemisch aller Sprachen den umdrängenden Flaneurs an. Ein englischer Dragoner, der seinen letzten Sold noch in der Tasche hat, kauft fünf Flaschen von der Rosenessenz, die Adrianopel nie gesehen. Die vergoldeten, in Böhmen gefertigten Flakons verlocken ihn und er will sie nach Hause schicken. Einstweilen vermehrt er sein Gepäck damit, das ohnehin 82 Pfund wiegt. Ein Sürüdschi, mit dem Kourier von Schumla sich Bahn brechend durch das Gedränge. »Wo ist der Konak des Pascha?« – »Bilmem!« – ich weiß nicht – mit »Olmas« – es gibt nichts, kann nicht sein – die ewige Antwort der Türken! – an einer Ecke eine Gruppe Moslems und Engländer, auf das schauderhafteste die beiderseitigen Sprachen in aller Höflichkeit mißhandelnd, das »Bono Johnny« oder »Francis bono« an allen Enden und wo es ungehört geschehen konnte, ein »Pesevenk Giaurs« oder ein giftiges Ausspucken hinterdrein – das war Varna im Sommer 54, und Sapristi! Marschall Saint Arnaud mit seinen pomphaften Proklamationen von künftigen Siegen oder Nimmer-Heimkehr hielt verdammt wenig Ordnung in diesem Gewühl!

Im Tschardak » Restaurant des officiers,« wie sich pomphaft mit langen Buchstaben eine der schnell etablierten Garküchen in der großen Korso-Straße nannte, drängte es sich von ab- und zugehenden Offizieren aller Waffengattungen. Ebenso im Innern, wo vor ziemlich schmutzigen, rings umher laufenden Rohrbänken Tische standen, die mit französischem Luxus serviert und von zwei gewandten Garçons bedient waren, wenn auch die Speisekarte fast so mangelhaft wie die Speisen selbst blieb.

Die Unterhaltung flog von Tafel zu Tafel und jeder der Neueingetretenen gab ungeniert seinen Teil dazu.

Eine laute, lärmende Gesellschaft saß in der Mitte des Zimmers.

»Erzählen Sie, Ducru. Also ein Kleeblatt von Jeanne d'Arcs in Konstantinopel, und wir werden sie hier sehen?«

»Wie heißen sie? Wer ist die dritte? das Journal de Konstantinople spricht ja Wunderdinge von ihr.«

»Von der Gräfin Zamoyska haben Sie bereits gehört. Parbleu – vor zwanzig Jahren mochte sie passieren, jetzt ist sie in der Zeit, wo das Totgeschossenwerden ein Glück für sie sein könnte.«

»Lassen Sie das dem Kapitän Wisimski nicht hören, Vantourin, er war in Galizien einer ihrer alten Courmacher.«

»Bah – sie ist eine aufblühende Rosenknospe gegen den Drachen, die Prinzessin Kirajia Dscheladulha, eine alte kurdische Hexe, die mit 200 Spitzbuben vom Ararat gekommen ist und sich berufen glaubt, das Reich Mahomeds zu retten. Sie trägt nicht einmal einen Schleier, so sicher ist sie ihrer Tugend, und sitzt auf dem Pferde wie ein kranker Affe.«

»Aber die dritte! – sie soll jung und schön sein, und Gott verdamm' meine Augen, wie unsere lieben Alliierten zu sagen pflegen, wir leiden hier abscheulichen Mangel an Damen.«

Der junge Sousleutnant kräuselte sich schwermütig den Bart.

»Sie können ebenso gut einer mit Kartätschen geladenen Batterie in die Mündungen sehen, Villard,« lachte der Erzähler, »als in die Augen dieses kleinen Teufels, das einzige, was aus der Umhüllung des widerlichen Yaschmaks zu sehen ist.«

»Aber woher weiß man da, daß sie jung und schön ist?«

»Alle Welt in Konstantinopel sagt es. Sie war erst acht Tage vorher mit ihren hundertundfünfzig Arnauten eingetroffen. Sie soll die Tochter eines verstorbenen Paschas sein und sehr reich, denn sie erhält ihre Schar aus eigenen Mitteln.«

»Ihr Name?«

»Sie nennt sich bloß die Rächerin!«

»Bah – eine Komödiennärrin! Und sie kommt hierher?«

»So hörte ich.«

»Da ist der Adjutant! Willkommen, Bertholin – was neues?«

»Der Briefsack ist eben mit dem ›Roland‹ angekommen, der die dritten von den Zuaven gebracht hat. Hier, einige Briefe für sie.«

»Geben Sie her. – Peste! – Das ist von der kleinen Clairon im Varieté, sie schreibt immer mit gelbem Kuvert.«

»Mir den Charivari!«

»Eine Nummer des Moniteurs – will niemand?«

»Ah bah – wir lesen der offiziellen Albernheiten genug in den Proklamationen des Marschalls.«

»A propos – ist es wahr, daß eine Ordre wegen der Brunnenvergiftungen erlassen ist? Das Wasser ist so verteufelt schlecht, daß man wahrhaftig daran glauben sollte.«

»Drum trinken Sie auch nur Bordeaux, Kommandant.«

Der ziemlich korpulente Bataillonschef faßte sich an die rote Nase.

» Diantre, er ist nur so abscheulich teuer in diesem verfluchten Nest!«

»Hat jemand von Ihnen den Kapitän de la Tremouille gesehen?« fragte der Adjutant, »hier ist ein Brief für ihn.«

»Er ist heute morgen an der Cholera gestorben,« sagte eine Baßstimme am Nebentisch. »Leutnant Walton machte ihm Platz im Lazarett.«

» Peste – diese Lazarette, man bekommt das Fieber, wenn man daran denkt.«

»Neuigkeiten von Paris? Leblanc, ich beschwöre Sie, was sagt man im Foyer der Oper?«

An den Krieg, an den bevorstehenden Feldzug dachte kein Mensch.

»Es ist allerdings der Befehl gegeben,« erzählte der Adjutant, »daß kein Grieche oder Türke sich den Brunnen im Innern der Stadt nähern darf. Schildwachen sind ausgestellt und haben Ordre, in der Nacht auf jeden zu feuern, der nicht zu den Truppen gehört. Man hat in dem einen an der kleinen Moschee Choleraleichen gefunden.«

»Pfui! – Mir wird übel werden, wenn ich noch einmal Wasser ansehe.«

»Roqueplan (damaliger Unternehmer der großen Oper) hat in der Tat mehr Glück als Verstand – der Kaiser bezahlt nochmals die Schulden, und er soll Direktor bleiben. Das hat er der Cruvelli zu danken, die mit Fould gut steht.«

»Hören Sie – Barthelemi hat wirklich vom Sultan eine Dose mit Brillanten bekommen für das jämmerliche Gedicht im Constitutionel: Das Bombardement von Odessa.«

»Ich wünschte, wir hätten den Versemacher hier, um vor Sebastopol die Melodie zu seinem Opus pfeifen zu hören.«

»Der Moniteur dementiert hier die Nachricht, der Marschall sei zum Generalissimus ernannt. Omer soll in Konstantinopel seine Demission für den Fall verlangt haben.«

» Bêtes! – diese türkischen Dickköpfe begreifen nicht einmal die Ehre, unter den Adlern der großen Nation zu fechten!«

In der Ecke des Gemaches, an einem kleinen, runden Tische, saß der Leutnant Colonel Vicomte de Méricourt mit einem Offizier in Husarenuniform bei einer Flasche Bordeaux. Der Colonel führte sichtlich zerstreut das Gespräch, seine Miene war ernst und nachdenkend und seine Blicke musterten häufig forschend die Eintretenden, gleich als erwarte er jemand.

»Graf Branicki,« erzählte der Husarenoffizier, »reist morgen nach Konstantinopel ab, um mit dem ersten Dampfer nach Marseille zu gehen. Der Prinz sendet ihn, um dem Bericht des Marschalls das Paroli zu bieten.«

»Ich hörte von den neuen Zwistigkeiten, aber nicht den Grund, Sazé

»Bah, Freund,« lachte der frühere Flaneur, »was wollen Sie noch für einen Grund? Seit der Marschall Konstantinopel betreten, zanken sie sich. Der Empfang des Sultans mag ein solcher Grund sein. Der Prinz ist bequem und der Marschall schikaniert ihn.«

»Aber die Veranlassung der neuen Szene?«

»Der Prinz nahm sich Bosquets an bei einem Widerspruch, und es soll zu sehr anzüglichen Worten gekommen sein. Er kam mit rotem Kopf zurück und ließ selbst das Diner stehen, was bei ihm viel sagen will. Er schloß sich sofort mit dem Grafen ein und die Reise desselben ist das Resultat.«

»Haben Sie etwas über den heutigen Kriegsrat gehört?«

»Er kann erst jetzt zu Ende sein – offenbar die Expedition von Canrobert und Sir George Brown. Ich fürchtete schon, man hätte Sie mit kommandiert.«

»Es gehen nur reguläre Truppen; aber die geringe Zahl ist auffallend.«

»Zwölftausend Mann – Regimenter der Division Bosquet und Engländer.«

»Damit kann man unmöglich einen Angriff gegen Sebastopol wagen!«

»Alle Welt sagt's – es ist ein lautes Geheimnis.«

» Bon jour, Kommandant!« grüßte ein hinzutretender Ingenieur-Kapitän. » Diantre! ich habe heute morgen Ihre orientalischen Spahis exerzieren sehen, wie der Marschall unsere metamorphosierten Bozuks benennt, und ich muß Ihnen mein Kompliment machen, Sie haben merkwürdiges in den zwei Wochen geleistet.«

»Der Mann, der Ihnen bei Arab-Tabia die Mine gesprengt, Kapitän Depuis, ist einer meiner besten Unteroffiziere oder On-Baschis, wie es heißt. Ich verdanke seinem Eifer viel.«

»Ich erinnere mich – ein Mohr – sein Gefährte verunglückte in der Mine. Das ist eine schwarze Krähe unter den Geiern, – Sie werden des Gesindels genug haben füsilieren lassen, ehe sie gehorchen lernten.«

»Sie erinnern mich mit dem Worte an ein trauriges Thema – haben Sie von dem deutschen Arzt gehört?«

»Doktor Welland – mein Reisegefährte von Widdin? – was ist's mit ihm – an der Cholera gestorben? ich hörte eben vom Santerre aus dem Bureau des Oberstabsarztes, daß wir täglich an fünfzig Tote zählen.«

»Die Engländer fünfzig Prozent mehr,« warf ein Kapitän der Artillerie ein, der dicht daneben ein Huhn verspeiste. »Eine Schlacht mit den Russen könnte kaum so aufräumen, wie wir in der letzten Woche dezimiert worden sind.«

»Schlimmer, als das, Depuis – Sie scheinen also nicht zu wissen, daß in diesem Augenblick Kriegsgericht über ihn gehalten wird?«

» Fichtre! Warum? Ich komme vor einer Stunde erst von Baltschik, wo ich fünf Tage Gurken mit Hammelfüllsel gefressen.«

»Eine unglückliche Denunziation – man behauptet, er habe in Silistria mit dem Feinde korrespondiert – es sollen Briefe mit seiner Adresse aufgefangen sein.«

» Ce serait bien le diable! Ich kann es kaum glauben.«

»Ich auch nicht – ich sah den Mann in seiner Pflichterfüllung und lernte ihn achten. Aber ein unglückliches Zusammentreffen von Umständen verbündet sich gegen ihn.«

»Wer bildet das Kriegsgericht?«

»Leider die Türken – er steht in türkischem Dienst. Es sind zwar ein französischer und ein englischer Beisitzer zugezogen auf Bestimmung des Marschalls, sonst aber blieb alles Sali-Pascha überlassen und dieser ist ein eingefleischter Türke.«

»Wer bestimmte den französischen Offizier?«

»Bosquet. Ich bat ihn persönlich, mich zu kommandieren, da ich in Silistria gewesen. Aber er schien seltsamer Weise ein Vorurteil gegen den Angeklagten zu haben, denn als er sein Notizbuch nachgesehen, schlug er es rund ab.«

»Kennen Sie die politische Gesinnung des Deutschen?«

»Wieso?«

»Der General, so heißt es, ist Republikaner.«

»Das sind auch andere, aber der Arzt ist zu unbedeutend, um irgend politische Antipathien auf sich gezogen zu haben. Ich weiß nicht, wie. – Endlich, Kapitän Morton

Der Engländer, dem dieser Zuruf galt, und dem wir in Silistria schon begegnet sind, war hastig in das Haus getreten und hatte sich suchend umgeschaut. Sein Blick war finster, sein Gesicht zeigte deutlich Aufregung. Er trat hastig zu dem Tisch.

»Nun, Herr Kamerad – welche Nachricht?«

»Er ist verurteilt und soll morgen früh erschossen werden.« – Er stürzte ein großes Glas Rheinwein hinunter. – »Goddam! mein eigenes Zeugnis hat den Ausschlag gegeben.«

»Ich bitte, erzählen Sie!«

»Verdammt! daß ich es sagen muß, aber wir haben dem Doktor den Ankläger selbst zugeführt. – Sie erinnern sich meines Landsmannes, des Baronet Maubridge, Vicomte. Er ist es, der aus einer mir unbekannten Ursache den Mann verfolgt und denunziert hat. Er hat Briefe übergeben, die unzweifelhaft beweisen, daß eine verräterische Verbindung aus Silistria mit den Russen unterhalten und der Feind vielfach von dem Zustand der Festung und den beabsichtigten Ausfällen unterrichtet worden ist.«

»Aber das ist noch kein Beweis, daß der Doktor darum gewußt hat. Daß es an Spionen in Silistria nicht fehlte, ist eine bekannte Tatsache.«

»Der Baronet behauptet, daß er die Briefe am Abend des 13ten, – Sie erinnern sich der Minensprengung am andern Tage und des großen Ausfalles, bei dem General Schilder fiel – selbst dem Knaben abgenommen habe, der für Mussa-Pascha mehrfach Spionendienste verrichtete. Der Knabe ist entflohen oder befreit worden, – aber Sie wissen, daß er sich während der Anwesenheit in der Festung bei Welland aufhielt.«

»Spione dienen häufig beiden Parteien,« bemerkte Depuis.

»Der Hauptbeweis ist leider ein Brief, der an den Doktor selbst gerichtet und von einem Offizier aus dem Stabe Gortschakoffs unterzeichnet ist. Er spricht ganz klar von einer früheren Befreiung des Schreibers aus türkischer Gefangenschaft durch den Arzt, von einem fortbestehenden Einverständnis, und der Angeklagte hat ihn anerkennen müssen.«

»Der Unglückliche!«

»Er weigert jede nähere Auslassung über das Verhältnis, in dem er zu dem Schreiber steht, beteuert aber mit seinem Ehrenwort, daß er nie eine seine Pflicht verletzende Mitteilung gemacht, und daß der Brief auf unbekanntem Wege ihm zugegangen und durch seinen Diener auf der Schwelle seiner Wohnung vorgefunden sei.«

»Hat man den Diener gefragt?«

»Der junge Mohrenknabe ist seit der Verhaftung seines Herrn verschwunden und nicht aufzufinden. Es wurde leider durch Zeugen bewiesen, daß der Doktor nach seiner Ankunft von Silistria in Varna mit Griechen verkehrt hat, die in begründetem Verdacht der Verräterei stehen und von der Polizei des Paschas verfolgt werden.«

»Aber Ihre eigene Aussage, Kapitän?«

»Sie erinnern sich des Wortwechsels mit meinem Landsmann kurz vorher, ehe Mussa-Pascha fiel. Ich mußte zugeben, daß bei dem nächtlichen Ausfall am 28. Mai, als ich Kiriki-Pascha aus dem Getümmel brachte, und die Russen uns überfielen, ein feindlicher Offizier, derselbe, der den Brief geschrieben, den Doktor und mich aus den Händen seiner eigenen Leute befreite und entkommen ließ.«

»So wäre der Unglückliche wirklich verloren – ich weiß nicht, es sträubt sich ein Gefühl in meinem Innern, an seinen Verrat zu glauben.«

»Dasselbe ist bei mir der Fall. Ich schulde ihm eine Freundlichkeit von Paris, die Rettung in jener Nacht, und es ärgert mich, daß ich seinem Feinde selbst die Gelegenheit geboten. Ich habe dem Baronet meine Erklärung gemacht und erwarte seine Botschaft.«

»Ich stehe in jeder Beziehung zu Diensten. Wohin hat man den Doktor gebracht?«

»Er wird im Hause Sali-Paschas gefangen gehalten, nahe an dem großen Magazin. Man hat mir den Zutritt verweigert.«

»Wäre Canrobert nur hier! – doch er ist bereits nach Baltschik aufgebrochen. Vor allem müssen wir Aufschub der Vollstreckung erlangen, – eilen Sie beide zu Ihren Freunden, ich werde den Prinzen für den Unglücklichen zu interessieren suchen.«

»Zum Henker, Kommandant,« sagte eine Stimme neben ihnen, »ich suche Sie seit einer Stunde. Ordre im Dienst!«

»Zu Ihren Diensten, Kapitän Marcell!«

»Soll mich freuen, Kommandant, denn ich habe gern brave Kameraden neben mir. Aber sputen Sie sich, unsere Brigade ist die erste. Wir sollen dem Prinzen um zwei Etappen voraus sein und Oberst Bourbacki mit seinen Zuaven ist schon aufgebrochen. Sie wissen, der tolle Afrikaner duldet keine Verspätung. Au revoir unterwegs, Kamerad!«

Der Vicomte hatte unterdes die Ordre gelesen.

»Heiliger Gott! – ich muß in einer Stunde mit meinen Spahis auf dem Marsch sein. Der Ärmste! – Doch halt, Sazé, Sie müssen meine Stelle vertreten und dem Prinzen die Bitte vortragen – es gilt ein Menschenleben.«

»Ich bin zu Ihrer Verfügung und werde tun, was ich vermag.«

»Kommen Sie eilig, Kapitän Morton und Depuis begleiten uns; ich muß meine Befehle geben und unterwegs hören Sie das weitere.«

Sie verließen hastig das Restaurant, doch war es kaum möglich, vor dem Tschardak sich durchzudrängen. Die Korsostraße herauf von dem Dewno-Kai her wogte es in dunklem Gedränge – Militärmusik, das donnernde » Vive l'empereur!« aus tausend kräftigen und durstigen Kehlen. Dann klang es lustig, trotz Staub und Hitze:

As-tu vu
La casquette,
La casquette?
As-tu vu
La casquette
Du père Bugeaud?

– das Marschlied der Zuaven; das erste Bataillon des dritten Zuaven-Regiments aus Algier, soeben ausgeschifft, rückte in die Festung, um jenseits das Lager zu beziehen.

Das Interesse des Kommandanten wandte sich unwillkürlich dem militärischen Schauspiel der stattlichen Truppe zu, in deren Reihen er selbst seine Sporen verdient, als Leutnant unter Canrobert bei der Belagerung von Zaatcha und im Aurasgebirge gefochten hatte.

Der Leser erinnert sich, daß der Vicomte am Morgen jenes Tages, an dem er den Besuch der Fürstin Iwanowna empfing, seinen Abschied eingereicht hatte, und daß dieser durch das Verschwinden des jungen Fürsten unnötig gemacht worden. Bei Beginn des Krieges hatte der Vicomte um seine Versetzung aus dem Stabe des Kaisers zur aktiven Armee gebeten und war zum Kommandanten des zweiten Bataillons des dritten Zuaven-Regiments ernannt worden. Verschiedene Kommandos beim Einschiffen der Truppen, nach Silistria und zuletzt zur Organisation der Baschi-Bozuks durch die Generale Yussuf und Beatson, hatten jedoch bis jetzt seinen Eintritt in das Regiment verhindert, und er begrüßte es nun zum ersten Male auf türkischem Boden.

Die Stabsmusik voran, das Trommlerkorps seinen Marsch schlagend, Gamins von den Straßen der Hauptstadt, denen selbst das freie Leben im Antoine noch zu ruhig gewesen, und die den Eltern und Lehrherren davon gegangen, jetzt dem Stabe des bärtigen, riesigen Tambourmajors folgend. Hinter der Musik die vier Marketenderinnen des Bataillons, drei junge, frische Frauen mit kecker Grisettenmiene und eine ältere, den Fez der Zuaven auf dem braunen, kurzgeschnittenen Haar, blanke Tressen auf dem koketten, blauen Jäckchen, das lose um die Brust saß, und um den kurzen Rock von gleicher Farbe, unter dem die roten Beinkleider hervorbauschten, – jede das bekannte Fäßchen auf dem Rücken, die Freudenspenderin der Soldaten. Und hinter den kecken Dirnen, die so oft im blutigen Schlachtgewühl zwischen Pulverdampf und dem Pfeifen der Kugeln ihren Freunden den letzten Labetrunk gereicht, der Oberst des Regiments mit seinen Adjutanten zu Pferde, die Offiziere, die lange Reihe bärtiger, lustiger Gestalten in der kecken Nonchalance der französischen Marschhaltung, den Fez hinten auf das Ohr geschoben, das Gewehr leicht im Arm, den hellblauen Shawl mit unbeschreiblichem Aplomb um die Hüften geschlungen, an der Seite Scheersack und Proviantbeutel, auf dem Rücken den Tornister, auf dem, mindestens einmal im Zuge, die Katze kauerte, Mademoiselle Minette, der Liebling und Vorkletterer der Kompagnie, der bissige, boshafte wachehaltende kleine Teufel, der die Kabylen auf 500 Schritt zu wittern verstand.

Der Vicomte sprang an das Pferd des Obersten, ihn zu begrüßen.

»Willkommen, Kommandant! Ich habe Ihr Bataillon offen gehalten, und Sie können eintreten, sobald es morgen mir folgt. Du Moulin führt es unterdeß.«

»Nichts wäre mir lieber, Oberst,« berichtete eilig der Offizier, »aber ich bin noch kommandiert zu General Yussuf und seinen türkischen Spahis, und in einer Stunde marschieren wir nach der Dobrudscha.«

»Fatal! – vielleicht, daß wir Ihnen folgen müssen. Auf Wiedersehen also vor den Russen, Méricourt!«

Dieser trat zurück.

» Bon jour, Commandant! Avez-vous oublié la petite vivandière de Marseille?« fragte eine freundliche Stimme neben ihm.

Es war die Marketenderin vom Quai der Hafenstadt.

»Nini Bourdon?«

» C'est ça, mon Commandant. Ich sehe, Sie haben meinen Namen behalten. Mein Bruder marschiert in der zweiten Kompagnie.«

»Und der arme Irre, Dein Vetter?«

»Er bewacht mein Gepäck im Nachtrab. Au revoir, Monsieur – ich muß in meine Reihe.«

Sie sprang davon. Der Vicomte mit seinen drei Gefährten eilte weiter.

»Merken Sie auf, Sazé, das war die Marketenderin, von der ich Ihnen sprach. Der Mensch, der eine so seltsame Ähnlichkeit mit Fürst Iwan hat, folgt ihr, wie sie sagt. Auf meine Ehre, dort ist er – blicken Sie hin, der blasse Bursche da auf dem Maultier, ein zweites führend.«

»Wahrhaftig – die Ähnlichkeit ist erschreckend.«

»Die Zeit drängt – lassen Sie uns eilen.«

»Einen Augenblick noch,« bat Depuis. »Ich höre soeben, daß eine Abteilung Tunesen und die beiden Amazonen folgen, die in Konstantinopel mit ihren Freischaren Aufsehen gemacht haben.«

»So leben Sie wohl, der Dienst ruft mich. Sie wissen, was zu tun ist, und der Himmel möge Ihren Schritten Erfolg geben.«

Der Vicomte drängte davon durch den Menschenstrom, den die Neuigkeit von der Ankunft der Freischar herbeizog. Die anderen Drei verweilten, um das Schauspiel zu sehen und den Zug vorüber zu lassen; – zunächst die Mohren von Tunis, die ersten Hilfstruppen, die der Bey gesandt, und deren man sich in Konstantinopel sobald als möglich entledigt hatte, wilde Gestalten, die Mordlust und Zügellosigkeit in den gelben Augen, auf den schwarzen, braunen und gelben Gesichtern, eine Horde, die die Hölle selbst losgelassen zu haben schien. – Dann das wilde Spiel der Zinke und der Trommel, eine gedrängte Schar prächtig ausgestatteter Reiter in der bunten albanesischen Tracht, die lange Flinte auf dem Rücken oder die Lanze in der Faust, kühne, stolze Gesichter. Und zwischen den bunten Albanesen die finsterblickenden, dunklen Söhne eines andern Weltteiles, die Kinder des Ararats: die Kurden, bronzefarbene Gesichter und Körper, eine rote Jacke, welche die sehnigen Arme fast bloß ließ, dunkle Beinkleider bis zum Knie, die hohe Mütze von schwarzem Lammsfell auf dem Kopf, den dunklen Filzmantel um die Schultern, mit Flinte, Yatagan und Lanze bewaffnet.

Vor diesem gemischten, seltsamen Haufen zog eine Gruppe her, die aus drei Personen bestand und die allgemeine Aufmerksamkeit erregte, die sich bei den Franzosen sofort in mancherlei spöttischen Akklamationen kund gab.

Die Mitte nahm, auf einem Kameel reitend, ein alter, schmutziger Derwisch ein, in grauer Kutte mit nackten Beinen, nach der näselnden Manier der Orientalen Sprüche aus dem Koran laut hersagend, während er die Kugeln seines Rosenkranzes mit rapider Schnelligkeit durch die Finger gleiten ließ. Ihm zur Linken ritt die kurdische Prinzessin, deren Fanatismus die Prophezeihung von einer Jungfrau, die das türkische Reich und den Islam erretten werde, in Bewegung gesetzt hatte. Aber die Jungfrau war längst zur runzligen alten Jungfer geworden, und ihre etwas bucklige Figur und der ziemlich komische Aufzug, in dem sie auf ihrem Pferde saß, erregte das Gelächter der europäischen Truppen. Die reine Jungfrau trug, wahrscheinlich in dem Glauben, daß die Russen vor seiner Holdseligkeit davonlaufen würden, ihr Antlitz unverhüllt, schien sich aber gewaltig über die frechen Blicke der Männer zu ärgern, die von allen Seiten auf ihr ruhten. Sie mochte bereits einige fünfzig Jahre zählen, war klein und mager und nie ohne ihren Adjutanten, den alten schmutzigen Derwisch, zu sehen. Später, da sie allerlei Ansprüche machte und den türkischen Behörden lästig zu werden begann, schoben diese sie bei Seite, ja, man erzählt, daß Omer-Pascha die alte Närrin ohne weiteres auf ein Schiff packen und in Trapezunt ans Land setzen ließ, ihre rüstigen Krieger aber weislich unter seiner Reiterei behielt.

Ein höheres Interesse fesselte die Zuschauer jedoch an die dritte Figur der Gruppe, die geheimnisvolle Reiterin, von der Kapitän Ducru erzählt. Ihre Figur war schlank und ebenmäßig und saß fest und sicher im Sattel, nicht hockend und plump, wie die türkischen Frauen gewöhnlich zu reiten pflegen. Ein Yaschmak von feiner schwarzer Spitzengaze verhüllte zwar ihr Gesicht nach muselmännischer Sitte, doch bewies der sichtbare Teil der Nase und Stirn und das feuersprühende, dämonisch dunkle Auge, daß die Fremde jung und schön sein mußte. Sie führte mit sicherer Hand das feurige arabische Roß, das sie ritt; ein halb offenes Oberkleid von braunem Tuch mit dunklem Pelz besetzt und weite Beinkleider, von gleichfarbiger Seide bis auf die zierlichen Knöchel herabfallend, bildeten ihren Anzug. Ein reich verzierter Säbel hing an ihrer Seite, Pistolen waren in ihrem breiten Shawlgürtel.

An der Seite des Pferdes schritt, unbekümmert um das Menschengewühl, ein großer Molosserhund.

Das spöttische Gelächter, der höhnende Zuruf, der zuerst ihre beiden Gefährten begrüßt hatte, verstummte, als sich aller Augen auf die dunkle Reiterin wandten. Bald murmelte es durch die Menge: » La Vengeresse, la Vengeresse!« und je weniger die Zuschauer von der Benennung verstanden, desto höher schwoll das Interesse und brach alsbald in einen stürmischen Hurrahruf aus.

Die Türkin schien mit derselben Gleichgiltigkeit und Verachtung auf die Beifallrufenden zu schauen, mit der sie vorhin ihren Hohn und Spott aufgenommen. Plötzlich aber zuckte es wie ein elektrischer Funke durch ihren ganzen Körper. Sie preßte ihrem Roß die scharfen Spitzen der Bügel in die Flanken, daß es sich hoch bäumte, drehte es sicher auf den Hinterbeinen um und setzte mit einem Sprung auf die Menschenmauer zu, die erschrocken auseinander stob.

Das Pferd mit seiner wilden Reiterin hielt dicht vor zwei Armeniern, die in ihre weiten, schwarzen Talare gehüllt, das Barett tief in die von dunklen Bärten halb verdeckten Gesichter gedrückt, zuschauend unter der Menge gestanden. Mit einem seltsamen Gemisch von Entsetzen und Aufregung blickte der Jüngere auf die Amazone, während der Ältere ihn fortzuziehen sich bestrebte.

Nur einen Augenblick dauerte die Szene. Das Weib auf dem Pferde hob wie warnend die Hand und sagte langsam und deutlich: »Die Reihe ist an Dir, hüte Dich, Nicolas Caraiskakis!« und im nächsten Moment schon lenkte sie ruhig zurück in die Reihe und ritt weiter, als sei nichts geschehen, und als habe ihr Roß nur durch Zufall gescheut, und der Menschenstrom um sie her schloß sich alsbald wieder.

Die Hand des ältern Armeniers aber zog den Erkannten mit sich fort aus dem Gedränge in die nächste enge Quergasse, durch einen kaum mannsbreiten Durchgang, und weiter, bis sie in die Griechenstadt kamen und zu der halbverfallenen Mauer eines Hofes. Auf ein eigentümliches Klopfen wurde die Tür von innen geöffnet und beide traten in den engen Hof, aus dem sie durch einen langen Gang in das von der Straße gleichfalls durch Mauer und Tor abgesonderte Vorderhaus gelangten.

In einem Gemach zu ebener Erde, das an den Fenstern stark vergittert war, hielt endlich der Ältere an und wandte sich zu dem Mann, der ihm geöffnet.

»Rufe Geurgios und wer sonst von den Brüdern im Hause ist.«

Dann, während der Diener sich entfernte, wandte er sich an seinen Gefährten.

»Das Weib erkannte Dich trotz der Verkleidung. Wer ist sie?«

»Fatinitza – die Wölfin von Skadar – die Tochter Selim-Beys, des verstorbenen Paschas von Skadar.«

»Ich habe von dem Knaben Mauro manches gehört von dem Charakter dieser Frau und Deinem Verhältnis zu ihr, während Dein Mund gegen den eigenen Bruder verschlossen blieb. Du hast sie zu fürchten?«

»Sie hat mir Verderben geschworen – in der Kula von Protopapas.«

»Sie möge ihre Macht probieren, – ehe die Sonne aufgeht über den Golf, wirst Du auf den Wellen des Mavri-Thalassah (neugriechische Benennung des Schwarzen Meeres) schwimmen.«

Er legte das Barett, die falsche Haartour mit den langgewickelten dunklen Locken und den Bart ab, – es war Gregor Caraiskakis, der mit dem Bruder gesprochen.

Zugleich traten Geurgios der Fanariot und zwei andere Griechen in das Zimmer mit dem Knaben Mauro.

»Ist Nursah in seinem Gemach?«

Der Knabe bejahte.

»Der Bursche hängt mit Fanatismus an seinem Herrn und hat gedroht, alles zu verraten, ehe er ihn in Gefahr ließe. Die Nachricht, daß der Doktor verurteilt ist und morgen erschossen werden soll, muß ihm verborgen bleiben.«

Es klang wie ein leiser Schrei durch das Gemach, und Caraiskakis blickte sich um, aber es war nichts.

»Die Zeit des Handelns ist für uns gekommen. Höhere und wichtigere Interessen haben mich gezwungen, den Freund in die Gefahr zu bringen, die ihn jetzt bedroht. Fluch diesem Inglis, der ihn und uns verraten. Meine Pflicht ist es jetzt, ihn zu retten, und sei es mit meinem Blute.«

»Was gedenkst Du zu tun?« fragte Geurgios.

»Zuerst die Interessen unseres Glaubens und unsers Vaterlandes! Ich bringe schlimme Botschaft: Hadji Petros ist von Fuad, Zeinel-Pascha und Abdi geschlagen worden. Der General stand mit 4000 tapferen Hellenen bei Kalambaka, Zacco und Katarachia deckten die uneinnehmbaren Pässe von Syrakos. Da sandten die Franken ihre Kommissare zu Zacco, und der Verräter gab ihren Lockungen und Versprechungen nach und räumte die Schanzen. Am andern Tage standen die Moslems vor Kalambaka. Hadji verteidigte es mit viertausend Getreuen fünf Stunden lang gegen Elftausend, – kaum daß er verwundet selbst dem Gemetzel entkam. Sechshundert Christenköpfe schickten die Paschas auf Pferden nach Larissa. Das Kreuz ist in Thessalien gefallen, wie es im Epirus fiel!«

»Und der König? – die Königin?«

»Sie liegen in den Banden der Franzosen und Engländer. Ihre Soldaten stehen im Piräus, ihre Schiffe kreuzen vor unseren Häfen und durchsuchen unsere Fahrzeuge. Spiro Milios ist arretiert und nach Napolis gebracht, weil er dem Schurken Kalergis und den fränkischen Schergen nicht Rechenschaft geben wollte, woher das Geld ihm gekommen, mit dem er unsere Brüder besoldet. Kalergis und Maurokordato rütteln am Thron, die Macht ist in ihren Händen, unsere Freunde werden in den Kerker geworfen, der König, die Königin werden offen beschimpft und verhöhnt, unsere Presse ist unterdrückt, und der britische und der französische Gesandte gebieten an der Akropolis.«

»Christen gegen Christen! Fluch ihnen, die uns bei Navarino geködert, nachdem unsere eigene Kraft die Fesseln gebrochen hatte.«

Ein trauriges Schweigen folgte den Mitteilungen. Gregor nahm zuerst wieder das Wort.

»Das Unglück darf uns nicht entmutigen, – wir sind Kinder des Schmerzes und mit dem Kampf gegen die Tyrannei großgesäugt. Unsere Hoffnung richtet sich nach Norden, und ob Ströme von Blut fließen, die Söhne der Hetäre, die Kinder der Elpis werden nicht ermüden in dem Kampf. In dem heutigen Kriegsrat unserer Bedrücker – denn der Franzose und der Engländer sind jetzt so gut der Feind unsers Volkes und Glaubens wie der Moslem selbst – ist Wichtiges beschlossen worden. General Espinasse mit drei Divisionen wird einen Zug nach der Dobrudscha unternehmen. Die Führer außer ihm sind der Araber Yussuf, General Bosquet und der Prinz selbst. General Lüders muß sofort durch einen Boten benachrichtigt werden, denn ein Teil der Truppen ist bereits auf dem Marsch.«

»Mauro soll sich bereit machen.«

»Die Flotte segelt morgen ab, 12 Linienschiffe und 6 Fregatten. Sie wird in Baltschik anlegen, um den General Canrobert und Sir George Brown einzuschiffen.«

»Aber das Geheimnis ihrer Bestimmung – so gilt es wirklich Sebastopol? Und der Fürst, der sich auf uns verlassen, hat keine Nachricht?!«

Gregor nahm die Hand seines Bruders:

»Er wird sie ihm bringen und so zugleich die Stadt verlassen, in der die Ankunft eines Dämons in Frauengestalt ihm Verderben droht. Die Flotte ist nicht, obschon dies allgemein verbreitet wird, zu einer Expedition gegen Sebastopol oder Balaklava bestimmt, sondern wird nur eine Rekognoszierung des Ufers vornehmen und die russischen Schiffe herauszulocken suchen, indem man sich den Anschein gibt, in Balaklava landen zu wollen. Sie geht an die Küsten von Colchis mit Munition und Waffen für die Bergbewohner.«

»Wie wird Dein Bruder nach Sebastopol gelangen?«

»Die smyrniotische Felucke ›Maria‹ liegt auf der Reede mit englischer Ladung für Batum, bereit, jeden Augenblick in See zu gehen. Kapitän Feliko hat bis diesen Abend gezögert, die Pässe zu holen. Er wird bis Mitternacht in der Stadt verweilen – Nicolas kennt den Ort, wo er uns erwarten wird; er und der deutsche Arzt werden ihn in der Kleidung von Galiandschis begleiten. Die Felucke wird vierundzwanzig Stunden vor der Flotte das Kap Aya passieren. Nicolas versteht mit einem Boote umzugehen und wird mit einem solchen die Küste erreichen.«

»Der Weg ist sicher,« meinte Geurgios. »Welche Aussicht hast Du, den Franken zu retten?«

»Der Schlag, den wir erst in drei Tagen zu führen gedachten, muß schon in dieser Nacht erfolgen. Vor Mitternacht muß das französische Arsenal und das große Lazarett in Flammen stehen, und möge diese Brandfackel das Verderben des Halbmonds und seiner Freunde beleuchten.«

»Aber die Unseren sind noch nicht bereit – die Brander nicht fertig.«

»Wir haben sechs Stunden Zeit, während dessen läßt sich der Untergang von ganz Varna bereiten. Ich will es an allen Ecken anzünden, ehe ich zugebe, daß der Freund ihr Opfer wird.«

»Und Dein Plan, ihn aus dem Konak des Paschas zu befreien?«

»Wir wissen durch Vaso – Vassili, wie er im Dienst des Paschas heißt, – daß er in demselben Seitenflügel des Hofes gefangen gehalten wird, den der Inglese mit dem griechischen Mädchen bewohnt. Wir werden Eingang finden zu ihnen, ich und mein Bruder, das Wie und Warum kümmert Euch nicht, es ist eine Rechnung zwischen mir und dem Briten. Wenn die Flammen des Arsenals in den Nachthimmel emporschlagen, wird der Konak lebendig werden und alles zu dem nahen Feuer strömen. In der Verwirrung wird es uns leicht sein, den Gefangenen zu befreien und mit ihm bis in die Khandschia am Hafen zu gelangen, in der uns der Capitano erwartet. Die Tore der Wasserseite bleiben der Flotte wegen die ganze Nacht geöffnet. – Ist Jussuf, der Mohr, hier gewesen?«

»Vor kaum einer halben Stunde, um Abschied zu nehmen von dem Bruder. Die türkischen Spahis, wie diese Franken die Räuberschar genannt haben, verlassen die Stadt.«

»Ich weiß es – und nun an unsere Geschäfte. Die Heiligen mögen uns schützen!«


Im Tabun.

Die Erdhütte des Tabuntschik bildete ein geräumiges Gemach mit zwei Ausgängen, deren einer auf mehreren Stufen hinaus ins Freie führte, während die zweite Tür nach einem anschließenden Vorratsraum ging. Die Wände, von in der Sonne getrockneten Lehmsteinen aufgemauert, waren mit Wolfs- und Pferdehäuten bekleidet und mit einer Anzahl von bunten Heiligenbildern der schlechtesten Qualität beklebt. In einer Ecke brannte, vor einer mit allerlei Flitterwerk ausstaffierten, grobgeschnitzten und bemalten Holzfigur der Jungfrau mit dem Christuskinde und darunter vor dem Bilde des Schutzheiligen des Besitzers, eine Lampe. Grüne Zweige von Ginster und Wermut waren an den Wänden aufgesteckt, Binsen deckten den Fußboden.

Die Gesellschaft der Reisenden hatte beschlossen, die Nacht in dem Tabun zuzubringen und mit der erwachenden Sonne, wenn die Steppe abgekühlt und jede Gefahr beseitigt war, ihre Reise fortzusetzen. Der Tabuntschik hatte es übernommen, nach der verlassenen Telege der Polen zu sehen und sie, wenn das Feuer sie nicht verzehrt, nach der Zufluchtsstätte holen zu lassen.

Die eben überstandene Gefahr warf noch ihre Schatten über die Geretteten. Das furchtbare Ende des jungen Postillons, der zerschmettert mit den beiden Pferden auf dem Grunde der tiefen Schlucht gefunden worden, hatte ihnen das Schicksal gezeigt, dem sie ohne den Schutz des Höchsten und die Aufmerksamkeit des Mennoniten verfallen gewesen wären.

Auf dem Herd in dem Winkel des Gemaches brodelte der Teekessel, dieses Labsal der Russen. Die beiden Damen saßen auf einem von den getrockneten Gräsern der Steppe und Tierhäuten gebildeten Lager, unfern von ihnen die Dienerin, während die Männer um einen roh zusammengezimmerten Tisch, auf Bänken sitzend, von den Kriegsereignissen sprachen.

Am Feuer selbst kauerte der greise Tabuntschik, den brodelnden Kessel beachtend. Der Reisevorrat des Obersten hatte Rum und die nötigen Ingredienzien des Mahles hergegeben, dessen Hauptbestandteil ein vom Tabuntschik gekaufter Hammel bildete, von dem der größere Teil den Dienern und Kosaken überlassen worden war.

»Der Fürst-Gouverneur,« erzählte der junge Fürst Iwan, »hatte mich in die Steppe beordert, um an Hetmann Kassalap die Aufforderung zum Sammeln der irregulären Sotnien zu überbringen. Ich war auf der Rückkehr und hatte in Uroczczerna den Leutnant Potemkin getroffen. Wir verweilten auf der Kolonie der Eltern jenes braven Mennoniten, als die Gefahr der Heuschrecken ihre Felder bedrohte und man mit den gewöhnlichen Mitteln des Rauchs sie verscheuchte. Ich weiß nicht, ob hierbei durch Unvorsichtigkeit die Steppe in Brand geriet.«

»Verzeih, Bruder,« bemerkte der Mennonit, »das Feuer kam von der Küste her und brannte bereits seit gestern.«

»Gut! Die wackern Landleute hatten ihre Felder durch Aufwerfen von Gräben gesichert. Noch ehe die Gefahr uns so nahe, kamen die zwei Kosaken in die Kolonie und erzählten von der Not, worin die treulosen Jämschtschiks die polnische Dame gelassen. Die Ritterpflicht erforderte, ihr zu Hilfe zu kommen, und so machten wir uns auf den Weg durch das Feuer. Hesekia führte uns.«

»Wir danken Ihren Bemühungen unsere Rettung,« sagte der Oberst.

»Weniger uns, als den zweckmäßigen Maßregeln Ihrer Kosaken und dieses Roßhirten. Iwan Oczakoff, Väterchen, wird stets bereit sein, Dir seinen Dank zu beweisen.«

Der Tabuntschik, der sinnend in das Feuer gestarrt, wandte forschend seine Augen auf ihn:

»Du bist ein Oczakoff?«

»So ist es, Väterchen. Mein Vater war der Gouverneur von Kasan. Meine Mutter eine Fürstin Wolkonski. Kennst Du meine Familie?«

»Ich habe gehört von ihr, denn der Wolkonski Güter liegen zum Teil in Taurien.«

»Schloß Aya, an den von Myrten und Orangen bekleideten Felsenküsten der Yalta, ist mein Erbe. Meine Schwester weilt dort, und ich hoffe, Oberst, daß, wenn Sie die Luft und die Milde des Südens genießen wollen, Sie über meine Besitzungen verfügen werden.«

»Ein echtes russisches Blut,« murmelte der Roßhirt, »Deine Mutter, Fürst, lebt sie noch?«

»Sie starb bei unserer Geburt. Iwanowna und ich sind Zwillingskinder.«

Der Tabuntschik schlug ein Kreuz.

»Die Heiligen seien ihr gnädig. Deine Mutter, Fürst, hatte drei Oheime, Brüder ihrer Mutter.«

Der junge Mann sah ihn mißtrauisch an.

»Wenn Du ihre Namen weißt, kennst Du auch ihre Schuld und ihr Schicksal. Sie sind tot.«

»Alle drei – auch der Jüngste?«

»Ja!«

Der alte Tabuntschik versank in Schweigen, dann erhob er sich und ging hinaus; bald darauf folgte ihm der Mennonit.

Der junge Fürst saß, den Arm auf den Tisch gestützt, in Nachdenken.

»Die Erinnerung an Deine Familie hat Dich betrübt, Fürst Iwan,« sagte der junge Artillerie-Offizier. »Was vergangen ist, ist vergangen.«

»Ich dachte der Tränen, die meine sanfte Mutter oft über den Fluch der grausen Tat geweint, die auf ihrer Familie lastet. Sie wissen wahrscheinlich, daß meine Großmutter eine geborene Fürstin Zuboff war.«

»Was kümmert uns die Vergangenheit,« meinte der Oberst, »zwei Menschenalter liegen dazwischen und zwei Kaiser haben verziehen. Lassen Sie uns diese Damen bitten, jetzt an unserm Mahle Teil zu nehmen und den Tee zu bereiten.«

Die Damen erhoben sich und nahmen Platz; die Bojarenfrau, die ihre Verwirrung über die Erkennungsszene bereits überwunden und bemüht war, die etwaige Eifersucht des Obersten zu zerstreuen, konnte sich trotzdem nicht enthalten, nach dem Fürsten zu kokettieren.

»Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, Fürst Iwan, woher Sie Madame Bibesco kennen?«

»Ich hatte die Ehre, ihr in Bukarest vorgestellt zu werden.«

Ein Blick der schönen Bojarenfrau hatte ihm Vorsicht geboten.

Aber Graf Wassilkowitsch hatte den Blick gleichfalls aufgefangen und begriffen, daß irgend eine ihm noch unbekannte Beziehung zwischen diesen beiden Personen bestehen mußte. Die ihm nächstliegende Erinnerung war Paris, und der Zyniker lächelte, weit entfernt, Eifersucht zu fühlen oder zu verraten, spöttisch, als er den Jüngling betrachtete. Es lag in seinen Plänen, ihn sich untertan zu machen und ihn zu umstricken.

Während der Artillerist die beiden Damen unterhielt, nahm er die Gelegenheit wahr, mit dem Fürsten allein zu sprechen.

»Wissen Sie, Fürst, wem ich diesen gebrochenen Arm, eine gebrochene Rippe und diese Narben am Kopfe verdanke?« fragte der Graf. »Ihrem Freunde, dem Vicomte, dem ich auf den Wällen von Silistria begegnete, als der tolle Selwan uns zum Angriff führte.«

Eine dunkle Röte färbte das schöne Antlitz des jungen Mannes.

»Blieb der Vicomte unverletzt?« fragte er hastig.

»Daß ihn der Teufel hole! – Ich ließ auf ihn schießen, aber der Bursche schien gefeit gegen unsere Kugeln, und ehe ich ihm selbst zu Leibe konnte, lag ich unten im Graben, von seiner Hand hinuntergestürzt. So viel wissen wir jetzt, daß wir ihn in den Reihen unserer Feinde gegenüber haben. Wir können das gestörte Duell jetzt hoffentlich auf dem Schlachtfelde nachholen. Vielleicht befreit uns die Cholera oder eine Kugel von dem Schleicher und Verräter.«

Die dunkle Röte lag noch immer auf der Stirn des jungen Mannes, um seinen Mund zuckte es wie zu einer bittern Antwort, doch bezwang er sich.

»Ich glaube, Sie tun dem Vicomte Unrecht, Graf.«

»Den Teufel auch! Ein Offizier und Edelmann darf, auch wenn er der Anbeter einer Dame ist, sich nicht zum Spion herabwürdigen. Er hat Ihre Liebschaft in der Straße Saint Joseph an die Fürstin, Ihre Schwester, und wer weiß, an wen sonst verraten. A propos! was haben Sie bei der schnellen Abreise mit der kleinen Grisette angefangen? Die Sache schien Ihnen wahrhaft Ernst, und die Kleine war hübsch. Sie würde Unterhaltung während des Feldzuges gewährt haben.«

Hätte er in diesem Augenblick das Gesicht des jungen Mannes schärfer beobachten können, als es der dunkle Schein der Lampe am Tabun zuließ, so würde er das Zucken des Mundes, das scharfe Aufhorchen des schönen Gesichts bemerkt haben.

»Ich weiß nicht, was aus ihr geworden,« sagte er schüchtern.

»Ich erkundigte mich aus Interesse für Sie nach dem Mädchen nach Ihrer erzwungenen raschen Abreise.«

»Bitte, Graf, teilen Sie mir alles mit, was Sie wissen.«

»Es ist wenig, und selbst das wenige ist Ihnen schwerlich angenehm. Indeß, Fürst, ein junger Mann von Welt muß auf dem Gebiete der Liebe seine Erfahrungen machen. Die Pariser Frauenzimmer sind geborene Koketten. Was ich gehört, ist übrigens eine Art pikantes Abenteuer. Sie erinnern sich, daß am Abend Ihrer Abreise ein Attentat auf den Kaiser Napoleon vor der komischen Oper verübt wurde; schade, daß es nicht gelang, die Franzosen hätten dann schwerlich ihre Finger in unsere Angelegenheiten gesteckt. Die Polizei war auf den Beinen und verhaftete mehrere Personen. Es scheint, daß sie die Flüchtigen bis in die Straße Saint Joseph verfolgt und dort Haussuchung gehalten hat. Mein französischer Kammerdiener berichtete mir, daß dies auch bei Mademoiselle Nini geschehen, und daß man zwei Männer dort gefunden, von denen der eine der Liebhaber der Grisette war, der sie eben zum Ball führen wollte, der andere der eingedrungene Mensch, den man als Teilnehmer an dem Attentat verhaftete.«

»Und der Liebhaber des Mädchens?«

»Ah, Sie sind eifersüchtig, Fürst, gewöhnen Sie sich den Fehler bei Zeiten ab. – Der Liebhaber hat Ihre kleine Flamme zum Mabille oder in den Jardin des fleurs geführt – am anderen Tage aber war Mademoiselle Nini spurlos verschwunden und hatte selbst ihre elegante Einrichtung im Stich gelassen. Da ich keine Indiskretion mehr begehen konnte, ging ich selbst hin und beschaute sie mir. Ich mache Ihnen mein Kompliment über Ihren Geschmack.«

»Wohin können sie sein? – wer war der Liebhaber? – wer – –«

Der junge Mann brachte nur mühsam die Worte heraus.

»Ja, das wissen die Götter, Fürst. Meine Meinung ist, das Mädchen hat gesehen, daß nach der Szene mit der Polizei die Doppelrolle, die sie gegen Sie gespielt hat, zu Ihrer Kenntnis kommen würde und hat Ihren Rivalen vorgezogen.«

Fürst Iwan wandte sich ab. Unhörbar für den anderen tönten die Worte aus seinem Munde:

»Wieder jede Spur verloren!«

Der Oberst wandte sich aufs neue zu ihm:

»Es wird gut sein, Freund, wenn Sie der Fürstin, Ihrer Schwester, nichts von der Anwesenheit des Franzosen in Silistria sagen wollen. Die tendre inclination wird hoffentlich längst im Nationalgefühl untergegangen sein. Befindet sich die Fürstin noch immer auf Ihrem Schlosse an der Yalta, und darf ich zu ihrer Herstellung gratulieren?«

»Meine Schwester, Graf, ist allerdings noch dort, zwar wiederhergestellt, aber noch so leidend, daß sie die Einsamkeit vorzieht und nur wenig Besuche erhält. Doch das Schloß ist weitläufig, der Teil, den meine Schwester bewohnt, auf einem abgesonderten Felsen erbaut, und ich wiederhole daher meine Einladung.«

»Aber was soll ich mit Madame Bibesco anfangen? Wir Männer unter uns machen allerdings aus solchen Verhältnissen nichts, doch ich kann sie unmöglich mit ins Schloß zur Fürstin nehmen.«

Der junge Fürst errötete leicht.

»Ich habe das bedacht,« sagte er mit einiger Verlegenheit und einem Blick auf die Französin, »allein ich hoffe, es wird sich machen lassen, und ich darf Sie Ihrer schönen Pflegerin nicht berauben. Ich werde meiner Schwester sagen, daß Madame Bibesco als eine Anhängerin unserer Sache aus Bukarest vor den Türken geflüchtet ist und auf meine Einladung nach Schloß Aya kommt.«

»Sie sind sehr galant, Fürst, und ich nehme es dankbar an, verspreche Ihnen auch, so wenig eifersüchtig wie möglich zu sein. Doch, wenn wir noch einige Stunden Ruhe genießen wollen, so ist es die höchste Zeit, an unser Lager zu denken. Ich werde die Nacht in meinem Wagen zubringen und für Sie und den Leutnant ist Raum in jener Kammer. Lassen Sie uns die Diener rufen.«

Während die vornehmen Mitglieder der Gesellschaft in dieser Weise ihre Nachtruhe vorbereiteten, saß am anderen Ende des Tabuntschiks im Schatten einer jener kleinen Mogilen, die gleich Maulwurfshügeln an tausend Stellen aus den Ebenen des südlichen Rußland auftauchen, der alte Kosakenhäuptling mit seinen sechs Enkeln. Sie hatten eine Grube in den Boden gegraben, diese mit Steinen ausgelegt, Feuer gemacht und zwischen die erhitzten Platten dann die vordere Hälfte des Hammels gelegt, die ihnen überlassen worden. Auf den Befehl des Obersten hatte sein Leibdiener ihnen eine Flasche Rum gegeben, und sie hatten soeben ihr Mahl unter sich, abgesondert von den Hirten, beendet.

Der greise Kosak saß, den Kopf auf die Hand gestützt, und aus einer alten, silberbeschlagenen Reiterpfeife von Meerschaum rauchend, die er vor vierzig Jahren aus Deutschland zurückgebracht, in Gedanken versunken am obersten Ende des Kreises, den seine Enkel bildeten. Selbst sein Liebling, Olis, der neben ihm kauerte, wagte nicht, ihn darin zu stören. Nur flüsternd tauschten die Brüder und Vettern ihre Meinung aus.

»Die Heiligen seien ihm gnädig,« murmelte Wassili zu seinem Nachbar, »ich glaube, der böse Geist nimmt wieder Besitz von ihm, der über ihn kommt beim Neumond von seiner schlimmen Wunde her.«

»Schweig still,« gebot Wanka, »Du siehst, Djeduschka will reden.«

In der Tat erhob der greise Kosak das Haupt, dessen weiße Haare der bleiche Mondschein versilberte und schaute mit verstörten Blicken auf die Gruppen umher. Die breite Narbe, die quer über das Gesicht lief, verlängerte sich über den rechten Vorderschädel hin, ihr roter Streif war deutlich sichtbar. Das eine Auge des Greises schien jeden Einzelnen der Gruppe zu durchbohren und starrte dann unheimlich hinaus ins Weite.

»Gib acht, Alexei,« flüsterte sein Bruder, »jetzt erzählt er uns eine der seltsamen Geschichten, die ihm in seinem langen Leben begegnet – von dem Franzosenkrieg oder den Fahrten nach dem kalten Lande am Eispol, wo mitten im Sommer der Hauch des Mundes gefriert; von der schönen Zarin selbst oder von den Zügen gegen die Moslems, da unsere Väter jung waren. Wenn der Geist über ihn kommt, pflegt er es zu tun.«

Ein kräftiger Rippenstoß des Nebensitzenden brachte den Schwätzer Demitri zum Schweigen. Der Alte hatte den Mund geöffnet – er schien eine eintönige Melodie vor sich hin zu summen. Dann begann er plötzlich zu sprechen, niemand wußte, ob zu den Söhnen, oder ins Unbestimmte hinaus zu unsichtbaren Gestalten.

»Ströme von Blut, – Ströme von Blut, heilige Jungfrau von Kasan! Fürbitterin der Söhne aus Ruriks Stamm, barmherzige Mutter Gottes, wende das Unheil ab vom heiligen Rußland. Ich sehe die Ströme des Landes und das weite Tor der Gewässer, die Gott der Herr mit Salz getränkt, rot schimmernd von Feuer und Blut. Mein Ohr hört ein Rollen und Getöse, mächtiger als das Krachen Deiner Donner in den Bergen, und die Erde hat sich aufgetan und speit die Schrecken der Hölle aus. Heiliges Rußland, heiliges Rußland, erwache und rüste Dich gegen die Legion Deiner Feinde!«

Nach einer kurzen Pause begann der Unkengesang des Greises aufs neue, während die jungen Männer stumm auf jedes seiner Worte hörten.

»Wehe mir, daß ich zum zweiten Mal das Gericht über Dich erleben muß, heiliges Rußland! Wohl erinnere ich mich aus den Tagen, da ich ein Mann ward, wie diese Narbe brannte im Mondlicht und ich vor mir sah die Schrecken, die da kommen sollten – die weiten Schlachtfelder und die Schneegefilde, bedeckt mit den starren Leichen, und wie die Flammen hoch emporschlugen aus der Stadt des heiligen Iwan. Und wie ich's gesehen, so kams! Blut tränkte die russische Erde, und des Franken Roß trank aus dem Weihkessel unserer Kirchen. Aber der Herr wandte sein Angesicht gnädig wieder zu unserm Volk, und die Gebeine der Feinde bleichen auf den Feldern Rußlands.«

Schweigen lag rings umher auf der weiten Steppe, der weiße Mondstrahl lastete auf dem kahlen Schädel des Alten – sie sahen es nicht, wie hinter ihnen an der Mogile, dem alten Heidengrab, langsam ein Schatten emporstieg.

»Was kommen muß, wird kommen,« fuhr der Alte fort, »Blut und Tod, Schrecken und Verderben. Drei von den Söhnen deckt das Grab, aber einer lebt noch von seinem Samen – und der Todesschrei des gemordeten Vaters gellt in seinen Ohren. Er war ein Kind, als sich die Mörderhand gegen das geheiligte Haupt des Zaren erhob, aber der Fluch will sein Recht und trifft die Schuldlosen wie die Schuldigen. Und also wird sich's erfüllen, bis ein gekröntes Haupt sich selbst zum Opfer gebracht für das blutige Vaterland, das seinen Vater gemordet hat.«

Der Greis ließ das Haupt sinken und barg es in die Hände. Als er es nach einiger Zeit erhob, und im Kreise der stummen Enkel umherschaute, hatte sein Auge, wiewohl noch immer traurig und finster, doch den unheimlichen Ausdruck der Geistesstörung verloren. Er sammelte sich einige Augenblicke und begann dann aufs neue die Rede.

»Ich habe Euch eine Geschichte zu erzählen, und Ihr selbst sollt das Urteil fällen. Oft, als Ihr Euch noch auf meinen Knien schaukeltet oder ich Euch reiten ließ auf meinem Sattelknopf vor mir über die Heide, legtet Ihr Eure kleinen Finger an diese Narbe und fragtet, woher es gekommen, daß die Männer der Stämme mich Iwan den Einäugigen oder den Steppenteufel heißen. Ihr sollt jetzt erfahren, wem ich dies Zeichen verdanke, das mich begleiten wird ins Grab.

»Ich war ein junger Mann, schlank und glatt wie Ihr, wenn ich auch schon mehr erfahren, denn als Knabe schon war ich den Fahnen des großen Hetmann Suwarow gefolgt, in das Land, das sie Italien nennen. Wenn der General erwachte, stellte er sich vor sein Zelt und krähte gleich dem Hahn, seine Krieger zu wecken, aber die Krieger hielten fest zu ihm und vollbrachten manche große Tat unter seiner Führung.

Der General hatte mich dem jungen Zaren gegeben, dem Sohn der großen Katharina, da er noch Großfürst war, und ich kam mit ihm von Schlüsselburg nach dem Winterpalast in der Nacht, da die Kaiserin starb, und wurde einer seiner Leibkosaken. Der Zar Paul war ein wunderlicher Herr, bald gerecht und gut, bald aufbrausend und jähzornig; aber mir war er ein Wohltäter, und ich war sein getreuer Knecht. Gegen die Vornehmen war der Zar hart und streng und vergalt ihnen das Leid, daß sie über den Armen brachten, dessen Leib und Seele ihnen gehört, darum war er verhaßt bei ihnen bis aufs Blut. Aber das Volk liebte den Zaren.

Es war im Michaelspalast, am Abend des 23. März, im Jahre Gottes achtzehnhundertundeins – vor länger als dreiundfünfzig Jahren. Ich zählte damals zweiundzwanzig Jahre und war ein Liebling des Herrn. Ich hatte an dem Abend die Wache im Vorzimmer seines Schlafgemachs, und der Zar, der seine Feinde unter den Fürsten und Grafen fürchtete, vertraute auf uns gemeine Leute. Der Nordwind pfiff draußen um den Palast, und ich stand mit blankem Säbel auf meinem Posten, als der Zar aus seinem Gemach kam, die Wachskerze in der Hand, und mir ins Gesicht leuchtete.

›Bist Du es, Iwan?‹ sagte der Herr, ›wenn Du wachst, weiß ich, kann ich ruhig schlafen.‹

Er probierte Schloß und Riegel der Korridortür und leuchtete an den verriegelten Fenstern umher, wie es seine Sitte war, denn er glaubte schon lange, daß sie ihm einmal ans Leben wollten. D'rauf, an der Schwelle der Tür, wandte er sich nochmals zu mir und sprach:

›Iwan, öffne keinem Menschen und unter keiner Bedingung. Das Leben des Zaren beruht auf Deiner Treue.‹

So nickte mir der Herr zu und ging, ohne sein Zimmer zu schließen. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Gott der Herr möge der Seele des Zaren gnädig gewesen sein!«

Er schlug mit dem Daumen das Zeichen des Kreuzes und fuhr dann fort:

»Ich stand mit meinem Säbel an der Tür und hielt als guter Soldat und treuer Russe Wache. Es mochte Mitternacht sein, als plötzlich die Krähen, die in den Gipfeln der Lindenbäume im Garten um den Palast nisteten, sich krächzend erhoben und mit vielem Geschrei durch die Nacht flogen, als wollten sie eine Gefahr verkünden.

Gleich darauf hörte ich Schritte, und man pochte an die äußere Tür, die mit Eisenblech überzogen war, und deren Schlüssel ich hatte. Ich fragte, wer da sei, und die mir bekannte Stimme des deutschen Generals antwortete:

›General Benningsen und Graf Pahlen, der Vertraute des Zaren. Es ist Feuer ausgebrochen im Palast, und wir müssen den Zaren augenblicklich wecken.‹

Noch zögerte ich, aber ich kannte die Stimme des Generals, und das Feuer konnte möglich sein und mein Herr verbrennen durch meine Schuld. Der Teufel verblendete mich – ich drehte den Schlüssel und zog den Riegel. Die da eintraten, waren der General und der Fürst Valerian Zuboff, der Begleiter des Großfürsten Alexander. Sie eilten in das Gemach des Kaisers, und ich hörte alsbald den Herrn heftig reden.

Plötzlich ertönte seine Stimme laut und kräftig:

›Ich unterzeichne nicht; Fluch Euch! Ihr seid Verräter!‹

Da fuhr es mir wie ein Stich durchs Herz, daß ich seine Feinde zu ihm gelassen hatte und ich faßte den Griff meines Säbels fest, um für ihn zu sterben.

In dem Augenblick kam der Fürst wieder heraus und eilte durch die Vorzimmertür davon – ich hörte jetzt wieder ruhig sprechen und wartete. Plötzlich rief der Zar: ›Niemals! fort mit Dir!‹ und der General stürzte mit blankem Säbel durch das Gemach, der Zar aber stand halb entkleidet auf der Schwelle seines Schlafzimmers und sagte:

›Schmach über Dich, Iwan, daß Du die Verräter zu mir ließest!‹

Ich warf mich zu seinen Füßen, denn ich war schuldlos. Da wurde die Tür aufgerissen, und herein stürzten die drei Brüder Zuboff mit dem Deutschen, die Generäle Talizin und Tartarinoff und viele Offiziere und wollten in das Gemach des Zaren dringen, der bei ihrem Anblick zurückgeflohen war. Aber ich warf mich vor die Türe und rief ihnen ›Zurück!‹ zu und wehrte mit meinen Händen den Frevlern, denn meine Waffe hatte ich am Boden gelassen, als ich vor dem Herrn kniete. Sie wollten mich fortziehen, aber ich klammerte mich fest an sie und rief mit lauter Stimme:

›Verrat! Rettet den Zaren!‹

Ihre Säbel und Degen blitzten, ich sah ihre blutigen Augen und hörte ihre drohenden Worte, und dann traf ein furchtbarer Hieb meinen Schädel und schnitt quer über Auge und Gesicht, daß das warme Blut hervorspritzte aus hundert Quellen und ich zu Boden stürzte.

Wie im Traum hörte ich ein Getümmel um mich her, dann die Stimme des Zaren – zum letzten Mal! einen wilden Fluch – Gott und die Heiligen mögen ihm vergeben, und ich verlor das Bewußtsein.

Die Russen hatten ihren Vater ermordet! Zweimal hintereinander schlug die Mörderfaust an den Thron Ruriks, und zweimal lastete Fluch auf dem heiligen Rußland!«

Der Greis schwieg und murmelte leise ein Gebet, auch die anderen taten es. Dann erzählte er weiter:

»Seit der Schreckenstat liegt Blut auf Rußland, bis die Söhne, so da lebten, um sich auf den blutigen Thron zu setzen, neben ihm ruhten in der Kaisergruft von Alexander-Newskoi, und kein Blut mehr an der Krone dessen klebt, der sie trägt. Von der Zeit an, da ich die Mörder zu meinem Herrn gelassen, und ihr Säbel diesen Schädel spaltete, wohnt ein zweiter Geist in diesem Körper, über den ich nicht Herr werden kann. Ich konnte nicht sterben für den Zaren, den meine Unvorsichtigkeit in die Hände seiner Mörder geliefert. Als ich erwachte, lag ich in einer Klosterzelle, wohin mitleidige Kameraden mich gebracht. Ehrwürdige Mönche pflegten mich, und als ich genas, saß der neue Zar längst auf dem Thron seines Vaters. Zum Glück für mich achtete niemand auf den armen erschlagenen Kosaken, und mein Mund schwieg von den Schrecken der blutigen Nacht.

Aber mein Leben schuldete ich dem toten Zaren, und wenn der Neumond kam und sein bleiches Licht auf mein wundes Gehirn brannte, da wurde es lebendig um mich von blutigen Gestalten und ich raste in der Schlacht, oder in der Steppe umher auf wildem Roß, und sie nannten mich Iwan, den Steppenteufel, weil mein Antlitz gezeichnet war, wie das eines Teufels.

Ich schlug die Schlachten des heiligen Rußland alle, aber keine brachte mir den Tod, den ich dem toten Zaren schuldete. Ich sah das erste Mal das Gericht heraufziehen über das Land und die Feinde ihre Rosse tummeln auf seinen Fluren. Die Hand Gottes schlug sie, denn die Hand des Herrn verläßt Rußland nicht, selbst in der Erniedrigung.

Drei der Söhne des Zaren liegen in der Kaisergruft und der vierte trägt die Krone auf dem Haupte. Er war ein Knabe zwar, als die Bluttat geschah und schuldlos daran; aber er ist von seinem Samen, und zum zweiten Male sah ich die Wetterwolken dräuen über den Söhnen des Gemordeten.«

Der älteste der Enkel, Boris, unterbrach die kurze Pause.

»Erzähle uns, Djeduschka, (Großväterchen) was aus den Mördern wurde, die Hand gelegt an den gesalbten Leib des Zaren.«

»Das Gericht des Herrn wandelt sichtbar auf Erden. Der Erbe des Thrones wandte sein Angesicht von ihnen, nachdem die blutigen Hände ihn mit der Krone geschmückt. Die einen starben in der Verbannung, die anderen fern an den Grenzen des Reiches unter den Schwertern der Feinde und dem schwarzen Odem der Seuche, alle von den Menschen verachtet, von Gott verflucht.«

»Und der Mann, der Dich verwundet, als Du den Zaren verteidigtest?« fragte Olis.

»Er ist der einzige, den Gott übrig gelassen hat, auf daß ich sein Gericht an ihm vollziehe. Wie ich für meine Sünden als schlechter Wächter meines Dienstes, ist er von dem Herrn durch den Degen des gemordeten Zaren gezeichnet worden fürs Leben. Und wenn er länger als fünfzig Jahre die Kainsstirn vor der Welt verborgen, das Gericht sollt' ihn dennoch ereilen, und der heilige Iwan, mein Schutzpatron, hat ihn am Ende meiner Tage in meine Hand geliefert, auf daß Iwan, der Steppenteufel, zu Iwan dem Rächer werde! – Ihr, die Ihr jung seid und weder Haß noch Liebe habt für die vergangene Zeit, – Ihr sollt sein Urteil sprechen.«

»Den Tod,« sagten Wanka und Alexei.

»Wir wollen jeder mit Deinem Feinde kämpfen,« sprach Wassili.

»Er muß ein Greis sein, wie Du, Djeduschka,« bemerkte Olis. »Sag uns seinen Namen und wo wir ihn finden mögen?«

»Es waren drei Brüder, die das Fürstenhaus der Zuboff gebar,« sprach der Alte. »Zwei der Mörder ihres Zaren ruhen im Grabe, der dritte und jüngste, derselbe, der mich zu Boden schlug, lebt! – es ist – – –«

Ein dunkler Schatten schien zwischen ihnen dahin zu gleiten, eine breite Hand legte sich auf den Mund des Atamans. Die hohe Gestalt des greisen Roßhirten stand unter ihnen – seine Linke wies nach dem Mond:

»Die Stunde ist da – komm!«

Die gebieterische Geberde des Tabuntschiks hatte alle verstummen gemacht. Schweigend erhob sich der alte Kosak und nahm aus den neben ihm liegenden Halftern des Sattels seine Reiterpistolen, die er in den Gürtel steckte. Dann wandte er sich zu seinen Enkeln und deutete mit dem Finger auf die Mitte des Kreises.

»Bleibt und schweigt!« befahl er kurz.

Der Tabuntschik schritt voran – er war ohne alle Waffen, mit Ausnahme des kleinen Beils in seinem Gürtel; der Ataman folgte ihm eben so stumm.

So überschritten sie den Graben, der den Tabun von der Steppe schied, und wandten ihre Schritte nach der tiefen Regenschlucht, in der wenige Stunden vorher der arme Jämschtschik mit seinen Pferden den Tod gefunden hatte. Die Knechte des Tabuntschik hatten an derselben Stelle bereits ein Grab gegraben und die Leiche versenkt, die formlosen Massen der Pferde aber lagen noch zur Seite.

Unfern des Grabhügels, auf den der Mond durch den Eingang der Schlucht seine bleichen Strahlen warf, blieb der Tabuntschik stehen und wandte sich, die Arme über die Brust gekreuzt, zu seinem Begleiter.

»Diese Stelle,« sagte er ruhig, »liegt außer den Grenzen, die Dir Gastfreundschaft gewährt. Die freie Steppe ist jedermanns Eigentum und der Tag, da Du mein Salz gegessen, ist vorüber. Was willst Du von mir?«

»Dein Leben, Väterchen, wenn Du Fürst Michael Zuboff bist.«

»Was sollte ich es läugnen, da Du der einzige warst, der mich seit den dreißig Jahren erkannt hat, da ich diese Steppe bewohne.«

»Dann mußt Du sterben!«

»Ich habe Dir bereits gesagt, Mann,« sprach der Tabuntschik finster, »ich kenne Dich nicht. Wenig liegt mir am Leben, und ich hoffte längst auf die Ruhe des Grabes, die nicht kommen will für den Schuldigen. Aber wer gibt Dir das Recht, mich zu richten?«

»Erinnere Dich, Väterchen, der Nacht des 22. März,« entgegnete der alte Kosak, indem er langsam die Pistolen aus seinem Gürtel zog und ihre Schlösser prüfte.

Der Greis lachte wild und gellend auf.

»Skotina! meinst Du, daß ich je dessen vergessen könnte, was wie höllisches Feuer hier brennt?«

Er deutet mit dem Finger auf seine Stirn.

»Gedenkst Du des jungen Leibkosaken des Zaren, dessen törichte Unvorsichtigkeit den Mördern die Tür öffnete? Erinnerst Du Dich, als der leichtgläubige Diener seine Torheit gut machen und die Schwelle seines Herrn mit seinem Leibe decken wollte, daß Dein Säbel ihn zu Boden schlug? – Schau her, das Zeichen von Deiner Hand, das er dreiundfünfzig lange Jahre mit sich getragen durch die Welt.«

»Ich erkenne Dich jetzt.«

»Iwan, der Kosak,« fuhr der Alte fort, »will nicht morden, wie die Vornehmen tun. Nimm dieses Pistol, Fürst, und laß uns kämpfen als Männer. Die Heiligen werden meine Hand leiten.«

Der Geächtete hatte sich auf einen Stein gesetzt.

»Ich werde die meine nicht mehr gegen Dich erheben. Töte mich, aber verschweige denen, die da oben schlafen, meinen Namen.«

»Ich habe auf meinem Schmerzenslager einen Eid geleistet bei dem heiligen Andreas, dem Märtyrer,« sprach traurig der alte Kosak, »doch Du warst verschwunden, als ich Dich suchte. Jetzt bin ich ein alter Mann, aber ich muß ihn dennoch halten. Es tut mir leid, Fürst Michael, daß Du sterben sollst wie ein Hund in der Steppe, nicht wie ein Mann im Kampf, denn Du warst in Deiner Jugend ein Tapferer, bis die Blutschuld auf Dich kam. So laß uns denn beten, daß sie Dir vergeben werden möge, denn der Augenblick der Rache ist gekommen.«

Er spannte den Hahn seines Pistols; bewegungslos, das Haupt auf die Hand gestützt, saß der Tabuntschik, den finstern Blick zur Erde gerichtet.

»Gott und die Heiligen seien Dir gnädig!«

Der Alte erhob das Pistol …

Aber eine dritte Hand legte sich abwehrend auf seinen Arm und eine milde Stimme ertönte:

»Die Rache ist mein, spricht der Herr.«

Es war der Mennonit, der gesprochen, dann fuhr er mit sanftem, in die Seele dringendem Tone fort:

»Wer bist Du, daß Du es wagst, die Hand gegen Deinen Bruder zu erheben? – Was dieses Mannes Vergehen auch sei, ich kenne es nicht, so wenig wie Dein Recht zum Richten; aber Gott, der Herr, hat mich noch zu rechter Zeit hierher gesandt, um Dir eine Todsünde zu ersparen. Wenn Gott vergibt, wie viel eher müssen wir Menschen nicht vergeben, die von seiner Gnade gemacht sind? Lege das Werkzeug des Mordes von Dir, alter Mann, der Du selbst bald vor Deinem ewigen Richter stehen wirst, und bete zu ihm um Vergebung für den Frevel, den Deine Hand begehen wollte.«

Der alte Kosak sah den Prediger unwillig von der Seite an, steckte aber das Pistol in seinen Gürtel.

»Du bist einer von den Frommen, die hier wohnen, wie ich gehört habe,« sagte er, »dem eine ehrliche Kriegswaffe ein Gräuel ist, und die nicht einmal fechten wollen für Gott und die Heiligen. So bete Du denn zu Gott für uns beide, denn, was ich mit dem Manne dort abzumachen habe, kann weder Deine Hand, noch Dein Wort zurückhalten. Unser beider Leben ist dem heiligen Rußland verfallen. Wenn Du ein Mann bist, Tabuntschik, so folge mir.«

Der Angeredete erhob sich, doch der Mennonit hielt sie zurück.

»Eure Schuld mag schwer sein, Brüder, daß Ihr also sprecht,« sagte er, »aber wäre sie tief wie das Meer und hoch wie der Ararat, Gottes Gnade und Vergebung ist höher, so ein Sünder Reue fühlt. Wir lieben das Handwerk des Krieges nicht und unser Glaube verbietet uns, die eigene Hand zum Kampf gegen Mitmenschen zu bewaffnen. Aber wir achten die Tapferen, die für das Vaterland kämpfen. So Ihr Euer Leben schuldig zu sein glaubt, so weiht es Eurem Vaterlande und opfert es auf dem Wege der Pflicht, denn auch die Hand des Alten und Schwachen vermag mächtiges, wenn Gottes Schutz und das Recht mit ihm ist.« –

Der Tabuntschik zuckte empor.

»Du hast Recht, Mann – das ist, was meiner Seele fehlte. Noch fühl ich Kraft genug in diesem alten Leib, um gegen die Feinde Rußlands zu stehen. Laß mich mit Dir ziehen, einen Greis, älter als Du, Iwan, und beide unser Leben weihen auf dem Opferaltar, der Rußland heißt. An Deiner Seite will ich fechten, Mann, und Du wirst mich sterben sehen zur blutigen Sühne der Vergangenheit.«

Der alte Kosak schwieg einige Augenblicke, dann führte er den Tabuntschik zur Seite.

»Du kannst nicht fechten neben mir und meinen Söhnen, Fürst Michael,« sagte er fest, »denn Deine Hand raucht von Blut und der Fluch würde bei den Unschuldigen sein. Aber ich weiß, daß ich Deinem Worte trauen darf. Willst Du schwören auf das heilige Kreuz, daß Du sterben wirst für Rußland gegen seine Feinde?«

»Ich schwöre es!«

»So geh' – vergeben kann ich Dir nicht, aber die Sühne lege ich in die Hand des Herrn. Auf Wiedersehen vor dem Richterstuhl Gottes.«

Er wandte sich von ihm und verließ mit dem Mennoniten die Schlucht, in der einsam am Grabe des Jämschtschiks der alte Kaisermörder die Nacht verbrachte.


Als nach Tagesanbruch die Gesellschaft zur Abfahrt sich anschickte, trat der alte Tabuntschik zu Fürst Iwan Oczakoff.

»Ich habe vernommen,« sagte er, »daß der Gouverneur von Taurien sich gegen die Franzosen und Moslems rüstet und Pferde braucht. Sage ihm, daß Michael, der Tabuntschik, mit dreihundert kräftigen Pferden in Baktschiserat sein wird, ehe der Mond sein letztes Viertel geendet. Du aber, junger Mann, gestatte einem Greise, daß er dann mit zehn kräftigen Knechten in Deine Dienste tritt und unter Deinen Augen seine letzten Tage dem heiligen Rußland weiht.«


Nursah.

Die Hitze des Tages hatte schwere Gewitterwolken von Süden heraufgeführt, die, an der Bergkette des Balkan hinziehend, ihr fernes Wetterleuchten über Meer und Land ergossen.

Der Konak von Sali-Pascha, dem türkischen Gouverneur von Varna, demselben, dessen Prozeß wegen Ermordung seiner griechischen Sklavin zwei Jahre später (1856) die Aufmerksamkeit Europas auf sich lenken sollte, war der Einquartierung so wenig wie jedes andere Gebäude Varnas entgangen, und es hatten in seinen vorderen Höfen zwei Kompagnien der schwarzen schottischen Schützen gelagert. Diese waren jedoch am Nachmittag auf den Schiffen der Expedition eingeschifft worden, und ihre Stelle hatten die kurdischen und arnautischen Freischaren eingenommen.

Die Höfe standen voll von Pferden, an den Mauern, unter jedem Vorsprung, unter jedem Dache lagerten die Gruppen der Reiter, nach ihren Landsmannschaften getrennt, während die Diener, Khawassen und Soldaten des Pascha's ab- und zugingen.

Selbst der hintere Teil der Wohnung des Paschas war seinem eigenen Gebrauch nicht allein vorbehalten geblieben. Der eifersüchtige Moslem hatte seinen Harem nach Konstantinopel entfernt, um jede Berührung mit den Christen zu verhindern, und das Haremlik mit Sir Edward Maubridge geteilt, der die persönliche Protektion des englischen Oberbefehlshabers genoß und außerdem mit Sali-Pascha bekannt war, der vor dem Kriege zur Gesandtschaft in London gehörte und – gleich vielen anderen vornehmen Moslems – eine gewisse europäische Tünche des Äußern sich zu eigen gemacht hatte.

In einem wohlerleuchteten Gemach dieses Haremliks, in dem mehrere Gegenstände, zur Reise gepackt, umherstanden, befanden sich am späten Abend noch drei Personen, zwei Männer und eine Frau; die ersteren waren der Baronet und Sali-Pascha, ein schöner, noch ziemlich junger Mann, dessen Antlitz jedoch in seiner matten Farbe und in den dunklen Ringen um die dunklen Augen die Erschlaffung der Haremsgenüsse verriet, – die Frau war Nausika, die Begleiterin und Maitresse des Baronets, seit er ihr Rendezvous mit dem Midshipman gestört. Die Schlaue, die Gefahr ihrer Erinnerungen einsehend, hatte jedoch ihren Namen geändert und nannte sich seitdem Nedela.

Während die beiden Männer nach europäischer Weise bei den Resten des Mahles am Tisch saßen, zwei Flaschen des milden Brussaweines vor sich, den der Pascha, sich wenig um die verbietende Satzung des Korans kümmernd, mit Genuß schlürfte, lag Nausika-Nedela auf den Polstern des Divans, und ihr feuriges, beobachtendes Auge wanderte von dem einen zum andern. Da der Baronet mit finsterer Miene, das Haupt auf die Hand gestützt, am Tisch saß, begegnete es häufig den leidenschaftlichen Blicken des Moslems mit einer aufreizenden Koketterie und einem Ausdruck, der auf ein Einverständnis zwischen beiden schließen ließ.

In dem Wesen des Baronets war eine gewisse Unruhe, ein Kampf seiner Seele bemerklich, den er durch hastiges Trinken zu betäuben suchte.

»Es waren am Abend zwei fränkische Offiziere hier,« sagte der Pascha, »die den Gefangenen sprechen wollten. Sie sind auf meinen Befehl abgewiesen.«

»Ich danke Dir.«

»Der verräterische Giaur wird morgen sterben in der zweiten Stunde. Es vermag ihn nichts zu retten. Wann schiffst Du Dich ein, Beisädih?«

»Mit Sonnenaufgang. Unsere Sachen sind größtenteils bereits an Bord der Brigg, deren Kajüte ich gemietet habe. Doch Du kennst unsern Vertrag, Freund Sali?«

»Inshallah! was werd ich nicht! Ihr Franken habt zwei Augen im Kopfe, und Eure Zunge ist gespalten. Du hast den Hekim-Baschi unter das Schwert unserer Gerechtigkeit geliefert, der ihn alle Franken-Paschas nicht entreißen sollen. Aber er mag entfliehen, wenn Du es so willst. Was ist an einem Hunde gelegen!«

»Er hat den Tod verdient,« sagte der Baronet, »denn ich weiß, daß er ein Verräter ist. Aber er besitzt ein Geheimnis, das sein Leben retten kann. Ich muß den Versuch mit ihm machen.«

»Was willst Du von ihm, o Beisädih?«

»Nur den Namen und den Aufenthalt eines Mannes, der mein Feind ist, und dem ich ein Leben entreißen muß, das mir gehört. Meine Anstalten sind getroffen. Ich kann mich auf Deine Leute verlassen? Denn ich mag die Hilfe meiner Landsleute nicht in meinen Angelegenheiten.«

»Arnud-Mustapha, der Führer meiner Khawassen, fürchtet den Scheitan nicht, und Hussein-Aga, mein Verwalter, ist mir treu ergeben. Sie harren mit Yaver-Mehemed Dein bei der Wache des Tores und werden Dir überallhin folgen. Wassili, mein griechischer Diener, wird Euch zu ihnen geleiten, sobald Du befiehlst.«

»Der Zugang zu dem Gefangenen ist also frei?«

»Bismillah! Ich habe ihn in das bestimmte Gemach führen und die Wache von seiner Tür entfernen lassen, da Du es wünschtest. Der Hof ist voll von Kriegern und seine Flucht unmöglich. Hier ist der Schlüssel zu seinem Kerker.«

»Gut! – So will ich den Versuch machen, – es ist eine Stunde vor Mitternacht und Zeit, daß Du Dich zur Ruhe begiebst, Nedela. Wir müssen mit Sonnenaufgang zu Schiffe.«

Das Mädchen wechselte rasch einen Blick des Unwillens mit dem Moslem.

»Ich fühle mich unwohl, Herr, und möchte, daß Du mich auch diesmal zurückließest.«

»Es geht nicht oder Du mußt überhaupt auf meinen Schutz verzichten. Meines Bleibens ist in Varna nicht, auch wenn meine Absicht mißlingt, und Konstantinopel ist ein besserer Aufenthalt für Dich als dies Heerlager.«

Der Pascha hatte sich erhoben.

»Möge der Himmel Deinen Wünschen günstig sein, Franke,« sagte er, dem Engländer die Hand reichend. »Ich werde Dich morgen vor Deiner Abreise sprechen und erfahren, was das Kismet gewollt hat.«

Er neigte sich höflich vor der Griechin, deren Augen ihm bedeutsam winkten, und verließ das Gemach.

Noch kurze Zeit schritt der Baronet auf und nieder, dann nahm er aus einem Kästchen zwei Terzerole, prüfte die Schlösser und steckte sie zu sich. Er warf einen Offiziermantel um seine Schultern, setzte eine Militärmütze auf und trat so zu dem Mädchen, das seinen Bewegungen stumm gefolgt war.

»Ich muß Dich für diese Nacht verlassen, Nedela,« sagte er, »denn ich habe Wichtiges vor. Du wirst Dich nicht fürchten, allein zu bleiben?«

»Warum sollte ich mich fürchten?« entgegnete mürrisch die Schöne. »Ich bin gewohnt, daß Du mich allein lässest und all' die schönen Dinge unerfüllt bleiben, die Du mir versprochen hast, als Du mich aus Konstantinopel führtest, wohin ich nicht zurückkehren mag. Bin ich eine Sklavin, die man einsperrt, oder bin ich ein griechisches Mädchen, das seine Freiheit hat, zu tun, was es will?«

»Du bist töricht, Nedela! Dieses Heerlager eignet sich nicht für ein Weib.«

»Und warum nicht? Ich bin jung, ich bin schön und werde Freunde finden in Menge, die mich mehr lieben als Du und weniger finster sind. Denn ich weiß, Herr, Du liebst mich nicht. Du ziehst rastlos umher und ich bin nur das Spielwerk Deiner Laune und Dir längst zur Last. Ich mag nicht nach Konstantinopel.«

»Du bist ein Kind, Nedela, und weißt nicht, was Du willst. Nachdem ich mich Deiner angenommen, kann ich Dich nicht hilflos verlassen. Ich will Dich zu Deinen Verwandten im Fanar zurückbringen, von denen Du mir erzählst, und Dich reichlich versorgen, wenn Du mich nicht ferner begleiten willst. Überlege Deinen Entschluß wohl bis morgen.«

Er verließ sie. Das eitle und gefallsüchtige Mädchen, das während der Abwesenheit des Baronets bereits ein Verständnis mit Sali-Pascha angeknüpft hatte, und dessen Favoritin zu werden hoffte, sann unruhig auf Mittel, wie sie sich der Aufsicht ihres Beschützers entziehen könne, denn der vorsichtige Pascha hatte sich geweigert, ihrethalben einen Streit oder Bruch mit dem Gastfreund herbeizuführen.

In diesem Sinnen störte sie ein leises Kratzen an der Tür ihres Gemaches. Sie klatschte in die Hände, zum Zeichen des Eintritts, und Vassili, der griechische Diener, erschien sofort auf der Schwelle und hob den Teppichvorhang.

Der arme verliebte Soldat, den Caraiskakis, unter Veränderung seines Namens Vaso in Vassili, in den Dienst des Paschas gebracht hatte, war durch die Färbung seiner Haare, das Wachsen seines Bartes und ein Pflaster auf seinem Auge völlig unkenntlich geworden. Selbst seine Stimme hatte der Wunsch, immer in der Nähe der früheren Braut zu sein und die Furcht, sobald er erkannt worden, von ihr gewiesen zu werden, zu verändern gewußt. Die Ergebenheit und der Diensteifer, den er bei jeder Gelegenheit für die Leichtsinnige zeigte, waren auch von ihr nicht unbemerkt geblieben, und sie benutzte ihn für alle vertrauten Dienste.

Dennoch lag in diesem feigen, zertretenen Herzen eine heftige Leidenschaft, eine glühende Eifersucht verborgen, die einst zur blutigen Tat werden sollte.

»Herrin,« flüsterte der Diener, »bist Du allein?«

»Ich bin's, Vassili, was hast Du?«

»Ein Armenier, der in das Konak gekommen, bittet Dich dringend, ihn zu sprechen. Er sagt, er brächte Dir die Botschaft von Deinem Vater.«

Das Mädchen sprang empor.

»Von Janos, meinem Vater? Es ist unmöglich!«

Vaso hatte die Tür geöffnet, der Armenier, in Barett und Bart, schlüpfte herein. Durch die Öffnung sah man zugleich neben Vaso die Gestalt eines jungen türkischen Matrosen.

»Wer bist Du? Woher kommst Du?« fragte hastig Nedela.

Der Fremde nahm Barett und Bart ab.

»Du bist Nausika, die Tochter Janis, des Kameltreibers,« sagte Gregor Caraiskakis, »erkennst Du mich, Mädchen?«

Die junge Smyrniotin hatte sich einige Schritte zurückgezogen, ihr Antlitz zeigte den schnellen Wechsel der Farben.

»Heilige Maria! Du bist der Mann, der mich Ärmste aus dem Bosporus rettete, der im Fanar …«

Sie vollendete nicht; das Bild jener Nacht stand vor ihrer Seele, wenn auch mit einem unbehaglichen Gefühl der Erinnerung, denn die Erscheinung und die Ansprüche eines alten Liebhabers harmonierten keineswegs mit ihren Plänen.

Aber Gregor, von einem doppelten Gefühle erfüllt, von der Erinnerung an den alten Freund, der mit seinem Blute die Treue besiegelt, und an die Schwüre jener Nacht voll Wollust, Vergessen und Liebe, unterbrach sie.

»Höre mich an, Nausika,« sprach er hastig, »die Minuten sind gezählt, ich komme, Dich zu retten aus diesen unwürdigen, schmachbedeckten Fesseln, in die Deine unbedachte Jugend Dich geführt. Ich komme, um gut zu machen eine teure Schuld an Deinem Vater, eine Schuld an Dir. Welche Vergangenheit auch an Dir klebt, Gregor Caraiskakis wird Dich zu seiner Gattin machen, und sein Name wird jeden Flecken von Dir nehmen.«

Er breitete die Hände nach ihr aus; die ehemalige Odaliske schien jedoch wenig geneigt, sich seiner Sorge anzuvertrauen.

»Du kommst von Janos, meinem Vater – es sind Jahre vergangen, daß ich nicht von ihm hörte, und ich bin seine Tochter nicht mehr.«

»Du bliebst es, denn Du warst ein willenloses Opfer des Frevels. Er hat ihn gerächt, aber er ist selber hinüber gegangen zu den Gefilden der Glückseligen. Ich vollziehe sein Erbe, indem ich Dein Retter und Schützer fürs Leben werde.«

Selbst die Nachricht von dem Tode ihres Erzeugers schien nur wenig Eindruck auf das in den Intriguen und Gelüsten des Harems verdorbene Herz der Schönen zu machen.

»Wohin willst Du mich führen, wenn ich Dir folge?« fragte sie.

»Ich werde Dich an einen sichern Ort geleiten, wo Du bleibst, bis diese Kriegsstürme ausgetobt. Du wirst mit Nicolas, meinem Bruder, nach dem russischen Gebiet fliehen.«

Das Mädchen schüttelte verächtlich den Kopf.

»Wozu? Ich habe Freunde hier – der Beisädih ist mein Beschützer.«

»Fluch über den Verräter! Sein falsches Herz hat das Leben meiner eigenen Schwester gebrochen, und er wird Dich ebenso verstoßen, wie er sie verstoßen hat. Die Rache ist auf seinen Fersen.«

»Du bist sein Feind?«

»Bis über das Grab hinaus. Drei Dinge führen mich hierher: Dich zu holen, den gefangenen Freund vor dem schimpflichen Tode zu retten und mich an dem Inglis zu rächen. Wo ist er?«

Die Odaliske sah ihn mit einem seltsamen, forschenden Blick an.

»Meinst Du den deutschen Arzt, den der Inglese hat zum Tode verurteilen lassen?«

»Denselben. Er kannte Deinen Vater, er ist unserer Sache wegen in Gefahr.«

»Und Du willst ihn retten vor seinen Feinden und diese verderben?«

»So wahr mir die Märtyrer helfen mögen, ja!«

Sie faßte seine Hand, ihr Hauch blies die Lampe aus, daß er in dem Dunkel des Gemachs die frohlockende Miene nicht sehen konnte:

»Bist Du bewaffnet?«

Er legte ihre Hand auf seine Brust, sie fühlte unter dem Gewand die Knäufe der Pistolen und den Griff eines Dolches.

»So komm!«

Sie zog ihn hastig durch mehrere Gemächer; die Matten und Teppiche dämpften das Geräusch ihrer Schritte. Dann auf eine letzte Tür deutend, deren Spalt einen hellen Lichtschimmer ausströmen ließ, flüsterte sie: »Dort! Ich erwarte Dich!« und entfloh.

Gregor Caraiskakis näherte sich der Tür, durch die ihm zwei bekannte Stimmen entgegenschallten.


In einem Gemach des steinernen Hauptgebäudes des Pascha-Konaks, wohin er nach dem Kriegsgericht gebracht worden, saß der deutsche Arzt, bemüht, mit möglichster Fassung und Ergebung das traurige Schicksal zu erwarten, das ihm für den nächsten Morgen zuerkannt worden.

Er vermochte nicht zu entscheiden, ob seine Verteidigung mehr an dem bösen Willen oder der Gleichgiltigkeit der Beisitzer des Gerichts gegen ein Menschenleben gescheitert war; aber bei dem vollen Bewußtsein seiner Unschuld blieb er doch gerecht genug, anzuerkennen, daß die Beweise gegen ihn schwer und erdrückend gewesen.

Sein Leben rollte Bild auf Bild an ihm vorüber, – die Kinderjahre im Hause des Vaters, auf dem Straßenpflaster der preußischen Residenz – die Universitätsjahre, der Eintritt in das wogende, unverstandene politische Leben, Not und Leichtsinn, Kummer und Stolz in Paris – die drückenden Fesseln des politischen Bundes, – die farbenhellen Bilder des Orients, Ruhe und Kampf, Jammergeschrei und pulsierendes Leben, Blut neben Gold – Schlacht und Seuche – und jene Nacht! jene Nacht mit ihren geheimnisvollen Rätseln und Freuden – – –

» Fare well!«

Die Riegel an seiner Tür rasselten, durch die geöffnete Tür trat eine Gestalt, in den Militärmantel gehüllt, herein, und blieb vor ihm stehen. Langsam entfernte sie die bergende Hülle, der Baronet, Edward Maubridge, stand vor dem Verurteilten. Sein Gesicht war bleich, sein Auge entschlossen.

»Sie hier? Was wollen Sie? Sie haben Ihr Werk vollendet.«

»Hören Sie mich,« sagte der Baronet, »hören Sie mich ruhig an, wie es dem Manne ziemt. Dann fassen Sie Ihren Entschluß.«

Er hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er, als habe er diesen Auftritt, jede Silbe seiner Erklärung durch seinen Entschluß festgestellt, ruhig fort:

»Das Schicksal hat uns zusammengeführt, die wir verschiedene Wege wandelten. Es warf Sie in den meinen, als Gefährten eines Mannes, den ich hätte lieben können, und den ich hassen und verfolgen mußte, und diesem Haß sind auch Sie zum Opfer gefallen. Ich bin ein Engländer, das heißt hartnäckig und stolz. Die Frauen sind meine Leidenschaft oder meine Schwäche. Ich sah in Smyrna die Schwester Ihres Freundes, Diona, und liebte sie. Bei dem Normannen-Blut meiner Väter, ich liebte sie! Nur die teuflische Einflüsterung des Schurken von Konsul in Smyrna ließ das Recht mich in Händen behalten, die Giltigkeit unserer Ehe je nach meinem Willen anzuerkennen oder zu verweigern. Bei Gott, hätten nur ihre Augen gesprochen, das Kind unter ihrem Herzen, mein besseres Ich hätte gesiegt und ich hätte sie nach England als meine Gattin geführt.«

»Wozu mir das, einem Sterbenden?«

»Sie werden es sogleich erfahren, Sir. Als Sie mit dem Banditen Janos in unser Asyl einbrachen und Diona mir nahmen, fühlte ich erst recht die Stärke meiner Liebe, als Ihr Freund auf dem Verdeck des ›Niger‹ mir jedoch die Rechte seiner Schwester abtrotzen wollte, da stieg der Teufel meines Trotzes und Stolzes in voller Stärke in mir empor, und es begann ein Kampf zwischen mir und ihm, der vielleicht nur mit unserm Leben endet. Ein freundliches Wort hätte, als ich die Pistole gegen ihn hob, wahrscheinlich unser aller Schicksal gewendet.«

»Das Wort auszusprechen, Sir, war an Ihnen.«

»Es ist möglich, – ich will nicht streiten darüber, es geschah nicht, und der Kampf war begonnen. Sie wissen wahrscheinlich, daß mein Weib auf der See bei der Geburt ihres Kindes starb, daß ich als Gefangener nach Sebastopol geführt wurde, daß Ihr Freund mich von meinem Kinde trennte und geschworen hat, es mir nie zurückzugeben. Schwur gegen Schwur, ich muß meinen Sohn haben und setze mein Leben daran. Caraiskakis war in meinen Händen, er wurde mir entrissen, und ich glaubte ihn bei der Szene des Aufstandes im Fanar von Konstantinopel erschlagen.«

»Ich wiederhole die Frage, – wozu das mir, einem Sterbenden?«

»Sie waren der Freund und Vertraute des Mannes, den ich verfolgte. Sie wußten vielleicht um das gegen alle meine Spione wohlverwahrte Geheimnis des Kindes. Ihre Spur führte nach Silistria, und ich ging dahin. Dort erhielt mein Verdacht die Bestätigung, daß Diona's Bruder, mein Gegner, am Leben, denn mit dem Briefe des Russen, den Ihnen mein Diener stahl, fiel ein solcher jenes Mannes in meine Hände: Er ist in Varna.«

»Es ist möglich.«

»Es ist gewiß; ich weiß es, aber es ist mir unmöglich gewesen, ihn aufzufinden. Sie kennen seinen Aufenthalt. Ihr Verrat in Silistria in Verbindung mit Ihrem Freunde …«

Der Gefangene legte die Hand auf den Arm des Baronets.

»Halten Sie ein, Sir, und tun Sie mir nicht Unrecht. Sie wissen, daß ich unschuldig bin, daß von dem politischen Fanatismus des Mannes, den ich Freund nannte, mein Name, mein Diener gemißbraucht sind zu der entehrenden Spionage, daß ich selbst aber keinen Teil daran habe.«

»Ich weiß nicht, ob Sie unschuldig sind oder schuldig,« sagte der Brite heftig, »die Beweise sind gegen Sie, und Sie sind auf mein Zeugnis hin verurteilt, das ich gegeben, wie ich es als Mann verantworten kann. Jedenfalls hat Sie Ihr Freund in diese Lage gebracht und Sie haben keine Rücksicht mehr auf ihn zu nehmen. Ihr Leben, Sir, Ihre Rettung dagegen liegt in meinen Händen.«

»Wie das?«

»Ich habe die Mittel, Sie noch in dieser Stunde aus Varna zu führen. Antworten Sie mir als Mann von Ehre: kennen Sie den Aufenthalt meines Kindes?«

»Ich weiß nur, daß es in der Krim von seinem Oheim zurückgelassen worden ist, nichts weiter.«

»Sie kennen den Aufenthalt des Herrn Caraiskakis hier in Varna? Sir, es gilt Ihr Leben.«

»Ich glaube ihn zu kennen.«

»Wenn ich Sie aus diesem Kerker noch in dieser Stunde befreie, wollen Sie mich und einige der Meinen zu ihm führen, damit ich mich seiner Person bemächtigen kann? – Merken Sie wohl, ich will ihn nur zwingen, mir mein Kind auszuliefern, und Goddam! diesmal soll er mir nicht entrinnen. In dem Augenblick, wo er mir seinen Besitz abtritt, soll er frei sein.«

»Sir, ich bin kein Verräter – außerdem kann ich mein Leben nicht durch die Flucht retten.«

»Sie sind ein Tor! Er hat Sie betrogen und zum Werkzeug seiner Zwecke gemacht, wie sie sagen, – er selbst hat das Band der Freundschaft, des Vertrauens gebrochen …«

»Er ist hier, es einzulösen!« sagte eine leidenschaftliche Stimme. »Du aber, doppelter Feind und Verräter, nimm Deinen Lohn!«

In der Tür stand der Armenier, seine Augen funkelten.

»Caraiskakis – Goddam, er selbst! – Ich verhafte Sie …«

Wie ein Tiger sprang der verkleidete Grieche auf ihn zu, das Messer blitzte in seiner Hand, und sein Stoß warf den Baronet zu Boden …

» Hell and damnation – zu Hilfe …«

Sein Blut überströmte den Boden, mit der Linken hielt Caraiskakis seinem Opfer den Mund zu.

»Rasch, Nicolas, rasch – das Bündel mit den Kleidern.«

»Was haben Sie getan, Gregor!?«

Der Arzt kniete bei dem Verwundeten und beschäftigte sich mit ihm. Der starke Blutverlust hatte den Baronet bereits ohnmächtig gemacht.

»Bei der Panagia, Freund, eilen Sie, wir haben keinen Augenblick zu verlieren – legen Sie diese Kleider an! Nicolas, bewache die Tür!«

»Lassen Sie mich, Herr – ich besudle meine Ehre nicht mit einer schimpflichen Flucht.«

»Um aller Heiligen willen, – Freund, – Bruder, keinen falschen Stolz! Ich habe mein Leben gewagt, Sie zu retten – Sie müssen entfliehen!«

Der Deutsche achtete nicht auf ihn – er zerriß sein Tuch, um die Wunde des Engländers zu verbinden.

Plötzlich erhob sich in der Ferne ein furchtbares Geheul, das immer höher und höher schwoll – Trommeln wirbelten, Signalhörner bliesen, ganz Varna mit seinen Heermassen schien aus dem Schlaf der Nacht zu erwachen.

»Jangin-war! – Jangin-war!« (Es ist Feuer!)

Der Feuerruf scholl in zehn Sprachen durch die Nacht, durch alle Sprachen Varnas – im Konak wurde es lebendig, Menschen liefen umher, Geschrei, Fragen –

»Um des Himmels Willen, ich beschwöre Sie. Welland, werfen Sie die Kleider über und fliehen Sie mit uns – jeder Augenblick Zögerung ist Verderben.«

Der Deutsche erhob sich, der Verband war angelegt.

»Entfernen Sie sich, Herr Caraiskakis,« sagte er streng. »Die Bande, die uns verknüpften, hat Ihr Trug zerrissen. Ich entschuldige Sie mit Ihrem Fanatismus für Ihr Vaterland und vergebe Ihnen meinen Tod. Aber ich bin ein Preuße, Herr, und das graue Haupt meines Vaters werde ich nicht beschimpfen, indem ich durch feige Flucht die Anklage des Spionenhandwerks bestätige.«

»Ewiger Gott – – hören Sie mich …«

»Gehen Sie – sichern Sie sich selbst, oder ich rufe um Hilfe. Gehen Sie und lassen Sie mich versuchen, dieses Opfer Ihrer Tat zu retten.«

Er beugte sich, gleichgiltig gegen die Beschwörungen des früheren Freundes, wieder zu dem Verwundeten und begann mit der Sorgfalt des Arztes seinen Puls zu prüfen und die Wunde näher zu untersuchen, während draußen durch die Straßen der Stadt immer lauter der Feuerruf hallte, die Trommelwirbel schlugen, die Kommandoworte der hin- und herjagenden Offiziere ertönten.

Durch die dunklen Gänge des Konaks rannten die Khawassen und Diener des Paschas, die Wachen heulten ihr Jangin-war, die Pferde bäumten und rasten – der ganze weite Konak war auf den Beinen.

In der Tür der Gefangenenzelle erschien das bleiche Gesicht Vassilis, an die Flucht mahnend, Nicolas stürzte herein und riß mit Gewalt den Bruder fort – »Das Vaterland gilt mehr als ein Leben, und sei es das kostbarste!« – so schleppte er ihn davon, denn aus allen Türen stürzten Menschen, die Stimme Sali-Paschas rief nach den Wachen, die treulose Nedela schrie jetzt Hilfe und Mord, Lichter erhellten die Vorplätze, über die Höfe goß die Feuersbrunst, deren Glutwolken man hoch in den Himmel wirbeln sah, Tageshelle. Eine unbeschreibliche Verwirrung herrschte hier, und Menschen und Pferde drängten durcheinander. Mitten im äußeren Hofe sah Nicolas Grivas mit einem Blicke die Wölfin von Skadar auf dem schwarzen Roß halten und Befehle erteilen, ihre Arnauten um sich sammelnd, von dem Balkon des Tschardaks heulte der Derwisch der Kurdin seine Sprüche ins Getümmel, den Untergang Varnas verkündend, weil der »Schatten Gottes« sich mit den Dschaurs verbunden.

Einen Moment glaubte der junge Grieche sich von dem Auge der Rächerin gestreift und tauchte unter in dem Gewühl von Menschen; im nächsten waren sie außerhalb des Tores des Konaks und in dem Strom, der sich nach der nahen Stätte der Feuersbrunst ergoß.

Das Gedränge, der Lärm war wahrhaft fürchterlich. Die anrückenden Kompagnien der Pioniere und Sappeure mußten sich mit Hieben ihrer Axtstiele Bahn brechen. Wer unter die Füße getreten wurde, war verloren, ein jämmerlicher Tod wartete seiner. Araber, Franzosen, Engländer, Türken – zehn Nationen bunt durcheinander. Einzelne Griechen suchten sich eilig durch die Menge zu winden und zu entfliehen, denn schon hatte sich das Gerücht verbreitet, daß Griechen die Feuersbrunst angestiftet und mehrere beim Anzünden des Magazins ergriffen worden seien. Wilde Rufe nach Rache ertönten und die Erbitterung steigerte sich immer höher, als man bemerkte, daß die Häuser, in denen Griechen wohnten, fest verschlossen waren und kein Bewohner sich zeigte.

Unfern des Konaks, wo die Straße zum sogenannten Korso und zu den Seetoren sich wendet, drückte Gregor dem Bruder die Hand. »Fort mit Dir zum Schiff. Du weißt, wohin Du mir Nachricht zu geben hast. Die Heiligen schützen Dich!« Er warf sich, während Nicolas seinen Weg verfolgte, in die Lücke, welche das rücksichtslose Dahersprengen mehrerer Generale in die Menschenmauer riß, und gelangte so zu dem Platz, auf dem die Feuersbrunst wütete.

Ein nächtlicher Brand in der Türkei ist ein schreckliches Ding, so häufig es auch vorkommt. An vernünftige, einigermaßen wirksame Löschanstalten ist selbst in Konstantinopel nicht zu denken. Das, was vor allem bei dem Löschen fehlt, ist Wasser! man müßte es geradezu kaufen. Die Bauart der Straßen und Häuser ist so eng und gefährlich, daß man sich meist damit begnügen muß, das brennende Quartier abzusperren und das weitere dem Himmel anheimzustellen.

Das tut der Türke überhaupt immer – es ist sein Kismet.

Die Feuersbrunst auf dem übrigens ziemlich freien Platze war nicht weniger schrecklich, als wenn sie in dem engsten Quartier stattgefunden, furchtbarer noch durch die Stätten, die sie ergriffen.

Auf der einen Seite stand das Lazarett in vollen Flammen; auf der anderen war ein großes Gebäude, das zum Militär-Magazin diente und an das sich gleich Schwalbennestern, lange Reihen jämmerlicher Hütten klebten, zwar bereits von dem Feuer ergriffen, doch wurden die französischen Sappeurs, die rasend arbeiteten, – denn in den unteren Räumen lag eine Quantität Pulver, – offenbar hier der Flammen Herr.

Desto furchtbarer war der Anblick des brennenden Lazaretts, das von den Mordbrennern an mehreren Orten angesteckt worden und durch seine leichte Bauart der Verbreitung der Flamme weniger Widerstand entgegengesetzt hatte, als das größtenteils aus Stein errichtete und nur von großen, hölzernen Anbauten gefährdete Magazin.

Das Militär, namentlich ein französisches Linienregiment, das zum Aufbruch am anderen Morgen bestimmt und daher marschfertig konsigniert war, hatte bereits begonnen, eine Chaine um die Brandstätte zu bilden. Wasser war nicht zu haben, denn der nächstliegende Brunnen war bald erschöpft und das Meer zu weit entfernt, man mußte das Gebäude den Flammen überlassen, und konnte nur noch versuchen, die einem schrecklichen Tode verfallenen Kranken zu retten.

Aber es fehlte an Leuten, an Hilfsmitteln, die nicht die braven Truppen selbst herbeischaffen konnten. Durch die eingeschlagenen Türen und Fenster des Erdgeschosses schwangen sich, unbekümmert um Feuer und stürzende Balken, die Tapferen in den Flammenpfuhl und trugen auf ihren Rücken die Kranken heraus, gleichgiltig gegen die Ansteckung der Seuche. Der ganze Boden umher, grell beleuchtet von der Flamme, war bedeckt mit jammernden, halbnackten Gestalten, die, oft schon in der Agonie des Todes, den Flammen entrissen waren, um im nächsten Augenblick doch dem unbarmherzigen Würger in die Arme zu fallen. Die Soldaten rissen ihre Mäntel vom Gepäck, um die Armen zu bedecken.

Dennoch fanden mindestens sechszig Menschen, Kranke und kecke Wagehälse, ihren Tod in den Flammen, und wenn einer der Unglücklichen für Augenblicke an einer der oberen Öffnungen oder beim Einstürzen einer Wand erschien und die Arme vergeblich Hilfe suchend nach unten streckte, bis das stürzende Balkenwerk, der Flammenwirbel ihn verschlang, brach ein Gebrüll der Wut und des ohnmächtigen Grimms aus der Menge, als wären tausend Tiger auf dem engen Raume versammelt.

Der Marschall Saint Arnaud mit dem Prinzen, den Generälen Bosquet und Espinasse und einem zahlreichen Stabe hielt auf dem Platz mitten im Gedränge und erteilte seine Befehle, während um den englischen Oberbefehlshaber erst wenige Offiziere versammelt waren, da die meisten Truppen der Briten weit außerhalb der Festungswerke lagerten. Lord Raglan wandte alle Aufmerksamkeit der Rettung des Magazins zu, das Werk der Menschenliebe seinen Alliierten überlassend.

Plötzlich brach ein Geheul wilden Frohlockens über den Platz, alles übertäubend, als jubelte eine Legion von Teufeln durch die Luft. » Les incendiaires! les incendiaires!« und wie ein Sturmwind flog die Nachricht über die Menge, daß in den Hütten am Magazin eine Bande der dahin geflüchteten Brandstifter, Griechen, entdeckt und ergriffen worden sei.

Das Getümmel wurde fürchterlich, unbeschreiblich.

»Zum Marschall! zum Marschall! Ins Feuer mit ihnen!« heulte der Ruf. Mit Kolbenstößen, ja, mit Bajonnetstichen mußte die starke Eskorte, welche die Gefangenen umgab, sich Bahn brechen durch die Menge und die Unglücklichen verteidigen.

Tausend Hände waren gegen sie erhoben, tausend wutflammende Gesichter umdrängten sie, ihnen hundertfachen Tod drohend. Einige der Gefangenen – es waren ihrer sechs – mußten von Soldaten der Wache geschleppt werden, denn die ersten Mißhandlungen der wütenden Franzosen hatten sie des Gebrauchs ihrer Glieder beraubt oder betäubt. Einer dagegen, das bleiche Gesicht mit Blutstropfen überperlt, die aus einer Stirnwunde flossen, ging fest und aufrecht; seine Hände waren mit einer Offizierschärpe auf den Rücken geschnürt.

Ein Blick genügte für Gregor Caraiskakis – er erkannte Geurgios, den Fanarioten. Hinter den Gefangenen, den bloßen Degen in der Hand, den Offizier der Eskorte unterstützend, schritt der Kapitän Depuis, an seinem Arm hing ein schwarzer Knabe – Nursah, der Diener des verurteilten Arztes, und an seiner Seite Paswan, der Kiradschia.

Der Blick auf Geurgios und Nursah hatte dem Führer der Elpis die drohende Gefahr enthüllt; dennoch konnte er sich nicht entschließen, nach dem Schlupfwinkel zu eilen, in dem die griechische Verschwörung das Netz ihrer Fäden konzentriert hatte, um zu sehen, ob hier noch ihre wichtigen Papiere zu retten seien; außer der Mauer von tobenden Menschen fesselte ihn das Interesse an dem Bundesbruder.

Kaum zehn Schritt noch von dem Marschall entfernt, brach plötzlich durch die finsteren Blicke des Fanarioten gereizt, eine Woge von Menschen, heulend, brüllend, durch die Eskorte und riß den Unglücklichen aus ihren Reihen.

Vergeblich waren alle Anstrengungen der Offiziere und Soldaten, ihn wieder zu befreien, man vernahm kein Kommando mehr, selbst die Befehle des Marschalls blieben unbeachtet in dem wütenden Geschrei: »Zum Feuer, zum Feuer!« – Minutenlang sah man in der Glut der noch immer hoch in die Luft schlagenden Lohe den Körper des Fanarioten über den Köpfen der Menge, wie er von Hand zu Hand weiter gelangt wurde; dann verschwand er einen Augenblick, um im nächsten wieder zu erscheinen, hoch durch die Luft geschleudert, hinein in die Flammen.

Ein einziger gellender Schrei – dann folgte eine lautlose Stille auf dem ganzen Platze. –

»Fällt das Bajonett! Nieder mit jedem, der sich an den Gefangenen vergreift. – In das Pascha-Konak mit ihnen zum Verhör!«

Des Marschalls eigenes Kommando klang weithin über die Menge, das Klirren der Gewehre verkündete, wie die Reihen sich um die Bedrohten schlossen; von drüben her antwortete das Krachen der letzten einstürzenden Balken und Wände; der Marschall, einem der Generäle das Kommando übergebend, wandte sein Pferd, gefolgt von seiner ganzen Umgebung.

Gregor Caraiskakis, in die Menge gekeilt, hatte stumm den Tod des Bundesbruders mit angesehen. Im Augenblick, da Bewegung und Luft in die Masse kam, verschwand er im Gedränge.


Es war gegen 11 Uhr gewesen, als die Schar von Caraiskakis und Geurgios mit den verschworenen Griechen das Haus verlassen hatte, das ihnen zum Hauptschlupfwinkel diente, weil es ziemlich unbemerkt lag mitten in dem Griechenquartier und mehrere Ausgänge hatte. Da alle Hände gebraucht wurden für die Ausführung ihrer Beschlüsse, blieb die Bewachung des Sklaven Nursah einem alten Griechen überlassen.

Doch Nursah hatte sich müde geweint, er lag auf den Matten und schlief. Caraiskakis hatte die Tür des Gemachs von außen verschlossen.

Aber kaum eine Viertelstunde war vergangen und kein Geräusch mehr im Hause zu hören, so richtete der schwarze Knabe sich von seinem Lager empor, schlich auf den Zehen an die Tür und die Jalousieen und horchte hinaus. Das Gemach lag eine Treppe hoch, und das Fenster war von einem Vorsprung des Hauses beschattet. Mit der Schnelligkeit einer Katze hatte Nursah die leichten Decken, die sein Lager bildeten, zerrissen und an einander geknüpft und befestigte sie an den Jalousieen. Dann ließ er sich an ihnen hinabgleiten und gelangte glücklich in den Hof und Garten, dessen Mauer er überstieg.

In dem Gäßchen angelangt, das die Mauer begrenzte, blieb er einige Augenblicke stehen, um einen Entschluß zu fassen. Er wußte, daß Eile Not tat, wollte er seinen Herrn retten, denn er hatte bei der Rückkehr der beiden Caraiskakis an der Tür gelauscht und, obschon er das Neugriechische nur sehr mangelhaft verstand, doch erfahren, daß jener zum Tode verurteilt war und am nächsten Morgen erschossen werden sollte. Ebenso wußte er, daß Gregor einen Versuch zu seiner Rettung machen wollte, indem er die Magazine in Brand setzte. Schon als nach der Verhaftung des Arztes der junge Mohr geflohen war, hatte er ganz bestimmt erklärt, daß er sich lieber opfern und ein offenes Geständnis über die Art und Weise, wie er in Silistria den Spion gemacht, ablegen wollte, als seinen Herrn in Gefahr lassen. Caraiskakis hatte ihn zwar durch die Versicherung beruhigt, daß eine solche nicht vorliege und der Arzt höchstens eine kurze Haft zu bestehen habe, da ihm nichts erwiesen werden könne, aber er hatte es doch seitdem für nötig gehalten, den Knaben nicht mehr aus dem Hause und auch dort unter Aufsicht zu lassen.

Das Mißtrauen hatte jedoch den Mohren wachsam gemacht und einige Worte des Bruders beim Abschied hatten seine Aufmerksamkeit erhöht. So gelang es ihm, die Wahrheit zu entdecken.

Im Augenblick stand auch sein Entschluß fest, daß er sich nicht auf die Mittel der Griechen verlassen könne, sondern selbst alles aufbieten müsse, den Herrn, den er mit einer seltsamen Hingebung liebte, zu retten.

Jetzt stand er, um diesen Entschluß auszuführen, von seinen Hütern befreit, in der Straße, aber zugleich auch fiel die Schwierigkeit seines Unternehmens ihm auf die Seele. Er wußte, daß nur wenige Stunden noch zwischen jetzt und dem Tode lagen, und kannte nicht einmal die Namen der Richter seines Herrn, an die er sich zu wenden hatte. Ebenso fiel ihm die Unmöglichkeit ein, jetzt in der Nacht bis zu einem der Befehlshaber zu gelangen, wenn dies für den armen schwarzen Knaben überhaupt möglich war.

Er bedachte, wie wenig man sich hier um ein Menschenleben kümmerte.

Der Name des Kapitäns fiel ihm ein, der ihr Reisegefährte auf dem Wege durch den Balkan nach Silistria gewesen. Er war ein gutmütiger, lustiger Mann und hatte oft mit dem jungen Mohren launig geradebrecht.

Aber wo ihn finden unter den Tausenden? – war er überhaupt noch in Silistria? – wie ihn suchen, da er nicht einmal der fremden Sprache dieser Krieger mächtig war?

Er war hastig immer vorwärts geschritten und so in die belebteren Stadtteile gekommen, wo die Schänkhäuser und Restaurants noch immer geöffnet waren und Ab- und Zugehenden Erholung von den Beschwerden und dem Lärm des Tages boten.

Trostlos sah der Knabe sich um und blickte dann hinauf zu den Sternen. Er wußte ein großes Geheimnis, das vielleicht Hunderten das Leben retten konnte und wollte es verkaufen für das eines einzigen, aber wem konnte er es bieten?

Der Himmel selbst schien ihm Antwort zu geben auf sein Flehen. Indem er an dem Tschardak des » Restaurant des Officiers« vorüberschlich, hörte er eine bekannte Stimme – – ein Mann mit einem Diener, der ein Pack trug, kam die Stufen herunter, er hörte, wie er diesem den Auftrag gab, die Pakete nach der Karawanserei zu tragen und die Maultiere fertig zu halten für den Aufbruch mit dem ersten Sonnenstrahl.

Der Mann war Paswan, der Kiradschia.

Mit einem Freudenrufe sprang der Knabe auf ihn zu – er verstand seine und der Fremden Sprache, er konnte helfen.

Nursah faßte seine Hand, seine Worte überstürzten sich anfangs so, daß der Händler ihn nicht zu verstehen vermochte, bis er ihn in den Lichtstrahl aus einem der offenen Fenster zog und erkannte.

»Armer Bursche,« sagte er mitleidig, »das traurige Schicksal Deines Herrn hat Dich wahrscheinlich auf die Straße geworfen und ohne Nahrung und Obdach gelassen. Du kannst mich begleiten, bis sich etwas besseres für Dich finden wird. Heute Abend noch hörte ich vom Kapitän Depuis, dem Franken, daß er morgen erschossen wird.«

»Der Kapitän? – Wo ist er? – wo verließest Du ihn?«

Vor wenigen Augenblicken dort im Kaffeehause. So lustig er sonst ist, so geht ihm das Schicksal des Hekim-Baschi nahe, und so sehr bedauert er, daß er es, trotz aller Bemühungen, nicht zu wenden vermochte.«

Der Knabe warf sich ihm zu Füßen.

»Bei dem Christus, den er mich erkennen gelehrt, o Paswan, habe Erbarmen mit mir. Ich, ich vermag ihn zu retten. Ich kann seine Unschuld entdecken, ich kann diese Franken hier retten vor großem Unglück. Habe Mitleid mit ihm und laß mich mit dem Kapitän sprechen!«

Der Kiradschia war erstaunt, doch er war ein Mann von gutem Herzen und versprach, den Wunsch des Knaben zu erfüllen. Er hieß ihn warten und ging zurück in das Kaffeehaus.

Bald kam er wieder mit dem französischen Kapitän.

»Frage ihn,« sagte hastig der Knabe, »ob es meinen Herrn retten kann, wenn ich beweise, daß er nichts von dem Verrat in Silistria gewußt und daß ich allein die Nachrichten an die Moskows gegeben und die Boten gesandt habe?«

Der Kiradschia wiederholte die Worte des Mohren auf französisch, aber der Kapitän schüttelte traurig den Kopf.

»Es wird wenig helfen und der Beweis Dir schwer sein. Der Spruch des Kriegsgerichtes ist gefällt, und jeder Aufschub der Vollstreckung selbst dem Prinzen von dem Pascha abgeschlagen. Du würdest Dich selbst unnötig in Gefahr bringen, wackerer Bursche, denn ich glaube, daß Dein Vorgeben nur ein freiwilliges Opfer Deiner Treue ist.«

Nursah hatte mit glühenden Augen an dem Munde des Offiziers gehangen und aus seinen Bewegungen die Antwort gelesen.

Er faßte krampfhaft den Arm des Kiradschias.

»Frage ihn,« sagte er mit glühendem Gesicht, und er bediente sich der Lingua franca, als wolle er den Kiradschia möglichst an einer Verheimlichung seiner Worte hindern, »frage, ob sie ihn freigeben wollen, wenn ich ihnen ein wichtiges Geheimnis entdecke, eine Verschwörung, noch diese Nacht die Stadt in Flammen zu stecken?«

Der Kiradschia blickte erschrocken auf den Knaben – der Kapitän jedoch, der einzelne Worte verstanden hatte, war aufmerksam geworden, so wiederholte jener denn wörtlich die Frage.

» Diantre! Ist dies Wahrheit oder lügst Du, Bursche?«

Der Mohr hatte den Zweifel auf seinen Lippen gelesen.

»Bei der heiligen Mutter Gottes, an die ich glaube! bei den Gräbern meiner Eltern!« beteuerte er.

»Rührt Euch beide nicht von der Stelle,« befahl der Kapitän, »ich weiß, Du verstehst italienisch. Im Augenblick bin ich wieder bei Euch!« – Er sprang zurück in das Café, wenige Minuten später kam er mit einem Offizier zurück. – »Erzähle diesem Herrn, was Du weißt, er spricht italienisch.«

Nursah berichtete mit fliegenden Worten, ohne den Zusammenhang mit der Rettung Wellands zu erwähnen, daß die Griechen um Mitternacht die Magazine der Franken in Brand stecken wollten, von dem Lazarett hatte er selbst nur ungewisses verstanden.

Kapitän Depuis hielt bereits die Uhr in der Hand, während ihm sein Kamerad die Nachricht übersetzte. Einige Worte genügten den Offizieren, um sich über die nötigen Schritte zu verständigen. Während der zweite in das Café zurückeilte, um Lärm zu machen und Meldung nach allen Seiten zu senden, zog Kapitän Depuis den Degen.

»Du weißt den nächsten Weg zu dem Magazin?« fragte er den Kiradschia.

»Ja, Herr!«

»Vorwärts denn und rasch, Ihr Beide weicht nicht von meiner Seite! Ist es, wie Du sagst, und kommen wir zeitig genug, so bürge ich Dir für sein Leben.«

Halb rennend verfolgten sie den Weg. Dem Unteroffizier einer Patrouille, die ihnen begegnete, befahl der Kapitän, sich ihnen anzuschließen, – so, zuletzt im vollen Lauf, betraten sie den Platz und eilten nach dem dunklen Gebäude. Plötzlich strauchelte der Kapitän.

» Morbleu! hier liegt ein Mensch!«

Er bückte sich, ihn zu fassen, zog aber schnell die Hand zurück. »Es ist die Schildwache, sie ist ermordet!«

In demselben Augenblicke schoß eine Flammengarbe in die Höhe, das Lazarett an der anderen Seite des Platzes stand in Feuer. In dem hellen Schein, der sich weithin ergoß, huschten einzelne Gestalten an den Mauern und zwischen den Baracken hin.

»Höll' und Teufel! Die Mordbrenner haben das Lazarett angesteckt. Dort fliehen sie! hinter ihnen drein!«

Der Kiradschia hielt ihn zurück.

»Das Magazin! das Magazin!«

Ein Blick belehrte den Franzosen, daß auch hier das bübische Werk im Gange sei: zwei, drei Flämmchen schlugen aus den Dächern eines angebauten kleinen Häuschens.

Der Flintenschuß eines Soldaten knallte hinter einer jener dunklen Gestalten drein, die an ihm vorüberhuschen wollte; mit geschwungenem Degen sprang der Kapitän auf eine zweite los, indem er dem Unteroffizier zuschrie, die Ausgänge des Platzes zu besetzen.

Zugleich rollten entfernte Trommelschläge durch die Straße und fanden bald ihr hundertfältiges Echo. Menschen kamen in vollem Laufe herbei, mit jedem Augenblick mehrte sich ihre Zahl.

Der Verfolgte war dem Kapitän unter der Hand verschwunden. Während der Hilferuf Nursahs und des Kiradschias bald Menschen genug herbeiführte, um für die Rettung des Magazins zu wirken, forschte der Kapitän nach den Mordbrennern, da er überzeugt war, daß sie noch irgendwo in der Nähe verborgen sein müßten.

Wir haben gesehen, wie sie entdeckt wurden. Geurgios und fünf seiner Gefährten, von den Franzosen überrascht, hatten sich in eine der Baracken geflüchtet, gewiß, in dem folgenden Gedränge zu entkommen. Die Aufmerksamkeit des Kapitäns verhinderte jedoch ihren Plan.

Auf Befehl des Marschalls waren die Gefangenen nach dem Pascha-Konak, als dem nächsten sich eignenden Platz, gebracht worden, der sofort wieder von französischen Wachen besetzt wurde, indem man ohne weiteres die albanesischen und kurdischen Freischaren hinausjagte und die aus dem Lazarett geretteten Kranken hier einquartierte. Obschon das türkische Regiment in der von den Alliierten besetzten Stadt eine Null geworden, machte doch der Marschall Sali-Pascha die bittersten Vorwürfe über die schlechte Polizei, die er übe, und dieser hütete sich daher wohl, von dem Vorfall im eigenen Hause zu sprechen, um so mehr, als er ihn zu seinen besonderen Zwecken auszubeuten suchte.

Als nämlich durch das Geschrei Nausikas, der Nedela – das sich erst erhob, nachdem sie die beiden Griechen hatte entfliehen sehen, und durch den Feuerlärm der Pascha herbeigeführt worden, hatte die Schlaue ihm allerlei Lügen von dem plötzlichen Erscheinen bewaffneter Männer bei ihr erzählt, um sich so gegen ihn und den Baronet sicher zu stellen, ohne jedoch ihre Bekanntschaft mit Caraiskakis zu verraten, und auf diese Weise die Aufmerksamkeit nach dem Gemach des Gefangenen gelenkt. Man fand die Tür von diesem selbst geschlossen und den Arzt noch immer mit dem Baronet beschäftigt.

Die Moslems haben einen unbegrenzten Glauben an die Geschicklichkeit der fränkischen Ärzte, und der Pascha überließ daher den Verwundeten, nachdem er erfahren, daß ihn einer der eingedrungenen Diebe oder Mörder verletzt, der weiteren Hilfe des Doktors, indem er zwei Khawassen als Wache dazu stellte, während er selbst sich mit jener türkischen Ruhe zur Brandstätte begab, die alles Gott anheimstellt.

In dem Audienzzimmer des Paschas war sofort ein Kriegsgericht gebildet worden, das die gefangenen Mordbrenner verhörte; Adjutanten eilten hin und her, den Oberbefehlshabern ihren Rapport zu bringen, der Konak schien plötzlich zum Hauptquartier geworden.

Die Tatsachen lagen so klar, daß das Verhör der fünf Griechen nur kurz war. Das Zeugnis des Kapitäns bekundete, daß man sie in der Nähe des Arsenals und der ermordeten Schildwache und in ihren Taschen noch verschiedenes Material zur Brandstiftung gefunden hatte, die Aussage Nursahs, daß der Plan ein verabredeter gewesen. Vier der Angeklagten leugneten auch weder die Absicht, noch die Tat, weigerten sich aber entschieden, ihre Freunde und Helfer, sowie deren Verstecke zu verraten. Nur einer, von der wütenden Menge übel zugerichtet, bezeichnete das Haus, in dem die Führer sich aufzuhalten pflegten und man die Beweise ihrer Verbindung finden würde, und dessen Lage der Knabe Nursah nur unvollkommen anzugeben vermocht hatte.

Vergebens hatte er während seiner kurzen Aussage versucht, auf die Unschuld seines Herrn zurückzukommen; der Vorsitzende des Kriegsgerichts, nur mit der Feststellung des vorliegenden Verbrechens beschäftigt, verwies alles weitere auf später oder an das türkische Gericht, das den Arzt verurteilt.

Während das Kriegsgericht zur Fällung des Urteils sich zurückzog, war Kapitän Depuis mit einem türkischen Offizier kommandiert worden, mit Hilfe Nursahs den Schlupfwinkel der Griechen aufzusuchen und zu durchforschen. Als das Kommando sich auf den Weg machte, begann bereits die helle Nacht des Orients sich in die Klarheit jener wunderbaren Morgenröte zu verwandeln, die Meer und Land mit ihren Farbentönen überschüttet.

Die Straßen waren noch gefüllt von dem Trubel der Nacht, die erbitterte Menge wich nicht von den Türen des Konaks, sie verlangte die Hinrichtung der Mordbrenner, die ihre schutzlosen Kameraden geopfert. An anderen Stellen machte sich die Bewegung bemerkbar, die dem Aufbruch großer Truppenmassen vorangeht.

Mit dem Aufgang der Sonne sollten die noch zurückgebliebenen Kolonnen nach der Dobrudscha aufbrechen, im Laufe des Morgens die Escadre unter Segel gehen.

Beim Licht des Tages gelang es Nursah leichter, sich zu orientieren und das Haus, aus dem er entflohen, zu finden. Eine unsägliche Angst spannte alle seine Geisteskräfte, beflügelte seine Schritte.

Aber das Haus war leer – Gregor Caraiskakis und die übrigen Verschworenen hatten Zeit gehabt, es zu räumen und alles mitzunehmen, was ihnen Gefahr bringen konnte.

Die sorgfältigste Durchsuchung ergab keine Spur; indem sie das Haus besetzt ließen, kehrten die Offiziere mit dieser Meldung zurück.

Aber die durch die Straßen ziehenden Kolonnen verzögerten ihren Weg – die Sonne war aufgegangen und warf ihre klaren Strahlen über Stadt und Meer.

Je näher sie dem Konak kamen, desto größere Angst durchbebte das Herz des jungen Mohren; sein flehender Blick wandte sich jeden Augenblick vorwurfsvoll auf den Kapitän, der ihm das Leben seines Herrn versprochen, und der ihn vergebens in seiner ihm unverständlichen Sprache zu beruhigen versuchte.

Schon auf dem Wege hatte sie das Gerücht erreicht, daß die Griechen zum Tode verurteilt worden seien und auf Befehl des Marschalls sofort auf dem Glacis der Festung erschossen werden sollten, um die Erbitterung der Soldaten zu beruhigen.

Ein wildes tumultuarisches Geschrei voll bitterer Verwünschungen verkündete ihnen, als sie näher kamen, daß die Verurteilten bereits ihren Todesweg angetreten.

Als sie den Eingang des Konaks erreichten, kam ihnen eine Gruppe englischer Matrosen entgegen, die eine Krankensänfte trugen; daneben ging ein alter englischer Schiffskapitän, von Zeit zu Zeit sorgsam nach dem Kranken sehend. Mehrere türkische Diener begleiteten den Zug und machten Platz für ihn.

Der Offizier war der Kapitän des »Niger«, der Kranke, den er an Bord transportieren ließ, Edward Maubridge.

Nach der Feuersbrunst in der Nacht war der Kapitän mit anderen Offizieren zur Stadt gekommen und hatte den Baronet aufgesucht. Er fand ihn unter den Händen des Arztes, der die letzten Stunden seines Lebens mit einem Werke der Menschenfreundlichkeit füllte. Dieser gab ihm die Versicherung, daß für das Leben des Baronets unter der Hand eines kundigen Chirurgen nichts zu fürchten sei, indem der Stoß des Dolches keine Lebensarterien verletzt und nur starken Blutverlust zur Folge gehabt hatte, der den Kranken auch größtenteils bewußtlos ließ. Da zugleich der Befehl des Marschalls bekannt wurde, daß alle entbehrlichen Räume des Konaks sofort zum Lazarett an Stelle des abgebrannten Gebäudes eingerichtet und benutzt werden sollten, beschloß Kapitän Warburne, den Verwundeten an Bord zu bringen und ihm dort die nötige Pflege zu widmen, statt ihn unter Fremden und in der Ansteckungsgefahr eines Lazaretts zurückzulassen.

Sali-Pascha hütete sich wohl, dieser Einrichtung zu widersprechen und Nedela sah damit ihre Absichten erfüllt, da sich niemand um ihr Zurückbleiben kümmerte.

Kapitän Depuis hatte mit seiner Begleitung den Eingang des Konaks erreicht und ließ hier Nursah im Schutz einer Wache zurück, um seine Meldung zu machen und zugleich nochmals für den Arzt zu sprechen und des jungen Mohren Eingeständnis vorzulegen. Aber er traf weder den Marschall, noch den Prinzen mehr im Konak. Dem Zurückkehrenden stürzte Nursah entgegen, den Kiradschia mit sich fortziehend. Die wilden, verzweifelten Bewegungen des Knaben zeigten ihm zugleich, daß etwas Ungewöhnliches vorgegangen.

»Was ist geschehen? – rasch! denn wir müssen eilen, den Befehl zum Aufschub der Exekution zu erhalten, die um 6 Uhr vollstreckt werden soll.«

»Es ist zu spät!« jammerte Paswan, »alle Mühe ist vergebens, der Pascha hat die Gelegenheit benutzt, das Urteil an dem Hekim-Baschi zugleich mit dem an den Griechen vollstrecken zu lassen; ich sah den Unglücklichen vorüber kommen.«

» Diantre!« fluchte der Kapitän, »sie können noch keine fünf Minuten Vorsprung haben – wir holen sie ein! Seht: – die Hilfe sendet uns Gott!«

Ein Reitertrupp kam die verhältnismäßig geleerte Straße herauf, General Espinasse mit seinem Stabe, der Kommandierende der Expedition nach der Dobrudscha, um seiner Brigade zu folgen.

Der Kapitän sprang an sein Pferd und salutierte.

» Monsieur le Général, retten Sie die verpfändete Ehre eines französischen Offiziers!«

Der General hielt einen Augenblick an.

»Was wünschen Sie, Kapitän?«

Mit fliegenden Worten, während er neben dem Pferde des Generals herging, berichtete der Offizier die Vorgänge, das Wort, das er dem Knaben verpfändet für die Entdeckung des Komplotts und die Selbstanklage desselben in Bezug auf die Spionage in Silistria; endlich den tückischen Streich des Paschas, der die Stunde der Exekution verfrüht. Der General sann einige Augenblicke nach.

»Ich habe von dem Verurteilten gehört und auch, daß man Zweifel an seiner Schuld hegte. Aber die Sache betraf die Herren Türken allein und ging uns nichts an. Jetzt steht es anders. Sie verpfändeten Ihr Wort im Namen des Kommandierenden und das muß gehalten werden, wenn es noch Zeit ist. Wo soll die Hinrichtung vollstreckt werden?«

»Auf dem Glacis am Tor von Baltschick, auf Ihrem Wege, Exzellenz.«

»Vorwärts, meine Herren! Sehen Sie zu, wie Sie nachkommen, Kapitän, lassen Sie aber den jungen Spion nicht von der Seite, damit wir die Sache später untersuchen können.«

Der General setzte sein Pferd in Trab. Nursah lief neben ihm her, der Kapitän folgte, so gut es ging.

Als sie am Tore ankamen, knallte eben eine Salve.

»Rechts, rechts, Herr!« schrie der Kiradschia, der mit dem angstkeuchenden Knaben neben den Pferden her rannte, »das waren die Griechen! – ich sehe das türkische Kommando dort!«

Der General sprengte im Galopp nach dem bezeichneten Ort durch die Platz machende Menge, die der Exekution der Mordbrenner beigewohnt, an dem französischen Kommando vorüber, das um die Leichen der fünf Erschossenen aufmarschiert war – sein weißes Tuch winkte nach einer entfernteren Gruppe – –

Dort stand aufrecht am grünen Wall neben einer offenen Grube ein Mann, bleich, aber fest und mutig – –

Zehn Schritt von ihm traten eben zwölf türkische Nizams an. Die Kolben ihrer Gewehre rasselten auf den Boden.

So rasch der General geritten – Nursah, der schwarze Knabe, war dennoch früher zur Stelle, als er, und stürzte sich zwischen die Soldaten und seinen Herrn, diesen umklammernd und mit seinem Leibe schützend.

»Rettung, Herr! Rettung! Du wirst leben!«

Aber der Arzt stieß ihn verächtlich von sich.

»Ich mag keiner Gnade ein ehrloses Leben verdanken. Jüs-Baschi, kommt zu Ende!«

Vor diesem aber hielt bereits der General.

»Sprecht Ihr französisch, Herr?«

»Du sagst es, Exzellenz.«

»Was wollt Ihr mit dem Manne da tun?«

»Inshallah! Wie Gott will! Er soll erschossen werden. Er ist ein Spion, und das Kriegsgericht hat ihn verurteilt.«

»Dummheiten!« sagte der General. »Wir können unsere Ärzte besser gebrauchen, als sie von Euch Türken erschießen zu lassen. Der Mann ist unschuldig und außerdem – packt Euch zum Teufel!«

Der Jüs-Baschi glotzte ihn groß an.

»O meine Seele! was soll ich sagen – der Mann, Exzellenz, ist mir vom Pascha übergeben, und ich muß ihn erschießen lassen.«

Der General wandte sich kaltblütig zu seiner Suite, die eben herankam.

»Montaigne, reiten Sie nach dem Tore zurück, das, wie ich sehe, eben das erste Regiment verläßt. Beordern Sie eine Kompagnie hierher, und lassen Sie den Platz mit dem Bajonett räumen, wenn diese schmutzigen Schufte sich bis dahin nicht aus dem Staube gemacht haben.«

Ohne sich weiter um den erschrockenen Moslem zu kümmern, ritt er zu dem Verurteilten, der staunend die unerwartete Szene mitangesehen hatte.

»Sie sind frei, Herr,« sagte der General freundlich, »aber es wird gut sein, wenn Sie ohne Zögern Varna für einige Zeit verlassen. Doktor Maineville von den dritten Zuaven ist erkrankt und zurückgeblieben. Sie werden den türkischen Dienst quittieren und seine Stelle einnehmen.«

Der Übergang von dem Gefühl des sicheren Todes zum frischen, gesicherten Leben war zu plötzlich, zu überraschend, um nicht selbst das kräftigste Herz zu erschüttern. Einige Augenblicke wankte der Arzt, wie ein Betäubter, unter dem Schlage, dann raffte er sich auf und streckte beide Hände nach dem General aus.

»Exzellenz – täuschen Sie einen Unglücklichen nicht – mein Name ist beschimpft, meine Ehre verloren! Ich bin als Spion verurteilt!«

»Ich weiß, ich weiß,« sagte ungeduldig der General. »Wir wollen das später in Ordnung bringen. Ihre Rettung danken Sie dem Kapitän hier und dem Geständnis dieses schwarzen Burschen da, der, wie ich höre, die ganze Spionage geleitet hat.«

Der Mohrenknabe sah aus den Augen und Geberden, daß von ihm die Rede war. Er umfaßte demütig die Füße seines Herrn. –

»O Vergebung, Effendi! Du, dem ich so viel verdanke, Dein Zorn wäre bitterer als der Tod.«

Aber der Arzt stieß ihn empört und heftig von sich, daß er weithin zu Boden taumelte.

»Verräter! Du hast meine Liebe und Güte mit Verrat Deines Herrn gelohnt, – geh' aus meinen Augen, für immer, Bube!«

»Nehmen Sie eines meiner Handpferde, Doktor, bis wir zur Kolonne kommen,« befahl der General. »Kapitän Depuis, nehmen Sie den schwarzen Burschen da mit zurück und übergeben Sie ihn dem Kommandanten des Platzes zur weiteren Untersuchung. Und nun, meine Herren, vorwärts, denn wir müssen die Verspätung einholen.«

Der Arzt saß bereits im Sattel des Pferdes, das ein Reitknecht ihm zugeführt. Depuis und der Kiradschia waren mit dem schwarzen Knaben beschäftigt, den die Hand des deutschen Arztes von sich geschleudert und der, betäubt, mit blutender Stirn, am Boden lag.

Der mitleidige Offizier hatte ihm Jacke und Tuch geöffnet und versuchte, ihn zum Leben zurückzubringen.

Plötzlich sprang er erstaunt empor.

»Ein Weib, Exzellenz, – es ist ein Weib!«

Der General blickte schlau und lächelnd bald auf den Arzt, bald auf die Gruppe. Es konnte kein Zweifel sein, die Gestalt, die schwer atmend und eben erwachend vor ihnen lag, gehörte einem Weibe. Der volle, üppige Busen in seiner Ebenholzschwärze quoll aus dem zerrissenen Obergewand den Blicken entgegen. Eine Schnur schlang sich um den festen, kräftigen Hals und schien auf der wogenden Brust etwas Glänzendes, gleich einem Ringe, zu halten. –

»Parbleu!« sagte spöttisch der General, »das Abenteuer wird immer interessanter. Doch Weiber, Kapitän, haben stets das Privilegium des Verrats, und deshalb lassen Sie die schwarze Schöne laufen, sobald sie wieder zu sich gekommen. Galopp, meine Herren!«

Davon sprengte die Kavalkade. Einen Blick nur hatte der Arzt auf das ohnmächtige Mädchen geworfen und dieser eine ihm das Rätsel gelöst, das in dem Knaben ihm schon beim ersten Begegnen bekannte Züge gezeigt hatte.

Nursah – Nursädih!


Cholera morbus!

Während bereits von Paris her die Krim-Expedition im Geheimen beschlossen war und Marschall St. Arnaud seine Vorbereitungen in Varna traf, ergab sich die Notwendigkeit, teils um die Aufmerksamkeit der Russen von diesen Vorbereitungen abzulenken, teils um dem weitern Umsichgreifen der Krankheiten zu steuern, die Truppen in weiteren Distanzen zu dislozieren oder auf Expeditionen auszusenden. Die ungeheure Anhäufung von Menschen auf einem Punkte, die unerträgliche Hitze und die Ausdünstungen von Unreinlichkeiten aller Art, die trotz der strengsten Verbote nach orientalischer Gewohnheit die Straßen und den Hafen Varnas füllten, hatten – wie wir bereits gesehen – die Cholera mit gefährlicher Heftigkeit ausbrechen lassen. Der Marschall sandte daher einen großen Teil der Flotte mit einer embarquierten Truppenzahl unter Canrobert und Sir George Brown mit geheimen Instruktionen an die Küsten der Krim ab.

Diese Instruktionen gingen, wie die griechischen Spione richtig ahnten, nicht auf eine Landung und einen Angriff Sebastopols aus, sondern auf eine möglichst genaue Rekognoszierung der Küsten und ihres Fahrwassers.

Eine solche war um so notwendiger, als die Russen das schlaue Manöver gebraucht hatten, Seekarten über die Ufer des Schwarzen Meeres zu verbreiten, die absichtlich falsch und darauf berechnet waren, jeden Feind zu täuschen.

Zugleich mit der Expedition zur See war eine Landexpedition gegen die russischen Truppen beschlossen worden, welche die Dobrudscha noch besetzt hielten. Diese Expedition erfüllte, wie bereits erwähnt, den doppelten Zweck, das durch die Untätigkeit bei der Belagerung von Silistria bereits erschütterte Vertrauen der Türken auf ihre Alliierten wieder zu kräftigen und die Truppen zu trennen.

Oberst Desaint, der die Dobrudscha durchstreift, hatte die Nachricht überbracht, daß zwischen Matschin, Tultscha und Babadagh noch 10 000 Mann russische Infanterie mit 2 Husaren-Regimentern sich befänden. 1200 Kosaken standen als Vorhut in der Nähe von Küstendsche.

General Yussuf, der berühmte afrikanische Parteigänger hatte mit Oberst Beatson eben die Organisation der Baschi-Bozuks, unter dem Namen der »orientalischen Spahis« vollendet. Der Marschall vertraute ihm das Geheimnis der Krim-Expedition und wie nötig es sei, die Russen durch eine Diversion in anderer Richtung zu fesseln. Er erhielt demgemäß die Ordre, mit seinen 3000 Reitern und zwei Bataillonen Zuaven unter Bourbaki in die Dobrudscha vorzudringen und die Russen zu beunruhigen. Zu seiner Unterstützung wurden staffelweise drei Divisionen aufgestellt, deren erste unter General Espinasse, dem Kommandant en chef der leichten Avantgarde folgen sollte, während die Divisionen des Generals Bosquet und des Prinzen Napoleon als zweite und dritte Linie aufgestellt blieben.

Am 4. August sollten die Truppen wieder eintreffen, um sich am 5. zur Krim-Expedition einzuschiffen.

Man hatte nur eines in diesem Plane vergessen.

Das eine war – die Cholera.

Das Ziel des Marsches für die Division Espinasse war Küstendsche, wo der General sein Lager aufschlagen sollte, um von hier aus die fliegende Kolonne Yussufs zu unterstützen.

Es ist ein trauriges Land, die Dobrudscha, und eine Armee, die es durchzieht, hat mit unsäglichen Mühseligkeiten zu kämpfen, die sich steigern, je näher man dem Donau-Delta kommt. In der nächsten Umgebung Varnas, bis auf etwa 6 Meilen, durchwandert man waldiges Terrain, bald darauf aber sieht man keinen Baum, keine Schlucht mehr, nur von Zeit zu Zeit Senkungen des Erdreichs, in denen sich das Sumpfwasser sammelt. Das Auge schweift über die Flächen, ohne einem Gegenstande zu begegnen, der das geringste Interesse fesseln kann; nicht ein Bach frischen Wassers bewässert jene trostlosen Gelände. Am dritten Tage schlug die Division ihr Biwak in Kavarnac auf. Von da an bestand das, was man Dörfer nannte, aus elenden Hütten von trockenen Steinen, aus denen sich die bulgarischen Familien bei der Ankunft der Franzosen geflüchtet hatten, auf ihren Armen oder ihren zerbrochenen Arabas davontragend, was sie ihr spärliches Besitztum nannten.

Am 25. Juli kam die Kolonne in Mangalia an, – es lag in Trümmern. Schon am andern Nachmittag verließ sie den Ort wieder und wanderte durch trostlose Heiden, auf welche die Sonne ihre glühenden Strahlen sandte. Man nahte dem Trajanswall, über den hinaus Yussuf bereits mit seiner mobilen Kolonne schwärmte, und schlug das letzte Biwak vor Küstendsche, zwischen zwei Höhenzügen, auf. Der Boden hob sich hier wellenförmig, die Oede war hin und wieder belebt; aber es waren nur Trupps wilder Pferde, die sie durcheilten, Schwärme wilder Gänse, die aus den Sümpfen mit lautem Geschrei aufflogen bei der Annäherung des Zuges, oder das Gekreisch der Adler, die in den Lüften ihre Kreise zogen und so wenig an eine Störung gewöhnt waren, daß sie die Soldaten dicht an sich herankommen und mit den Gewehren nach sich schlagen ließen, ehe sie sich erhoben.

Wenn die Nacht kam, dann umkreiste der wilde Hund oder der Schakal mit seinem klagenden Geheul das Lager und die Schildwachen sahen die formlosen Schatten über die Fläche stieben.

In dieser Nacht brach ein furchtbares Gewitter aus, das einen sinnbetäubenden Eindruck auf die ermüdeten Soldaten machte. In wenig Augenblicken war das ganze Lager durch hundert Gießbäche unter Wasser gesetzt. So kam man naß und erschöpft unter dem Strahl der glühenden Sonne am andern Morgen in Küstendsche an, aber man fand einen Trümmerhaufen, dessen Ruinen zum Teil noch rauchten, so daß General Espinasse eine Stunde davon sein Lager aufschlagen mußte.


Es war am Abend des 28., als eine ziemlich starke Abteilung der orientalischen Spahis und zwei Kompagnieen des ersten Zuaven-Regiments unter Leutnant-Colonel oder Colonel, wie er unter den Organisierten genannt wurde, Vicomte de Méricourt, durch die öde, wellenförmige, zum Teil schon hier in Sumpf auslaufende Steppe vordrang. Die Tirailleurs hatten dem Kommandanten angezeigt, daß in der Entfernung von einer Viertelstunde ein tatarisches oder bulgarisches Dorf zu liegen scheine, und der Vicomte, abseits des Yussuf'schen Korps detaschiert, hatte die Stelle zum Biwak bestimmt.

Bei der Ankunft fanden sich in der Tat mehrere halb zerstörte, von Lehm und Binsen errichtete Erdhütten, die sonst den Aufenthalt jener wenigen aber genügsamen Menschen bilden, welche die Gegend bewohnen.

Die Hütten waren leer, nur in einer derselben fand man – was seit vielen Meilen nicht geschehen war – drei der geängsteten Bewohner des Landes in ärmlicher Tracht.

Es war ein Mädchen von hoher, schlanker Figur, schönen Zügen und braunem Teint, das ruhig und zurückhaltend an dem ärmlichen Lager eines Kranken saß, der in Schaffelle gehüllt auf getrockneten Binsen lag. Ein noch ziemlich junger Mensch mit verschmitztem Aussehen kam den Offizieren kriechend entgegen und erzählte in ziemlich verständlicher Lingua Franca, daß sie eine arme bulgarische Zigeunerfamilie und hier, als die Bewohner vor den Moskows flüchteten, zurückgeblieben wären, da ihr Bruder, vom Fieber ergriffen, zu krank gewesen sei, um mit ihnen fortzuwandern.

Auf weiteres Befragen berichtete der Zigeuner, daß die letzten Russen, ein vereinzeltes kleines Kommando Kosaken, vor vier Tagen an der Stelle gewesen und dann nach Isler zu abgezogen seien, wobei er aus den Reden der Reiter gehört habe, daß das ganze russische Korps, das noch die Dobrudscha besetzt hielt, auf dem Rückzug begriffen sei.

Zugleich kam die Meldung, daß die Soldaten in der Nähe das notwendigste Bedürfnis des Krieges auf dem Marsch, Wasser, in einem jener Brunnen gefunden hätten, die mehr aus Zisternen bestehend, äußerst spärlich über das traurige Land verstreut sind und jetzt noch größtenteils von den Russen verschüttet waren. Menschen und Tiere hatten sich sofort um den Rand der Zisterne zusammengedrängt, um mit dem Lebenselement die vertrockneten Gaumen zu netzen.

Die erhaltenen Nachrichten bestimmten vollends den Obersten, an dieser Stelle das nächtliche Biwak aufzuschlagen. Sofort begannen, während die türkischen Reiter sich träge neben ihren Pferden lagerten und ihr hartes Brot verzehrten, die Zuaven jene fliegenden Gezelte aufzuschlagen, die ihre Erfindung sind, indem sie ihre Lagersäcke auftrennten und sie, je zwei und zwei zusammenbindend und durch Stäbe stützend, Windschirme daraus machen, in deren Schutz sie ihre Feuer anzünden. Die Erfahrung hat den Nutzen dieser Einrichtung erwiesen, und Bedeau, der ehemalige Oberst der Zuaven, regelte sie und führte sie bei dem ganzen Regiment ein. Während die Fouriere die Verteilung der geringen Lebensmittel vornahmen, machte ein Teil der Mannschaften aus dem trockenen Dünger der Steppentiere und Binsen Feuer an, um an der Flamme den Kaffee zu kochen, der im Notfall die sonst beliebte Abendsuppe ersetzen muß, indem man Zwieback in den Kaffee reibt und so eine Art von Pastete macht. Der Zuave hat das Talent, überall etwas zu finden, wo kein anderer Soldat das Geringste entdecken würde, und so sah man denn auch bald mehrere der Krieger daherkommen, in ihren Mützen jenes der türkischen Steppe eigentümliche Tier, die kleine Landschildkröte tragend, die ihnen zu einer kräftigeren Speise verhelfen sollte. Kaum war die Entdeckung gemacht, als die halbe Kompagnie sich auf die Jagd begab, um Schildkröten zu fangen, und da bei jedem Zuge dieser eigentümlichen Soldaten sich wenigstens einer befindet, der sich rühmt, ein guter Koch zu sein, so waren in einer halben Stunde wenigstens zehn verschiedene Zubereitungen des Tieres im Gange.

Der Oberst hatte seine Lagerstätte in der Nähe der Hütte aufgeschlagen, in der er die Familie gefunden, es vorziehend, durch das Biwakieren unter freiem Himmel dem widrigen Schmutz und der dumpfen Atmosphäre dieser kaum für Menschen geeigneten Löcher zu entgehen. Dabei leitete ihn außerdem die Absicht, das in ihrer Rassen-Eigentümlichkeit wirklich schöne Mädchen vor den Zudringlichkeiten der französischen Soldaten zu schützen, die in diesem Punkt ein sehr weites Gewissen haben.

Nachdem der Colonel selbst die Posten revidiert, kehrte er zu seinem offenen Biwak zurück, wo sich die Offiziere der kleinen Schar bereits versammelt hatten und ihren Anteil an den gerösteten Schildkröten nahmen. Einer der Burschen hatte dazu in dem Wasserkessel mit einer Flasche Rum einen Grog gebraut.

Die Gesellschaft debattierte eben über den trotz des Zusatzes von Rum abscheulich schlechten Geschmack des vorgefundenen Wassers, als der Colonel mit dem Kapitän-Adjutanten Feverrier hinzutrat.

» Pardioux« schwor Kapitän Brice de Ville, dessen gascognischen Ursprung das Wort verriet, »die Fiebersümpfe am Auri-Gebirge enthalten wahrhaftig besseres Zeug als diese stinkende, trübe Flüssigkeit. Prüfen Sie selbst, Colonel, unsere Leute müssen krank werden, wenn sie das Zeug genießen.«

»Was wollen wir machen?« lachte Leutnant Lesorier, »können Sie wie Moses eine andere Quelle in der Wüste schaffen? Unsere Wasserschläuche sind bis auf den letzten Tropfen geleert.«

Der Vicomte hob den ihm dargebotenen Becher und prüfte mit Auge und Nase das Getränk. Es roch so abscheulich, daß er es ohne weitere Probe auf den Boden goß. Sein Auge fiel dabei zufällig auf den jungen, zerlumpten Zigeuner, der am Eingang der Hütte kauerte und die Gruppe der Offiziere neugierig beobachtete, nachdem er sich zu verschiedenen Dienstleistungen eifrig hinzugedrängt hatte.

Er winkte ihn heran.

»Dein Bruder ist wahrscheinlich vom Genuß des schlechten Wassers dieser Gegend erkrankt?«

»Ich bin Dein Sklave,« sagte der Zigeuner demütig. »Wir trinken von keinem Brunnen in diesem Lande, unsere Nahrung ist der Tau des Himmels, den wir auffangen.«

»Also sind die Quellen dieses Bodens gefährlich?«

»Es gibt gute und schlechte, wie sie Gott gemacht hat. Unser Gesetz befiehlt uns, das Wasser des Himmels aufzufangen.«

»Du kennst diese Gegend?«

»So ziemlich. Wir sind zwar auf der Flucht vor den Moskows hierher gekommen, aber ich habe sie in diesen Tagen viel durchstreift.«

»Du sollst uns morgen früh zum Führer dienen und gut dafür bezahlt werden.«

»Das Kind Aldebarans wird dem Befehl des tapfern Franken gehorchen. Welchen Weg befiehlst Du, daß ich Euch morgen führe?«

»Wir werden den Russen nach Isler zu folgen. Wie weit entfernt ist die See?«

»Kara Irman ist eine Tagereise von hier.«

»Der General,« wandte sich der Colonel zu den Offizieren, »wird auf der Hälfte des Weges zu uns stoßen.«

»Wissen Sie, Vicomte, wie weit Yussuf Befehl hat, vorzudringen?« fragte der Major, der die beiden Kompagnien kommandierte.

»Ich weiß nur, daß die Kolonne am 5. wieder in Varna sein soll.«

»Sie glauben also an eine Einschiffung?«

»Alle Zeichen deuten darauf hin, doch ist Zweck und Zeit Geheimnis der Oberbefehlshaber.«

» Cap de Bioux! was kann es anders sein, Kapitän,« sagte lächelnd der Colonel.

Der letzte Teil des Gespräches war zwar französisch gesprochen worden, dennoch horchte der Zigeuner eifrig, als könne er es verstehen.

Die Offiziere hatten ihre Zuflucht zu den Feldflaschen genommen, und das unvermischte Getränk – Rum, schlechter Kognak oder Wermuth-Liqueur – machte fleißig die Runde. Es war bereits finster geworden und die Soldaten begannen sich zu lagern.

» Peste!« sagte der Gaskogner, »es ist doch eine verfluchte Gegend, und mir ist immer, wenn ich mich umschaue, als müßte ich hier meine Gebeine lassen. Wenn die Herren Russen uns nur wenigstens noch einige Motion verschaffen wollten. He, Bursche!« er wandte sich zu dem jungen Zigeuner, »laß die junge Hexe, Deine Schwester, uns wahrsagen, oder uns etwas vorsingen und tanzen. Ihr Zigeuner versteht ja allerlei Teufelskünste.«

Die Offiziere fielen im Chor ein mit jener Ungeniertheit, die im französischen Dienst, außer unterm Gewehr zwischen den Offizieren aller Grade, ja selbst zwischen diesen und den Mannschaften herrscht, und die sich in ihrem Vergnügen wenig um die Gegenwart des Obern kümmert.

Der Zigeuner war in der Erdhütte verschwunden und kam gleich darauf mit dem Mädchen an der Hand wieder zum Vorschein. Der rote Glanz des Feuers beleuchtete die in phantastische Lumpen gehüllte Gestalt; aus dem Kopftuch, das ihr schwarzes Haar umhüllte, schauten die dunklen Augen kalt und finster auf die Gesellschaft. Ihre Hand hielt die kleine, der Balalaika ähnliche Zither der Bulgaren.

Der Colonel wandte sich freundlich zu dem Mädchen.

»Willst Du uns eines Deiner Nationallieder vorsingen, so soll ein Geschenk Dir die Mühe lohnen.«

Der Zigeuner sprang dazwischen.

»Sarscha versteht die Lingua Franca nicht, blanker General. Sie spricht nur türkisch und bulgarisch.«

»Dann, meine Herren,« sagte lächelnd der Vicomte, »werden wir auf das Vergnügen eines nationalen Konzertes als Nachtisch wohl verzichten müssen, denn mit unserem türkisch ist es noch schlecht bestellt.«

»Nicht doch, Colonel. Wir rufen Franconville von Ihren Spahis, der kann uns dolmetschen. Er spricht türkisch.«

Nach wenig Augenblicken schon kam der Gerufene herbei, einer jener französischen Abenteurer, die sich seit vielen Jahren im Orient aufhielten und jetzt vielfach als Dolmetscher von den Truppen verwendet wurden. Er war Unterleutnant bei den neu organisierten Spahis und erklärte sich bereit, jeden Vers der Sängerin auf Französisch zu wiederholen.

»Laß Deine Schwester beginnen. Dieser Herr wird uns jeden Vers übersetzen.«

Das Mädchen sah mit einem seltsamen Blick auf die Gruppe, die neugierig und schweigend lauschte. Dann griff sie in die Saiten, daß die Dissonanzen widerlich hinaus schallten in den Kreis, der sich immer zahlreicher um sie bildete, und begann mit einer eintönigen und dennoch weithin dringenden Stimme jenen furchtbaren Gesang, in dem der apathische bulgarische Charakter alle jene Jahrhunderte alten Klagen gegen den Halbmond zusammendrängt.

Ȇber das Gebirge kam die Pest,
Hinter Stambul ist ihr schwarzes Nest.

Grün war das Gebirg' und schön betaut,
Aber es verdorrten Baum und Kraut.

Und das Heilkraut ist zuerst verdorrt,
All' die kleinen Vöglein flogen fort.

Denn vom Berge schritt die Pest ins Tal
In Pravadi fing sie an die Qual.

Klopfend ging sie dort von Haus zu Haus,
Leichen warf man auf das Feld hinaus.

Erst nur Türken traf ihr schwarzer Hauch,
Später traf sie fromme Christen auch.

Auch die Raben flogen fort vom Schmaus,
Nur der Storch blieb auf dem leeren Haus.

Auch der Treue fiel zuletzt vom Dach,
Und es flogen ihm die Jungen nach.

Schwarz vor Ärger ist die Pest zu seh'n,
Eitlen schwarzen Schleier läßt sie weh'n.

Sie ist eine stumme, alte Frau,
Welk ist ihre Brust, ihr Auge grau.

Nur wenn Jesus Christ in Schlummer fällt,
Steht sie auf und wandelt durch die Welt.

Als der Nordwind unsern Herrn geweckt,
Floh sie über's Schwarze Meer erschreckt.«

Der Leutnant der Spahis wiederholte Vers für Vers die Worte den Zuhörern.

Je weiter er kam, desto stiller wurde es im Kreise, desto unheimlicher lagerte sich das Grauen rings umher.

Der Gascogner sprang auf.

» Cap de Bioux! – Halte ein mit diesem Unkengesang, der einem das Mark in den Adern erstarren macht. Es ist Zeit genug für den Soldaten, an die Krankheit zu denken, wenn sie ihn beim Schopf hat.«

Ein einzelner, lauter, langgedehnter Schrei vom Ende des Biwaks her schien ihm zu antworten.

»Der Doktor! wo ist der Doktor?«

Ein Zuave kam mit der Nachricht gelaufen, daß zwei Kameraden plötzlich bei ihrem Nachtmahl erkrankt seien.

Die beiden Chirurgen, die sich bei der Truppe und in dem Kreise der Offiziere befanden, erhoben sich ziemlich langsam und gleichgiltig, bis ein ernster Blick des Colonel sie zur Eile mahnte. Der Gang der heiteren Unterhaltung war durch das Lied und die Meldung zerstört, und man traf daher allseitig Anstalten zum Nachtlager, während der Vicomte unruhig mit dem alten Major auf und ab schritt, bemüht, seine Besorgnis zu verbergen.

Die Zigeunerin war nach dem unheimlichen Liede wieder verschwunden, niemand dachte mehr an die Possen, die man zur Unterhaltung mit ihr vorgehabt. Ein leichter Nebel, wie diese Sumpfgegenden stets bei Nacht aushauchen, hatte die weite Fläche eingenommen und gab den Gestalten und Gegenständen etwas Verschleiertes, Gespensterhaftes.

Plötzlich hörte der Vicomte in seinem Rücken eine Stimme sich anmelden:

» Monsieur le Colonel!«

Sich mit seinem Begleiter umdrehend, sah er den einen der beiden Chirurgen vor sich, und das blasse erschrockene Gesicht des jungen Mannes schien ihm nichts gutes zu verkünden.

»Was gibt es, Fremont?« fragte der Major. »Was fehlt den Leuten?«

»Ich rapportiere,« sagte der Wundarzt mit leiser Stimme, »daß die beiden Leute von der Cholera ergriffen sind. Drei andere zeigen ebenfalls Symptome.«

Die beiden Offiziere fuhren erschrocken zurück.

» Morbleu!« rief der Major, »das fehlt uns in dieser Wüste noch! Sie werden ein gewöhnliches Übel gleich für eine Seuche halten.«

»Weder mein Kollege noch ich können uns darin irren, Herr Major,« sagte der Chirurg. »Wir haben in den Lazaretten in Varna Dienste geleistet und verstehen, wenn wir auch keine promovierten Ärzte sind, doch genug von der Krankheit, um zu wissen, daß die vorliegenden Fälle von der rapidesten Art sind.«

Der Vicomte nahm den Major am Arm.

»Schweigen Sie, Herr, über die Meldung, die Sie uns gemacht und den Charakter der Krankheit, auch wenn sich noch weitere Fälle zeigen sollten. Gehen Sie zurück, und lassen Sie die Kranken absondern, ich werde sogleich zur Stelle sein.«

Während der Chirurg zu dem Lager zurückkehrte, führte der Vicomte den Major eine Strecke seitwärts.

»Der Zug nach der Dobrudscha,« sagte er, »ist hauptsächlich unternommen, um die Truppen der Krankheit wegen abzusondern, die in Varna furchtbarer wütet, als die Bulletins zugestehen. Ich habe bestimmte Ordres für den Fall, daß die Krankheit ausbricht. Wir werden den Mannschaften vier Stunden Ruhe gönnen und uns dann auf den Weg machen. Gebe Gott, daß die Seuche sich nicht weiter verbreitet, denn – – –«

Er schwieg.

Der alte benarbte Major, der fünfzehn Jahre in Afrika gefochten, sah ihn starr an.

»Denn – – was denn?«

»Es ist unmenschlich, – aber die Befehle sind peremptorisch, – ich soll die an der Cholera Erkrankten auf dem Wege sich selbst überlassen.«

»Fluch dem, der diesen Befehl gegeben!« rief der alte Soldat entrüstet. »Möge er selbst nicht auf dem Felde der Ehre, sondern auf dem schlechten Krankenlager enden wie ein Hund. Geben Sie Ihre Befehle, Leutnant-Colonel; Major Estolles wird zu gehorchen wissen, wenn er auch den Befehl für eine Schande der französischen Armee hält.«

Der Vicomte faßte seine Hand.

»Sie wissen, wie ich selbst darüber denke und wie sich mein eigenes Herz empört. Lassen Sie uns vereint alles mögliche tun, um dem Übel zu begegnen.«

Sie begaben sich sofort zu dem Biwak, wo bereits große Unruhe herrschte. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln hatte sich die Nachricht von dem Ausbruch der Cholera verbreitet und die unerschrockenen, leichtherzigen Krieger, die ohne Bedenken den Feuerschlünden einer Batterie entgegengingen, steckten die Köpfe zusammen und zitterten bei dem Gedanken an den Tod durch die Seuche.

Die Befürchtungen waren leider nicht unbegründet. Von den dreihundert Zuaven waren, als die Offiziere an die Stelle kamen, die sofort durch Wachen isoliert wurde, bereits vierzehn Mann von der Krankheit ergriffen, vier davon rangen in Todeskämpfen und starben während ihrer Anwesenheit.

Der ältere der beiden Chirurgen erklärte, daß das Wasser des Brunnens den rapiden Ausbruch herbeigeführt haben müsse.

Der Kolonel ließ Schildwachen an den Brunnen stellen und befahl, ihn bei dem nächsten Tageslicht zu untersuchen.

Außer den abseits lagernden und um die drohende Gefahr unbekümmerten Moslems schlossen nur wenige in dieser Nacht die Augen.

Die Rapporte der Ärzte wiederholten sich von Stunde zu Stunde; als die Morgendämmerung anbrach, waren bereits vierundzwanzig Erkrankungen unter den Zuaven, drei unter den Spahis gemeldet.

Der Vicomte befahl den Aufbruch, und da er es nicht über sich gewinnen konnte, die Kranken ihrem Schicksal zu überlassen – deren Aufnahme in die nachfolgenden Arabas. Während er nach der Hütte der Zigeuner schickte um den Führer holen zu lassen, entstand ein wütendes Geschrei in der Gegend des Brunnens.

Mit aschbleichem Gesicht trat der alte Major zu ihm; dem Tapfern, der vor keiner Gefahr gebebt, malte sich Abscheu und Entsetzen in den Zügen.

»Die Höllenbrut!« sagte er, »meine Leute haben soeben auf dem Grunde dieser Cisterne die Leichname dreier russischer Soldaten gefunden. Der Schurke von Zigeuner mußte darum wissen, die ganze Familie soll baumeln!«

Aber die Ordonnanz brachte die Nachricht, daß die Hütte leer sei. Selbst der Kranke war verschwunden. Eine Nachfrage bei dem Wachtposten ergab, daß schon im Anfang der Nacht der Zigeuner und seine Schwester mehrmals hin und her gegangen waren, was die Wachen, da der ausdrückliche Befehl des Kolonel lautete, die Familie nicht zu belästigen, nicht beachtet hatte. So war es ihnen leicht geworden, auch über die Linie der ausgestellten Vorposten zu entwischen.

Der Eindruck, den der schauerliche, Ekel erregende Fund machte, war kaum zu bewältigen. Schon während der kurzen Anstalten des Aufbruchs mehrte sich die Zahl der Kranken. Als die Kolonne sich beim ersten Sonnenstrahl über die öde Fläche bewegte, blieben mehrere Soldaten auf dem Wege zurück – alle Ermahnungen der Offiziere halfen nichts, – die Krankheit machte bei einzelnen so rasche Fortschritte, daß schon nach kurzer Dauer das Delirium eintrat.

Man war noch keine zwei Meilen marschiert, als der Major der Zuaven den Kolonel rufen ließ, der sich bald bei dem Vortrab der Spahis, bald bei dem Nachzug der Kranken-Eskorte aufhielt, überall anordnend, antreibend.

»Freund,« sagte er ihm, »meine Stunde ist gekommen, der Ekel wird mich töten. Ich fühle die Krankheit in meinen Eingeweiden; es bleibt keine Rettung für Sie und die Kolonne, als daß Sie streng den Befehl des Generals befolgen. Lassen Sie mich mit den anderen zurück, und suchen Sie das Korps Yussufs zu erreichen, wo wenigstens Feldapotheken zur Hand sind. Ich empfehle Ihnen meine Braven, Kamerad, – retten Sie, was Sie können, davon. Dieser Feldzug wird viele französische Leben kosten.«

Der tapfere Veteran war vom Pferde gestiegen und saß an einem der Steppenhügel; schon zeigten sich die Vorboten der Krankheit, doch wollten ihn seine wackeren Krieger unter keinen Umständen verlassen. Der Vicomte am wenigsten. Es mußte ein rascher Entschluß gefaßt werden; Méricourt ließ die Vorhut der Spahis Halt machen.

»Fünfzig Mann des ersten Tabors sitzen ab und schicken ihre Pferde für die Kranken zurück, die sie zu Fuß eskortieren. In gleicher Weise wird mit den Kranken der Reiterei verfahren!«

Der Mulasim (Leutnant) übersetzte die Ordre; ein rebellisches Geheul der befehligten Abteilung folgte.

»Fluch über die Dschaurs. Wir wollen ihre Mütter verdammt sehen, ehe wir den ungläubigen Hunden unsere Pferde geben! Mögen sie umkommen, es ist ihr Schicksal!«

Das Rebellenblut der alten Baschi-Bozuks drohte in vollen Flammen auszubrechen, doch der Colonel verstand es, sie zu behandeln.

»On-Baschi Jussuf?«

Der riesige Mohr, Nursähdi's Bruder, ritt vor. Er verstand von der Lingua franca genug, um die Befehle des Kommandierenden zu begreifen und war sein Liebling, der sich, wie einst seine gemordete Gebieterin Mariam, auf seinen blinden Gehorsam verlassen konnte.

»Lass' den Burschen dort absitzen und sein Pferd zurückführen! Bei der geringsten Weigerung weißt Du, was Du zu tun hast!«

»Pek äji, Bey!«

Der Mohr wandte sich zu dem nächsten Reiter:

»Inshallah! ist es Dir gefällig, von Deinem Pferde zu steigen, mein Bruder?«

»Olmas!«

Der Halunke starrte gemütlich hinaus in die Luft, als sei der militärische Gehorsam ihm, trotz der zahlreichen Prügel bei der Organisation, ein unbekanntes Ding geblieben.

Ohne ein Wort zu sagen, schlug der Mohr ihn mit dem Knauf der Pistole so gewaltig auf den kahlen Schädel, daß er aus dem Sattel zu Boden stürzte. Dann wandte er sich mit der gleich höflichen Frage an den zweiten, der, so schnell es sein Phlegma erlaubte, dem Befehle gehorchte. Die Mulasims machten es auf der anderen Flanke ebenso und in fünf Minuten waren die Sättel geräumt und die Pferde zum Transport der Kranken bereit. So wie die Sache einmal durchgesetzt war, hörte man keinen Laut des Widerspruchs mehr, und die Bozuks leisteten willig den Kranken alle Hilfe.

Trotz des Beistandes jedoch kam der Zug nur langsam vorwärts, und eine immer mehr anwachsende Zahl der Leichen bezeichnete seinen schaurigen Weg, je höher die Sonne stieg, je heißer ihre Strahlen über die Fläche brannten.

Aber Seuche und Öde sollten nicht ihr einziger Feind bleiben!


Die Angabe des Zigeuners, daß Krankheit des Bruders die Familie in dem Tatarendorf der Dobrudscha zurückgehalten, war insofern Wahrheit, als eines der Mitglieder der kleinen Gesellschaft allerdings am Fieber litt, doch war die Krankheit bereits den Heilmitteln der Kinder der Steppe gewichen und hätte sie nicht an der Flucht gehindert. Das Zurückbleiben geschah vielmehr absichtlich, denn der junge Zigeuner war Mungo, der russische Spion, mit Sarscha, seiner Schwester und deren Liebhaber Aleko Pelin, dem Bojarensohn, und streifte im Auftrage der russischen Befehlshaber durch die südlichen Steppen der Dobrudscha, um nach der Kunde, die der Knabe Mauro von dem Aufbruch der Expedition gebracht, den Weg der französischen Truppen zu belauern.

Als Sarscha ihr Unglück verkündendes Lied gesungen, schritt sie einsam und finster in den Abendnebeln davon, ohne in die Hütte zurückzukehren. Sie verachtete das Gewerbe des Bruders, ja, sie achtete wohl selbst nur wenig der leidenschaftlichen Liede des jungen Bojaren, dennoch trieb sie die Vereinsamung, die auf ihrem Stamm lag, aus den Kreisen des Volkes, und ließ sie dem Manne sich anschließen, der ein Herz für sie zeigte. Überdies lastete in der Heimat das Gerücht auf ihr, daß die Familie den Russen den Weg durch die Sümpfe von Oltenitza verraten, und wenn auch Zinka, ihre Mutter, vor jeder Gefahr durch den Ruf des bösen Auges gesichert und in ihrer einsamen Sumpfhütte unbelästigt blieb, warfen die walachischen Bauern doch schlimme Blicke auf Sohn und Tochter. Darum hatte Mungo, nach seiner Rückkehr von Krajowa, Sarscha und ihren Liebhaber beredet, ihm auf das rechte Ufer der Donau ins Lager der Russen zu folgen.

Der junge Zigeuner stand infolge der Schlauheit und Kühnheit, die er bei jeder Gelegenheit an den Tag gelegt und die durch Kapitän Meyendorf gebührend gerühmt worden, bei den russischen Stabsoffizieren in dem Rufe eines ihrer besten und zuverlässigsten Spione, und es fehlte ihm daher nicht an reichen Belohnungen, deren Ertrag er in der einsamen Hütte seiner Mutter verbarg. Umsichtig, keinen Laut verlierend, beobachtete er unter der Maske der kriechenden Angst und Demut jetzt den Kreis der französischen Offiziere und die Aufregung, die bei der plötzlichen Kunde von dem Ausbruch der Seuche sich bald durch das ganze Biwak verbreitete. Der günstige Augenblick der Flucht schien ihm gekommen, und indem er in die Hütte zurückkehrte, hieß er den Bojarensohn sich der Krankenvermummung entledigen und sich dagegen in ein altes Gewand und Tuch Sarschas hüllen. Dann öffneten sie in der Rückwand der Hütte ein mit getrocknetem Schilf verstopftes Loch und krochen ins Freie. Der Nebel und die allgemeine Unruhe erleichterten ihr Entkommen, und zwischen dem hohen Gras gelangten sie bald über die Postenkette hinaus. Hier fanden sie Sarscha, und alle drei eilten nun über die öde Fläche einer etwa eine Meile entfernten Stelle zu, wo zwischen zwei Hügeln die halbverfallene steinerne Umfassung eines cisternenartigen Brunnens sich erhob, der gutes Wasser enthielt, dessen Dasein aber der Spion den Franzosen sorgfältig verschwiegen hatte.

In der Vertiefung des Bodens ruhten hier fünf jener kleinen Steppenpferde, auf denen der Kosak die Ebenen der Dobrudscha, wie die eines Dnjepr und Don durchschweift. Auf der Mauer des Brunnens saß eine dunkle Figur, die lange, schlank am Nachthimmel sich abzeichnende Lanze zeigte den Kosaken; ein zweiter lag schlafend am Boden.

»Stoi! – Werda?«

»Gutfreund, Brüderchen,« lachte der Zigeuner. »Wecke rasch den Leutnant, wir bringen Nachricht. Die Franzosen sind in der Falle.«

Der Ruhende sprang empor; es war der junge Kosakenoffizier, der die Meldung des unglücklichen aber tapferen Selwan in der Nacht des großen Ausfalles vor Silistria zu den Schanzen an der Donau hatte bringen sollen.

»Gott und die Heiligen mögen deinen Weg segnen, Bursche. Was bringst Du für Nachricht? – Du hast mich lange warten lassen!«

Mungo berichtete, während Sarscha und ihr Liebhaber sich an dem Wasser des Brunnens erfrischten.

»K tschortu!« fluchte der Kosak, »es wird unmöglich sein, sie diese Nacht zu überfallen, denn der General ist zurückgegangen und steht über zwanzig Werst von hier entfernt. Gleichviel, er muß die Nachricht erhalten, und wenn Du die Richtung ihres Marsches gut verstanden, sind wir ihnen zur rechten Zeit auf den Fersen. Zu Pferde, Freunde! Zu Pferde!«

Wenige Minuten darauf jagte die kleine Schar nach Norden zu durch die einsame Steppe.


Es war um Mittagszeit, als die Franzosen und Spahis auf ihrem traurigen Rückzug an einer Hügelkette angelangt waren, die sich nach dem Trajanswall hinzog. Hier ließ der Leutnant-Colonel die Kolonne rasten, denn selbst die Gesunden vermochten in der brennenden Hitze nicht mehr vorwärts zu kommen. Die Krankheit wütete furchtbar in den Reihen. Das heitere Gelächter, der übermütige Gesang der Zuaven waren verstummt, – von den beiden Kompagnien fehlten bereits sechsundsiebenzig Leute, darunter der tapfere Major, der, eine Meile von dem Halt entfernt, sein aus zehn Schlachten gerettetes Leben ausgehaucht. Eine tiefe Niedergeschlagenheit, ja Mutlosigkeit hatte sich der französischen Soldaten bemächtigt, während die Moslems jetzt die Zähigkeit ihres Charakters bekundeten und sich gleichgültig in alles Ungemach und alle Leiden des Zuges fügten.

Der Vicomte hatte verschiedene kleine Trupps zur Rekognoszierung und zu Nachforschungen nach Wasser ausgesandt und sich eben finster und erschöpft auf den Boden gesetzt, um einige Augenblicke auszuruhen, während unfern von ihm mehrere Soldaten eine breite Grube in den dürren Boden schaufelten, bestimmt, die Leichen des Majors und der nach der Ankunft auf dem Lagerplatz gestorbenen Krieger aufzunehmen. Ringsum zeigte die Gegend den eigentümlichen Charakter dieser Wüste. Auf den alten Hügeln saßen und flatterten mächtige Geier, gleich, als begleiteten sie, Tod und Beute witternd, den Zug. Zahllose Völker von Rebhühnern stürzten schwirrend unter den Hufen der Pferde aus dem dürren Grase hervor, wenn einzelne Wachen von Hügel zu Hügel ritten. Große Heerden von Trappen strichen durch die Ebene, gleichsam zur Jagd verlockend – aber den Jägern fehlte die Lust und die Kraft, denn auf ihren Fersen saß selbst ein grimmiger Feind, – der Tod in seiner furchtbarsten Gestalt! – Rechts und links und hinter ihm die stummen Gruppen der Soldaten, auf das glühende Erdreich geworfen, in finsterer Apathie erwartend, daß der Drache der Krankheit auch sie erfassen und verschlingen werde; – nur die Schildwachen, dem Gebote der militärischen Disziplin gehorchend, auf und ab gehend, oder mit bleichem Gesicht, auf das Gewehr gestützt, nach dem Hintergrund des Lagers hinhorchend, von wo der Leidensruf, das Todesstöhnen so manches tapferen Kameraden erklang. Und über diesem Bild von wilder Natur und menschlichem Elend, menschlicher Schwäche und Ohnmacht der helle, klare Himmel, der glühende, versengende Strahl der Julisonne! Der Vicomte schauderte bei der Betrachtung dieses seltsam-schrecklichen Bildes, als plötzlich der On-Baschi Jussuf mit zwei Begleitern mit verhängtem Zügel über die wellenförmige Ebene dahersprengte. Zugleich vernahm das scharfe Ohr des Offiziers den entfernten Knall von Pistolenschüssen, und von mehreren Punkten her sah man die einzelnen Patrouillen zurückgejagt kommen.

Noch ehe der On-Baschi die Schildwachen der kleinen Lagerstätte erreicht hatte, war der Kommandant auf den Füßen und ließ Alarm schlagen. Der Ruf: »Die Russen! die Russen!« ging mit Gedankenschnelle durch die Gruppen und als hätte das Wort, das ihnen einen neuen Feind verkündete, den Bann des Grauens und der verzweifelnden Apathie von aller Gliedern gelöst, kam Bewegung in die Menge, ordneten sich die Reihen rasch auf das Wort der Offiziere.

Die Ankunft des Mohren, der vor dem Colonel sein Pferd parierte, brachte die Bestätigung:

»Die Kosaken, Bey! sie sind zahllos wie die Heuschrecken!«

Der Vicomte hatte kaum Zeit, seine Anordnungen zu treffen, die mit raschem Überblick der Gefahr dahin gingen, die Seite des Hügelrückens zu halten. Während die Kranken sich selbst überlassen blieben, warfen die Offiziere die Zuaven vor als Postenkette rings um die Stellung. Ihnen schlossen sich die abgesessenen Spahis an, die ihre Pferde zum Transport der Wagen und Kranken gestellt hatten; im Kreise dieser Kette ordneten sich die Reiterhaufen der Spahis.

Es war das erste Mal, daß die Franzosen in diesem Kriege ihre alten Gegner von 1812 und 1813 wiedersahen, die Söhne der Steppe, wie ihre Feinde in Algerien die Söhne der Wüste waren. Es bedurfte kaum des Zurufes, der Ermunterung der Offiziere, um die Leute, die sich in dem hohen, dürren Grase auf die Kniee geworfen, auf einen tapferen Empfang des Feindes vorzubereiten.

Noch während die Spahis in der Formierung ihrer Reihen begriffen waren, sah man über den Kamm der gegenüberliegenden Hügel die kleinen, hurtigen, beweglichen, grauen Gestalten auf unansehnlichen, aber schnellen Pferden daherjagen, die schlanken, spitzen Lanzen in der Faust, diese gefürchtete Waffe, die einst die Franzosen von Moskau bis Paris gejagt hatte. Das »Kuli! Kuli!« der halbwilden Steppenkrieger schallte durch die klare, dünne Luft Unheil drohend herüber, und im nächsten Augenblick erschien die dunkle Phalanx eines Kosaken-Regimentes auf den Hügeln.

Kaum fünf Minuten hielt der Feind an, um sich zu sammeln und die Front zu bilden. Man sah die Offiziere hin und her sprengen, auf die sichtbaren Schwadronen der orientalischen Spahis deutend und dann diesen Wald von Lanzen sich senken und an den Hals der kleinen Pferde pressen. Ein gellender, langgezogener Schrei erfüllte die Luft, dann kam, gleich einer Schwalbe im Stoß, die ganze dunkle Reihe im Galopp daher gejagt.

Der Tod bringende Empfang belehrte jedoch die russischen Offiziere bald, daß sie hier auf andere Gegner gestoßen, als auf ihre gewohnten Erbfeinde, die Moslems.

Der Chok des Kosaken-Regiments ging im vollen Galopp bis auf ungefähr hundert Schritt vor den ruhigen Kolonnen der Spahis. Da plötzlich entwickelte sich auf den Wirbel der Trommel ein Feuer auf der ganzen Verteidigungslinie, kaum 30 Schritt von den Anstürmenden, das mit sicheren Schüssen Pferde und Reiter zu Boden warf. Im Nu sprangen zugleich die Zuaven empor und bildeten eine Phalanx von Bajonetten, an denen die wenigen zurückprallten, die das tödliche Feuer noch so weit hatte vordringen lassen.

Die Reihen des anstürmenden Regiments lösten sich rechts und links in wilder Flucht.

» Vive l'Empereur!«

» En avant, mes braves!«

Der Säbel des Colonel winkte. Im Karriere brachen die halbzivilisierten Reitermassen vorwärts und jagten die Kosaken weit hinüber über das Tal.

Erst der langgedehnte Ton der Hörner rief die Bozuks zurück. Das Auge des tapferen und umsichtigen Führers umfaßte das Schlachtfeld. Da links debouchierten dichte Massen von Feinden über die Hügelreihe herauf: ein zweites Regiment Kosaken und eine Kolonne Infanterie, auf den Pferden der Steppenreiter mit zur Stelle befördert, kam über die Anhöhen.

Die Signale hatten die französisch-türkische Reiterei zurückgeführt. Die Zuaven sammelten sich in Gliedern zur kühnen Verteidigung des Platzes, auf dem sie vielleicht dennoch bald ihr Leben der schrecklichen Seuche zum Opfer bringen sollten. Der Colonel war überall und ermunterte die Seinen.

Es tat Not, denn jeder Blick rückwärts lehrte, daß die ekle, widrige Krankheit unaufhaltsam ihre Opfer forderte.

Der leichtherzige gascognische Kapitän wankte an ihm vorüber, die Faust, die noch den tapfer geschwungenen Säbel hielt, auf den Magen gepreßt.

»Das höllische Wasser wühlt mir im Leib! Ich muß zum Doktor, leben Sie wohl, Colonel – die Lanze eines Russen möge Ihnen ein besseres Ende geben, als es mir beschieden!«

Er stürzte nach wenigen Schritten in Zuckungen zu Boden; der Vicomte ließ ihn aufheben und zu den Chirurgen tragen. Die zurückkehrenden Leute meldeten, daß nur der eine noch seinen Dienst erfülle, der zweite aber gleichfalls in den Schmerzen der Krankheit sich winde.

Einen traurigen, verzweifelnden Blick warf der brave Kommandant hinauf zu dem lichten, klaren Mittagshimmel, der so viel Elend überwölbte. Nicht die Überzeugung entmutigte ihn, daß hier ihrer aller Grab gegraben, nur die bittere Empfindung, daß die Krankheit ihr Sieger und Würger werde und die tapfere Schar fast widerstandslos in die Hand des Feindes gegeben habe.

Und dieser ließ nicht warten. In aufgelösten Reihen plänkelte die Hälfte der Kosaken und die Infanterie rings gegen den Lagerplatz der Franzosen, während das neu angekommene Regiment in geschlossenen Sotnien den günstigen Augenblick abzuwarten schien, um sich auf die Bedrängten zu werfen. Der Colonel ließ im Rücken, wo das fliegende Lager sich an die hinteren Hügel lehnte, so gut es in der kurzen Zeit ging, durch das Aufwerfen eines Grabens und die Aufstellung der Arabas, die das Gepäck und die Kranken bisher geführt, eine Art Verschanzung bilden, welche wenigstens von dieser Seite gegen einen Chok der Reiterei sichern könnte, und sandte die Hälfte seiner Spahis gegen die Plänkler, die anderen und die geschmolzenen Glieder der Zuaven gegen einen Massenangriff zurückbehaltend.

Über die von hohem Steppengras bedeckte Ebene, die zwischen den zwei niedrigen Hügelzügen sich dehnte, entspann sich jetzt ein lebendiges Reitergefecht, in dem die Chancen ziemlich gleich waren, da beide Teile auf dieses Plänkeln und diesen Einzelkampf gewöhnt und geübt waren. Nur hüteten die Kosaken sich, nachdem die Kugeln der Zuaven mehrere Sättel geräumt hatten, der Stellung dieser Gegner zu nahe zu kommen.

Eine Stunde mochte so vergangen sein, als der militärische Blick des Colonel bemerkte, daß ein neuer Impuls unter die Russen zu kommen schien. Reiter sprengten auf dem Hügelrücken hin und her, die Signale riefen die Plänkler zum Sammeln, und offenbar bereitete sich ein allgemeiner Angriff vor, der bei der Überzahl der Russen vernichtend wirken mußte.

Dennoch wollte er Leben und Sieg so lange wie möglich verteidigen und traf alle Anstalten zu einem kräftigen Empfange der Gegner. Das frühere Manöver konnte jetzt nicht mehr glücken, und es galt, die Lanzenreiter festen Fußes zu empfangen. Der Colonel ließ die Zuaven die Mitte und die Spitze des Halbkreises einnehmen und die Spahis die Seiten bilden.

Wie Sturmwind kam das zweite Kosaken-Regiment in vollem Galopp heran, während zwei Sotnien des anderen rechts und links angriffen. Der Stoß war rasch und blutig, aber das regelmäßige Feuer, die kecke, sichere Haltung der Franzosen schlug noch einmal den Ansturm ab, während an den beiden Flanken der Stellung ein wildes Handgemenge entstand. Hierhin warfen die russischen Offiziere ihre Infanterie, und der Vicomte sah, daß in wenigen Momenten der Kampf sich zu seinem Nachteil entscheiden mußte.

In diesem Augenblicke vernahm er den unerwarteten Knall eines Feldgeschützes und das Pfeifen einer Kugel über ihren Köpfen. Ein zweiter und dritter Schuß folgten rasch dem ersten, bevor er noch Zeit hatte, sich' aus dem Kampfgewühl loszumachen und von einer freien Stelle sich umzuschauen.

Die Kugeln waren gegen die vier Sotnien der Russen gerichtet, die als Reserve vor den jenseitigen Anhöhen aufgestellt waren.

Von der Hügelwand über und hinter ihnen in einiger Entfernung qualmte der Rauch der Geschütze und blitzte das Feuer aus dem Pulverdampf, und die Anhöhen entlang jagten türkische Spahis.

Hilfe in der Not – das konnten nur französische Feldgeschütze, die Avantgarde des Generals Yussuf mußte in der Nähe sein – die Russen wußten davon und hatten einen letzten Coup versucht!

Aber es war zu spät – in demselben Augenblick durchbrach die russische Infanterie die gedehnte schwache Verteidigungslinie, die Kosaken folgten, und einige Minuten lang war das ganze so tapfer verteidigte Gelände eine wirre Masse von Kämpfenden, so dicht gedrängt, daß oft nur der Stoß des Säbelgriffes gegen den Feind gebraucht werden konnte. Pferde stürzten und traten ihre Herren unter ihre Hufe, über Kranke und Sterbende ging das Gewühl schonungslos hinweg, Reiter und Infanteristen kämpften neben- und miteinander, oft nicht Freund vom Feind unterscheidend, Weh- und Wutgeschrei, der donnernde Siegesruf der Russen, das herausfordernde Kampfgeschrei der Franzosen, das Jammern der Sterbenden und Zertretenen, dazwischen die zum Rückzug rufenden russischen Signale – –

Mit Mühe gelang es endlich den russischen Offizieren, ihre Mannschaften aus dem Gewirr zu lösen und sie zurückzuführen. Aber der Rückzug löste sich bald in wilde Flucht, denn in Masse schwärmten jetzt die Spahis des französischen Generals heran, und von den näher gekommenen Geschützen hagelten Kartätschen und Granaten über den Steppengrund. Erst auf den jenseitigen Höhen, wo die vier Sotnien die Reserve bildeten, sammelten sich die Regimenter und traten, von der türkischen Reiterei umschwärmt, einen langsamen Rückzug an.

Auf der Stätte des kurzen, aber blutigen Kampfes lagen die Leichen, Verwundeten und Kranken wüst durcheinander, Menschen und Pferde, die verstümmelten, von den Hufen der Pferde zertretenen Opfer des Säbels und der Lanze, Zuaven, Spahis und Russen. Was verschont geblieben von dem blutigen Gemetzel, selbst die Verwundeten und Kranken schleppte sich jubelnd den Rettern entgegen, die jetzt in geschlossenen Kolonnen, den General mit seinem Stabe voran, über die Hügel daherkamen.

Der Säbelhieb eines Kosaken hatte den Colonel über die Stirn getroffen und eine blutende, wenn auch nicht gefährliche Wunde zurückgelassen. Der starke Arm des On-Baschi Jussuf hieb einen zweiten vom Pferde, dessen Lanze den Vicomte im Rücken bedrohte. Von dem Mohren und einigen Offizieren begleitet, sprengte der Vicomte jetzt dem berühmten Namensvetter seines Lebensretters entgegen.

» Ah ciel, Monsieur le Colonel! Sie bluten, die Russen haben Ihnen scharf zugesetzt; wir kamen, von dem Schießen geleitet, zur rechten Zeit!«

Der Vicomte rapportierte das Geschehene. Der weltberühmte kühne Abenteurer, der frühere Gouverneur von Constantine und französische Brigade-General, der einst der Kaburrha, der Tochter des Bey von Tunis Zunge, Hand und Auge des verräterischen Mohren sandte, der ihre Schäferstunde belauscht, war, obgleich über die erste Blüte des Mannesalters hinaus, doch noch immer ein Mann von kühner, schöner Haltung, klein und zierlich von Wuchs, aber ein vollendeter Reiter. Sein scharf und ausdrucksvoll geschnittenes Gesicht verdüsterte sich merklich, als er von dem Ausbruch der Cholera in dem Detachement vernahm.

»Das ändert meinen Vorsatz,« sagte er, »und läßt diese Spitzbuben da drüben ungeschoren entkommen, deren Gros bei Babadagh ich mit einem Nachtmarsch überfallen wollte. Ich kann es nicht mißbilligen, Leutnant-Colonel, daß Sie Ihre kranken Leute nicht im Stich gelassen, und schere mich selbst den Henker um die unmenschliche Ordre des Marschalls. Mit unserem Vordringen aber ists vorbei, und wir müssen unsere nächsten Lazarette oder wenigstens bewohnte Gegenden wieder zu erreichen suchen. Sie folgen uns, Vicomte, mit dem Rest Ihrer Leute; ich werde Ihnen sogleich Ärzte senden. Die Kranken und Verwundeten müssen auf die Bagagewagen verteilt werden.«

Ehe eine Stunde verging, waren die Gräber zur Beerdigung der Gefallenen gegraben und das Corps auf dem Rückmarsch.

Die schrecklichen Leiden der einzelnen Abteilung der Expedition weiter zu verfolgen, ist hier nicht der Ort. Der Tod, der in ihren Reihen wütete, verbreitete sich bald auch unter die Truppen des Generals.

Um 8 Uhr abends hatte man bereits 150 Todte und 350 Sterbende. Es war ein schreckliches Schauspiel, das die mutigsten Herzen mit Grauen erfüllte. Es handelte sich nicht mehr darum, einen Feind zu verfolgen, der stets vor den Blicken am unermeßlichen Horizont der Steppe verschwand, sondern einer Geißel Gottes zu entrinnen. Nur die Energie des tapferen Afrikaners trieb die Truppen auf dem Wege nach der Küste vorwärts, wo man hoffen konnte, Schiffe zu finden und durch die frische Seeluft die Krankheit gemildert zu sehen.

Die Kolonne des Generals Espinasse war bis Kergeluk vorgedrungen, und der Todesengel hatte sie mit gleicher Wut getroffen. Das brave Infanterie-Regiment, das die Kranken aus dem brennenden Lazarett in Varna getragen, hatte den Giftstoff der Ansteckung in seinen Adern mit in die Wüste gebracht und die Anstrengungen des Steppenmarsches ließen ihn bald in voller Schrecklichkeit ausbrechen. Todte und Sterbende lagen haufenweise unter den Zelten. Man hatte keinen Feind gesehen, und dennoch bedeckten Leichen den Boden, wie nach einer Schlacht; man grub Gräber, um die gestorbenen Gefährten zu bestatten, aber bei dem Aufwerfen der Schollen entquollen pestilenzialische Dünste dem Boden; so mancher, der dem Kameraden ein Grab grub, legte die Schaufel nieder, ehe das Werk vollendet war, und warf sich schweigend an den Rand der halboffenen Gruft, um nicht mehr aufzustehen. Die noch Lebenden wurden auf die Pferde gehoben oder von den Kameraden getragen, sogar auf die Fahrzeuge der Artillerie mußte man die Kranken laden. Diese verhängnisvolle Nacht war die zum 30. Juli. An dem anderen Tage vereinigten sich die Kolonnen der beiden Generale, und man konnte deutlich sehen, wie die Furcht vor einem ruhmlosen Ende auch die Häupter der Unerschrockensten zu Boden drückte. Da gegenseitige Hilfe nicht denkbar war, so galt es, jede größere Anhäufung von Menschen zu vermeiden. Die Yussuf'sche Kolonne ging ohne Aufenthalt an den Kampfgefährten vorüber und bewegte sich gegen Mangalia, indem sie auf ihrem Wege, als verhängnisvolle Etappen, zahlreiche Gräber zurückließ, die den Pfad anzeigten, den sie gewandert. Bei diesem Marsch war es, daß der Vicomte durch ein kurzes Wiedersehen des deutschen Arztes die erste Nachricht von seiner Rettung erhielt. Doktor Welland war in voller Tätigkeit und lohnte mit energischer Aufopferung das edelherzige Einschreiten des Generals. So schrecklich die Verhältnisse waren, so herzlich war die Begrüßung von beiden Seiten, und mit Vergnügen hörte der Vicomte, daß, wenn der schwarze Tod sie verschonte, sie bei seinem eigenen Regiment sich wiederfinden sollten.

Die Espinassesche Division erreichte mittlerweile ihr ehemaliges Biwak bei Pallas, wo sie ein Bataillon mit den Tornistern der Infanterie, eine Sektion der Ambulanzen und ihr anderes Gepäck zurückgelassen hatte. Da es unmöglich wurde, alle Kranken noch weiter zu schaffen und die Führer darüber einig waren, der grausamen Anweisung des Marschalls so lange wie möglich keine Folge zu geben, so ließ man hier bei der Ambulanz einen Teil der Kranken zurück und zwei Bataillone zu ihrem Schutze. Die Seuche wuchs an Heftigkeit, und jede Minute vermehrte die Zahl der Sterbenden. Am 31. war die Division vereinigt und entledigte sich ihrer Kranken nach Küstendsche, wo der »Pluto« sie aufnahm. Bisher waren die Zuaven am meisten heimgesucht, obwohl alle Korps ohne Ausnahme viel zu leiden hatten. Warten war hier gleichbedeutend mit Sterben. Der General bestimmte daher, daß am andern Morgen um halb 5 Uhr der weitere Rückmarsch nach Varna angetreten werden sollte – aber noch an demselben Abend um 10 Uhr traf unerwartet der General Canrobert von seiner Argonautenfahrt vor Küstendsche auf dem »Cazique« ein. Von allen Seiten erhoben sich bei dem Anblicke des geliebten Führers in diesem durch die schrecklichste aller Krankheiten dezimierten Lager die lebhaftesten Zurufe; die Sterbenden erhoben sich, um ihrem General entgegen zu gehen; denn dem Unglücklichen erscheint jede Veränderung seiner Lage als eine Besserung, und nicht oft war ein General so von den Seinigen geliebt wie Canrobert. Welches Schauspiel entrollte sich aber vor seinen Blicken. Auf allen Seiten lagen unter dem Schutze der Zeltdächer die Fieberkranken ausgestreckt. Überall hörte man Gestöhn, und der Tod mähte mit unbarmherziger Sichel in den Reihen der erschöpften Krieger. So fand Canrobert seinen schönen, stolzen, kriegslustigen Heerhaufen wieder, den er voll Leben und Kampfesdurst verlassen hatte. Ohne ein Wort zu sagen, reichte er seiner Umgebung die Hände, und man sah Tränen über seine Wangen rollen. Dann durchschritt er die Zeltgassen, hatte ein Wort des Trostes für alle Leidenden, belebte den Mut der Gesunden durch die Hoffnung auf nahen, ruhmvollen Kampf, und beugte sich mitfühlend über jene herab, die im Begriffe waren, eine Beute des Todes zu werden. Mittlerweile wuchs die Sterblichkeit in der schreckbarsten Weise. In der Nacht und an dem folgenden Morgen wurden alle disponiblen Pferde der Artillerie, sowie die Packmaultiere der Offiziere requiriert, um 800 Neuerkrankte nach Küstendsche zu schaffen. Am 1. August verließ man Pallas, und am 2. war die Zahl der Erkrankungen wieder so groß, daß die Sänften und Arabas nicht mehr genügten, um die von der Seuche Ergriffenen fortzuschaffen; man mußte endlich zu den Pferden der Offiziere und Generale seine Zuflucht nehmen. Zum Überflusse begannen unbegreiflicherweise die Lebensmittel zu fehlen. Canrobert gab einem von Küstendsche mit Cholerakranken abgehenden Schiffe die Weisung mit, von Varna Lebensmittel als Rückfracht nach Mangalia zu bringen. Zugleich wurde in der Nacht der Kapitän Marcel zu Yussuf geschickt, der um einen Tagesmarsch voraus war, mit der dringenden Aufforderung, den General mit Transport- und Lebensmitteln zu versehen. Glücklicherweise hatte eben ein Schiff in Mangalia Lebensmittel ausgeladen; Offiziere und Soldaten halfen 600 Pferde beladen und machten zu Fuß, die Pferde am Zügel, 6 Meilen, um ihren leidenden Brüdern Hilfe zu bringen. – General Espinasse, von der Cholera ergriffen, und von seinem Geretteten treulich gepflegt, blieb mit einem Regimente zurück, um die nicht transportierbaren Kranken zu bewachen. Der Rest setzte sich in Marsch und stieß endlich auf die 600 Packpferde Yussufs. Die braven Baschi-Bozuks gingen nun mit den leeren Pferden noch weiter zurück, um Espinasses Regiment abzuholen, da aber die meisten Kranken kein Pferd mehr besteigen konnten, requirierte Canrobert Arabas, um sie zu befördern. Endlich kamen, als man Mangalia erreicht hatte, das am Meere gelegen ist, Schiffe in Sicht, die 2000 Cholerakranke nach Varna schafften.

Das war das schaurige Ende der ersten französischen Expedition gegen die Russen.



 << zurück weiter >>