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Die Wölfin von Skadar.

– – – –

Das leichte Geräusch brechenden Holzes störte die Stille der Nacht – aber nicht die schweren Atemzüge der Schlummernden.

– – – –

Dann wieder alles lauschende Stille.

Sein Haupt ruhte an ihrer schwellenden Brust. Der halb geöffnete Mund des schlafenden Weibes mit den spitzen, weißen Zähnen schien noch Triumph zu atmen über den errungenen Sieg. Zwischen den Brauen in der scharf geschnittenen Falte lag die ganze Leidenschaft ihrer Seele. – –

Ein Schatten glitt unter dem Teppich hervor – wiederum eine lange Pause – dann legte sich eine kalte Hand auf die glühende Stirn des Griechen.

Eine unwillige Bewegung der Störung – die Lippen murmelten den Namen »Fatinitza«, dann schlief er weiter.

Eine zweite Berührung erweckte ihn. Träumerisch schlug er die Augen empor in jener schwelgenden Ermattung des Genusses.

Vor ihm stand Gabriel der Zagartschane!

Er wollte emporfahren, die dunkle Glut der Scham des gebrochenen Männereides überflutete sein Gesicht – doch ernst und schweigend winkte der Czernagorze ihm Vorsicht, auf die lockende Genossin seines Lagers deutend. Dann trat er zurück in das Vorgemach, leise, unhörbar, wie er gekommen und winkte dem Freunde zu folgen.

Es gelang Nicolas, sich langsam aus den umschlingenden Armen der Türkin zu winden und vom Lager hinabzugleiten auf den Boden, ohne daß seine Bewegungen sie erweckten. Einige Augenblicke darauf huschte er in das Nebengemach, wo der Flüchtling stand und aus dem Arsenal an der Wand sich vorsichtig prüfend bewaffnete. Ein Blick zeigte dem Griechen, wie der Kühne hier herein gelangt. Die Jalousie des schmalen Altans war geöffnet, die verdeckenden, leichten Gitterstäbe waren an einer Stelle gebrochen.

Der Czernagorze wandte sich zu ihm.

»Zum zweiten Male ist der Ruf des Blutbruders in der Stunde der Gefahr vergeblich nach dem Genossen erklungen; zum zweiten Male fehlte Nicolas Grivas, als Gabriel der Zagartschane seiner Hilfe bedurfte. Wird er auch zum dritten Male seine Stimme nicht hören, wird er seinen Kampf teilen um Leben und Freiheit, oder will er ruhen in den Armen der Liebe und den Freund allein sein Heil versuchen lassen?«

Der Jüngling beugte sich beschämt.

»Verdamme mich nicht, Gabriel, meine Seele war umnachtet, mein Wille gelähmt. Ich teile mit Dir Tod und Leben!«

»Wohl! ich danke Dir für die rettende Feile und das Seil, die Du mir gesendet. Aber es war um ein Stockwerk zu kurz und vergeblich schaute ich mich um nach der versprochenen Hilfe. Da lenkten die freundlichen Wila's mein Auge auf diesen Altan, und indem ich mich am Seil hin und her schwang gleich dem Vogel in der Luft, wie ich oft als Knabe getan, wenn ich die Felsennester der Möwen ihrer Brut beraubt, gelang es mir, die Stäbe zu erreichen und Fuß zu fassen. Das Übrige weißt Du. Hast Du Deinen Kahn in der Nähe?«

»Ich war gefangen, wie Du, heute abend durch meine Unvorsichtigkeit. Nur die undurchdringlichen Mauern des Kerkers konnten mich fern von Dir halten. Der rettende Kahn liegt mindestens eine halbe Stunde weit außerhalb der Stadt unter den Felsen.«

»Dann gibt es nur einen Weg für uns. Wir müssen schwimmend aus dem Bereich der Festung zu entkommen suchen. Bist Du bereit?«

»Ich bins!«

»Diese schweren Waffen nützen uns nichts,« flüsterte der vorsichtige Krieger, »laß uns von uns legen, was uns hindert. Suche wie ich einen leichten Yatagan und birg ihn in Deinem Gürtel.«

Indem der Grieche nach der bezeichneten Waffe suchte, stieß er an eine zweite, und diese fiel klirrend zu Boden.

Erschrocken blickten beide empor – der Teppich vor dem Zugang des Schlafgemachs wurde zur Seite gerissen, in demselben, wie die Tigerin zum Angriff bereit, kauerte das nackende Weib, die glutsprühenden Augen auf die Freunde gerichtet.

»Verräter!«

Der einzige Laut zischte durch ihre Lippen; mit einem Sprunge warf sie sich nach der Tür, aber der Czernagorze stürzte ihr zuvor und umfaßte mit aller Kraft ihren Leib. Ein wildes Ringen begann zwischen den Beiden, eine übermenschliche Stärke und Geschmeidigkeit schien die Muskeln und Glieder dieser Frau zu stählen, gleich einem Proteus wand sie sich in dem starken Männerarm und rang Brust gegen Brust. Aber kein Laut, kein Ruf der Hilfe entschlüpfte ihren Lippen, nur der keuchende Atem, der zischende Ton der Wut begleitete diesen Kampf.

An der Tür jedoch scharrte und kratzte es wütend und immer wütender. Das grimmige Raubtier witterte die Gefahr, den Kampf seiner Gebieterin, und versuchte, ihr zu Hülfe zu eilen.

»Mach' ein Ende! komm zu Hilfe! Ich vermag diesen Teufel in Weibergestalt nicht länger zu bändigen.«

Zwei Mal hatte Nicolas Grivas den Stahl für den Blutbruder erhoben gegen das dämonische Weib, das eben noch an seinem Herzen gelegen, – zwei Mal traf ihn mitten in der Furie des Ringens ein kalter verächtlicher Strahl ihres Auges – und Hand und Waffe sanken machtlos nieder. Da wie ein Ausweg des Himmels, fiel sein Auge auf einen zur Seite liegenden persischen Shawl, und im Nu hatte er ihn aufgerafft und schlang ihn um Kopf und Schultern des Mädchens. Gabriel hob sie zugleich empor, im nächsten Augenblick hatte er sie auf das eben verlassene Lager geworfen und keuchend umschlangen Beide die sich wild sträubenden Glieder mit Tüchern und Decken, wie die Hand sie erreichen konnte, und zogen die Knoten um sie fest. Auch jetzt noch entfloh kein Schrei ihrem Munde, nur das Atmen der Wut vernahmen sie durch das dicke Gewebe des den Kopf verhüllenden Shawls.

Aber draußen am Eingange des Gemaches tobte und wütete es fort, mit gewaltiger Kraft sprang der Wolf an der Tür empor und stieß ein klagendes Geheul aus, daß es weit durch die Räume des alten Gemäuers scholl.

Gabriel riß den Freund mit sich fort, der zitternd auf das Werk seiner Hände schaute, die gebundene verhüllte Gestalt, die jetzt ruhig und bewegungslos, gleich als erkenne sie das Nutzlose jedes weitern Sträubens, auf den Kissen lag.

»Sie stirbt! sie erstickt!«

Doch der Czernagorze drängte ihn zum Altan.

»Was kümmert uns ein Weiberleben! Hinunter! Hörst Du nicht, daß von dieser Bestie Geheul schon die halbe Veste im Alarm ist? Mir nach, Blutbruder, und die Heiligen seien uns gnädig!«

An der Pforte donnerten Waffen und Hände, – unter den gewichtigen Schlägen sprangen die Riegel –

Mit weitgestrecktem Sprunge warf sich der Czernagorze vom durchbrochenen Altan hinab in die dunkle Flut; im nächsten Augenblicke folgte ihm der Grieche.

– – –

Als Beide emportauchten, glänzte heller Lichtschein von der Öffnung des Balkons über die Fläche des Wassers – im Umwenden glaubte der Jüngling Gestalten darauf zu sehen, darunter einen weißen fliegenden Mantel; einen Moment nachher blitzte ein Schuß, die Kugel flog über ihnen hin in's Wasser.

»Nieder!« rief der Czernagorze ihm zu, »halte Dich rechts!« Und die Schwimmer sanken auf's Neue fast auf den Grund und strichen weit aus.

Als sie Luft zu schöpfen nochmals emportauchten, waren sie außer dem Bereich der augenblicklichen Gefahr, aber weit entfernt davon gerettet zu sein. Die Richtung, die sie zu nehmen gezwungen waren, führte sie hinaus in den See. In den verlassenen Festungswerken wurde es lebendig. Lichter bewegten sich an den Öffnungen hin und her, ehe sie noch zehn Minuten weiter getrieben waren, auch am Strande, und ein Kanonenschuß donnerte über die Fläche des Wassers, Alarm rufend und die Schildwachen zur Aufmerksamkeit mahnend.

Mit allen Kräften griffen die beiden rüstigen Schwimmer aus, denn sie wußten, daß jede Minute Verlust war und daß es um Tod und Leben gälte, so rasch als möglich über den Rayon der Festungsmauern hinaus zu gelangen, ehe sie auf dem Wasser verfolgt werden konnten, und den verborgenen Kahn zu erreichen.

Aber die Kleider, derer sie sich nicht hatten entledigen können, zogen immer schwerer und schwerer und hinderten ihre Anstrengungen, und die Kräfte des Czernagorzen waren durch die Entbehrungen der Haft geschwächt. Rüstiger schwamm der junge Grieche, an der See geboren und Herr des Elements, und ermunterte den Freund zu neuen Anstrengungen.

Doch weit rechts noch lag das rettende Ufer und kaum noch war Zuflucht dort zu hoffen, denn in kurzen Zwischenpausen dröhnten die Alarmschüsse fort.

Gabriel war ermattet.

»Rette Dich selbst, Blutbruder, und grüße Stephana und die schwarzen Berge!«

Er sank; aber der Grieche war hinter ihm drein und hob ihn empor.

»Bei der gebenedeiten Mutter Gottes von Ostrog«, flehte er, »verliere den Mut nicht, Hilfe ist nahe – ich höre Stimmen!«

Und gleichsam als Antwort auf den Scheidegruß des tapfern Czernagorzen hallte sein Name durch die Nacht über die Wellen, und hinterdrein klang der Schlachtruf der Familie Martinowitsch, ihr heilig Erbteil seit der Mondnacht der Weihnachten von 1793: Sve Oslobod! Ganz befreit! – Zugleich der Name der Piesme welche jene Tat besingt.

»Hier Czernagorze!« tönte der Gegenruf des Griechen, wie er sich aus dem Wasser hob. Triumph! Rettung! Durch die Nacht strich ein weißes Segel daher – ein jubelnder Schrei klang vom dunklen Bord, – Arme streckten sich nach ihnen aus – das waren Freunde.

Am Steuer stand der alte Beg, Hassan und der Vetter arbeiteten wie rasend an den Rudern – Stephana's, Bogdan's Arme streckten sich den Schwimmenden entgegen.

»Mut!«

In der nächsten Minute hob Nicolas den erschöpften Freund über den Rand des Bootes in die Arme seines Weibes und warf sich selbst ihm nach.

»Wendet! Fort!«

Erschöpft lagen die Beiden auf dem Boden des rettenden Fahrzeuges, das unter dem kräftigen Druck des Alten sich von der Festung ab- und den Bergen zuwandte.

Stephana's Angst und Ungeduld hatte die Hilfe gebracht, indem sie den alten Beg bewog, mit dem Boote während der Nacht sich den Festungswerken zu nähern, statt an der bestimmten Bucht des östlichen Ufers des Kahns mit den glücklich Entkommenen zu harren. Als der erste Alarmschuß über den See donnerte, wußte die Familie, daß die Flucht vollzogen, und der kühne Eifer trieb sie vorwärts, die eigene Gefahr verachtend.

So war die Hilfe im glücklichen Augenblick erschienen.

Die Czernagorzenfrau bedeckte den Gatten mit Küssen. Im schwarzen Hochland sind die Weiber treu und voll aufopfernder Liebe. Obschon sie wegen ihrer wunderbaren Tatkraft von ihren Männern zu den schwersten Arbeiten gebraucht werden, erleidet ihre Stellung dadurch doch keine Erniedrigung, und die Frau ist in moralischer Hinsicht keineswegs blos das Spielzeug des Mannes, wie dies nur zu oft in zivilisierten Ländern der Fall ist. In Czernagora ist das Weib wahrhaftig unverletzbar; Fleiß, Keuschheit und Mut sind die drei schönen Tugenden, die sie zieren. Darum vertraut sie sich auch ohne Bedenken selbst dem Fremden, in der Gewißheit, daß er sich keine Unziemlichkeit gegen sie erlauben werde. Wagte er es dennoch, ihre Schamhaftigkeit zu verletzen, so würde der Tod des einen oder des andern Teils die gewisse Folge davon sein. Ein czernagorisches Mädchen liebt nur in der Aussicht auf Heirat, den treulosen Verführer aber trifft der Tod.

Die heiligbewahrte Scham und Sitte des Volkes wird das Furchtbare der nachfolgenden Szenen charakterisieren.

Über dem Wiedergewonnenen hinweg reichte Stephana dem Griechen die Hand und konnte nicht enden in lobpreisenden Dankesworten für seine Tat. Auch der alte Beg und die Andern bezeugten ihm Dank und Achtung für die bewiesene Aufopferung und Treue, und mehr als einmal drohte das Gefühl bitterer Scham ihn zu überwältigen. Das war um so mehr der Fall, als der alte Glawre (Familienoberhaupt) den Hergang der Flucht zu wissen verlangte, und Gabriel, der sich an der Brust des treuen Weibes erholt hatte, eilig das Wort ergriff, den Freund aus der Verlegenheit zu ziehen, und der Familie kurz erzählte, wie Nikolas ihm Feile und Strick gesandt hatte, wie er verhindert worden sei, mit dem Kahne zu seinem Beistande zu erscheinen, und nun mit ihm zusammen schwimmend die Flucht versucht habe, daß diese aber durch einen Zufall zu früh entdeckt worden und ihre Verfolgung nach sich gezogen habe.

Die Beratung, wie dieser am besten zu entgehen, nahm jetzt aller Aufmerksamkeit in Anspruch. Der alte Beg war der Ansicht, daß sie jeder Gefahr glücklich entgangen seien, da der Pascha von Scutari schwerlich um die Flucht eines einzelnen Gefangenen willen viel Aufhebens machen werde. Gabriel und Nicolas jedoch schauten einander bedenklich an und waren der Meinung, man dürfe keine Anstrengung versäumen, um so rasch als möglich die czernagorzischen Ufer zu gewinnen. Ohne den Namen der Wölfin von Skadar auszusprechen, wußte der Grieche doch seine Besorgnis auch Stephana mitzuteilen, und sie gewann um so mehr Begründung, als die Gesellschaft bald darauf von der Höhe des Turmes, dessen Kerkern jene so glücklich entronnen waren, ein mächtiges Feuerzeichen emporlodern sah, ein Signal, das sonst gewöhnlich nur bei Kriegsüberfällen üblich war, um den verschiedenen Posten entlang der Seeufer die Anwesenheit des Feindes zu melden. In Zeit von einer halben Stunde flammten links nach Antivari hin und rechts gegen das Hochgebirge bereits mehrere ähnliche Feuer an den beiden Ufern und verkündeten die Aufmerksamkeit in den verschiedenen Kastells.

Der See von Skadar hatte eine Länge von nahe an sieben Meilen bei einer wechselnden Breite von etwa zwei. Nur das nördliche und nordwestliche Ende, an dem sich die Muratscha und der Czernojewitsch in den See ergießen, wird von Czernagora selbst begrenzt, und zwar im Norden von der Rietschka Nahia, im Nordwesten von der Czernitza Nahia. Die nördlich gelegenen Inseln gehören, wie bereits erwähnt, zwar zum Gebiet von Montenegro, sind aber nur zu Zeiten, namentlich während des Fischfanges bewohnt. Man beschloß daher, die rechte Seite des Sees zu halten und die Ufer der Rietschka zu gewinnen, der heimischen Nahia des Alten, wo sein Ruf im Augenblick die Männer der zunächst wohnenden Plemen im Fall der Bedrohung herbeiführen konnte.

Nachdem man dies getan, wurden die Wachen bestimmt, um stets mit erneuten Kräften an den Rudern arbeiten zu können. Der alte Beg erklärte, das Steuer nicht verlassen zu wollen, – seine eisernen Muskeln widerstanden jeder Anstrengung.

Die erste der Wachen hielten der Grieche, Hassan Lettisch der Arnaut und der Vetter, Jowan genannt. Die beiden Letzteren waren an den Rudern beschäftigt, der Erste hielt das Seil des Segels, das sich noch immer lustig im beginnenden Morgenwinde blähte. Es mochte jetzt 2 Uhr nach Mitternacht sein und über die Bergspitzen begann der erste Strahl der Dämmerung zu brechen, während noch die tiefen Schatten der Nacht über dem See lagen.

Der Einäugige summte leise in jener unangenehmen monotonen Sangweise der griechischen und orientalischen Stämme vor sich hin. Grivas dagegen träumte von der schrecklichen Szene, der er entronnen. Vor seinen geschlossenen Augen stand mit dem flammenden, verächtlichen, rachesprühenden Blick die Wölfin von Skadar. Dagegen kehrte in seine Erinnerung das berauschende Bild ihrer Reize zurück, und er beugte, im Innern vernichtet und von widerstreitenden Gefühlen ergriffen, das Haupt.

Die zweistündige Wache mochte zu Ende sein, – die Sonne war bereits aufgegangen, und ihre Strahlen brachen durch die Schluchten der im Osten sich erstreckenden Bergkämme, als Hassan den Hellenen aus seinem Hinbrüten weckte und ihm einen Wink gab, sich umzuschauen.

»Blicke, mein griechischer Bruder, nach der Seite, wo die Sonne sich in's Meer senkt, und sage er mir, was er über den leichten Nebeln sieht, die dort noch das Ufer verhüllen. Der junge Falke der Maina hat scharfe Augen!«

Grivas schaute angestrengt nach der angedeuteten Stelle.

»Das ist sicherlich ein dunkler Rauch, welcher sich über dem Nebel bewegt. Sollten wir so nah' einer der Inseln sein und dort Beistand finden?«

»Mein Bruder täuscht sich. Siehst Du nicht, daß der Rauch sich bewegt?«

»Was habt Ihr? Wonach späht Ihr aus?« unterbrach sie der Beg.

»Birschik jok (es ist nichts!) wir werden nur verfolgt,« entgegnete gleichmütig der Arnaut. »Der Bey hat jenes höllische Schiff uns nachgesandt, das der Scheitan erfunden und das allein läuft, ohne Segel und Ruder.«

»Du meinst ein Dampfschiff?«

»Ne apulum, was kann ich tun? Der Bey hat von den Franken seit dem Kriege ein Schiff machen lassen und er hat Leute, die es führen.«

In der Tat war in dem letzten Kriege die Notwendigkeit rascher Verkehrsmittel immer dringender an den Tag getreten, und die türkische Regierung hatte auf die Vorstellungen Omer-Pascha's eines der kleinen eisernen Lustdampfboote, die zwischen dem Bosporus und Konstantinopel fahren, nach Skutari transportieren lassen. Den Czernagorzen war zwar die Beschaffenheit und Schnelle der Dampfschiffe nicht mehr unbekannt, da sie von der Höhe ihrer Berge sie fast täglich die schöne Adria durchziehen sehen können, doch war eben der türkische Dampfer auf dem nördlichen Teil des Sees noch zu wenig benutzt worden, und der Grieche hatte bei der aufgeregten Stimmung seines Gemüts wenig oder gar nicht auf die Anwesenheit des Schiffes zwischen den Festungswerken von Scutari geachtet.

Jetzt wurde ihm jedoch die Gefahr, die sie bedrohte, im Augenblick klar und er setzte sie dem alten Krieger deutlich und rasch auseinander.

Während Gabriel und Stephana, die Arm in Arm im Vorderteil des Bootes schliefen, und der junge Martinowitsch geweckt wurden, verzogen sich die letzten Nebel und man erblickte deutlich den Dampfer in Entfernung von kaum einer Meile in südwestlicher Richtung hinter den Flüchtenden, doch offenbar seinen Kurs am westlichen Ufer entlang haltend.

Grivas und Gabriel begriffen sehr wohl, daß man bei der Entdeckung ihrer Flucht auch überzeugt gewesen sein würde, daß ein Fahrzeug der Flüchtigen in der Nähe harre, und daß ihre Flucht demnach zu Wasser fortgesetzt werde. Wäre es den Beiden gelungen, in der beabsichtigten Weise um Mitternacht zu entkommen, so konnte die Flucht nicht vor dem nächsten Morgen entdeckt werden, und dann wären sie außer dem Bereich jeder Verfolgung gewesen.

Jetzt war es freilich anders. Die Richtung des Dampfers, der offenbar mit voller Kraft fuhr, zeigte die Absicht, die Flüchtigen, wenn sie sich nach der Czernitza Nahia gewandt haben sollten, vorher zu erreichen, oder im entgegengesetzten Falle sie von diesem näher belegenen Ufer Montenegros abzuschneiden und nach der anderen Seite, dem türkischen Gebiet zu drängen.

Offenbar konnte man in dieser Entfernung noch nicht das kleine Boot bemerkt haben und es galt, dies womöglich zu verhindern. Eine kurze Beratung folgte, ob man das verratende Segel einziehen und sich nur auf die Kraft der Ruder verlassen, oder den noch immer günstigen Morgenwind benutzen sollte. Beides war gefährlich, denn kaum die Hälfte des Weges war zurückgelegt. Der Beg entschied für die weitere Benutzung des Segels, da ohnehin die erste der zu Montenegro gehörenden Inseln, Stavena, bereits vor ihnen lag und man hoffen durfte, an ihrer Wetterseite der Beobachtung des Feindes zu entgehen. Alle halfen an den Rudern und bald schoß das Boot unter den Felsenufern der Insel dahin.

Der Beg wandte das Steuer noch mehr nach Osten und so gelang es ihnen, anscheinend unbemerkt, nach weiteren zwei Stunden des Ruderns, während dessen der Morgenwind erstorben war und man das Segel eingezogen hatte, die zweite der Inseln, Sankt Nikolaus, jetzt noch ungefährdet zu erreichen. Das Dampfschiff war unterdessen weit heraufgekommen und hatte den Fahrstrich des Bootes bereits überholt, hielt sich aber immer noch am jenseitigen Ufer. Hier, unfern der nördlichen Spitze der Insel, in einer kleinen ziemlich geschützten Felsbucht, beschloß der Beg, Halt zu machen und den Tag zu verbringen; denn da sich über die Insel hinaus der See bedeutend verengt, wäre es nicht möglich gewesen, der Aufmerksamkeit der Verfolger ferner zu entgehen, während wenn diese, wie zu erwarten stand, ihren Weg fortsetzten, die Flüchtlinge ganz ungestört hier sich verborgen halten und das schützende Dunkel der Nacht abwarten konnten.

Das Boot lag gesichert in der Felsenbucht, in seinem Innern ruhten die Männer von der Anstrengung des Morgens und der sich steigernden Hitze des Tages.

So vergingen mehrere Stunden, ohne daß sie belästigt wurden.

Bogan, zuerst als Späher auf eine der Felsspitzen geschickt, hatte berichtet, daß das Dampfboot hinter der letzten der Felseninseln, Morakowitsch, verschwunden sei. Das hohe Ufer hinderte ihn, zu bemerken, daß der Dampfer, nachdem er einer Barke begegnet war, von der er die Kunde erhielt, daß kein Boot auf dieser Seite des Sees entkommen sein konnte, an der letzten Insel hielt und Bewaffnete aussetzte, um dieselbe nach den Flüchtigen zu durchspähen.

Gabriel hatte jetzt die Wache und war an's Ufer gestiegen; die Gesellschaft saß nach ihrem einfachen Mahl, aus der trockenen Castradina und Maiskuchen bestehend, noch immer im Kahn, um jeden Augenblick bereit zu sein. Nur der alte Beg hatte seltsamer Weise den Anteil der Speise von sich gewiesen; er saß still, in sich gekehrt mit starrem Blick, gleich als habe er ein zweites Gesicht, und summte wieder leise die Piesmen seines Stammes vor sich hin, deren so manche die Taten seiner eigenen Jugend feierte. Plötzlich fuhren Alle empor bei dem nahen Knalle eines Schusses. Wenige Augenblicke darauf stürzte in kühnen Sprüngen von Fels zu Fels Gabriel bleich und blutend zur Bucht, noch ehe seine Stimme sie erreichen konnte, zur Flucht winkend. Im Nu war Alles in Bewegung, das Boot abgestoßen und dem Eingang zugetrieben. Hier, wo die Ufer zusammentraten, sprang Gabriel in das Fahrzeug.

»Fort, fort! Um aller Märtyrer willen, die Ungläubigen sind uns auf der Spur. Sie sind zurückgekehrt und durchsuchen die Insel; ein Trupp hat mich entdeckt, als ich nach dem Schiffe spähte.«

Mit erneuter Kraft warfen sich Alle auf die Ruder, auch Gabriel, dem die Kugel nur leicht die linke Hüfte gestreift hatte. Das Boot flog in die freien Gewässer, aber ein wildes Jauchzen, der Knall vieler Gewehre verkündete ihnen, daß auch sie bereits entdeckt worden waren.

Während der rasenden Arbeit sich umschauend, erblickte Grivas auf der Höhe der Felsen die Verfolger, drohend die Gewehre durch die Luft schwingend, deren Kugeln die Flüchtlinge nicht mehr erreichen konnten; unter den Gestalten der Männer den wehenden Feredschi einer Frau. Ihr ausgestreckter Arm deutete nach der Küste, ihre Befehle jagten die Arnauten nach allen Seiten.

Fatinitza, die Wölfin von Skadar, Fatinitza, die Rächerin, war auf ihrer Spur!

Durch den Zeitverlust, den ihr Gegner notwendig beim Wiedereinschiffen auf den Dampfer und das Herumbringen desselben um die Ausbuchtungen der Insel erleiden mußten, war ihnen ein bedeutender Vorsprung gesichert. Überdies war dieser Teil des Sees wegen der vielen aus dem Grunde sich erhebenden Felsen und Klippen schwieriger für größere Schiffe zu befahren. So gelang es den Verfolgten denn wirklich, die Ostseite der dritten Insel zu erreichen, während die Türken, denen die Schwierigkeiten des Fahrwassers bekannt waren, an der Westseite des langgestreckten Eilands hineinfuhren, um an dessen Spitze im freien Wasser den Czernagorzen den Weg zu verlegen.

Über die Felsen der Insel hin konnten die Verfolgten die Rauchsäule des Schiffes bereits in gleicher Linie mit ihrem Boote streichen sehen, als der alte Glaware das Steuer wandte und quer über den Seearm nach einem Vorgebirge des östlichen Ufers abhielt. Auf seinen Wink strengten Alle ihre Kräfte an den Rudern aufs Neue an und das Boot flog über die Wellen. Die Entfernung der Insel vom Ufer betrug hier eine starke halbe Meile. Während das Dampfboot etwa in gleicher Entfernung um die Nordspitze der Insel bog und die weitere Flucht nach der noch anderthalb Meilen entfernten Mündung des Czernajowitsch – dem sicheren Ufer der Rietschka Nahia – versperrte, war das Boot des Czernagorzen bereits auf Büchsenschußweite am Ufer und näherte sich einer Einbuchtung.

Plötzlich kräuselten aus dem Gestein des Ufers leichte Rauchwolken empor und Schüsse blitzten ihnen entgegen.

Zwischen den Felsen zeigten sich die weißen Pferde der Albanesen, Posten erschienen auf den Vorsprüngen.

»Das Segel auf!« befahl der Beg, dessen Auge in dieser von Minute zu Minute sich mehrenden Gefahr wieder kühn und fest umherblitzte.

»Gelingt es uns, das Vorgebirge zu umfahren, ehe jenes dem Teufel verschriebene Schiff herankommt, so gewinnen wir das Ufer. Diese Kinder des schwarzen Hundes sollen die freien Söhne der Berge nicht fangen, denn um jene Seite des Vorsprungs zu gelangen, brauchen sie Zeit.«

Die Moslems auf dem Dampfschiff begriffen zwar das Manöver der Flüchtlinge, doch war es ihnen nicht möglich, vor diesen das Gebirge zu erreichen und nach einer rasenden Anstrengung von etwa zehn Minuten schoß das Boot gesichert zwischen den Klippen der nördlichen Seite hin, um sich eine bequeme Landungsstelle zu suchen, während ohne Resultat mehrere Kanonenschüsse vom Bord des Dampfers nach ihnen abgefeuert wurden.

Als das Boot das Ufer berührte, das noch von keiner Wache des Feindes besetzt war, sprangen alle eilig heraus, das Fahrzeug seinem Schicksal überlassend, und eilten nun, ihre Waffen mit sich nehmend, in die Schluchten der Zenta.

Jowan, dem diese Gegend von früheren Fischerfahrten bekannt war, machte hier den Führer. Sie waren ungefähr eine Viertelmeile diesseits der kleinen zerstörten Veste Zabljak gelandet, die in den Kriegen zwischen Montenegro und den Türken von Alters her eine so bedeutende Rolle gespielt hat.

Seit dem geschlossenen Frieden hatte man zwar versucht, die Befestigungswerke wieder herzustellen, doch war dies erst zum geringen Teil gelungen und nur ein kleiner Posten hielt sie besetzt, so daß man hoffen durfte, ohne Gefährdung sie zu umgehen, wenn nicht vorher schon der Befehl zu ihrer Verfolgung dort eingetroffen. Von der nächsten Höhe, die sie gewonnen, sahen sie jedoch, daß das Dampfschiff jetzt seinen Lauf nach der halbzerstörten Veste genommen und sie beinahe erreicht hatte. Es galt demnach, sich tiefer in das Gebirge zu werfen, um auf dem Umwege das von Zabljak noch eine starke Meile entfernte Gebiet von Montenegro nach Überschreitung der Ziewna zu gewinnen.

Es war bereits hoch am Nachmittag, als sie hier die Fortsetzung ihrer Flucht begannen und in die Berge östlich von Zabljak drangen, so viel als möglich die Richtung nach Norden beibehaltend, um sich ihrem Ziele zu nähern.

Aber ihre Vorsicht und ihr Mut waren vergeblich, denn die Furie, die auf ihren Fersen war, verstand zu wohl ihren Vorteil, um ihnen Zeit und Raum zum Durchbruch zu gönnen, und fand in einer vor wenigen Tagen in die kleine Veste eingerückten Reiterabteilung neue Hülfe. Der Offizier ihres Vaters, der mit einem Haufen wilder Albanesen sie auf dem Dampfer begleitet hatte, war ihrem Willen blindlings gehorsam, und ehe eine Viertelstunde nach der Landung vergangen war, flogen ihre Boten bereits nach dem Reiterposten, die durch die schnellen Sendboten des Paschas von Skadar her entlang der ganzen Küste des Sees noch während der Nacht und des Morgens zum Fange der Flüchtigen aufgeboten worden waren, und deren nächster jenseits des Vorgebirges bereits die Czernagorzen an der Landung verhindert hatte. Zugleich brach ein starker Haufe aus der Festung auf, um das Ufer der Ziewna und Moratscha zu besetzen und so den Flüchtigen den Weg abzuschneiden.

Die Folgen zeigten sich bald. Als der kleine Trupp der Czernagorzen gegen Abend, von dem Beg geführt, aus den Bergen brach, um den ersten Fluß zu überschreiten, wurden sie vom Ufer her mit Flintenschüssen empfangen, und selbst die tollkühne Tapferkeit des greisen Führers mußte die Übermacht der Gegner anerkennen und ihr weichen.

Unter einer alten Steineiche sammelten sich die Sieben und hielten Beratung, während immer drohender das Netz der Verfolger sich um sie zusammenzog.

»Die Stunde ist gekommen«, sprach feierlich der alte Glaware, »da wir Bog, dem großen Würger gehorchen müssen. Wir wollen kämpfen und sterben, wie unsere Väter getan. Das Haus Iwo's wird untergehen in diesen Bergen.«

»Du redest wahr und recht, Vater«, sagte Gabriel, »aber bedenke, ob es nicht möglich ist, uns hier auf irgend einem festen Punkt zu halten, bis uns Hilfe käme von unsern Stammverwandten. Der erste Flintenschuß eines Moslems weckt hundert mal das Echo an den schwarzen Felsen von Czernagora.«

»Weiter hinauf im Gebirg«, sprach Jowan, »steht die Kula, die früher einem Gliede der Gradjani gehörte, das ins Niederland gezogen war. Wenn wir sie erreichen, können wir einem Angriff widerstehen. Nur den Boten gilt es zu unseren Brüdern zu finden.«

Der Greis blickte ihn finster an.

»Willst Du den Glawaren der Martinowitsch lehren, was er auf diesem Felde zu tun hat, das sein Fuß hundert male im Kampfe durchmessen, ehe Du den eigenen Namen lallen konntest? Was geschehen soll ist beschlossen. Höret!«

Alle drängten sich um ihn.

Der Einäugige nahm den schrecklichen Mumienkopf von seinem Halse und betrachtete ihn. »Namik Halik, mein Todfeind, ich sende Dich jetzt, um das Blut derer zu retten, die Du im Leben gehaßt und verfolgt hast, denn unversöhnlich ist die Rache der Martinowitsch. – Gabriel, mein Sohn durch den Leib meiner Tochter, nimm Abschied von Deinem Weibe, denn sie und das Kind« – er deutete auf Bogdan – »werden den Gang wagen, um die Krieger der Nietschka zu wecken mit der Botschaft ihres alten Führers.«

»Vater!« baten Stephana und der Jüngling erschrocken.

»Still! Die Kinder der schwarzen Berge wissen zu gehorchen, wenn der Glaware ihres Hauses spricht. Ihr Beide werdet Euch hier unter dem Felsen verbergen, bis der Schatten der Nacht hereinbricht. Dann werden die Feinde fern sein auf unserer Spur und Ihr könnt ungehindert davon schleichen. Du, Bogdan, eilst zu den Kula's der Lubotini und Kozieri und rufst sie zu den Waffen; Du, Stephana, bringst dies Haupt zu den Wohnungen unserer Brüder, den Gradjanen Die Nahia von Glubotina oder Rietschka-Nahia, der mittlere Teil von Czernagora, der an der Mündung des Czernowitsch und der Muratscha das nördliche Ufer des Skadar-Sees begrenzt und die wildesten Berggegenden enthält, zählt fünf Stämme: die Lubotini, die Kozieri, die Zeklini, die Dobarski und die Gradjani. Das Thal der Muratscha zwischen Zabljak bis Podgoritza heißt die Zenta. an den Ufern der Czernojewitsch und sagst ihnen, Iwo Martinowitsch sende es zum Zeichen, daß er des Knalls ihrer Flinten benötigt sei in der Stunde der Gefahr. Die Frauen wandeln frei durch diese Berge, selbst der Moslem ehrt ihr Recht, und die Gefahr ist gering für Dich. Wäre es auch anders – Du bist aus dem Blut meines Stammes. Sagt den Männern der schwarzen Berge, in der verlassenen Kula des Popowitsch Gradjani würden sie uns finden, mit unserem schnellen Blei die Ungläubigen zu Boden streckend. Wenn Ihr Euch eilt, kann die Hilfe zur Stelle sein, ehe die Sonne ihren Strahl über die Berge der Zenta wirft. Ich habe gesprochen! Die Wila's mögen Euch und uns gnädig sein!«

Alle wußten, daß gegen die Entscheidung des Beg keine Einrede galt. Auch war der Auftrag, der den Beiden geworden und bei dem vielleicht ihm selbst unbewußt der Glaware von dem geheimen Wunsch mit geleitet sein mochte, sein Blut und seinen Namen zu erhalten, offenbar weniger gefährlich, als die Aufgabe, die den Männern blieb. Stephana, das grausenvolle Sendzeichen des Vaters in ihrer Schürze bergend, und der junge Bogdan knieten vor dem Familienhaupt nieder, seine Hand küssend; der Greis machte in jener eigentümlichen Weise der griechischen Völker mit dem linken Daumen segnend das Zeichen des Kreuzes über sie und entfernte sich rasch.

Stephana warf sich an die Brust des nur eben wieder gewonnenen Gatten und schien sich kaum von ihm losreißen zu können. Aber die drängende Gefahr gewährte ihr keine Zeit. Noch im Arm ihres Mannes, reichte sie dem Griechen die Hand und bat ihn, den Geliebten nicht zu verlassen. Dann verschwand sie rasch mit dem Bruder in eine ginsterbedeckte Felsenspalte, während die Männer dem Beg nacheilten.

Schweigend setzten diese einige Zeit ihren Weg fort, absichtlich an einer geeigneten Stelle sich einem im Tale unten bemerkten Posten und Verfolger zeigend, was von diesem mit einigen nutzlosen Schüssen beantwortet wurde. Nach einer weiteren halben Stunde gelangten sie auf eine sich in leichter Abdachung nach Süden senkende Bergebene, zum Teil mit Gebüsch und wilden Kastanienbäumen besetzt, auf der an eine schützende hohe Felswand gelehnt, die halbzerstörte Kula stand, die sie zu ihrem Zufluchtsort erwählt hatten. Diese war ein viereckiges, turmhohes Gemäuer von Kalksteinen, in der Hauptmauer noch wohl erhalten und nur das obere Stockwerk mit dem Gebälk eingestürzt. Kein Feind war zu sehen und rasch nahmen sie von der Ruine Besitz, häuften Schutt und Balken vor den Zugang und machten die schmalen Fensteröffnungen in den dicken Mauern für die Verteidigung frei. Der Platz bot für kühne und standhafte Männer einen nicht üblen Zufluchtsort, und Alle empfanden dies, als sie nach rasch vollendeter Arbeit sich um den Häuptling am Boden lagerten und nochmals ihre Waffen untersuchten, während Jowan an einer der Schießscharten scharfen Auges Wache hielt über die Umgebung.

Die Sonne begann bereits hinter den jenseitigen Bergspitzen zu verschwinden, als der Czernagorze das Zeichen gab, daß die Feinde nahten. Im Augenblick waren alle fünf auf ihrem Posten, alle mit den langen Flinten des Hochlands bewaffnet, da Bogdan die seine, als am raschen Lauf ihn hindernd, an Gabriel gegeben hatte.

Ein ziemlich starker Trupp berittener Arnauten sprengte die Bergebene herauf und machte etwa zwei Büchsenschüsse von dem Gemäuer Halt. Offenbar glaubten die Türken, daß sie auf der Spur ihrer Gegner seien, denn sie prüften sorgfältig die ganze Fläche, jedes Gesträuch, jedes Felsenversteck durchspähend, und bald nahte ein kleiner Haufe den Ruinen der Kula, mißtrauisch die Verrammelungen des Zuganges betrachtend, die Waffen zum augenblicklichen Gebrauch in Händen.

Der greise Beg ließ sie bis auf etwa sechzig Schritt herankommen, dann stieß er mit seiner donnernden Stimme den gefürchteten Schlachtruf seiner Familie aus und gab Feuer. Gabriel, Grivas, Jowan und auch der Arnaut folgten seinem Beispiele und drei Reiter stürzten von den Pferden, während die Anderen erschrocken Kehrt machten und davon sprengten, der Eine gleichfalls verwundet im Sattel schwankend. In wenigen Augenblicken waren unter dem tobenden Allahruf die Türken außerhalb der Schußweite unter den Kastanienbäumen versammelt, die Pferde wurden gekoppelt und angebunden, während zwei der Reiter mit der Kunde davonjagten, daß die Flüchtigen gefunden seien, und der Führer der Schar verteilte seine Leute über die Fläche, von allen Seiten das Gebäude im weiten Halbkreise umgebend.

Während die kurze Dämmerung hereinbrach, begann das Gefecht, und die Schüsse der Plänkler knatterten munter gegen die Öffnungen des Gemäuers, aus dem hin und wieder ein Schuß aus den langen Flinten der Czernagorzen antwortete, wenn Einer oder der Andere der Moslems unvorsichtig sich zu weit vorwagte.

Der Schein des Vollmondes, der den ersten Teil der Nacht erhellte, zeigte klar alle Gegenstände rings umher.

Plötzlich übertönte ein wilder Jubelruf der zurückgebliebenen Türken das einzelne Knallen der Flinten. An der Spitze eines zweiten Trupps heran jagte eine Frau im weiten, weiß durch die Nachtluft flatternden Mantel, den Schleier um das Haupt, im Gürtel Pistolen und Handjar – vor dem weißen Araber her in mächtigen Sprüngen mit gesträubtem Haar der Wolf, ihr Begleiter.

Um das Pferd der kühnen Reiterin sammelte sich die Schar, Befehle flogen von ihren Lippen nach rechts und links, in drei Haufen teilte sich der wohl an fünfzig Mann starke Trupp, und langsam, lautlos rückten sie jetzt von drei Seiten gegen den Turm.

»Bei Allah!« sagte Hassan zu den Kampfgefährten, »wir werden einen schweren Stand haben. Kennt Ihr den Teufel in Weibergestalt, der sie zum Angriff führt? es ist Fatinitza, die Wölfin von Skadar, von der das Volk erzählt, daß sie das Blut ihrer Feinde trinkt. Es ist unser Kismet, hier zu sterben.«

Der alte Beg grinste in teuflischem Hohnlachen.

»Ist es die Wölfin von Skadar, so will ich sie fällen, wie das Tier dessen Namen sie führt.«

Die Flinte lag an seiner Wange, der Finger berührte den Drücker, doch vergebens schnappte der Hahn auf die Pfanne, das Gewehr versagte, – zum ersten Male seit langen Jahren.

Der Greis setzte es erstaunt und abergläubisch zu Boden.

»Bei Bog, dem großen Würger, – sie ist gefeit.«

»Ich sagte es Euch vorher, Beg Iwo! Sie hat den bösen Blick, und keine Menschenhand kann sie verletzen. – Aber zur Wehr, Männer; die Krieger des Halbmondes sind über Euch und Allah will es, daß ich gegen die eigenen Brüder fechten soll.«

Der Moslem erfüllte wacker die Pflicht des Gastfreundes.

Seine Flinte war die erste, welche knallte und einen seiner früheren Kameraden zu Boden streckte. Der Einäugige, Nicolas, Gabriel und Jowan empfingen die auf ein Zeichen der schönen Megäre gegen den Bau Heranstürzenden mit einer Salve.

Jede Kugel fand ihren Mann.

Aber über die Leiber der Fallenden sprangen mit wildem Geschrei die Albanesen vorwärts, und das Handgemenge begann an jeder Öffnung der Mauer. Pistolenschüsse, die Hiebe der Yatagans und der Säbel klangen hin und her; an den engen Öffnungen der Fenster mit leichter Mühe von Jowan und dem Lektisch-Khan zurückgeschlagen, drängte sich der Hauptangriff zur weitklaffenden Öffnung der ehemaligen Tür. Über die Balken, Steine und Brandtrümmer versuchten die blutigen Arnauten in das Innere zu dringen, in ihrer Mitte, Allen voran, keine Gefahr scheuend, Fatinitza, während das Geheul des Wolfes grimmig durch das Toben des Gemenges scholl.

»Sve Oslobod!« klang der Kampfruf des Alten, dessen gewichtige Hiebe, wo sie niederfielen, Tod und Verderben brachten, da – als seine Faust mit der schweren Waffe wieder erhoben, warf sich das Mädchen ihm entgegen, ihr dämonisches Auge traf das seine und ihr Handjarhieb seine Stirn, daß er blutig zurücktaumelte.

»Maschallah! Der Sieg ist unser!«

Aber eine Hand erfaßte ihren Arm, als sie hineinspringen wollte in den verteidigten Raum – eine zweite umschlang ihren Leib, Auge blitzte in Auge, der funkelnde Blick des Weibes und das finstere Auge des Mannes, mit dem sie ihr Lager geteilt, – und weit hin mit gewaltigem Stoß schleuderte er über die Trümmer hinweg die Geliebte, daß ihr Körper den Boden maß und heulend der Wolf sich auf die Gefallene stürzte.

Die rasche Tat des Griechen entschied den Sieg; die Arnauten ließen bestürzt ab von dem Sturm und eilten zu der Gebieterin, die sie forttrugen; die Schüsse der Czernagorzen, die Luft und Zeit gewannen, jagten die Letzten davon.

Eine Pause schien auf den blutigen Kampf zu folgen. Alle Verteidiger des Turmes, mit Ausnahme des Moslems, waren verwundet und verbanden jetzt die leichten Verletzungen, so gut es gehen wollte, sich der auf den Charakter und die Sitte ihrer Gegner gegründeten Hoffnung hingebend, daß das Mißlingen des ersten Anlaufs ihnen für lange Zeit Ruhe schaffen würde, in der die Hülfe erscheinen konnte. Auch drüben unter dem über Schußweite entfernten Haufen der Verfolger war es still, man sah nur, wie sie Holz an verschiedenen Stellen zusammenschleppten, um Feuer ringsum anzuzünden, damit bei dem frühen Untergang des Mondes im Schatten der Nacht ihre Beute nicht entwischen, oder im blutigen Überfall ihnen unbemerkt nahen könne.

Nur das Stöhnen, die Seufzer der Verwundeten, die zu schwer verletzt waren, um sich von der blutigen Stätte des Kampfes fortschleppen zu können, unterbrach die Stille um die Ruinen.

Der alte Beg, die treue Flinte zwischen den Beinen, saß auf einem Stein, das Mondlicht, durch eine der Öffnungen hereinbrechend, überstrahlte das narbenbedeckte wilde Antlitz. Der Hieb Fatinitza's war durch den dicken Bund des Turbans gebrochen worden und hatte nur schräg seine Stirn getroffen, von der unter der umgelegten Binde dicke Blutstropfen hervorquollen und das Gesicht durchfurchten, ohne daß er sich die Mühe gab, sie zu trocknen. Sein Auge, von dem überstandenen Kampfe entflammt, blickte feurig umher.

»Bei den Gebeinen der heiligen Märtyrer von Ostrog, wir haben diese Hunde zurückgejagt, wie unsere Väter am Berge Perjnick Czarew Laz (des Kaisers Abhang) wo 1712 ein Heer von 50 000 Mann unter Achmed-Pascha von den Kriegern der schwarzen Berge fast gänzlich vernichtet wurde. den stolzen Seraskier jagten drei Sonnen lang. Die Wila's würden uns sicher zum Sieg verhelfen, wenn der böse Geist nicht das Weib unter sie geführt hätte mit dem schlimmen Blick. Mir ahnt Böses, Khan Hassan Lekitsch!«

»Ich spucke auf diese Weiber!« sagte der Moslem verächtlich. »Möge das Grab ihrer Mütter besudelt werden, sie haben einem Manne noch nie Gutes gebracht. Es ist unser Schicksal, Beg.«

»Du irrst, Khan,« meinte der Glaware, »nur die Frauen mit dem bösen Blick bringen Unheil, die guten haben uns die Wilas zum Segen gegeben und wir ehren die Mutter unserer Kinder. Die Ungläubigen freilich geben ihnen nur halbe Seelen. Reiche mir das große Horn, Zagartschane, das meine ist leer und die Waffen müssen bereit sein.«

»Was meinst Du, Vater?«

»Das Horn, das große Horn mit dem Pulver, das Bogdan Dir gegeben hat, der es trug,« sagte der Alte ungeduldig.

»Um Gott, – Bogdan hat mir nichts gegeben, – ich habe das Horn nicht!«

Der Greis sprang empor. – »Das Horn! Das Horn!« rief er wild. »Unser Leben hängt von dem Pulver ab!«

Alle suchten ängstlich umher und befragten sich gegenseitig – das Stierhorn mit dem Pulvervorrat des Alten fehlte, – Bogdan, der es getragen, hatte in der Eile der Trennung vergessen, es mit der Flinte an Gabriel zu geben. Die Männer, die noch vor wenigen Minuten dem wilden Feinde kühn in das Auge geschaut, sahen sich erbleichend an – es ist etwas Furchtbares selbst für den Tapfersten, in der Stunde der Gefahr sich der Waffe beraubt zu sehen.

»Wieviel Pulver haben wir noch?«

Man sah nach – zwei der Flinten, die Gabriels und Jowans waren noch geladen, auch ein Pistol enthielt noch einen Schuß – die Pulverflaschen des Griechen und des Moslems waren leer.

Der Beg stützte finster das Haupt in die Hand.

»Mein eigen Blut ist mein Verderben, – der greise Adler der schwarzen Berge hat die Krallen verloren, er ist ein Kind in der Hand seiner Feinde!«

Und wie antwortend hoch über ihnen klang ein Rabenschrei durch die Luft und das Echo der Wälder trug ihn nieder.

Der Beg und Gabriel richteten sich empor, ihre Augen schienen das Dunkel durchbohren zu wollen, die Nerven ihres Gehörs gespannt, wie sie, dem Wilde gleich, das den Jäger wittert, durch die Nacht lauschten.

Und wieder – aber leiser und näher klang der Schrei der Raben.

Gabriel warf sich an die Brust des Freundes, der alte Primore Benennung aller serbischen Stämme der Küstenländer. schwang jubelnd die Flinte um das Haupt.

»Stephana! das ist Stephana – das treue Weib! Sie haben unsere Not erraten, sie bringt uns das Pulver!«

Da krachte in der Nähe ein Schuß – wildes Geschrei auf beiden Seiten – über die Berghalde flog eine weiße Gestalt in rasendem Lauf nach dem Schatten des Turmes zu – an dem Eingange harrten die Freunde und rissen mit blutenden Fingern Balken und Steine zur Seite.

»Stephana!«

»Gabriel!«

Aber aus den Schatten rings umher, gleich Gespenstern, tauchten die dunklen Gestalten der Albanesen auf allen Seiten empor, zwischen ihr und den rettenden Mauern, – ein wilder verzweifelter Schrei und in den rohen Armen der Männer wand sich die treue Czernagorzenfrau.

»Hinaus! rettet mein Weib!«

Über die eigene Verschanzung empor kletterten die Verfolgten. Ihnen entgegen donnerte eine Salve der Türken – weit aus breitete der wackere Hassan Lekitsch die Arme und drehte sich rund um sich selbst, ehe er zu Boden stürzte.

»Kismet! – Lebt wohl, Ihr Brüder – die Houri's des Paradieses winken mir!«

So starb er.

Der Beg riß Gabriel und den Griechen zurück.

»Ein Weib für fünf Männer – und ob es der eigene Samen ist, das Hochland bedarf seiner Krieger!«

Er warf sich vor die Öffnung, die Anderen zurückwehrend. Gabriel verhüllte das Antlitz, vor Schmerz wild aufstöhnend.

Stephana, das treue Weib, das den Freunden das zurückgelassene Pulver bringen wollte und das Dunkel des untergehenden Mondes abgelauert hatte, wurde auf den Armen der Moslems zurückgeschleppt zu den Füßen der Wölfin von Skadar. In ihrem Gewande fand man das Pulverhorn, das sie in die Hände der Feinde geliefert.

»Wer bist Du, Weib?«

»Stephana Zagartschana, des Mannes Frau, den Ihr schmählich gefesselt hieltet in Skadar.«

»So bist Du das Weib des Flüchtigen, der meinem Vater entronnen?«

»Du sagst es, blutige Bula (Türkenfrau). Der Mund einer Czernagorzenfrau redet nimmer Lüge.«

»Und Dein Mann befindet sich in jenem Turm mit dem Schändlichen, dessen Verrat ihn befreit hat?«

»Geh' hin und frage selbst!«

»Spiele nicht mit der Wölfin von Skadar, Weib, denn wisse, Dein Schicksal ist ein schlimmes und Dein Blut wird büßen für das, was jene getan. Keiner darf atmen, der sagen mag, er hätte Fatinitzas Schmach gesehen. Was wolltest Du bei den Verlorenen?«

»Die Tochter des Iwo Martinowitsch, des großen Beg der Rietschka, fürchtet den Tod nicht. Sie gehört zum Gatten und Vater in der Stunde der Gefahr.«

Ein wilder Jubelruf brach im Kreise der Arnauten aus, als sie hörten, daß der berühmte Krieger des Hochlandes in ihrer Gewalt sei.

Einer der Albanesen zeigte das Pulverhorn, das man bei der Gefangenen gefunden.

»Bei dem Propheten, Herrin, ich glaube, daß diese Tochter eines Hundes den Männern dies Pulver bringen sollte, woran es den unreinen Tieren von jeher gefehlt hat. Allah bilir, Gott allein weiß es.«

»Geht und schaut in die Mündung der Flinten meiner Tapferen, sie werden Euch Antwort geben,« entgegnete die Czernagorzin kühn. »Aber eilt Euch, denn die Söhne der schwarzen Berge nahen, um ihren großen Beg zu suchen und hörten seinen Ruf nach den Kriegern!«

Die finstere Falte zwischen den Brauen des Türkenmädchens zog sich dunkler und drohender.

»Dann ist es Zeit, daß Dein Schicksal erfüllet werde. Bindet das Weib!«

Mehrere der Arnauten warfen sich auf die Unglückliche und schnürten ihre Arme zusammen.

»Mein Pferd!«

Der Schimmel stampfte unter ihrem Druck. Am Sattel sprang lechzend der Wolf in die Höhe.

»Zu den Waffen, Tapfere von Skadar! Nehmt die Brände, daß sie leuchten zu dem Fest, das wir jenen bereiten wollen, auf daß man erzählen möge von Fatinitzas Rache, so lange die schwarzen Berge stehen. Bringt das Weib!«

Fatinitza voran, nahete sich der Zug der Kula, aus der vier Männer ihm bleich und finster entgegenstarrten.

Etwa sechszig bis siebenzig Schritte von dem Turm entfernt stand ein junger, weitästiger Kastanienbaum. Vor ihm ließ die Türkin die mitgebrachten Brände zusammen werfen, daß die Flammen hoch aufloderten und einen weiten Lichtschein umherwarfen, sodaß den Männern im Turme keine Einzelheit der furchtbaren Szene entgehen konnte.

»Schnürt sie an den Baum, das Antlitz den Rebellen zu!«

Der Befehl ward vollzogen.

»Reißt ihr die Kleider ab, – geschändet soll sie vor Euch stehen! – Wie ich es vor jenen stand!« setzte die zuckende Lippe leise hinzu.

»Barmherzigkeit, Du bist ein Weib!«

Es war die einzige Bitte, die dem Munde der Unglücklichen Frau sich entwand.

»Barmherzigkeit? – Bei dem Löwen der Wüste, bei dem Tiger der Dschungeln suche Barmherzigkeit, nicht bei den Männern Albaniens.«

Gleich Bestien warfen sie sich auf die Czernagorzin und rissen und schnitten die Gewänder herunter, daß der keusche Leib unverhüllt vor den rohen, höhnenden Blicken der Männer stand.

Die Wölfin von Skadar führte das Pferd bis dicht zu der entehrten, unglücklichen Frau und schaute mit finsterem Blick auf sie nieder. Dann streckte sie drohend die Hand nach der Kula.

Da blitzte und krachte ein Schuß aus dem dunklen Gemäuer.

– – –

In der Kula standen die Männer starren Auges, den Blick unverwandt auf den herankommenden Zug gerichtet, die Faust um die treue Flinte geklammert, als wollten die Finger sich in das Eisen krampfen. Nur das tiefe Stöhnen des unglücklichen Gatten unterbrach die unheimliche Stille.

»Das Pulver! Das Pulver!« murmelte der Greis vor sich hin.

Man sah Stephana an den Baum schnüren; die Flamme zu ihren Füßen ließ deutlich jeden ihrer Züge erkennen, fast den Strahl ihres Auges, wie er Hülfe suchte bei den nahen Freunden.

Jetzt warfen sich die Arnauten auf ihr Opfer.

»Sie morden sie – hinaus, ihr zu Hülfe!« raste der Zagartschane; doch nochmals riß die Hand des Greises ihn zurück.

»Noch nicht – sie schänden nur das Blut der Martinowitsch.«

Seine Stimme war hohl, fast klanglos.

Gabriel taumelte.

»Verdammnis über den Teufel in Weibergestalt! Fahre zur Hölle!«

Seine Flinte lag an der Wange, der Schuß knallte; doch noch schneller als sein Finger am Drücker, war die Hand des Griechen, der den Lauf in die Höhe schlug.

»Halt ein, Du tötest sie!«

Die Kugel schrillte hoch durch die Luft.

War es Stephana, war es Fatinitza, die Nicolas Grivas mit den Worten und der Tat meinte, – nur Gott weiß es.

»Fluch Dir und ihr Blut über Dich! Zerrissen sei das Band des unsern!«

Gabriel warf die Flinte zu Boden und wandte sich mit einer erhabenen Geberde der Verachtung von dem bisherigen Freunde.

Nur ein Schuß noch blieb in der Hand der Verfolgten. Der alte Beg streckte die Hand nach der Flinte aus, die Jowan hielt:

»Gieb!«

– – –

Die Arnauten waren auseinandergestoben bei dem Schuß der waffenlos Geglaubten. Nur Fatinitza hielt mit eherner Ruhe.

»Seit wann haben die Tapferen von Skadar Furcht vor dem Blei der schwarzen Hunde? – Hierher, Abdallah!«

Der Mohr, den sie gerufen, nahte dem Pferd. Er empfing ihre Befehle und fletschte in teuflischer Bosheit die tierischen Zähne, indem er langsam das Messer aus seinem Gürtel zog und zu der Gefesselten trat, deren Auge zum Himmel erhoben war, deren Lippen ein Gebet zum Allmächtigen sprachen.

»Dschidelim! Eile Dich! …«

Ein wilder Schmerzensschrei rang sich trotz der heldenmütigen Entschlossenheit von den Lippen der Ärmsten – –

– – –

»Vater! – Sie martern mein Weib zu Tode!«

Der Alte schauerte.

Sein Auge starrte wie in einer Vision, die seinen Geist zu umnachten begann.

»Die Engel im Himmel werden dem Blute Iwos beistehen in seinem Märtyrertum. Einer der Moskowiten, mit denen ich bei Ragusa focht, war im Lande gewesen, fern über dem großen See und erzählte, wie da die gefangenen Krieger gemartert werden von ihren Feinden und doch ihr Triumphlied singen unter den Schmerzen des Todes. Ist die Christenfrau aus Iwos Stamm weniger mutig als die Helden der Wälder über der Salzsee?«

»Es ist ein Weib – laß mich hinaus, Vater –«

»Zurück, Knabe, und vernimm das Totenlied der Martinowitsch!«

Und mit lauter, eintöniger Stimme begann der Greis das Heldenlied: Sve Oslobod. – – –

– – –

»Giftige Nattern säugte der Busen des Czernagorzenweibes, so möge er weiter die Bestien der Wildnis nähren! Drauf, Scheitan!«

Der schwarze Henker warf das blutrauchende Fleisch der abgeschnittenen Brust dem blutlechzenden Wolfe hin und senkte mit teuflischem Vergnügen das Messer zum zweiten Male in den Leib der Märtyrerin. Derartige Abscheulichkeiten sind – historisch – leider noch im letzten Kriege vorgekommen. – Wir erzählen – die Feder versagt fast den Dienst – Tatsachen.

»Vater! Gabriel! – Um der ewigen Barmherzigkeit willen den Tod!«

Und wieder krachte ein Schuß – der letzte der Czernagorzen – aber diesmal taumelte der schwarze Mörder zu Boden und das Haupt der Gemarterten sank auf die Schulter nieder – im Tode brechend dankte ihr Auge hinüber nach der Kula: dieselbe Kugel hatte Henker und Opfer durchbohrt! –

Auf das Bollwerk des Turmzuganges sprang die riesige Gestalt des einäugigen Greises; wahnwitzig schwang seine Hand die noch rauchende Flinte um das Haupt.

»Hierher! Blutige Mörder von Skadar! Hierher! Feige Söhne des falschen Propheten! Die Männer der schwarzen Berge rufen nach Euch!«

Und Fatinitza warf ihr Roß gegen die Kula.

»Zum Kampf! Allah il Allah! Zum Kampf!«

Von allen Seiten klang das furchtbare Angriffsgeschrei und die Schar stürmte gegen die kleine Heldenzahl; Schüsse knallten, Waffen blitzten. Stöhnen der Wut und des Schmerzes; über die Steine und Balken klommen die Albanesen. Hinein ins dichteste Gewühl stürzte sich der Zagartschane – wie sein Schatten hinter ihm drein Nicolas Grivas, während am Eingang des Turmes der grimmige Beg und Jowan Martinowitsch den Helden- und Todeskampf kämpften und, von unzähligen Wunden durchbohrt, sterbend noch mit dem Blick voll unauslöschlichen Hasses den siegenden Feind bedrohten. Zwei Mal hatte Grivas sich vor den zürnenden Freund geworfen und den Todesstreich von ihm abgewehrt; jedesmal wandte sich der Zagartschane nach einer anderen Seite, beide die Mörderin zu erreichen strebend. Mit wildem Jubel schwangen die Albanesen schon in ihrem Rücken das abgeschnittene Haupt des Beg auf einer Flintenspitze. Unwillkürlich wich das trotzige Weib vor den wütenden Rächern zurück, den Zügel des Rosses anziehend; an Grivas' Hals warf sich die Wölfin, aber ein Handjarstoß zerschnitt ihr den blutigen Rachen und die Kehle, – da durchbohrte aus nächster Nähe ein Schuß die Brust Gabriels, daß ein dunkler Blutstrom mit dem Atemzug aus seinem Munde quoll.

Über dem Stürzenden schwang Nicolas den blitzenden Stahl:

»Diesmal, Blutbruder, löse ich den Eid!« und sein Hieb spaltete den Schädel des Arnauten, der sich auf den sterbenden Freund warf.

»Lebendig, lebendig fangt ihn!« kreischte die Stimme Fatinitzas, und ihre Geberde jagte die Zaudernden dem Kämpfer entgegen.

Da krachten neue Schüsse in geringer Entfernung. Durch die Nebel des Wintergrauens brachen von der Bergseite her dunkle Gestalten, – die Czernagorzen, die Junaks der Rietschka Nahia, – eine kräftige, militärische Figur im grauen russischen Capot in ihrer Mitte erteilte Befehle – Oberst Berger, den Bogdan in der nächsten Brastwo (Gemeinde) mit mehreren Begleitern umherstreifend gefunden.

»Vater Iwo! Gabriel! Die Kinder der schwarzen Berge kommen!« tönte ermutigend die Stimme des Jünglings durch das Kampfgewühl und das wüste Geschrei der von allen Seiten flüchtenden Albanesen.

Zu spät!

Ein schwerer Kolbenschlag traf von hinten des Griechen Haupt und warf ihn, aus zehn Wunden blutend, zu Boden über den toten Freund.

Das Blut der beiden Blutbrüder vermischte sich – der heilige Eid war gesühnt – sein brechendes Auge traf die Mörderin.

»Das Kreuz! Das Kreuz! – Gabriel – Vater – Stephana, wo seid Ihr?«

Die Wölfin von Skadar sprang vom Roß. Mit übermenschlicher Kraft hob sie den blutenden Körper quer auf den Sattelknopf des Pferdes und schwang sich wieder hinauf. Im Druck der spitzen Steigbügel hob sich der Renner mit der doppelten Last zum Sprunge, und seine Hufe warfen die Flüchtenden zur Seite.

Weit aus griff der Schimmel. Von den Schüssen der Czernagorzen umdonnert, den blutigen Körper des seiner Liebe Verfallenen auf Sattel und Arm, sprengte das Türkenmädchen durch den Pulverdampf.

In den wallenden Nebeln des Morgenlichts verschwand der flatternde Mantel.

Hinter ihr aber hielt der Tod seine reiche, rächende Ernte! –


Lorette und Grisette.

Wir haben Fürst Iwan auf dem Place de la Madeleine am Abend des 5. Juli verlassen, als er seiner Schwester seine Ehre verpfändete, noch vor 11 Uhr auf dem Nordbahnhof zu sein.


In einer jener Straßen, welche die Rue Montmartre mit der Rue Montorgueil und Poissonniere verbinden, in der Rue St. Joseph No. 10, enthielt der zweite Stock eine kleine, aus einem Vorzimmer, Salon und Schlafgemach mit einer Mädchenkammer bestehende Wohnung, die mit einer gewissen überladenen Eleganz und jenem Luxus eingerichtet war, der mehr als alles andere beweist, daß der Besitzer oder die Besitzerin nicht in der Gewohnheit des Reichtums geboren sind, und daß es ihnen an jenem guten Geschmack fehlt, der das Erbteil der Geburt oder der Erziehung ist. Verschiedenartige und überzahlreiche Möbel, vielfarbige Teppiche, Spiegel, Kunstgegenstände und Nippessachen ohne Auswahl. In dem überfüllten Salon befanden sich in diesem Augenblicke zwei Frauen, beide jung, beide schön, beide Kinder des Pariser Lebens, Tagfalter der Jugend, wie sie dahinflattern von Lust zu Lust, von Blüte zu Blüte, bis der schöne Farbenstaub der Flügel verwischt und verschwunden ist.

Im damastbekleideten, üppig weichen Fauteuil ruhte eine Frau von hoher, junonischer Gestalt, etwa zweiundzwanzig bis dreiundzwanzig Jahre zählend, das Haar blond, die Haut dem entsprechend fein und leicht gerötet.

In dieser Mattigkeit der Farbe und der Augen lag dennoch eine gewisse Genußsucht, eine Unbezähmbarkeit des Verlangens; damit ganz eigentümlich verbunden schien die Empfindung für das Seltsame, Wunderbare und das im Bau des Kinns ausgesprochene Vermögen einer raschen Entschlossenheit, das mit der gewöhnlichen lethargischen Genußliebe der Schönen einen seltsamen Kontrast bildete. Ein schweres Faltenkleid von rosa Moirée, mit schwarzen Spitzen garniert, und ein weicher, nachlässig im Sitzen zusammengedrückter halber Dominomantel von weißer Wolle umhüllten die schöne Gestalt. Die feinbehandschuhte Hand spielte mit einer halben Sammetmaske und dem Fächer.

Zu ihren Füßen, auf einem gestickten Tabouret, hockte in halb possierlicher und doch allerliebst graziöser Stellung ein junges Mädchen von höchstens achtzehn Jahren im eleganten, doch sehr legère getragenen Kostüm der Débardeurs, während ein dunkler Herrendomino auf dem Sopha zur Seite lag. Die Kleine, gleichfalls noch ohne Maske, qualmte aus den frischen, überaus keck und heiter aufgeworfenen Lippen eine spanische Zigarre, deren Rauch ihre große Gefährtin von Zeit zu Zeit widerwillig mit den Federn des Fächers zurückwehte. Es war ein lustiges, keckes Leben in dem zierlichen Gesichtchen, Laune und Eigenwille in den braunen Augen, aus denen aber auch Mitgefühl und Anhänglichkeit leuchteten.

»Dein Kavalier bleibt lange, Nini!« sagte nachlässig die Große. »Es wird 11 Uhr, bevor wir nach dem Jardin Mabille kommen!«

»Was machen wir uns daraus! Wir bleiben desto länger. Weißt Du, Celeste, Du bist recht töricht, daß Du immer die Vornehme spielst und so zeitig fortgehst. Man muß das Vergnügen bis auf den Grund studieren.«

Die Lorette warf ihrer Freundin durch die matt geöffneten Augenlieder einen halb verächtlichen Blick zu, gleich als wollte sie sagen: Törichtes Kind, was weißt Du! Der Mund aber sprach:

»Das verstehst Du nicht, das ist nicht Sitte in der besseren Gesellschaft, und ich ärgere mich jedes Mal über Dein ungeniertes Wesen, wenn wir zusammen an öffentlichen Orten erscheinen.«

»Bah! Warum gehst Du da mit uns? Freilich ist's noch nicht lange und erst seit Dir Dein Protecteur untreu geworden. Weißt Du, Celeste, ich habe schon gedacht, Du hättest Dich seit den acht Tagen, daß Du mich wieder besuchst, nur darum zu mir gefunden, um mir Jean zu entführen.«

Wiederum traf ein ähnlicher Blick die Kleine.

»Meinst Du denn, wenn mir's Ernst wäre, ich würde es nicht zu Stande bringen?«

»O, Jean ist treu, er liebt mich wirklich; es ist nicht eine so von Euren kleinen Liaisons, die Ihr so gern die vornehmen Damen spielen wollt und es doch nicht seid. – Man hat bei unserer Liebe noch ein Herz.«

»Beruhige Dich, Mignonne, sei überzeugt, dazu liebe ich Dich zu sehr aus der Zeit, da wir Beide noch Kinder waren. Ich freute mich aufrichtig, als ich Dich wiederfand, auch bin ich nicht undankbar – und Du weißt –«

»Ah bah, schweige von der Kleinigkeit; Jean gibt mir ja genug, warum sollte man einer Freundin nicht helfen! Weißt Du, Celeste, es ist eigentlich recht schade, daß Du schlecht geworden bist; mein Bruder François liebte Dich so sehr und Du hättest eine brave Frau werden können.«

Das feine Gesicht der Lorette schien eine Wachsbleiche anzunehmen bei der Erinnerung, dann flog mit einem leisen Seufzer eine helle Röte über Stirn und Wangen und die Hand drückte krampfhaft den Fächer.

»Erinnere mich nicht daran, er war meine einzige Liebe. Aber was können wir armen Frauen tun – die Armut ist so drückend und die Arbeit ist so schwer. Als ich Herrn de Sazé kennen lernte –«

»Ah, das ist Dein erster Verführer, nicht wahr? Mein Bruder hat ihm auch schwere Rache gelobt. Du hast wohl seit den fünf Jahren gar viele gehabt, Celeste?«

»Du bist eine Närrin!«

»Es muß komisch sein,« meinte Nini ganz naiv, »so viele Männer zu lieben, Einen nach dem Andern oder Alle auf ein Mal. Ich könnte es wahrhaftig nicht; mir macht der eine schon genug Kopfzerbrechens.«

»Hat er Dir denn noch immer seinen wahren Namen nicht gesagt?«

»Er heißt Jean und ist, glaub' ich, aus Polen. Mon Dieu, was weiß ich, wo das abscheuliche Land liegt! Ich habe immer gedacht, er müßte so ein falscher Prinz oder so ein verkappter Kalifornier sein, weil er sich gar so wenig aus dem Golde macht. Er liebt seine kleine Nini, was will ich mehr?«

»Du verdientest, daß man ihn Dir entführte, so einfältig bist Du. Seit drei Monaten hast Du diesen Krösus nur in Deinen Fesseln und noch nicht einmal eine Equipage oder eine Kammerfrau.«

Nini lachte wie toll, daß sie fast vom Tabouret fiel und die Zigarette verlor.

»Ich eine Kammerfrau! Bist Du nicht gescheut? Was sollte ich mit einer Kammerfrau tun? Das gehört für Damen wie Du. Nein, mein Schatz, die Portiere genügt mir, und mit der kann ich ungeniert plaudern, wie mir der Schnabel gewachsen ist, vor so einer zierlichen Demoiselle aber würde ich mich genieren und wüßte wahrhaftig nicht, ob sie die Herrin oder ich. Aber was willst Du? Bin ich nicht schön und fein eingerichtet? Ist nicht dies Alles mein, die ich doch eigentlich nur eine kleine Nähterin war, und kannst Du etwas Hübscheres und Reicheres sehen als diesen Salon? He?«

Celeste zuckte mitleidig die Achseln.

»Du könntest drei damit ausstatten, und es würde drei Mal besser aussehen.«

»O, glaube nur,« meinte Nini hochmütig, »Jean kauft mir Alles, was ich will. Ich habe auch schon an so ein kleines Pferdchen gedacht, und einen hübschen, zierlichen Tilboury mit einem Knirps von Jockey oder Mohrenbalg so hinten drauf, aber Jean meint, das passe sich nicht für mich, und wenn ich einen Wagen hätte, würde ich den ganzen Tag auf der Straße umherkutschieren und nicht mehr für ihn zu Hause sein. Wenn wir nach den Boulevard-Theatern gehen, oder ins Freie, oder zum Ball, ei, da gibt's ja Wagen genug in Paris.«

»Wie aber ist's Nini –« sagte die Andere mit Überwindung – »wenn François, Dein Bruder zurückkehrt? Was wirst Du ihm sagen über das begonnene Leben?«

Dem leicht erregten Mädchen traten ein paar Tränen in die hellen Augen.

»Das ist freilich böse, aber – warum hat er mich verlassen! Ich liebe François sehr, aber man kann doch nicht ewig in seinem Dachstübchen verkümmern? – Und hungern kann man doch erst gar nicht, wenn man auch noch so wenig ißt. Du weißt ja, Celeste, wie glücklich und bescheiden wir waren, als unsere Eltern neben einander wohnten im Faubourg Antoine, und wir alle Sonntag zusammen spazieren gingen. Du und François und ich, das närrische Kind. Auch noch aus der englischen Fabrik kam François immer nach Hause, blos um Dich zu sehen, bis vor fünf Jahren – Du erinnerst Dich –«

»Ich weiß, ich weiß!«

»Als François im März nach England ging, gab er mir hundertfünfzig Franken, und damit und mit meiner Näherei hätte ich gewiß gelangt, obschon ich mich recht stattlich herausgeputzt hatte, wenn ich nicht so einfältig gewesen wäre, das schöne Geld in den fünf blanken Louis, die ich noch hatte, immer mit mir herumzutragen. Ich habe Dir's ja erzählt, wie man mir's gestohlen hat am ersten schönen Sonntag im April, als das Gedränge des Abends auf den Boulevards so groß war und wie mich Jean dann weinend fand und mich ansprach und tröstete. Eh bien, seitdem kennen wir uns, ich habe, wie die Vögel mein altes Nest in der Antonia verlassen und Jean hat mich hierher gebracht, und als ich Dich vor acht Tagen im Jardin des plantes traf, da ich gerade die närrischen Bären fütterte, und Du Dich der kleinen Nini erinnertest, ei, da war ich ganz glücklich, denn mit Dir, Celeste, kann ich doch von so vielem plaudern, was ich selbst Jean nicht sagen mag, obgleich er nicht müde wird, mich anzuhören, und immer sagt, ich wäre seine Plaudertasche.«

Die ältere Freundin wiegte schmerzlich sinnend den Kopf.

»Ich glaube Dir, er liebt Dich von Herzen – doch wie hätte Treue und Neigung bei Männern Bestand. Nur der Genuß ist das einzig Sichere, und den gilt es, festzuhalten. Du wirst noch manche schlimme Erfahrung machen, Kind! Was soll aus Dir werden? Dein Starost oder Graf, was er nun sein mag, kann Dich doch nicht ewig lieben?«

»Rede nicht so; was kümmert uns die Zukunft, die ist noch weit! – Jean hat mir gesagt, er solle eine Prinzessin heiraten, aber er wolle nicht und werde mich lieben, so lange er lebe. Wer will ihn auch zwingen? Bah! Da kennst Du ihn schlecht. Wenn es uns in Paris nicht mehr gefällt, so gehen wir auf Reisen, er hat es mir versprochen, und weißt Du, Celeste, ich nehme Dich mit. Aber wo bleibt der schlechte Mensch, weiß Gott, es ist ja gleich halb Elf, und schon vor einer Stunde sollten wir auf dem Wege sein.«

Die Tür wurde aufgerissen, bleich und hastig, vom raschen Lauf aufgeregt, stürzte ein junger Mann ins Zimmer, – Iwan, der Fürst. Mit einem Sprunge war das Mädchen an seinem Halse.

»Böser Jean, Du sollst nicht einen einzigen Kuß erhalten. So lange uns warten zu lassen und den ganzen lieben Tag nicht ein einziges Lebenszeichen von sich zu geben. Ich habe mich wahrhaftig geängstigt um Dich, böser Mensch, und wollte es nur vor Celeste nicht zeigen. Gleich geh' und küss' ihr die Hand für Dein unartiges Ausbleiben.«

Der Fürst schob sie liebevoll zurück, nachdem er sie auf die Stirn geküßt, dann warf er sich erschöpft auf das nächste Sopha.

Celeste war aufgestanden und sah überrascht sein aufgeregtes Wesen, auch Nini, die sich auf seinen Schoß gesetzt hatte und ihm die Haare aus dem Gesicht strich, bemerkte jetzt seine Zerstreuung.

»Was fehlt Dir, mein Freund, Du bist so seltsam? Willst Du den Domino nicht nehmen? Es ist hohe Zeit.«

»Du wirst allein gehen müssen, Nini, ich kann Dich nicht begleiten.«

»Fi donc, was sind das für Dummheiten? Willst Du mich foppen?«

Der junge Mann drückte sie an sich.

»Gewiß nicht! Aber ich kann Dich nur nicht begleiten. Nini! Wir müssen uns auch trennen, – ich fürchte, auf lange Zeit, ich verreise.«

Das Mädchen wurde todtenblaß und fuhr mit den Händen nach dem Herzen. Erst jetzt fühlte sie, wie teuer er ihr war, den sie bisher wie einen gewöhnlichen Liebhaber betrachtet hatte.

»Jean, ich bitte Dich, mach mir nicht unnütze Angst!«

Sie faltete flehend die Hände.

Geberde und Worte waren so einfach aufrichtig, so überzeugend, bei dem sonst nur Scherz und Lachen kennenden Mädchen, daß der Fürst sie in seine Arme riß und sie ungestüm und lange an sein Herz gedrückt hielt.

»Nini! Teures, liebes Mädchen, liebst Du mich wirklich so innig, daß mein Scheiden Dir solchen Schmerz machen würde?«

Ihr zierlicher Kopf lag an seiner Brust, sie schaute ihn schluchzend an.

»Jean! – Verlaß mich nicht!«

Sie preßte den Mund an sein Ohr und flüsterte errötend, zitternd, ein süßes Wort ihm zu.

Liebe, Glück, Verzweiflung wogten in der Brust des jungen Mannes, wie er die Geliebte umschlungen hielt. Die Außenwelt um sie her war verschwunden – sie bemerkten nicht einmal, daß sie nicht allein waren, denn Celeste war, – die unerwartete Szene ehrend – hinter die seidenen Vorhänge des Fensters getreten.

Da weckte die prächtige Bronze-Uhr auf dem Kamin die Liebenden.

Sie schlug Halb.

Der Fürst raffte sich empor und mit Gewalt aus den Armen des jungen Mädchens.

»Höre mich, Nini, und ich bitte Sie, Madame, einen Augenblick für diese arme Kleine, die zu aufgeregt und unerfahren ist, mir Ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Ich weiß, Sie sind ihre Freundin schon aus der frühen Jugend. Darf ich hoffen, eine aufrichtige?«

»Meine Hand darauf. Sprechen Sie!«

»Ein ganz unerwartetes, dringendes Geschäft zwingt mich, – vielleicht zum Glück für uns Beide, – auf der Stelle abzureisen, so daß selbst Dispositionen, die ich für einen anderen drohenderen Fall bereits getroffen hatte, unnütz werden. Bei Gott dem Allmächtigen, ich liebe das Mädchen unaussprechlich, ich werde sie nie und nimmer verlassen um meines eigenen Glückes willen. Aber ich weiß nicht, ob ich für lange Zeit oder je werde nach Frankreich zurückkehren können.«

Nini schluchzte an seiner Brust.

»Beruhige Dich, Kind. Liebst Du mich, wie ich Dich, so wird nichts uns trennen. Hier in dieser Brieftasche sind einstweilen ungefähr zehntausend Franken in Bankscheinen – ich habe augenblicklich nicht mehr bei mir, doch wird es vorläufig reichen. Nehmen Sie, Madame, für dieses teure Mädchen. – Fort muß ich – die Zeit drängt und jeder Augenblick« – sein Blick flog nach dem Zifferblatt der Uhr – »ist kostbar. Von der ersten Station aus, wo ich einen kurzen Halt mache, wirst Du meine weiteren Bestimmungen erhalten. Willst Du mir dann folgen in meine Heimat?«

»Kannst Du fragen? – Bist Du nicht das Einzige, was ich auf dieser Welt habe?«

»Ich bin reich, Gott sei Dank, zum ersten Male empfinde ich diese Wohltat, Du wirst mir folgen und jede Freude, jeden Genuß teilen, den die Welt bietet. Sie, Madame, können Sie sich entschließen, Paris zu verlassen und dieses Mädchen zu begleiten, so bitte ich Sie darum, Sie werden mir willkommen sein und können auf meine volle Dankbarkeit rechnen. – Und jetzt, Nini, laß uns scheiden – die Augenblicke fliegen! Der Fiacre, der vor der Tür wartet, wird kaum noch Frist haben, mich zur rechten Zeit zum Bahnhof zu führen.«

Er umarmte das weinende, trostlose Mädchen.

Celeste legte die Hand auf seinen Arm.

»Ich zweifle durchaus nicht an Ihren Worten und an Ihrer Redlichkeit, mein Herr, aber bedenken Sie, daß dieses Kind weiter keine Garantie hat, als Ihr Wort. Sie kennt nicht einmal Ihren Namen.«

»Höre sie nicht, Jean; was kümmert mich, wer Du bist, wenn Du mich nicht mehr lieben würdest. Ich vertraue Dir aus vollem Herzen!«

»Dank, tausend Dank, und Sie, Madame, glauben Sie, daß nur der Wunsch, mir ungetrübt mein Glück zu erhalten, mich den Schleier des Geheimnisses über unser Verhältnis werfen ließ. Mein Name …«

Die Uhr schlug drei Viertel.

»Um Gotteswillen, laß mich fort! Meine Ehre ist verpfändet, die Ehre meines Hauses! Leb' wohl! Leb' wohl!«

Er drückte stürmisch heiß einen Kuß auf die Lippen des Mädchens und eilte ins Vorzimmer.

Nini stürzte ihm nach und umschlang ihn noch ein Mal.

»Jean, verlaß mich nicht! Nimm mich mit Dir!«

»Madame, Barmherzigkeit! Helfen Sie mir, ich muß fort, ich muß!«

Er legte sie in ihre Arme und stürzte nach der Tür – sie wurde von außen geöffnet, – eine kräftige Männergestalt mit Blouse und braunem Kalabreserhut trat hastig ein.

Ein Blick auf die Gruppe genügte; der Fremde stieß den Fürsten unsanft zurück und schloß die Tür hinter sich von Innen ab.

»Ich sehe, ich bin hier recht. Einen Augenblick, mein Herr; wir haben miteinander zu reden!«

Zwei leichte Schreie des Staunens und des Schreckens mischten sich mit einander:

»François!«

»Ah, Sie hier, Madame! Sehr gut! In solcher Gesellschaft brauche ich freilich nicht länger zu zweifeln, was aus meiner Schwester geworden ist.«

Celeste gab keine Antwort.

Der Fürst trat auf den Fremden zu.

»Sie sind Herr François Bourdon, der Bruder dieses jungen Mädchens, das vor Schreck und Schmerz dort halb ohnmächtig liegt. Ich bedaure aufrichtig, daß der Augenblick so ungünstig zu einer Erklärung ist, aber Ihre Schwester und Madame Celeste werden Ihnen das Nötige sagen. Ich bitte, lassen Sie mich vorüber.«

Der Arbeiter – jener junge, stattliche Mann, dem wir in der Versammlung der Unsichtbaren als Bote nach London schon einmal begegnet sind – lachte höhnisch auf:

»Haben Sie's so sehr eilig diesmal, mein Herr?«

»Ich muß – ich muß! …«

»Ich auch, denn auf meinen Fersen, Herr, ist die kaiserliche Polizei, auf den Ihren nur der Bruder eines verführten Mädchens, und dennoch nehme ich mir Zeit, die Ehre meiner Schwester zu rächen.«

»Zurück!«

Mit kräftiger Faust warf er den jungen Mann, der sich mit Gewalt an ihm vorüberdrängen wollte, zurück bis in die Mitte des Zimmers.

»Was unterstehen Sie sich, Herr!«

»Unterstehen? Meinen denn die vornehmen Herren noch immer, nach den Lektionen von 1793 und 1830, daß das Blut des Arbeiters weniger rot durch seine Adern pulse, als das ihre? Daß seine Ehre das Spielwerk ihrer Lüste sei?«

Nini warf sich zu den Füßen des Zürnenden und umschlang ihn.

»Bruder, Du tust Unrecht.«

»Du hast wohlgetan, Täubchen, daß Du mir aus dem Wege gegangen bist – erst heute Abend auf dem Opernplatz vor dem verunglückten Spaß erfuhr ich durch einen Zettel Derer, die Alles wissen, Deine neue Residenz! Ein ehrlicher Arbeiter kann nur eine ehrliche Schwester brauchen – ich habe an der da« – er wies nach Celeste, die bleich und aufgeregt zur Seite stand – »genug der Erfahrungen gemacht. Fort, Metze, mit Dir habe ich nicht zu reden, nur mit Jenem.«

»Sie entehren sich und Ihre Schwester; sie ist meine Geliebte, wenn Sie darauf bestehen, mein Weib. Aber meine Geduld ist zu Ende – geben Sie Raum!«

»Zurück! Meinen Sie einen leichtgläubigen Narren vor sich zu haben?«

In dem Fürsten kochte die ausbrechende Wut, Angst, Verzweiflung – seine Ehre war vernichtet – ein heiliges Wort gebrochen.

»Um der Barmherzigkeit willen, Platz …«

Die Uhr auf dem Kamin hob aus und der erste Schlag der Stunde klang hell aus dem Salon.

Die Zeit achtet nicht auf die Wünsche, die Leidenschaften der Menschen, kalt und unabänderlich wie das Schicksal schreitet sie ihren gemessenen Gang.

Der helle herzlose Schlag der Uhr fuhr wie ein glühendes Eisen durch das Gehirn. – Alles verloren – Ehre – Ruf – Glück. –

Wie ein Tiger sprang er auf den Mann los, dessen Dazwischenkunft ihm Alles geraubt.

Ein dröhnender Faustschlag, der an seine Stirn von der muskelstarken Hand des Arbeiters schmetterte – und weit hin auf den Boden rollte der vornehme Herr, der Fürst, der Gebieter von tausend Seelen, kein Glied rührte sich an ihm.

»Allmächtiger Gott, Du hast ihn erschlagen!«

»Retten Sie sich, fliehen Sie François!«

Der Arbeiter stand starr und blaß, auf seiner Stirn perlte kalter Schweiß und er betrachtete wie verwirrt seine Hand.

»Fliehen Sie, François, ich beschwöre Sie bei Ihrer einstigen Liebe zu mir!«

»Es ist vergebens – die Polizei ist hinter mir – ein Komplott gegen den Kaiser, das in der komischen Oper zum Ausbruch kommen sollte – man hat viele meiner Kameraden verhaftet und verfolgt die Entkommenen. Ich sah, daß ich bereits beobachtet wurde, als ich das Haus betrat.«

Celeste sprang an's Fenster.

»Eine Menge Leute vor der Tür – Soldaten!«

»Er lebt! Er lebt!« tönte dazwischen der jubelnde Ruf des Mädchens. »Celeste – François – helft mir!«

Nini, die nach der traurigen Katastrophe sich nur mit dem Geliebten beschäftigt hatte, versuchte, ihn emporzurichten. François sprang herbei, ihr zu helfen und setzte ihn auf einen Stuhl.

Der Fürst erholte sich, er atmete tief und schwer, und seine Augen waren starr, ohne Ausdruck vor sich hin gerichtet.

»11 Uhr! – Der Dampfzug geht fort!« – Eintönig wiederholte der Mund mehrere Male die Worte.

Celeste hatte die Tür zum Treppenflur geöffnet und lauschte, jetzt sprang sie eilig zurück.

»Man kommt – ich glaube, man untersucht die Zimmer des ersten Stocks. – Um Gottes willen, ist kein Ausweg?«

Ihre Blicke flogen suchend umher, während sie die Tür verriegelte. Ihre Entschlossenheit schien ihr jetzt einen rettenden Gedanken einzugeben.

»Rasch, François, Ihren Hut, die Blouse herunter!«

Fast willenlos gehorchte ihr der junge Mann.

»Mein Herr, haben Sie wenigstens den Edelmut, den Bruder Ihrer Geliebten zu retten. Sie selbst werden sich leicht befreien. Ihren Rock, Ihren Rock!«

Sie zerrte den Fürsten empor, – er blieb ruhig, bewegungslos stehen, – seine Augen starrten bewußtlos umher.

»11 Uhr! – Der Dampfzug geht ab!«

»Nini, um Gottes willen, hilf, Du rettest den Bruder und sicherst Dir den Geliebten. Geschwind, Mädchen, geschwind!«

Der Fürst ließ sich widerstandslos den Rock ausziehen, den sie François zuwarf, und sich mit der Blouse bekleiden.

»Rasch, rasch in den Salon, den Domino um, die Maske in die Hand, ich höre sie auf der Treppe!«

Sie riß dem Fürsten das Halstuch ab.

Nini hatte begriffen – sie ahnte das Schreckliche noch nicht und in der Hoffnung, den Geliebten sich zu sichern, flog sie mit weiblichem Instinkt dem Bruder zur Hand.

Im Nu war die einfache Verkleidung geschehen, der Domino auf seinen Schultern, der Hut auf seinem Kopf.

Celeste drückte den Kalabreser auf den Kopf des Fürsten. »Gott sei Dank! – Nun, mein Herr, gilt es, sich kurze Zeit zu verstellen!«

»11 Uhr! – Der Dampfzug geht ab!«

Celeste erhob ein lautes Geschrei und sprang an die Tür.

»Hilfe! Hilfe!«

Gewehrkolben stießen auf den Flur.

»Im Namen des Kaisers, öffnen Sie!«

Die Lorette riß die Tür auf.

»Hierher! Hierher! Kommen Sie uns zu Hilfe, meine Herren, ein fremder Mann ist mit Gewalt hier eingedrungen – der Mensch will uns morden oder bestehlen.«

Der Polizei-Kommissar trat ein, hinter ihm Polizeidiener, Wache. In der Mitte des Zimmers stand der Fürst, noch immer regungslos, gleich als wisse und fühle er nichts, was um ihn her vorging. Im Zugang des Salons stand Nini in ihrem Masken-Kostüm, dahinter im Schatten François, Beide blaß, stumm – der entschlossenen Freundin Alles überlassend.

Der Kommissar wandte sich zu seinem Begleiter.

»Ist es dieser?« er wies auf den Fürsten.

»Certainement! Ich kenne ihn an der grünen Blouse und dem Hut. Lassen Sie ihn verhaften.«

»Mein Herr, Sie sind mein Arrestant, folgen Sie ohne Widerstand. Meine Damen, ich sehe, Sie sind sehr unangenehm auf dem Wege zu einem vergnügten Abend überrascht worden. Entschuldigen Sie meine Pflicht.«

»O, mein Herr, wir sind Ihnen viel Dank schuldig – der Schreck und die Angst waren groß – wir hatten zwar den Schutz unseres Kavaliers – aber –«

»Ich verstehe,« sagte der Beamte galant und diskret mit einer leichten Verbeugung nach dem Salon. »Meine Pflicht zwang mich jedoch, jede Rücksicht bei Seite zu setzen. Es hat heut Abend bei der Wiedereröffnung der Opera comique ein höchst verabscheuenswürdiges Attentat gegen Seine Majestät den Kaiser unternommen werden sollen, dem jedoch die Behörden glücklich auf die Spur gekommen sind. Bei den Verhaftungen in der Straße Marivaux entkamen mehrere Personen, unter anderem dieser Mann. Nochmals also meine Entschuldigung und viel Amüsement – Allons!«

»11 Uhr – der Bahnzug geht ab!« –

»Was sollen die Albernheiten? – Für Bicêtre Ein großes Pariser Armenhaus, zugleich Irrenanstalt für Männer. können Sie Ihre Manöver später machen. Mich täuschen Sie nicht. Marsch!«

Ein leiser Schauer schien durch die Glieder des Fürsten zu laufen, als er von zwei Agenten an den Armen gepackt und fortgeführt wurde. Er folgte willenlos, – sein starres Auge wandte sich nicht einmal zur Seite, – unter der Tür hörten die Zurückbleibenden nochmals seine Stimme:

»11 Uhr – der Zug geht ab!« –

– – –

Als die Lorette von der Geleitung des Kommissars erschöpft, aufgeregt zurückkehrte, lag Nini ohnmächtig im Arm ihres Bruders.


Die Massacre auf Chios.

Der Mond warf seinen klaren durchsichtigen Schein auf Berg und Meer. Dasselbe silberbleiche Licht erhellte die Ruinen des genuesischen Forts auf der Höhe des Pagus von Smyrna, das seinen kalten, herzlosen Strahl auf das Märtyrertum Stephana's in den Bergen der Zenta warf.

Wo die Ruinen sich nach dem Meer zu öffnen, das mit seinem ewig schwellenden Busen in jenem Silberschein unruhig zu träumen schien, lag die Bande des Räubers gelagert, der Smyrna beherrschte: auf einer Marmorquader Gregor Caraiskakis; an seine Knie gelehnt, trauernd, aber vertrauend zu ihm emporblickend, Diona, in deren reichem, nur von einer Spange zusammengehaltenen Rabenhaar die Hand des Bruders spielte. Vor ihnen der Kameelführer und Welland, der treue Freund.

Nur wenige Schritte davon schürte Mauro ein kleines tönernes Kohlenbecken, aus dem er von Zeit zu Zeit seinem Oheim oder dem Doktor eine glimmende Kohle reichte, mit der sie ihren Schibuk in Brand erhielten.

Etwas weiter, rings um die Gruppe, aber doch im Bereiche des Gespräches, lagerten die Genossen des Räubers.

Welland hatte bei seiner Ankunft Besseres gefunden, als er nach den Vorgängen der Nacht und den Mitteilungen des Freundes hoffen durfte. Eine schwere Beichte des Mädchens hatte stattgefunden, aus der sie jedoch weniger schuldig, als es geschienen, hervorgegangen war. Sie hielt sich für Sir Maubridge's Gattin und nur als solche war sie ihm gefolgt, nachdem in der Nacht vor der Flucht der britische Vizekonsul eine Art von Zeremonie vorgenommen, die ihr Liebhaber für genügend bindend erklärte, und die das Mädchen in ihrer Unbekanntschaft mit den europäischen Gebräuchen und von Leidenschaft geblendet, gleichfalls dafür ansah. Bei der Kenntnis, die Gregor bereits von dem Charakter und Treiben des Beamten erlangt, tauchte freilich sofort der Argwohn in ihm auf, daß die Schwester nur das Spiel eines unwürdigen Betruges gewesen sein könne, und er beschloß mit dem Freunde, sich vorerst darüber Gewißheit zu verschaffen und womöglich Sir Maubridge selbst zur Rede zu stellen. Der Zeremonie, die, wie Diona ihm mitteilte, einfach nur in Vorlesung und Unterzeichnung einiger in der ihr unbekannten englischen Sprache abgefaßten Papiere und in dem Tausch von Ringen bestanden hatten, hatte außer dem Schreiber des Konsuls nur ein alter Matrose, derselbe, den Mauro in der Villa so rechtzeitig aus dem Fenster stürzte, beigewohnt. Auf die Versicherung Gregors, sich friedlich und ohne Haß an ihren Gatten wenden und nur die öffentliche Anerkennung ihrer Ehe erzwingen zu wollen, hatte sie ihm vertraut, daß sie Beide am Morgen mit der Felucke nach Tenedos oder Dardanelli hatten abgehen wollen, um dort einige Zeit zu verweilen, da Maubridge Freunde und einen Bruder auf der englischen Flotte hatte. Die Nachricht von dem Tode ihrer Mutter warf einen trüben Schleier über die neuen Hoffnungen der jungen Frau, und träumend und stumm, aber vertrauend auf den Bruder, saß sie an dessen Knie und horchte nur wenig auf das Gespräch der Männer, an den geliebten Verführer denkend, von dem Mauro die Kunde gebracht hatte, daß er nach einer Fahrt nach Smyrna am Morgen, wirklich am Nachmittag mit der Felucke abgesegelt sei. Der Konsul hatte sich noch am Vormittag zu dem Pascha begeben, um energische Reklamationen wegen des Überfalls und des Niederbrennens seines Landhauses zu erheben, und Jan Katarchi wußte durch seine Spione, daß Ali-Pascha sofort Befehl erteilt, Streifzüge gegen die Räuber zu unternehmen. Doch Jan spottete derselben, indem er teils selber unter den Khawassen des Paschaliks gute Freunde zählte, teils sie im schlimmsten Falle nicht zu fürchten brauchte. In der Tat war die Schar, die damals die Polizeimannschaft von Smyrna bildete, nicht viel besser als die Räuberbande selbst, mit Ausnahme der Khawassen der Konsulate, die ernste, tapfere Männer waren; jedenfalls war sie zerlumpter und schlechter bewaffnet und diszipliniert als die Räuber, und der Khawass-Basch Hauptmann der Polizeisoldaten, Khawassen. keineswegs sehr geneigt, sich mit der gefährlichen Jagd auf den kühnen Kameeltreiber zu befassen. –

Die Gruppe an den Ruinen des Forts im Mondlicht gewann durch das schöne Bild der jungen Griechin einen besonderen Reiz. Unter der reichen, in den unterirdischen Gewölben des Forts nutzlos zusammengehäuften Beute hatten sich genug weibliche Kleidungsstücke gefunden, um Diona die Mittel zu geben, vollständig in jenem schönen, malerischen Kostüm zu erscheinen, das die griechischen Frauen und Mädchen, die noch nicht die französische Mode nachgeäfft haben, so wundervoll kleidet. Diona bot den vollen Typus der griechischen Schönheit, einer ganz anderen als wir Abendländer ihn uns gewöhnlich ausmalen. Noch war sie zu jung, um jene weibliche Überfülle zu besitzen, welche die griechischen Frauen über zwanzig Jahren fast durchgängig entstellt, die aber nach orientalischer Sitte für schön gilt.

Dagegen hatte ihr Alter – achtzehn Jahre, ihre Formen gerundet, dem ursprünglich feinen und schlanken Wuchs noch einen verführerischen Reiz verliehen. Das Gesicht von rund-ovaler Form zeigte jenen wunderschönen, weißen und zarten Teint, der den Töchtern der Cycladen eigen ist, gehoben durch zarte und künstliche Röte der Wangen, die nicht wie bei der Toilette des Occidents durch mehr oder weniger feine Schminke, sondern durch Einreibung eines Mittels in die feinen Poren der Haut, die man durch Ausreißen der kleinen Härchen öffnet, hervorgebracht wird, und die wochen- und monatelang ihre zarte Farbe behält, ohne der Erneuerung zu bedürfen.

Augen von der wollüstig schläferigen Mandelform, aus deren Lidern zwischen den schwarzgefärbten Wimpern ein dunkler Augapfel hervorstrahlt, während ein feiner schwarzer Strich unter der Wimper des unteren Lides die Größe und den Glanz des Auges erhöht; – schön- und hochgeschwungene, ebenholzfarbene Brauen unter einer mittelhohen, freien Stirn, eine nicht gebogene, sondern gerade in antiker Linie sich senkende Nase und ein etwas großer, aber durch die herrlichsten korallenartigen Lippen eingerahmter Mund mit einem vollen, runden Kinn – das ist der Typus der griechischen Frauen der Insel und war die Schönheit Diona's. Die Toilette der orientalischen Frauen, die gewöhnlich nur zum Abend gemacht wird, erfordert fast noch mehr Zeit und Sorgfalt, als die der Schönen von Paris und Wien. Leider wird der zierliche und reiche griechische Anzug bei den Frauen Athens und Smyrnas meist schon durch das französische Kostüm verdrängt; wo aber die nationale Tracht beibehalten ist, da erscheint sie reizend und höchst kleidsam. Die Frauen Smyrnas, meist klein von Gestalt, von einem blaßgelben Teint mit unheimlich funkelnden Augen, die für große Schönheit gelten, auf den Europäer aber meist den Eindruck des Rattenauges machen, sind bei ihrer Verheiratung mit einem solchen gewöhnlich das Verderben des Mannes.

Von jener Putz- und Gefallsucht, die eine Smyrniotin beherrscht, gibt selbst die Löwin der Pariser Salons kaum eine Idee. Alles, was sie an anderen Frauen an Schmuck und Kleidern sieht, erregt ihren Neid, und sie peinigt den Mann um noch Schöneres, das – einmal getragen – allen Reiz für sie verliert. Dazu ist sie als Frau eigensinnig, launisch, träge und in Müßiggang den Tag hinbringend, bis zur Abendzeit, wo sie in voller Toilette sich an die Tür des Hauses setzt und Besuche annimmt oder macht; und so tugendhaft sie als Mädchen ist, so selten bleibt sie es nach ihrer Verheiratung. Bei dem geringsten Wortwechsel, bei dem geringsten Widerstand gegen die oft unerträglichen Launen der eingeborenen Frau hat der europäische Gatte den ganzen Schwarm ihrer Verwandtschaft bis in's zehnte Glied auf dem Hals, und er kann, braucht er sein Hausrecht, von Glück sagen, wenn er zuletzt ohne einige Messerstiche oder Pistolenkugeln davonkommt. – Bei den Verhältnissen und Sitten des Orients sind die moslemitischen Frauen, bei allen sonstigen üblen Eigenschaften dem Manne eine weit bessere und geeignetere Genossin als die christlichen.

Die Männer waren in einem ernsten Gespräch begriffen.

Welland hatte die Vorgänge des Tages in Smyrna mitgeteilt und die Rede hatte sich nun auf die politischen Verhältnisse und Ereignisse überhaupt gerichtet, die den Orient und Occident zu erschüttern drohten, und auf beiden Seiten mächtige Rüstungen und Vorbereitungen aller Art hervorriefen. Konstantinopel war in diesem Augenblick noch der Zentralpunkt der diplomatischen Agitationen, und von hier aus spannen sich die Fäden der Intrigue und Gegenintrigue, deren Auslaufen und Entscheidung nur Wenige noch berechnen konnten.

Caraiskakis, durch sein abenteuerndes, umherziehendes Leben und die Vorgänge der letzten Zeit nur wenig und unvollständig über den Stand der Angelegenheit unterrichtet, hatte den Freund um einen kurzen Umriß gebeten, und dieser gab ihm denselben.

Man hatte in Wien frohlockt, daß der Czar die Forderungen Österreichs in der montenegrinischen Frage so kräftig unterstützte, sah aber jetzt, daß das Petersburger Kabinett damit einen viel wichtigeren Schlag in Konstantinopel vorbereitet hatte. Rußland, das seit Katharina II. mit mehr oder weniger kurzen Unterbrechungen einen überwiegenden Einfluß in Konstantinopel ausgeübt hatte, sah seit einiger Zeit denselben bedeutend geschmälert und bedroht, indem in dem Divan immer mehr französische und englische Sympathieen – offenbar auch in Folge des erweiterten sozialen Verkehrs und der Erziehung junger Orientalen in Paris und London, sowie des Eindringens der liberalen und demokratischen Ideen des Westens – sich geltend machten. Auch materiell hatten England und Frankreich durch die Vermehrung von Konsulaten, neue Handelsverbindungen usw. in der Türkei einen festeren Fuß gefaßt, und bedrohten von hier aus die russische Macht.

Die Frage wegen der politischen Flüchtlinge nach dem ungarischen Kriege war durch Englands Einfluß gegen Rußland entschieden worden.

Die von Frankreich genommene Aggressive durch den Streit um die heiligen Stätten Die heiligen Stätten sind Kirchen (9 an der Zahl), welche an den Orten, wo die wichtigsten Ereignisse aus dem Leben Christi vorgefallen, erbaut wurden. Der Streit über den Besitz derselben zwischen der römischen und griechischen Kirche, die von Frankreich und Rußland vertreten werden, ist sehr alt. Die von Frankreich beanspruchten Anrechte datieren von einer im 16. Jahrhundert zwischen Franz I. und Soliman dem Großen abgeschlossenen Kapitulation von dem Hattischeriff von 1690 und der Kapitulation von 1740; die der griechischen Kirche gründen sich auf andere Dokumente. drohte eine ebensolche Wendung zu nehmen, wie die Flüchtlingsfrage. Rußland durfte unter keinen Umständen die Interessen der griechischen Christen im Stiche lassen, wenn es nicht die für seine traditionellen und historischen Pläne so notwendigen Sympathieen derselben aufgeben wollte, und so war es zu einem herausfordernden Auftreten und einem Beginn des Streites gezwungen, zu dem es noch keineswegs durch seine inneren Einrichtungen, Eisenbahnen, Marine usw. vorbereitet war. Dennoch hatte man sich in Petersburg dem Glauben hingegeben, daß die russische Machtstellung im europäischen Staatenverband und sein bisheriger dominierender Einfluß auf Mittel-Europa hinreichen würden, ernste Konflikte zu vermeiden. Dazu kam der blinde Glaube an die Unmöglichkeit einer politischen Alliance Englands und Frankreichs. Kaiser Nikolaus, einer der ehernsten Charaktere der Weltgeschichte, rechnete Völker und Länder zu sehr als Zahlen von seinem erhabenen Standpunkt aus und trug den tieferen Erscheinungen und Charakteren der Gegenwart zu wenig Rechnung.

Fürst Menschikoff, der russische Marineminister, war am 28. Februar in Konstantinopel eingetroffen und hatte einen feierlichen Einzug unter dem Jubel der griechischen Bevölkerung gehalten, die in der Initiative Rußlands eine neue Aera ihrer Jahrhunderte lang bewahrten Hoffnungen und Wünsche aufblühen sah.

Der starre Charakter des Fürsten war zur Führung intriguenvoller diplomatischer Verhandlungen, in denen die orientalischen Staatsmänner die feinsten Diplomaten des Westens überragen, wenig geeignet, und wir haben bereits zu Anfang unseres Werkes angedeutet, welchem Einfluß es gelungen war, gerade dieser, dem Charakter des Kaisers so ähnlichen Individualität die Betrauung mit dieser schwierigen Mission zuzuwenden. Der Fürst hatte sich geweigert, dem Minister des Auswärtigen, Fuad Effendi, der Etikette gemäß, seinen Besuch zu machen, mit der Erklärung, daß Rußland gerade besondere Beschwerdegründe gegen diesen ihm persönlich feindlichen Minister habe, der auch die Verhandlungen wegen der Auslieferung der ungarischen und polnischen Flüchtlinge geleitet hatte. Die Pforte zeigte dem energischen Auftreten des Fürsten gegenüber sofort ihre Nachgiebigkeit durch die Enthebung Fuad Effendi's von seinem Portefeuille.

Getäuscht durch dieses Resultat ging der Fürst weiter. Der vorgeschobene Beschwerdepunkt, der Krieg gegen Montenegro, war bereits durch die österreichische Intervention beseitigt – es blieb also nur die Frage wegen der heiligen Stätten, hauptsächlich über den Besitz der Schlüssel zum heiligen Grabe, welchen sowohl die Lateiner (Katholiken) wie die Griechen in Anspruch nahmen.

Die Unterhandlungen wurden auf das ausdrückliche Verlangen des Divans unter Zuziehung des Vertreters von Frankreich gepflogen, die Reklamation des Fürsten in den Noten, in welchen er die Rechte der griechischen Kirche den Lateinern gegenüber gewahrt verlangte, durch Erlaß eines Fermans erledigt, der die Rechte der Griechen gegen alle Übergriffe der Katholiken sichern, zugleich den Franzosen die neuerdings durch Kapitulationen erworbenen Rechte unverletzt erhalten sollte.

Frankreich hatte bei der ersten Nachricht von der Sendung des Fürsten Menschikoff seine Mittelmeer-Flotte nach den griechischen Gewässern gesandt, der englische Admiral Dundas sich geweigert, auf die gleiche Requisition des britischen Vertreters in Konstantinopel, Oberst Rosen, dasselbe zu tun.

Die Frage wegen der heiligen Stätten schien geregelt, war es aber durchaus nicht; denn Fürst Menschikoff verlangte jetzt zugleich Bürgschaft gegen künftige Verletzungen der eingegangenen Verträge, und zwar in Form einer förmlichen Verpflichtung.

Dies war der Wendepunkt, an dem aufs neue das Spiel der politischen Intriguen begann. Durch die Gewährung dieser Forderung hätte der Zar das Recht erhalten, als Protektor der orientalischen Kirche, also der griechischen Untertanen des Sultans, sich bei allen entstehenden Streitigkeiten derselben mit der türkischen Regierung zum Schiedsrichter aufzuwerfen.

Das war gewissermaßen eine vollständige Abhängigkeit von Rußland, obschon auf der anderen Seite nicht zu leugnen stand, daß die griechische Kirche und Bevölkerung in der Türkei dringend einer Befreiung und eines energischen Schutzes ihrer Rechte bedurfte.

Unterm 10. Mai beantwortete der Divan dieses Verlangen als Eingriff in die Souveränität des Sultans ablehnend, die geringeren angeschlossenen Forderungen bewilligend.

Zugleich trat durch den Einfluß des seit dem 5. April in Konstantinopel wieder eingetretenen britischen Gesandten, Lord Stratford de Redcliffe, eine Veränderung des türkischen Ministeriums im britischen Sinne ein. Der bisherige Großwessir Mehemed Ali wurde Kriegsminister, Rifaat-Pascha Minister-Präsident und Reschid-Pascha trat an die Spitze des Auswärtigen.

Fürst Menschikoff antwortete am 11. Mai auf die türkische Note und kündigte, als die neuen Verhandlungen kein Resultat herbeiführten, am 18ten an, daß er seine offiziellen Verbindungen mit der Pforte abbrechen müsse, weil man für Sicherung verbriefter und unbestreitbarer Rechte, und anstatt die Abhülfe gerechter Beschwerden ernstlich zu leisten, ihn nur mit leeren Ausflüchten hinhalte. Die Schlußerklärung seiner Note, die wegen der darauf basierten späteren Kriegsereignisse wichtig ist, lautet: »Daß die Verweigerung einer Bürgschaft für die griechisch-russische Kirche der Kaiserlichen Regierung in Zukunft die Pflicht auferlege, sie in ihrer eigenen Macht zu suchen, und daß der Kaiser jede Verletzung des Status quo der griechischen Kirche als eine Verletzung des Geistes und des Buchstabens der bestehenden Verträge und als eine feindselige Handlung gegen Rußland betrachten werde, welche Sr. Majestät die Pflicht auferlege, zu Mitteln zu greifen, die er in seiner beständigen Sorge für die Stabilität des türkischen Reiches und in seiner aufrichtigen Freundschaft für Seine Majestät den Sultan und dessen erhabenen Vater stets gewünscht habe, vermeiden zu können.«

Fürst Menschikoff zog sich nach dieser Mitteilung vom 18. Mai an Bord des bei Bujukdere ankernden Dampfschiffes zurück, das ihn nach Odessa bringen sollte, setzte aber noch die privaten Unterhandlungen fort. Da die Pforte jetzt hartnäckig alle Modalitäten des Ultimatums zurückwies, verließ der Fürst am 21. Mai mit dem russischen Gesandtschafts-Personal Konstantinopel, wo nur die Handelskanzlei zurückblieb.

Die türkische Regierung zeigte unterm 20. Mai den Vertretern der vier Großmächte an, daß sie sich gezwungen sähe, gegen die großen Rüstungen Rußlands an der Grenze der Donau-Fürstentümer offen ihre Gegenanstalten zu treffen.

Der russische Minister des Auswärtigen, Reichskanzler Graf Nesselrode, schickte jetzt nochmals eine Note an Reschid-Pascha, in welcher er die Annahme der früher gestellten Bedingungen binnen acht Tagen forderte, widrigenfalls Rußland die Donau-Fürstentümer besetzen würde, erklärte jedoch dabei, daß diese Besetzung eben nur als Pfandnahme und nicht als Kriegserklärung zu betrachten sei.

Eine durch die Bemühungen der Vertreter Preußens und Oesterreichs ziemlich gemäßigte Note des Divan, in welcher man sich bereit erklärte, einen besonderen Gesandten nach Petersburg zu schicken, lehnte diese Forderung nochmals unterm 10. Juni ab.

Am 14. Juni war der neue österreichische Gesandte, Baron von Bruck, in Konstantinopel eingetroffen; die Sendung des Grafen Gyulai nach Petersburg sollte zugleich dort die Versöhnung vermitteln. Frankreich und England, die nach der Einleitung des Konflikts zwischen Petersburg und der Pforte sich der äußeren Einmischung fern gehalten hatten, riefen jetzt ihre Flotten in die Nähe von Konstantinopel, und dieselben warfen am 15. Juni in der Besika-Bai, am Eingang der Dardanellen, Anker. Die Gesandten erhielten jetzt öffentlich Vollmacht, im Fall einer Kriegserklärung des Sultans gegen Rußland die Flotten nach Konstantinopel zu rufen.

Zugleich hatte jener diplomatische Notenwechsel zwischen den Kabinetten von Petersburg, Paris, London, Wien und Berlin begonnen, durch welchen die streitenden Parteien die Schuld der Zwistigkeiten und deren weitere Folgen sich gegenseitig aufzuwälzen versuchten. –

Dies war die Übersicht, die Welland dem Freunde gab, da er sich, obschon bereits im März von Paris abgereist, doch bei seinem zweimonatlichen, durch eine Krankheit veranlaßten Aufenthalt in der Schweiz und in Oberitalien fortwährend von dem Gange der politischen Angelegenheiten in Kenntnis erhalten hatte.

»Mir scheint, Freund,« sagte er zum Schluß, »der redliche Wille einer Versöhnung und Ausgleichung ist auf keiner Seite sonderlich groß und der Zwischeninteressen, die in dem Streit spielen, scheinen so viele, daß an eine friedliche Lösung kaum zu denken ist. Es scheint gegenwärtig allein das Ziel der Beteiligten, vor den Augen der Welt die Schuld des Angriffs und des bevorstehenden Krieges einer auf den anderen zu werfen. In Frankreich, ja selbst in Deutschland, hält man den Krieg für unvermeidlich und erwartet jeden Augenblick den Ausbruch. Es ist offenbar, daß wir auf einem unterwühlten Boden stehen, und Niemand kann sagen, nach welcher Seite die Wagschale sich senken wird. Alle Verhältnisse scheinen sich umgekehrt zu haben, Freunde stehen einander feindlich gegenüber, alte Feinde haben den Groll im Busen verschlossen und machen gemeinsame Sache. Ich fürchte, Freund, auch unser Schicksal wird uns in das volle Wogengebraus hinauswerfen.«

»Ja, wohl haben Sie Recht, daß alle Verhältnisse verkehrt und aus den Fugen gerückt sind, in diesem Streit!« entgegnete mit Bitterkeit der Grieche. »Steht nicht das allerchristlichste Frankreich, das streng protestantische England neben dem ewigen Erbfeind des Kreuzes, um drei Millionen Türken das Recht wahren zu helfen, zehn Millionen Christen zu unterdrücken, zu tyrannisieren, sie aller historischen und menschlichen Rechte zu berauben? Zu wem soll das Volk der Griechen vertrauend aufsehen, zu England und Frankreich, die für ihre Teilnahme an Navarino mein armes Vaterland zugrunde richten? Macht denn der Wiener Vertrag die Weltgeschichte und die Rechte und die Historie der Völker, oder gab es ein byzantinisches Reich, das Jahrhunderte Europa voran blühte, und dessen Verderben die westlichen Staaten durch die Kreuzzüge herauf beschworen, während sie es dann hilflos in die Hand der Feinde des Kreuzes fallen ließen?!«

»Ich glaube schwerlich, Freund, daß Sie es besser haben würden unter dem Szepter oder der Knute Rußlands, als Ihre Väter es unter der Peitsche des Moslems hatten. Sie wünschen die Wiedergewinnung und Erhebung Ihrer Nationalität. Wohl! Aber Rußland, Ihr Beschützer, ist doch gewiß gerade der Staat, der in seinen eisernen Armen jedes fremde selbständige Leben zu unterdrücken, zu tyrannisieren droht. Wo anders her stammt die Furcht und der Haß Europas und jedes Einzelnen vor diesem Koloß?«

»Meinen Sie denn,« unterbrach ihn der Grieche, »daß mein Volk auch nur den Gedanken in sich trägt, ein Teil des russischen Reiches zu werden? Keinem Hellenen kommt die Idee! Frei wollen wir sein auf unserer eigenen Erde, die getränkt ist mit tausend großen Erinnerungen der Vorzeit, Herren unseres eigenen Landes, das zur Wüste geworden, dessen Kirchen zerstört, dessen Kinder geschändet und geschlachtet sind von einer Handvoll Ungläubiger. Das Kreuz soll herrschen in der alten Hauptstadt unseres Landes, die einst zwei Weltteilen Gesetze vorgeschrieben, so gut wie Ihr Rom, unsere heilige Kirche gereinigt werden von der Schmach des falschen Götzendienstes.«

Sein Auge flammte, seine Hand war erhoben, als er von der Unterdrückung seines Vaterlandes, von den Hoffnungen sprach, welche die Brust jedes Hellenen schwellen. Auch Diona, die Tochter Griechenlands, schaute auf den Knieen liegend, mit geröteten Wangen und feurigen Augen empor zu dem Bruder.

Der Räuber hatte sich aufgerichtet aus seiner trägen Stellung.

»Höre mich, Franke,« sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Ich bin nicht gelehrt wie Du und mein Sohn hier aus edlem Geschlecht; ich bin ein geringer Mann aus dem Lande meiner Väter, ein Dieb und Mörder, und verstehe nichts von dem, was die Könige des Frankenlandes sprechen und wollen. Aber sie sind Staub in den Augen des großen Zaren, der stets unser Freund war, wie sie Staub sind in den unsern. Wem sollen wir trauen, auf wen sollen wir hoffen, wenn nicht auf ihn, dessen Glaube der unsere ist, der der ewige Feind unserer Tyrannen gewesen und sie bekämpft hat? Sollen wir vertrauen auf den Bruder, der uns geschützt hat, oder auf den Fremdling, der unserer höhnt und spottet, die Früchte unseres Fleißes an sich reißt und mit unseren Unterdrückern gemeinschaftliche Sache macht?«

»Da hören Sie die Stimme des Volkes,« sagte Gregor; »wie dieser denken und sprechen Tausende, ja Millionen.«

»Aber was wollen Sie gegen die Übermacht? Jeder Versuch zu Rußlands Gunsten würde Ihren Landsleuten unter türkischer Herrschaft nicht allein das Joch schwerer auflegen, sondern auch die Westmächte zwingen, ihnen allen Schutz zu entziehen. Ganz Europa sieht die Parteinahme derselben gegen Rußland als eine Demonstration der Kultur und Zivilisation gegen die Prinzipien der Unterdrückung und Willkür an, die der östliche Koloß bisher geübt hat und immer weiter ausdehnen möchte. Die Politik der Staaten Europas muß die Herrschaft der Pforte ungeschmälert aufrecht erhalten.«

»Die Politik!« rief mit Empörung der Grieche. »Sie haben Recht, dies herzlose Wort zu gebrauchen, das einst den Namen Europas mit Schmach auf den Blättern der Geschichte beladen wird. Diese Staaten und Könige nennen sich die christlichen, die Verteidiger und Beschützer der Kirche – und sie dulden, daß ein christliches Volk die Fesseln der Moslems trägt! Hatte Spanien ein größeres Recht denn wir, als es ein gesittetes, kunsttätiges Volk über das scheidende Meer im Namen des Kreuzes zurückwarf? Zog der Pole Sobieski nach Wien nur zur Rettung der Kaiserstadt oder für den Sieg des Christenglaubens? Schmach über die Nationen des christlichen Europas, die Missionen auf Missionen zu den fernen Heiden senden und für ihre christlichen Brüder im eigenen Erdteil keine Gefühle haben! Schmach endlich über Ihre Liberalen und Republikaner, die Revolutionen proklamieren in Ländern, die sich wohl fühlen unterm Schutz der Ordnung und des Gesetzes, und für die Befreiung eines Brudervolkes von den Ketten hundertfach ärgerer Sklaverei, als je Rußland oder Oesterreich einem Lande auferlegt hat, kein Wort, keine Waffe haben, ja, die diese Waffen noch denen zu leihen sich drängen, welche die Fesseln dieses geknechteten Volkes für weitere Jahrhunderte schmieden wollen!«

»Unterm Schutz Frankreichs und Englands wird die Zivilisation und das Recht des Einzelnen auch hier den Sieg gewinnen, schon hat der Divan sich zu bedeutenden Verbesserungen entschließen müssen und eine neue, bessere Aera blüht auch für die christliche Bevölkerung der Türkei empor.«

Caraiskakis legte die Hand auf seinen Arm.

»Glauben Sie wirklich, daß es Versöhnung geben kann zwischen dem Opfer und seinem Henker? Daß ein Volk, das solche Leiden getragen, so Ungeheures erduldet hat, wie das meine, je den Unterdrücker ehren und lieben lernen wird? Meinen Sie, daß es ein Vergessen zu geben vermag zwischen einem Hellenen und einem Bekenner des Propheten? – Dann, Welland, dann haben Sie nie erfahren, was wir gelitten, dann haben Sie nie bedacht, daß seit Jahrhunderten das Blut des Vaters den Sohn, die Schmach der Schwester den Bruder, das Gewimmer der gemordeten Säuglinge die Mütter zum ewigen, unauslöschlichen Haß entflammt hat und mein Volk entflammen wird, so lange noch der Name Moslem das Land jenseits dieses trennenden Meeres entehren wird. Ihre Zeitungen, Ihre Fürsten, Ihre Völker haben vergessen, was vor kaum dreißig Jahren auf jenen Bergen, auf jenen Inseln geschehen – aber wir vergaßen es nicht, die wir in den Strömen des vergossenen Blutes geboren und mit der Verzweiflung gesäugt worden sind. Ich ward es, Welland, ich, der Sohn des unglücklichen Chios, und wollen Sie eine Geschichte hören, die Sie lehren mag, die Gefühle und Erinnerungen meines Volkes besser zu beurteilen, wohlan, hier ist der Mann, der sie Ihnen geben wird: Janos!«

»Mein Sohn, Du hast gut gesprochen, und wenn Du willst, daß ich die Geschichte Deiner eigenen Kindheit aus meiner Jugend zurückrufe in mein Gedächtnis und in meinen Mund, so soll sie dieser Franke hören.«

»Auch uns gib sie, Mann, auch uns, Gregor und Diona, den Kindern der Frau, die Dein Heldenmut gerettet.«

Der – wir wollen ihn in diesem Augenblick trotz seines Handwerks so nennen – der Palikare richtete sich auf und setzte sich auf einen naheliegenden Stein; um ihn her näher heran drängte sich der ganze Kreis. Als Janos zu seiner Erzählung Möge der Leser nicht etwa in der Wahl der nachfolgenden Erzählung eine Parteilichkeit, eine Absicht und Tendenz erblicken. Der weitere Verlauf des Buches wird ihm zeigen, wie weit der Verfasser von jeder einseitigen Auffassung und Parteinahme entfernt ist und wie er seine Aufgabe darin gefunden hat, nach beiden Seiten einen tiefen Blick auf die Höhen und Tiefen zu gewähren. Er hat die hohe Pflicht, Wahrheit zu geben, Tatsachen, welche die Erscheinungen der Gegenwart erläutern, und die Erzählung, die hier vorliegt, ist eine solche Tatsache, ein Stück Historie, das die gegenseitige Stellung der beiden Völker genügend charakterisieren und erläutern kann. Wer zweifelt an den Details, der lese die englischen und französischen Zeitungsberichte vom Frühjahr 1822 und er wird die Wahrheit bestätigt finden. – Auf der eben beendeten großen Kunstausstellung in Paris hat ein mit der goldenen Medaille gekröntes Bild von Delacroix die Schrecken dieser Szenen: »Die Massacre von Chios«, mit entsetzender Schilderung in das Gedächtnis des Publikums zurückgerufen. das Wort nahm, war in seiner Rede und in seinen Geberden etwas Poetisches, Schwungvolles, das auch den niedersten Ständen des Südens eigen zu sein pflegt und jedes Element des Gemeinen, Unbehilflichen beseitigt, das uns so oft bei den niederen Volksklassen im Norden abstößt.

»Euer Vater, meine Kinder,« begann der Räuber, »war ein wohlhabender Mann auf der Insel Chios und trieb Handel mit Mastix Das Harz der Mastixbäume, das, mit Zucker versetzt, die beliebteste und in großen Quantitäten konsumierte Näscherei der türkischen Frauen bildet. Auf Chios werden überhaupt die feinsten und beliebtesten Konfitüren des Orients gefertigt und in den Handel gebracht, z. B. eingemachte Rosenblätter, Geranium, Weichseln, Limonen, Cedern, Quitten usw. nach Konstantinopel. Chios war damals ein blühendes Land, ein Garten Gottes, reich gesegnet mit Fruchtbarkeit und Schönheit. Was unser Himmel bietet, fand man auf der Insel, der Hafen von Kastron war gefüllt mit Schiffen aller Nationen, und hundertzwanzigtausend tätige, wenn mit der türkischen Herrschaft und ihrer Willkür auch nicht zufriedene, doch sonst ruhige und fleißige Menschen bewohnten die Insel. Das kam, weil von Konstantinopel selbst uns Schutz und Schirm gegen die Tyrannei wurde, unter der unsere Brüder auf den Cycladen und dem Festlande seufzten, denn Chios gehörte Fatme Sultana, der Schwester des Großherrn, als Eigentum, und sie bezog jährlich nicht weniger denn zwölfhundert Beutel Silber, ungefähr 180 000 Mark. Ein Beutel Gold gegenwärtig 30 000 Mark. von unserer Insel, die den Mastix erzeugt, wie kein anderer Ort in der Levante. Wie bald sollten wir jene beneiden lernen!

»Ich war in Ipsara geboren, aber schon als Knabe in das Haus Deines Vaters gekommen und hatte ihn auf vielen Reisen nach Athen, selbst nach Triest und Konstantinopel begleitet. Der Name Deines Vaters war geachtet und er zählte zu den Patrioten, die über dem Gewinn des Handels und dem Klange des Goldes nicht vergaßen, daß der Besitz ihrer Habe, ja ihrer Familie und ihres Lebens nur Schein und von der Willkür des Muselmannes abhängig war, daß unser heiliger Gottesdienst nur gegen schwere Geschenke an die Machthaber geduldet wurde und jedes Rechts entbehrte, daß die Ehre unserer Frauen und Töchter das Spiel der Lüste unserer Herren blieb und der Moslem verächtlich vor dem eingeborenen Sohne des Landes ausspie und ihn Giaur nannte, wenn er demütig an ihm vorüberging. Wir waren elender, als das von Gott verfluchte Volk der Erde ist!

»Es bestand damals – und man hat mir erzählt, daß er seit mehr als hundert Jahren unter meinem Volke bestanden – ein geheimnisvoller Bund, Elpis Elpis, die Hoffnung, eine Abteilung der großen Verbrüderung der Hetäre, welche sich über alle griechisch-slavischen Völkerschaften erstreckte und hauptsächlich die Erhebung von 1821 vorbereitet. genannt, der über das Festland und über alle Inseln, ja weit hinein nach Asien und über Byzanz hinaus ging und alle Besseren, Tugendhaften und Tapferen unseres Volkes in seinen Reihen zählte. Wo die tausend Felseninseln wie Sterne auf dem blauen Meere schwimmen, da gibt es kleine Eilande, unzugängliche Berge, auf die sich freie Männer geflüchtet haben und wohin noch niemals der Fuß eines Moslems ungestraft gekommen ist. Hier ist die Wiege der griechischen Freiheit, und von diesen Felsenbuchten, in deren Schutz die Häupter der Elpis sich alle vier Jahre zu versammeln pflegen, ging der ewige Krieg aus, den, von den Franken verlassen, unser Volk wenigstens im Einzelnen seit Jahrhunderten gegen die Ungläubigen geführt hat. Frei wie der Palikare auf den Bergen Livadiens und des Taygetos war der Capitano, der auf seiner schwarzen Felucke mit kühnen Männern das Aspri Thalassa Der neugriechische Name für das Aegaeische Meer. durchstrich und leicht, wie die Schwalbe die Lüfte durchzieht, hinauf bis zum weißen Lemnos zog oder vor dem Golf von Saloniki kreuzte, und überall den schwerfälligen Moslem, den habgierigen Franken überfiel und besiegte.

»Dein Vater, Gregor, gehörte seit Jahren der Elpis an, und als die Stunde gekommen war, wo auf dem Festlande die Fahne des Kreuzes gegen den unerträglichen blutigen Druck erhoben werden sollte, eilte er dahin. Wundert Euch nicht daß ich, ein schlichter Kameeltreiber, so genau die Geschichte meines Landes kenne, aber die Namen, die ich nenne, sind mit Blut in die Tage meiner Jugend geschrieben. Vom Norden, vom großen Czar aus Moskau her kam auch damals der Ruf unserer Freiheit. Fürst Ypsilanti zog in das Land ein, das an dem großen Strome liegt, das uns von unseren russischen Brüdern scheidet, Er meint die Donau. Fürst Alexander Ypsilanti, der in der russischen Armee als General-Major diente, überschritt auf den Ruf seiner Landsleute mit einigen Hundert Mann am 6. März 1821 den Pruth und erhob die Fahne des Aufstandes in der Moldau und Walachei. aber die heilige Schaar Im Treffen bei Dragachan 19. Juni. fiel unter der türkischen Übermacht, und der Großherr in Konstantinopel schwor bei seinem Barte, Alles zu vertilgen, was Grieche hieß im Lande. Es ist Tatsache, daß der Divan damals damit umging, die ganze griechische Nationalität zu vernichten. Das energische Auftreten des russischen Gesandten Grafen Stroganoff, der am 31. Juli die diplomatischen Verbindungen aufhob und mit der Drohung eines Krieges nach Odessa abreiste, unterbrach allein dies Vertilgungssystem, das bereits die furchtbarsten Grausamkeiten hervorgerufen hatte. Erst Mitte des Jahres erlangten die europäischen Gesandten, namentlich Lord Strangford, daß dem Morden Einhalt getan und die Muselmänner entwaffnet wurden. Auch zu uns kam die Kunde, wie man in Konstantinopel, in Smyrna und Salonichi alle Kirchen zerstört, wie man unser Volk beraubt und gemartert, unseren ehrwürdigen Erzbischof, den heiligen Gregorius Das Oberhaupt der orientalischen Kirche wurde am Osterfeiertage in seinem Festgewande vor der Hauptpforte seiner Kirche aufgeknüpft. ermordet hatte. Da entbrannte in den Herzen unseres Volkes die heilige Flamme und überall schlug das Feuerzeichen der Freiheit empor! Von Achaja aus tönte der erste Ruf, und als der Erzbischof von Patras In den ersten Tagen des April. das Kreuz aufrichtete, da klang es wieder in Aetolien, wie in Attika, Arkadien und Livadien; auf Spezzia, Ipsara und Hydra, auf Samos wie im Epirus und Thessalien, wo die tapferen Sulioten und Agraphen sich mit dem Löwen von Janina Ali-Pascha von Janina, der später von dem Pascha von Morea, Ghurschid Achmed, durch Verrat besiegt und erwürgt wurde. verbanden, der schon längst am türkischen Joche gezerrt. Der alte Held Kolokotronis zog mit seinen Klephten daher, der edle Nikitas, Petros Mauromichalis, der Bey der Marina! Mit Wonne hörten wir jede Kunde, die Schiff um Schiff uns brachte, aber Chios wagte es nicht, laut in den allgemeinen Jubelruf einzustimmen, denn Veli-Pascha, der Gouverneur, hatte Zehn der angesehensten Chioten nach Konstantinopel als Geißeln geschickt und nahm jetzt aus jedem Dorfe zwei Primaten (Ortsvorstände) und warf sie in die Kerker von Kastron, um sich gegen einen Aufstand zu sichern.

»Dein Vater, Gregor, war, zeitig gewarnt, auf den Ruf Maurokordatos', seines Freundes, der auch aus Chios stammte, nach Attika geeilt. Mich, ich war damals achtzehn Jahre alt, ließ er bei seiner Familie zurück, denn Deine Mutter trug Dich noch an der Brust und selbst Dein Bruder Andreas zählte erst vier Jahre. In dem Landhause Deiner Familie, an der Bucht von Volisso, glaubte er sie vor allen Stürmen geschützt und ich mußte ihm auf das Kreuz schwören, sie nie zu verlassen.«

Gregor reichte dem alten Diener seiner Familie die Hand.

»Vater Michael«, sagte er weich, »und die Mutter, die jetzt beide im Himmel sind, bezeugen dort oben, wie treu Du Wort gehalten.«

Janos küßte die Hand und fuhr in seiner Erzählung fort. –

»Die guten Tage für Chios waren vorüber. Veli-Pascha und seine Agas machten sich die Erbitterung des Divans gegen das griechische Volk zu Nutze und begannen Unterdrückungen und Erpressungen, die bald allen Grausamkeiten die Wage hielten, welche unsere Brüder auf dem Festlande je erduldet hatten. Dennoch widerstanden die Bewohner von Chios dem Ruf, der täglich von Samos und Ipsara her erging, zu den Waffen zu greifen und sich dem allgemeinen Kampfe anzuschließen, denn in den Kerkern von Kastron lagen ihre Väter und Brüder, hundertundzwanzig an der Zahl, darunter die sieben Bischöfe unserer Insel, und jede Familie zitterte bei dem Gedanken an das Schicksal, das die teuren Häupter in der Gewalt unserer Tyrannen beim geringsten Zeichen des Widerstandes bedrohte.

»Aber Gott und die Heiligen hatten es anders bestimmt, ihr Geschick sollte von außen her entschieden werden. Fürst Logotheti Er wurde im Juni von der neugebildeten Regierung in Morea deswegen verbannt. und General Burnia landeten am 25. März (1822) mit zweitausend Samioten auf Chios und pflanzten mit Gewalt das Kreuz der Freiheit auf der Insel auf. Wie unser aller Herz ihnen entgegen schlug! Dennoch wagten nur sehr wenige, sich ihnen anzuschließen, das ganze Land, alle Dörfer waren tatsächlich, als nach achtzehn Tagen das grausame Unheil auf uns einbrach, noch unbewaffnet.

»Die Samioten griffen Kastron an und erschlugen hundertundfünfzig Türken im Gefecht. Veli-Pascha mit den Seinen flüchtete in das Kastell und wurde hier belagert.

»Das Verderben aber war nahe. Bald erscholl die Nachricht von der Annäherung des grausamen Kapudan-Pascha mit der türkischen Flotte. Allgemeiner Schrecken verbreitete sich und wer da konnte, flüchtete sich. Am 12. April schiffte der Kapudan mit 15 000 Mann von Tschesme nach der Insel über, die von Ipsara und Hydra kappten die Anker und flohen, zwölftausend Bewohner der Insel mit ihnen. Sieben der Schiffe fielen in die Hände der Türken und wurden mit den Unglücklichen versenkt, – ihr Loos war glücklich gegen das der Zurückgebliebenen.

»Ein allgemeines Entsetzen hielt diese befangen und untätig, während – hätten sie sich mit den Samioten verbunden – sie mit sicherem Erfolg der Macht der Türken Trotz geboten haben würden. Doch man verließ sich auf das Versprechen des österreichischen und französischen Konsuls, die mit dem Kapudan-Pascha unterhandelt und die Zusage allgemeiner Amnestie überbracht hatten, wenn man alle Waffen ausliefere. Dies geschah; nur Wenige hielten sich mit Logotheti und Burnia in den Batterien von Turloti, und dort entbrannte ein heißer Kampf am 12. und 13. April. Alle Gegenwehr war vergeblich, die Schanzen wurden erstürmt, die Führer retteten sich durch die Flucht, während der Überrest der tapferen Schar sich in das Kloster Yamon warf und Schritt um Schritt, Blut um Blut jeden Fußbreit gegen die anstürmenden Scharen verteidigte. Sie wußten ihr Schicksal, und während die Kirche von Turloti in Flammen aufging, während die Türken bereits die Gräber aufrissen und die Leichen verstümmelten, fiel einer der Helden nach dem anderen, kämpfend in den Trümmern des Klosters – Keiner entkam – mein einziger Bruder war unter den Toten.«

Der Erzähler schlug ein Kreuz zum Gedächtnis des Gefallenen, andächtig folgten die übrigen Griechen, dann fuhr er fort:

»Am 14. war auf der ganzen Insel kein Widerstand mehr und nun begann eine Zeit voll Mord und Entsetzen, wie wohl noch keine gewesen ist unter den Völkern der Erde. Scharen von asiatischen Mördern und Räubern, unzählig wie Heuschreckenwolken, strömten von Tschesme und Smyrna her über die unglückliche Insel, die der Wüterich jedem Schrecken preisgegeben. Sechs volle Tage lang dauerte das Morden. Gräuel, wie sie die Hölle nicht erfindet, wurden hier ausgeübt; nicht das Kind an der Brust, nicht der wankende Greis verschont. Schon am anderen Tage gingen vier Maulesel mit Köpfen und Ohren beladen nach Smyrna ab. Historisch, wie überhaupt alle hier folgenden Angaben. Mögen nimmer meine Augen das Schreckliche wiedersehen, was sie da erblickt! Frauen und Jungfrauen wurden von den Henkern öffentlich geschändet und dann grausam verstümmelt und gemordet. Ich sah Frauen, denen die Brüste abgeschnitten waren, entmannte Männer, Kinder, denen man die Zunge, die Nase, die Ohren abgeschnitten. Aber alles, was hier geschah, überbot die Grausamkeit des Kapudan selbst. Auf seinem Schiffe, die Siegesfahne gehißt, hatte er eine besondere Folterkammer eingerichtet, um durch die grausamsten Martern das Geständnis verborgener Schätze zu erzwingen, oder sich an den Qualen der Armen zu weiden. Ich selbst sollte diese Stätte des Teufels in Menschengestalt kennen lernen!

»Am 19. waren bereits von 65 Dörfern, welche die Insel zählte, 49 fast spurlos von der Erde vertilgt, darunter 20 Mastixdörfer. Vergebens bemühte sich der französische Konsul Digeon, ein früherer Offizier, wenigstens einige zu retten. Hinter seinem Rücken begannen die aufgestellten Schutzwachen aufs Neue das Werk der Zerstörung.

»Am 13., nach der Erstürmung von Turloti, war auf der Flotte der Würger ein großes Fest. Ein französisches Linienschiff lief mit wehender Fahne ein; es trug den Herrn de la Meillerie, den Befehlshaber der französischen Seemacht in diesen Gewässern, und das unglückliche Chios hoffte von seinem Erscheinen Schutz und Hilfe. Aber der Franke – merke es, Herr! – kam, um den Kapudan-Pascha zu besuchen, ihm Glück zu wünschen zum Siege über die Meuterer, und während das unschuldige Blut in Strömen zum Himmel aufdampfte, überhäuften der Franke und der Türke einander mit Höflichkeiten, und das Geschenk einer reich mit Diamanten besetzten Dose ließ den Franzosen das Herz und die Augen verschließen vor dem Jammer seiner christlichen Brüder. Fluch ihm und seinem Gedächtnis! Fluch seinem gleißnerischen Volke!«

Der wilde Ausbruch des Hasses, der aus den Augen des Griechen sprühte, ließ Welland erbeben. Diona faßte die Hand des Mannes.

»Und Du, Janos, wo bliebst Du? Was geschah mit unserer Mutter?«

»Als das Morden am 14. begann und wir in unserer entfernten Wohnstätte die erste Kunde davon erhielten, suchte ich eilig ein Schiff, aber alle hatten, wie ich bereits erzählt, von Kastron aus die Flucht ergriffen. – In den Felsenschluchten des Berges Hyas, auf dem der große Sänger unseres Volkes, Homeros, geboren, Auch Chios streitet sich um den Ruhm, die Geburtsstätte Homers zu sein. Außerdem waren der tragische Dichter John, der zur Zeit des macedonischen Philipp lebende Geschichtsschreiber Theopompus, der Sophist Theokrit und der Arzt Metrodorus Eingeborene von Chios. war mir ein Versteck bekannt. Dahin – unter die Trümmer eines alten Götzentempels unserer Väter, der weit hinaus schaut aufs blaue Meer – führte ich Mutter und Kinder und verbarg sie vor den Augen unserer Henker. Acht lange schreckliche Tage brachten wir da zu, während deren einige wenige glückliche Flüchtlinge sich zu uns gesellten. Da, als ich die Deinen nicht mehr allein und verlassen sah, litt es mich nicht länger in den Bergen, wo wir von fern den Brand unserer Häuser und Gärten schauten; ich trat zu Eurer Mutter und bat sie, mir zu gestatten, nach Kastron zu gehen, um dort zu forschen und nach Hilfe auszusehen. Nur schwer gab sie ihre Erlaubnis, aber unsere Not war groß und ich mußte fort.

»Ich ging durch das Gebirge und nahte mich Kastron. Die Spuren, die ich auf meinem Wege fand, habe ich Euch bereits beschrieben. In einem Hause, das allein an einem Bergabhange stand, fand ich zwei der Henker, – sie schliefen, berauscht von dem ihnen verbotenen Chioswein, neben den entstellten Leichen zweier Mädchen, die sie geschändet. Ich erschlug Beide im Schlaf – es war das erste Blut, das ich vergoß, nicht solches, das ich je bereut habe! – In der Kleidung und mit den Waffen eines der Erschlagenen ging ich weiter und kam nach Kastron.

Es war am Morgen des 23. April. Das Morden und Brennen in der Stadt und den nächsten Dörfern hatte einigermaßen aufgehört, kaum stand in den Letzteren noch ein Haus außer denen der Konsuln. Die Teufel waren vom Blut übersättigt, und was noch lebte, das trieb man jetzt in Haufen zusammen und zu den Schiffen, um als Sklaven nach dem Festlande geschafft zu werden. Aber Veli-Pascha hatte sich noch ein besonderes Fest vorbehalten; es galt den hundertundzwanzig Geißeln, die in seinen Kerkern schmachteten – darunter sechsundachtzig Primaten und sieben Bischöfe, die Anderen angesehene Kaufleute des Landes. Fünfunddreißig von ihnen, darunter zwei Brüder Maurocordatos mit ihren jungen Söhnen, Knaben noch, wurden nach dem Schiffe des Kapudan-Pascha geschleppt, die Übrigen hing man am Morgen an den Mauern des Schlosses von Kastron auf, und als es den Henkern zu langsam ging, stürzte man sie herab und zerschmetterte ihre Glieder mit Keulenschlägen.

»Ich schlich in der öden Stadt unter Trümmern und Leichen umher – als ich Zeuge ward einer Tat, die mir noch das Blut im Herzen erstarrt. Unter einem Haufen von Unglücklichen, die gleich dem Vieh von einem der Mastixdörfer herbeigetrieben wurden, erkannte ich die Frau und die Tochter eines Mannes, an dessen Tisch ich oft gesessen hatte. Alphanasia, das Mädchen, war schön, sie zählte sechszehn Sommer und blühte wie die Rose ihrer Gärten. Ich trug schon lange die Liebe zu ihr im Herzen, aber ihr Vater war reich und ich ein armer Diener – so schwieg ich. Jetzt fand ich sie wieder, arm und elend, des Notdürftigsten beraubt, das ihre junge Schönheit deckte. Ich kam dazu, wie der Araber, dessen Beute sie war, sie eben an einen Türken verhandelte, der 300 Piaster dafür geboten. Ein unglücklicher Augenblick feigen Zögerns, um mich selbst nicht zu verraten – er war ihr Verderben. Mit Geld war ich reichlich versehen, denn Eure Mutter hatte mir eine Summe zur Gewinnung eines Schiffes gegeben, und der Gürtel der erschlagenen Mörder enthielt eine große Zahl goldener Zechinen, die Frucht ihres Raubes. Ich trat hinzu, indem ich Alphanasia ein Zeichen gab, mich nicht zu kennen, und bot dem Aegypter 3000 Piaster statt jener Dreihundert. Die Augen des Schurken funkelten vor Freude über den Gewinn, aber der Türke erklärte, daß sein Handel bereits abgeschlossen gewesen, ehe ich mein Gebot getan, und wollte das Mädchen davonführen. Da warf ihm, ergrimmt über den entzogenen Gewinn, der Mohr die Kaufsumme vor die Füße, und ehe ich es hindern konnte, riß er das Pistol von seinem Gürtel und schoß das Mädchen durch die Brust. Eine historische Szene unter den tausend ähnlichen jener furchtbaren Metzelei. Ihr sterbender Blick fiel auf mich, der ich erstarrt stand vor der schändlichen Tat, dann flog mein Handjar aus der Scheide und schlug den Mörder zu Boden. Aber mein Schmerzensruf, meine Flüche hatten mich verraten. »Ein Gjaur! Tötet den Christenhund!« scholl es um mich her, kaum vermochte meine Wut mir Bahn zu brechen durch die sich mehrenden Verfolger. Ich entkam, wer mühte sich lange in dieser Zeit nach dem Einzelnen, wo der Opfer so viele zur Hand waren!

»Ich entkam, indem ich mich in einer der nächsten Gassen dem mir entgegenkommenden Zuge anschloß, der die fünfunddreißig Kaufleute aus den Gefängnissen des Kastells zum Schiff des Kapudan-Pascha schleppte. Ein Aga befahl mir, mit Hand anzulegen an die Gefangenen; ich mußte gehorchen, um mich nicht zu verraten, so kam ich auf das Schiff selbst und war Zeuge jener Taten, deren Gedächtnis noch mein Blut in den Adern gerinnen macht.

»Im Mitteldeck des großen Schiffes war ein Raum abgeschlagen, an dessen Ende ein Divan stand, auf dem der Kapudan, von seinen Offizieren umgeben, ruhte. In einem großen Kohlenbecken in der Mitte glühten die Eisen und Zangen, ringsum an den Holzwänden hingen Werkzeuge, wie sie nur die Hölle ausgedacht, Stachelpeitschen, eiserne Keulen, Schraubenringe, welche die Gelenke zu Brei quetschten, – ich vermag nicht alles zu nennen, noch aufzuzählen. Einer nach dem andern wurde hineingeführt, und der Geruch verbrannten Fleisches, das Geheul und Röcheln der Gemarterten drang furchtbar zu uns heraus, daß selbst manches Antlitz der an Mord und Blut gewöhnten Wächter zu erbleichen schien. Endlich, als zum vierten Mal das Todesröcheln verstummte, wies der Aga auf mich und zwei Genossen und hieß uns, die beiden Gefangenen, die wir an Stricken geführt, hineinbringen. Es war ein Maurokordatos – ein Greis von siebenzig Jahren – mit seinem Enkel, einem Knaben. Ich hatte ihn oft früher gesehen bei meinem Herrn.

»Als wir den Verschlag betraten – Herr, ich war selbst mehr tot als lebendig und hätte in dem Augenblick gern mein Leben gegeben, um die Gräuel nicht zu sehen, – stürzten die beiden Henker – es waren, höre es, Franke, ein Malteser und ein nubischer Sklave, Diener des Kapudan – eben die verstümmelten Reste des letzten Opfers durch die Stückpforte ins Meer. Zitternd nahten die Beiden dem Furchtbaren und warfen sich nieder vor ihm auf die Kniee, um Erbarmen flehend. Es war herzzerreißend, sinnverwirrend, die Bitten des Greises um Gnade für das Kind zu hören. Der Kapudan – ruhig auf seinem Lager ausgestreckt, das Nargileh zwischen den Lippen, fragte den Greis, ob er hunderttausend Piaster als Lösegeld sofort herbeischaffen könne? – Ich wußte, die Familie hatte das Zehnfache in ihrem Vermögen gehabt, – aber wo jetzt, nach dem Raub und der Plünderung ihrer Habe, während sie aus dem Kerker kamen, der sie länger als ein Jahr umschlossen, – die große Summe schaffen? Die Augen des Greises irrten wie wahnsinnig umher, – überall nur Blutdurst – nirgends Hilfe. Ich sehe ihn noch, wie er auf den Wink des Pascha's zu Boden geworfen und ihm Maß auf Maß des bitteren Seewassers durch einen Trichter, in den Mund gefüllt wurde, indem man ihm die Nase zuhielt, Eine – historisch – vielfach vorgekommene Marter. bis der Leib aufschwoll zu entsetzlichem Umfang. Dann warfen sich die Henker auf ihn und preßten und traten den Greis – – was male ich Euch die Scheußlichkeiten, die meine Augen sahen! Als ich den gellenden Jammerruf des Knaben hörte, konnte ich es nicht länger ertragen, ich drängte mich hinaus auf die Gefahr, selbst das Opfer zu werden; aber die Augen der Würger waren mit der Todesqual ihrer Opfer beschäftigt – man achtete meiner nicht.

»Als ich auf dem Deck den sonnig blauen Himmel wieder sah, der sich so herrlich über Meer und Land wölbte, da war das Gelöbnis heiliger, blutiger Rache mein erster Gedanke, mein heiliger Schwur, und ich habe ihn gehalten; – denn diese meine rechte Hand war es, die den Tiger mit seiner Brut zwei Monden darauf gen Himmel sprengte!«

Der Räuber schwieg wie erschöpft von den furchtbaren Erinnerungen; – Weiland hatte sein Haupt verhüllt bei der Beschreibung dieser Gräuel, aus seinen und Dionas Augen flossen Tränen. Nur Gregor blickte finster und flammend umher und auf die Türkenstadt zu seinen Füßen.

»Mein Vater rächte das Ungeheure mit Dir! Michael Caraiskakis war bei der großen Sühne, die die Heldenschar des Kanaris dem blutgetränkten Chios brachte.«

»Wohl, Knabe, aber meine Hand war es, der man die Ehre gab, die rächende Flamme zu zünden. – Höret drum weiter.

»Auf einem der Boote, die fortwährend zwischen der aus vierzig Segeln bestehenden Flotte und dem Lande kreuzten, entkam ich glücklich wieder zur Stadt. Die »Siegesfahne« zählte elfhundert Mann Besatzung, zahllose andere Banden verkehrten fortwährend dort, wer sollte mich auch in dem Gewühl entdecken, da ich gut türkisch sprach? So blieb ich bei den Moslems, bis der Abend kam, – dann trennte ich mich von ihnen und schlich nach dem Ort, wo am Morgen Alphanasia ermordet worden. Ich fand sie wirklich unter anderen Leichen und auf meinen Schultern trug ich den teuren Körper fort und begrub ihn unter einem Feigenbaum. Dann eilte ich zurück ins Gebirge und am zweiten Morgen war ich wieder bei Deiner Mutter und schloß Euch Knaben mit Dankestränen in meine Arme, daß die Heiligen mir gestattet, Euch zu retten.

»Noch zehn Tage lang blieben wir in unserem Versteck, uns kümmerlich von den Früchten und der Milch der in die Berge verlaufenen Ziegen nährend, denn wir wagten kein Feuer anzuzünden, aus Furcht, uns zu verraten.«

»Am Morgen des elften Tages endlich sahen wir ein Schiff in der Nähe kreuzen, dessen Flagge nicht den Halbmond mit den Sternen trug.

»Von den erhabenen Trümmern des Tempels aus gaben wir ein Zeichen, indem wir unsere Kleider an Stangen banden und zum ersten Mal Feuer anmachten, um durch den Rauch ihre Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Es glückte – wir sahen bald ein Boot abstoßen und ich eilte hinab zum Ufer, die Nahenden zu prüfen, ob Rettung von ihnen zu hoffen sei. Heilge des Himmels, der Erste, der den Boden betrat, war Dein Vater, Gregor!

Wie soll ich Euch die Freude des Wiedersehens erzählen, als Michael Caraiskakis die Seinen unverletzt ans Herz drückte. Ich schlich davon unter die Trümmer und weinte. Die meinem Herzen gleich teuer gewesen, war im Himmel!

Das Schiff war die österreichische Brigg »Vinetia.« Auf die erste Nachricht von der Ankunft der Türken hatte sich Caraiskakis aufgemacht zur Rettung der Seinen. Auf Samos schon hörte er die Kunde von der Verwüstung der Insel und gab die Familie verloren. Dennoch wollte er wenigstens die Insel betreten, und es gelang ihm, mit seinem Freunde, dem Capitano Valsamachi, der dem Blutbad von Turloti entronnen, auf dem österreichischen Schiff zusammenzutreffen und dessen Führer zu vermögen, sie nach Chios und Ipsara zu bringen. In Volisso war er ans Land gestiegen und hatte hier alles verwüstet gefunden. Viele Flüchtlinge, die sich gleich uns in den Felsenklüften verborgen, hatten bereits glücklich das Schiff erreicht, das seit mehreren Tagen um die Insel kreuzte, und als wir sein Deck betraten, fanden wir neue Szenen der Klage und des Jammers, aber auch die zum Himmel geballte Faust, den Schwur blutiger ewiger Rache an den Mördern. Selbst das Auge der Frauen und Kinder glühte in ihrem Durst, als ich die Gräuel erzählte, deren Zeuge ich in Kastron gewesen war.

»Nach Ipsara ging unser Lauf, wo sich die entkommenen Patrioten der Insel, wo sich die Rächer des Frevels versammelten. Dort hörten wir täglich neue Kunde von dem, was auf Chios geschehen und noch geschah, und jede Botschaft schürte das Feuer in unseren Herzen.

»Der Kapudan-Pascha hatte endlich unterm 13. Mai, um die Insel nicht ganz zu entvölkern, durch einen Ferman verboten, noch weitere Sklaven auszuführen. Das Verbot aber rief nur neue Schreckenstaten hervor. Die Moslems, die die Christenkinder nicht verkaufen konnten, stürzten sie ins Meer. Fünftausend Kinder im zarten Alter wurden an den Bäumen aufgehängt, ersäuft und von den Felsen und Häusern herabgestürzt. In Tschesme Ein auf dem asiatischen Ufer liegender, nur durch eine Meerenge von Chios getrennter Hafen. band man sie zu fünfzig bis sechszig mit Stricken zusammen und stürzte sie ins Meer. Selbst die geldgierigen Smyrnioten fühlten Erbarmen mit dem Elend und kauften so viel sie vermochten. Tausende und Abertausende von den Bewohnern waren in die Sklaverei geschleppt, zweihundert der angesehensten Geschlechter der Insel ausgerottet worden. Der Smyrnaer Spectateur oriental vom 24. Mai meldet, daß bis zum 20. Mai schon dreißigtausend Weiber und Kinder als Sklaven zollamtlich ausgeführt waren. – Es ist Tatsache, daß von einer wohlhabenden Bevölkerung von 120 000 Seelen etwa neunhundert auf Chios zurückblieben. – Bald drang auch die Kunde zu uns, daß am 20. des Maimonds in Konstantinopel jene zehn Geißeln enthauptet worden, die Veli-Pascha schon vor Jahresfrist dorthin gesandt.

Wie ein Feuerbrand war die Nachricht von den Greueltaten auf Chios über Meer und Land geflogen, und wo die Fahne des heiligen Kampfes aus Gleichgiltigkeit gegen die gewohnten Leiden oder aus feiger Besorgnis noch nicht erhoben worden, da schlug jetzt die Lohe der Rache Verderben bringend in die Höhe. Ein Schrei des Entsetzens und der Wut erscholl, so weit die griechische Zunge reicht. Der Kapudan-Pascha, der die Verantwortung in Konstantinopel fürchten mochte, daß er das Eigentum der Sultana so gänzlich zerstört, sandte auf einem englischen Schiffe Botschaft nach Samos und ließ den Aufgestandenen Vergebung und Sicherheit anbieten, wenn sie die Waffen niederlegen und unter das türkische Joch zurückkehren wollten. Hörst Du es, Franke, Inglesi waren es, die diese Botschaft der Schmach überbrachten und die tapferen Samioten überreden wollten. Mit Hohn und Grimm wurden sie zurückgewiesen. Von Hydra, Pharos und Spezzia hinauf zu Ipsara und Skyros, der Brautkammer des großen Achill, scholl ein Ruf empor zu den Wolken: Freiheit oder Tod!

»Und der Tag der heiligen Rache kam.

» Kanaris, der Held, führte sein blutiges Morgenrot herauf. Mit einer Fregatte und fünf anderen Fahrzeugen erschien er am 10. Juni vor Ipsara und warf Anker. Ein ernster Rat wurde gehalten unter den Führern des Geschwaders und der Geflüchteten. Dein Vater, Gregor, war einer der Ersten im Rat und saß neben ihm, der die Schiffe der Moslems wie Spreu durch die Meere fegte.

»Die große Tat ward beschlossen!

»Am Abend desselben Tages rief mich Dein Vater und befahl mir, ihm zu folgen. Er führte mich in ein Haus, in dem ich viele Männer versammelt fand, mir bekannte und unbekannte, es waren die Brüder der Elpis, die Mitglieder jenes Bundes in der Hetäre, dessen Eid lautet …«

Gregor unterbrach ihn. »Das sind Dinge, Janos, die nicht für das Ohr des Franken taugen, auch wenn er unser Bruder ist. Vollende Deine Erzählung.«

Der Räuber schaute erschrocken und aufmerksam seinen jüngeren Landsmann an, eine kaum merkliche rasche Bewegung, ein flüchtiges Kreuzen über die Stelle des Herzens belehrte ihn, – er erwiderte das Zeichen und fuhr fort: »Genug! Die Söhne der Elpis waren Tapfere, die geschworen, vor keiner Gefahr zu weichen, wo es galt, die Freiheit des griechischen Volkes zu erkämpfen oder zu rächen. An diesem Abend schlug Dein Vater mich, den armen Diener, zur Aufnahme in den Bund vor, indem er erzählte, was ich auf Chios erlebt, und ich leistete den Eid, den ich treu gehalten, wenn auch lange Jahre seitdem ihn mit der Gleichgiltigkeit des einförmigen Lebens verwischt hatten bis aufs Neue das Unrecht und die Tyrannei mich emporrüttelten und den rächenden Stahl mir in die Hand gaben. Dann teilte er mir mit, daß am dritten Tage ein Versuch gegen die Flotte des Kapudan unternommen werden sollte, die im Hafen von Tschesme ankerte, und daß Freiwillige aufgefordert worden, dem Tode ins Auge zu schauen. Obschon kaum ein Entrinnen bei dem Wagnis zu hoffen stand, hatten sich am anderen Morgen doch bereits zweihundert Männer gemeldet; das Loos wählte achtundvierzig aus. Michael Caraiskakis und Janos der Ipsarote waren unter ihnen; dem Ersten übertrug Kanaris die Leitung der Expedition, ich begleitete ihn.

Von dem Augenblick an, da das Unternehmen bestimmt war, durfte keine Seele mehr bei Todesstrafe die Insel verlassen. Während die Achtundvierzig durch Beichte und Gebet sich vorbereiteten und ihre Waffen in Stand setzten, arbeitete Tag und Nacht die Bevölkerung des Hafens an der Herstellung der Brander. Am dritten Tage waren sie fertig; drei Schiffe, von der Spitze des Mastes bis zum Kiel mit Pech und Theer getränkt, leichtes Werg um Spiere und Taue gewunden, der ganze Schiffsraum eine wandelnde Hölle von Schwefel, Pulver und Feuerstoffen, die nur des belebenden Funkens harrte. Die österreichische Brigg war bei uns geblieben; ihr wackerer Kapitän, empört von den geschauten und vernommenen Gräueln hatte uns seine Hilfe zugesagt und versprochen, die Mannschaft aufzunehmen, wenn sie sich retten könne. Zu dem Ende führte jeder Brander ein großes Boot mit sich.

Es war am Abend, als alles zum Auslaufen bereit war und der fromme Bischof der Insel mit seinen Diakonen am Gestade erschien, uns den heiligen Leib des Herrn zu reichen und seinen Segen zu spenden. Auf den Knieen lagen die Hunderte und hörten das Wort des frommen Greises; denn ehe wir die Hostie nahmen, schwuren wir alle auf sie einen heiligen Eid, unsere gemordeten Brüder zu rächen oder nimmer zurückzukehren vor das Antlitz eines Menschen. Die Menge umdrängte uns, als wir zum Schiffe gingen. An der Rechten Deines Vaters ging der Seeheld Kanaris, ihm die letzten Anweisungen gebend, an seiner Linken Eure Mutter, Dich, Gregor, auf dem Arm. Es war ein Heldenweib und keine Träne, kein Laut der Klage machte das Herz des Gatten schwer. Noch eine Umarmung, Kanaris reichte Jedem die Hand, und die Boote führten uns zu den Schiffen, deren Segel bald lustig der Wind blähte. Durch die Nacht, durch die Wogen rauschte das Verderben gen Tschesme.

»Uns voran ging die Venetia, wir selbst führten die österreichische Flagge und Papiere, die uns als mit Tabak beladen auswiesen, so gingen wir vor Thimania vor Anker, während die Brigg näher nach Tschesme zu kreuzte, wo das türkische Geschwader an derselben Stelle ankerte, an der, wie Dein Vater mir sagte, unter der Moskowiten-Kaiserin Katharine der griechische Kapitän Lampros die ganze Flotte der Moslems verbrannt hatte.

Zwei Tage lagen wir vor Thimania, der dritte, der 19. Juni, war der Vorabend des Bairamfestes, das die Türken mit Gelag und Jubel zu feiern pflegen. So war es auch diesmal. Als der Abend auf See und Land sank, kappten wir die Anker und liefen auf Tschesme zu. Schon in weiter Ferne konnten wir den Jubel hören, der von den Schiffen durch die Nacht drang, die Feuer schauen, die am Ufer brannten.

»Das Schiff, auf dem Dein Vater selbst das Steuer führte, war mit zwanzig Mann besetzt, die übrige Mannschaft auf die beiden anderen verteilt. Die strengsten Befehle waren gegeben, Jeder stand auf seinem Posten.

»Am Eingang des Hafens wurden die Segel eingezogen, so lagen wir, wie der Tiger auf seine Beute lauert, bis nach und nach auf den türkischen Schiffen Alles verstummt war. Es war zwei Uhr nach Mitternacht, als eine Rakete von unserem Schiff das Zeichen zum Angriff gab. In wenigen Minuten flatterten alle Segel im Winde und die drei Schiffe fuhren gerade in die Flotte hinein. Zugleich wurde das am weitesten nach links in Brand gesteckt und die feurige Lohe, an dem Tauwerk emporleckend, flammte hoch auf gegen den Nachthimmel.

»Es war ein furchtbar schönes Schauspiel als wir das brennende, flammende Schiff auf die dunklen Massen vor uns einstürmen sahen. Während ringsum sich der Lärm der Gefahr erhob, Trommeln wirbelten, der Ruf der Führer die trunkene wüste Mannschaft weckte und wildes Geschrei von Bord zu Bord scholl, fuhr das Boot an uns vorüber, das die Mannschaft des entzündeten Branders trug. Sie hatten meiner Meinung nach zu früh gezündet, ehe sie mitten zwischen den Schiffen waren, sonst hätte das Verderben noch riesiger sein müssen. Jetzt gab Caraiskakis das Signal für das zweite Schiff, und in wenigen Minuten flammte seine Feuersbrunst empor und der Brander trieb mitten zwischen zwei Linienschiffe, die in kurzer Zeit von seinen Flammen erfaßt waren. Das Geheul, das Geschrei war furchtbar und überdröhnte den Donner der von allen Seiten gelösten Schüsse. Die Schiffe hieben die Ankertaue durch und suchten das Meer zu gewinnen, eines das andere mit vollen Lagen begrüßend, wenn man sich gefährdend zu nahe kam. Vier Linienschiffe standen in vollen Flammen, ebenso mehrere kleine Fahrzeuge. Eine der brennenden türkischen Galeeren wurde von der »Siegesfahne« mit einer einzigen Salve in den Grund gebohrt, als das brennende Fahrzeug dem Admiralschiff zu nahe kam.

»Das war die Beute, die wir uns ausgesucht. Wie der Dieb in der Nacht waren wir im Dunkel herangekommen, dicht an der linken Batterie des Schiffes, ehe man uns bemerkte und anrief. Caraiskakis stand am Steuer, ich seines Winkes gewärtig mit der brennenden Lunte an der Hauptluke, die Mannschaft mit Haken und Seilen im Tauwerk. So fuhren wir auf und im Nu waren die Enterhaken in dem Strickwerk des Feindes, die Taue geknüpft und eine Kette geworfen und am Bugspriet befestigt, daß wir unauflöslich an dem großen Koloß hingen. Zugleich flammte der Haufen Maisstroh empor, den ich in den Luken und unter Wänden des Schiffes aufgetürmt hatte. Wie ein Blitzstrahl leckte die Flamme empor und lief an den Tauen und Segeln in die Höhe, daß bald alles ein Feuerbogen war. Die Verwirrung, das Geschrei auf dem Schiff des Kapudan war furchtbar. Er selbst war ein tapferer Mann, wenn auch ein Teufel in seiner Grausamkeit. Ich sah ihn auf der Puppe seines Schiffes stehen, wie er unerschrocken Befehle erteilte und die Rasenden, in Furcht Verzweifelnden antrieb, die beiden Schiffe zu lösen. Caraiskakis und die Mannschaft waren bereits im Boot und riefen mir zu durch den Höllenlärm, ihnen zu folgen, ich vermochte es nicht; mein Auge, mein Herz; schien gebannt an das furchtbare Schauspiel, das sich rings um mich entwickelte. Zwei mal hob ich das Pistol und zwei mal traf meine Kugel die Offiziere, die sich an unseren Bord gewagt, um einen Versuch zum Absteuern der Schiffe zu machen. Dann sprang ich zur hinteren Luke, von der ein Zünder gelegt war bis hinunter zur Pulverkammer. Ich schien mir selbst mehr einer der höllischen Dämonen, denn ein Mensch. Auf dem Schiffe der Moslems wuchs die Verzweiflung mit jeder Minute, Viele sprangen in das Meer, um sich zu retten; Andere, darunter der Kapudan selbst mit eigener Hand, suchten die Boote auf's Wasser zu bringen, jede Disziplin, jeder Gehorsam waren geschwunden, – was da auf dem Schiffe atmete, und es sollen ihrer mit den Fremden zum Fest zweitausend zweihundert und sechsundachtzig Seelen gewesen sein, dachte nur an die eigene Rettung.

»Da schien der Augenblick gekommen und meine Hand hielt, ohne zu zucken, den Feuerbrand an die Leitung, die zum Pulver führte, dann sprang ich auf der anderen Seite des Schiffes über Bord und versank in's Meer. Noch ehe ich wieder emporkam, hörte ich ein dumpfes Dröhnen über meinem Haupte, und als ich auftauchte aus den Wellen, da stob und regnete es um mich her aus den Lüften, Flammen und Balken, Trümmer, brennende Segelstücke und zerbrochene Spieren. Wie durch ein Wunder entkam ich der Gefahr, und um mich blickend, sah ich das Admiralschiff, jetzt ein großer, unrettbarer Flammenberg.

»Ich wußte die Richtung unseres Bootes und schwamm darauf zu, aber es kümmerte mich wirklich wenig, ob ich es erreichte oder nicht, so stolz war ich in dem Gefühl der vollbrachten Rache. Doch die Hand der Heiligen war über mir – bald stieß ich auf die Freunde, die mit Angst meiner harrten und schon, mich verloren gebend, davon fahren wollten; nur Caraiskakis, mein Herr, war dem Drängen nicht gewichen. Erschöpft warf ich mich auf den Boden nieder und sah nach dem mit immer furchtbarerer Herrlichkeit sich entfaltenden Schauspiel zurück, während wir eilig entflohen. Unnütze Eil' – Niemand dachte an unsere Verfolgung. Jeder hatte mit sich selbst genug zu tun. Nach allen Seiten stoben die Schiffe auseinander, wie den Pestkranken die fünf Flammensäulen fürchtend, welche die Nacht erhellten. Auf zwei Linienschiffen gelang es zwar, den Brand zu löschen, zwei andere aber brannten bis zum Spiegel nieder, nachdem man die Pulverkammer unter Wasser gesetzt. Rechts und links nach allen Seiten donnerten die Kanonen der brennenden Schiffe, die sich von selbst entluden, und bildeten nicht die geringste Gefahr für die Flotte.

»Wir waren bereits am Ausgange des Hafens und näherten uns der Brigg, die uns erwartete, als ein Krachen die Luft zerriß, ärger denn zehn Donner. Das Meer schien sich in Flammenwogen gen Himmel zu wälzen – das Admiralschiff des Kapudan mit all' seinen geraubten Schätzen, mit den Hunderten blutgetränkter Mörder, war in die Luft geflogen!

»Das Zischen der Brände, der durch die Luft fliegenden Gegenstände, der Erzmassen, die bis weit ins Meer hinausfielen, und die tiefe unheimliche Stille der Nacht, die urplötzlich darauf folgte – war grauenvoll. Wir alle ließen die Ruder fallen, schlugen ein Kreuz und beteten, dann aber brach einstimmig ein wilder, rasender Schrei durch die Luft aus der innersten Tiefe der Brust, und jubelnd wurde er von den Genossen beantwortet, die bereits an Bord der »Venetia« unserer harrten.

»Der Kapudan schien das Schiff erst kurz vor dem Auffliegen verlassen zu haben, als es sich unrettbar zeigte. Ein brennender Balken hatte das Boot getroffen und zertrümmert, das ihn zum Ufer führte; seine Leute brachten ihn schwimmend dahin und legten ihn unter einen Felsen nieder – eine lebendige Leiche, denn seine Glieder waren halb verkohlt. Dort starb er, ohne von der Stelle gebracht werden zu können, am zweiten Tage unter den furchtbarsten Schmerzen. Von der ganzen Besatzung der »Siegesfahne« retteten kaum Zweihundert das Leben.«

»Gott ist gerecht.«

Eine tiefe Stille war rings umher, als der Kameeltreiber seine furchtbare Erzählung schloß. Der Räuber, der Bandit war vergessen – nur der Held, der Palikare stand vor ihnen, dessen Hand Chios gerächt.

Das eben ist das eigentümliche des griechischen Volkes, die erhabene Opferung, das antike Heldentum für die Freiheit, bei der tiefen, sittlichen Versunkenheit seiner Lebensgewohnheiten und seines Tuns und Treibens! Feurige, glühende Diamantenstrahlen unter dem verächtlichen Schmutz der Falschheit, des Lasters und der Gemeinheit.

Welland erhob sich und drückte dem Räuber die Hand – dann schied er, von Mauro und einem der Männer zurückbegleitet. Wie anders trat ihm hier die Idee der Revolution, der Erhebung des Volkes zum Kampf für die Freiheit entgegen, als früher im Vaterlande. – Ein unheimlich beschämendes Gefühl überkam ihn bei der Erinnerung.


Doktor Welland hatte mehrfache Gründe, die Entwickelung der Costa-Angelegenheit abzuwarten und wollte unter allen Umständen seinen Weg nach Konstantinopel nicht fortsetzen, ohne nochmals den Versuch gemacht zu haben, denselben zu sprechen.

Da Gregor bei dem, was er beschlossen, der Hilfe des Freundes bedurfte, verschob er gleichfalls die Verfolgung des Briten bis zur gemeinschaftlichen Abreise, die nach dem Rate des mit allen Smyrnaer Verhältnissen so wohl vertrauten Räubers mit einem der vielfach kreuzenden griechischen Handelsschiffe geschehen sollte.

Die Vorgänge in Smyrna hatten unterdessen ihren weiteren historisch merkwürdigen Verlauf genommen. Die mehrfachen Klagen der Konsuln und Gesandten bei dem Divan über die Unfähigkeit des gegenwärtigen Gouverneurs von Smyrna, Ali-Pascha, hatten in Konstantinopel endlich Früchte getragen, und die Nachricht seiner Absetzung traf in Smyrna ein, vorangehend seinem Nachfolger Ismael-Pascha, der den Ruf eines energischen, zuverlässigen und wortgetreuen Mannes genoß. Das Ende des laufenden Gouvernements sollte aber noch durch verschiedene Akte der grenzenlosen Schwäche und Apathie bezeichnet werden, die, verbunden mit Tyrannei und Willkür, die Regierung der türkischen Provinzen charakterisiert.

Die Namen der Mörder des jungen Hackelberg waren bereits am andern Morgen in ganz Smyrna bekannt; mehrere Tage gingen sie frei und triumphierend mit ihren Genossen durch die Straßen, und als endlich der Generalkonsul von Wexbecker sich so weit vor den persönlichen Gefahren gesichert hatte, um die Pflichten seines Amtes erfüllen zu können und von Ali-Pascha die Verhaftung der Mörder verlangte, war Fumagalli verschwunden; von Bassitsch aber verlautete, daß er in Diensten des englischen Predigers Louis sich befinde. Der erste Dragoman des Pascha begab sich daher zur Verhaftung des Ungars zum englischen Konsul, der ihm auch den freien Zutritt in das Haus des Predigers Louis gestattete. Dieser erklärte jedoch nach vielen versuchten Ausreden, daß sein Diener allerdings noch bei ihm sei, aber vorgebe, unter amerikanischem Schutze zu stehen, er könne ihn also nur dem amerikanischen Konsul ausliefern. Anstatt sich nun unter allen Umständen des Meuchelmörders zu versichern, begab sich der Dragoman zum amerikanischen Konsul, der unbedingt Bassitsch für einen amerikanischen Bürger hielt, endlich aber nach vielem Hin- und Herreden seinen Kanzler Griffith zur vorläufigen Verhaftung des Mannes mit zum Prediger Louis sandte. Dort erhielten sie die Mitteilung, Bassitsch kleide sich eben um; als man aber dessen Zimmer öffnete, war es leer. Herr Louis behauptete, das Verschwinden sei ihm unerklärlich und höchst wunderbar; der Kanzler Griffith stimmte hierin ein, und der türkische Dragoman zog sich im stolzen Bewußtsein seiner Pflichterfüllung zurück.

Auf gleiche Weise entgingen alle Beteiligten der Strafe.

Fumagalli und Bassitsch suchten auf der amerikanischen Korvette Aufnahme und Überfahrt nach; Kapitän Ingraham ließ ihnen jedoch sagen, sein Schiff sei nicht für Meuchelmörder eingerichtet. Es war ein englisches Handelsschiff, die » British Queen«, das sich zu ihrer Aufnahme bereit erklärte und sie vorläufig nach England führte.

Die österreichische Brigg »Hussar« war unterdessen durch die Ankunft der Galeotte verstärkt worden, die sofort Befehl erhielt, sich neben die Brigg zu legen. Die drei Schiffe ankerten gegenüber dem preußischen und österreichischen Konsulat in der Entfernung von ungefähr 800 bis 1000 Schritten vom Lande.

Am Morgen des 2. Juli – es war ein Sonnabend – bemerkte man plötzlich besondere Vorbereitungen auf den Schiffen und vom amerikanischen Konsulat aus verbreitete sich die Nachricht, daß es zwischen ihnen zum Kampf kommen werde. Eine große Menschenmenge versammelte sich sofort am Ufer und hundert Gerüchte kreuzten sich.

Von dem Kanzler Griffith erfuhr endlich Welland folgendes:

Infolge einer am Abend von Konstantinopel zugleich mit der offiziellen Bestätigung der Absetzung Ali-Paschas eingetroffenen Ordre der amerikanischen Gesandtschaft hatte Kapitän Ingraham dem Kommandanten des »Hussar« mittels einer Note angezeigt, daß er die sofortige Auslieferung des amerikanischen Bürgers Costa verlangen oder ihn mit Gewalt holen solle. Die Antwort des Majors Schwarz war die eines echten Soldaten: Sein amerikanischer Kamerad möge das Holen versuchen, das Nichtabgeben sei seine Sache, es sei denn, daß ihm hierüber Ordres seiner Vorgesetzten zugingen.

Infolge dieser Antwort sah man alsbald die Schiffe sich zum Kampf fertig machen.

Die Korvette zählte ein Dritteil Kanonen und Mannschaft mehr als die beiden österreichischen Schiffe; die Übermacht war also auf ihrer Seite und Major Schwarz traf demgemäß seine Anstalten. Er legte sich möglichst nahe dem Feind und setzte seine Mannschaft in Bereitschaft, sofort bei dem ersten Kanonenschuß zu entern. Zugleich ließ er den Gefangenen aus seiner Haft holen und erklärte ihm mit männlichem Bedauern, daß er genötigt sei, sein Schicksal an das des Schiffes zu knüpfen. Costa wurde auf dem Mitteldeck an den Mast gebunden und eine doppelte Wache an seine Seite gestellt, die den strengen Befehl erhielt, sobald ein Amerikaner den Bord des österreichischen Schiffes betreten werde, dem Ungar eine Kugel durch den Kopf zu schießen.

Die Amerikaner, welche einsahen, daß es einen Kampf auf Leben und Tod gälte, da Major Schwarz zugleich erklärt hatte, daß er im Fall des Unterliegens sein Schiff in die Luft sprengen werde, fertigten ihre Testamente aus und sandten sie durch ein Boot an das Land.

Hier wurden unterdessen die Verhandlungen eifrig betrieben. Der amerikanische Konsul hatte dem General-Konsul von Wexbecker ein Ultimatum überbracht, welches die Entscheidung auf vier Uhr nachmittags aussetzte. Diese Frist benutzte der preußische Konsul, um zu dem türkischen Gouverneur zu eilen und hier einen energischen Protest gegen die in einem neutralen Hafen unerhörte und gegen alles Völkerrecht verstoßende Handlung der Amerikaner einzulegen, welche die nahe belegenen Teile der Stadt und die Konsulate mit bedeutender Gefahr bedrohte. Ali-Pascha tat, als höre er erst jetzt von dem ganzen Vorgang und schlug vor, bei dem amerikanischen Konsul zu protestieren und ihn für alle Folgen verantwortlich zu machen. Erst als ihm entschieden erklärt wurde, daß es seine Pflicht sei, in dem eigenen Hafen dergleichen nicht zu dulden und bewaffnet zu intervenieren, erklärte er sich bereit, denjenigen Teil zu schützen, welcher sich unter die Kanonen des Kastells legen würde.

Mehrere der Konsuln traten jetzt zusammen und Herr von Wexbecker willigte darein, um unnützem Blutvergießen vorzubeugen, daß bis zur Erledigung des Kompetenzkonfliktes Costa dem französischen General-Konsulat übergeben werde, das sich zu seiner Detention bereit erklärte. Um drei Uhr Nachmittags wurde die Konvention unterzeichnet, um vier Uhr ward Costa ausgeschifft und nach dem französischen, von hohen Mauern umgebenen Lazarett gebracht. Eine ungeheure Menschenmenge hatte sich am Ufer und in den Straßen versammelt und begrüßte sein Erscheinen mit lautem Jubel, die Flüchtlinge erschienen halb wahnwitzig in ihren Exklamationen und Freudenbezeugungen. Am selben Abend fand man in einer Straße die Leiche des Schankwirts Andrea, von vielen Dolchstichen durchbohrt.

Nach zwei Tagen war die Haft Costa's bereits eine sehr milde und es gelang Welland, durch Vermittelung des amerikanischen Konsuls, eine längere Unterredung mit dem Ungar zu haben, in Folge derer er den Freunden auf dem Pagus mitteilte, daß er zur Abreise bereit sei.

Am 6. Juli führte sie eine griechische Barkasse nach Tenedos und Dardanelli.


Die Flotten.

Troja! – Welche Erinnerungen, welche Jahrtausende alte Historie knüpfen sich an diesen Namen! Wo ist der gebildete Mensch Europa's, aus dessen Jugendstudien nicht jene sagenumgürtete Welt herüberklingt!

Doch nicht allein die Erinnerungen des gebildeten Europäers sind es, die diese jetzt öde Stätte bevölkern: Dem ganzen Volke der Hellenen sind die Gesänge seines großen Dichters wohl bekannt, und der niedere Grieche der Insel, der Matrose, der auf der Tartane das Meer durchstreift, naht mit Ehrfurcht jener Stelle und fühlt sich in seinem Elend stolz auf die Namen der großen Vorfahren.

Die Bucht von Troja – in der Zeitgeschichte bekannt unter dem Namen der Besika-Bai – liegt nordöstlich gegenüber der Insel Tenedos, sich in weitem Bogen in das kleinasiatische Ufer hineinziehend. Ein Hafen an der Westseite der hohen und felsigen Insel wird als derjenige bezeichnet, in dem sich die griechischen Schiffe nach ihrem Abzug verbargen, um nach des Odysseus gelungener List im Dunkel der Nacht zurückzukehren.

Die Meerenge zwischen Tenedos und dem asiatischen Ufer ist an den schmalsten Stellen etwa eine halbe deutsche Meile breit.

Die Nordostseite der Bai wird von einem breiten Landvorsprung gebildet, dessen nördliches Ufer den Eingang der Dardanellen beherrscht.

Von der hier gelegenen kleinen, mit starken Festungswerken versehenen Stadt Dardanelli erreicht das Auge noch die Bai.

Alexandria Troas, von den Türken Eski Stambul genannt, liegt südlich an der großen Bucht und bietet noch, zum Teil mit einem Eichwald bedeckt, eine interessante und reiche Trümmerwelt. Hunderte von Säulen sind in allen Richtungen zerstreut um den alten Hafen, eine Reihe davon steht unter Wasser und schäumend bricht sich die Brandung an ihnen. Ungefähr zweitausend Schritt vom Meere ab erheben sich noch die großartigen Trümmer und schönen Bogen eines Gebäudes, das die Schiffer den Palast des Priamus zu nennen pflegen. Das alte Troja ist nordöstlich von der Bucht landeinwärts gelegen, im Tal des Skamander (Mendere). Nur wenige Erdwälle und künstliche Hügel geben dem Altertumsforscher hier einen Halt.

Das Ufer ist am Meeresstrande flach und sanft aufsteigend. Dann folgen waldige Anhöhen, die, zu einem Amphitheater von Bergen emporsteigend, unter denen der schneebedeckte Gipfel des Ida, das Tal des alten Skamander umkreisen.


Wiederum lag, von Westen gekommen, eine Kriegsflotte auf den blauen Wellen der Troja-Bai, – nicht jene zwölfhundert Schiffe, die einst von den jonischen und ägäischen Küsten die griechischen Helden hierhergeführt, sondern die riesigen hölzernen Rosse Alt-Englands, der Stolz des stolzen Großbritanniens, die kühn emporstrebende Seemacht Frankreichs, die alte Rivalin zu überflügeln drohend. Kinder eines anderen Jahrtausends, einer neuen Zeit im Schaffen und Denken! Die riesigen Kolosse mit den drei- und vierfach übereinander starrenden Reihen von Feuerschlünden, bewegt durch die dämonische Kraft des Dampfes oder der wallenden Segel, boten sicher einen anderen Anblick, als die griechischen Schiffe vor fast dreitausend Jahren, doch Land und Meer und Himmel und Felsen waren noch dieselben wie damals, als sie die Achaïer getragen und des Protesilaos Blut zuerst den Sand des trojanischen Ufers färbte.

Am 23. Juni erschien die englische Flotte auf die Ordre des britischen Gesandten in Konstantinopel, Lord Stratford de Redcliffe, unter Vice-Admiral Dundas, am Eingang der Dardanellen und warf in der Besika-Bai Anker.

Sie bestand aus zwei Dreideckern, vier Zweideckern, einer Segelfregatte und vier Dampffregatten, nebst einigen kleinen Schiffen.

Bald hierauf erschien auch die französische Flotte unter Vice-Admiral La Susse und legte sich im Halbkreis neben die englische.

Sie zählte acht Linienschiffe, darunter die prachtvollen, das englische Schiff »Sanspareil« weit überragenden Schraubendampfer »Napoleon« und »Charlemagne«, und fünf Dampffregatten.

Das Verhältnis war damals zwischen beiden Flotten durchaus kein sehr freundschaftliches und versprach wenig für die vielgepriesene entente cordiale. La Susse war ein bitterer Gegner der Engländer und nur deshalb später auf dem Ankerplatz erschienen, um die englischen Schiffe bei ihrer Ankunft nicht begrüßen zu müssen. Die Stellung der beiden Admirale hatte bereits zu mehreren Verwickelungen und zur Abberufung von La Susse geführt, dessen Dienstzeit abgelaufen war. In seine Stelle ward zum Kommandanten des Geschwaders der Seepräfekt von Toulon, Vice-Admiral Hamelin, ernannt.

Auf der Rhede von Brest wurde bereits ein zweites großes Geschwader unter Vice-Admiral Bruat ausgerüstet, gleichwie die Engländer in Spithead mit Anstrengung tätig waren.


Die Schiffe lagen in drei Gruppen am Ufer der Bai entlang vor ihren Ankern. Einige Fregatten und kleinere Schiffe kreuzten durch die Bucht, um unter der leichten Brise ein Segelmanöver zu machen.

Wir führen den Leser an Bord der englischen Fregatte »Nigger«.

Die Mannschaft der Wache war in voller Tätigkeit beim Manöverieren, denn der erste Leutnant verstand sie in Athem zu halten und hatte Augen für jeden Fehler. Während er auf dem Gangweg auf- und abschritt, Takelwerk und Segel im Auge, lehnte Kapitän Warburne an der Galerie des Hinterdecks in der Nähe des Steuers mit einem Herrn in feiner Zivilkleidung.

Warburne war ein alter Offizier, der seine Midshipmanzeit noch im napoleonischen Kriege gedient und langsam durch eigenes Verdienst ohne Empfehlung und Protektion seinen mühsamen Weg gemacht hatte. Mit dem Ärger eines alten Seemannes schaute er auf die Neuerungen und Verbesserungen, die die Zeit gebracht und die alle seine Gewohnheiten über den Haufen zu werfen drohten. Vor Allem waren ihm die Vorzüge des Dampfes ein Gegenstand ewigen Grolls, und die Sicherheit eines Segelschiffes ein Lieblingsthema seines Gespräches. Der Geist des Kommandierenden hatte sich sozusagen auf die ganze Mannschaft verbreitet, und kaum konnte es ein eigensinnigeres, gröberes Schiffsvolk in der ganzen Flotte geben, sobald es mit den Mannschaften der Dampfschiffe zusammenkam.

»Sehen Sie die französischen Hallunken an,« sagte der Kapitän ärgerlich, »reiten Sie nicht auf ihren Ankern, als hätten sie ganz Alt-England schon in der Tasche? Ich begreife das Ministerium nicht, wie man uns hierherschicken kann, um mit diesen Crapauds unnütz in der Sonne zu braten.«

»Sie sind ärgerlich, Warburne, aber Sie tun Unrecht, die französische Flotte zu tadeln. Ich habe mich bei den Bootfahrten überzeugt, sie befindet sich in einem vortrefflichen Zustande, den ich unseren eigenen Schiffen wohl wünschte. Es ist eine Schmach für England, daß unsere Flotte offenbar gegen die französische zurücksteht.«

»Ha, pfeifen Sie auch aus dem Winde, Maubridge«, meinte grämlich der alte Seemann. »Der Teufel hole die Froschfresser mitsammt ihren Kohlenschiffen. Alle Ehre und Reputation auf dem Meere geht zu Grunde, seit der verdammte Dampf auf blauem Wasser regiert, wie er sich auf dem Lande mausig macht. Gott verdamm' meine Augen, ich glaubte, ich hätte etwas Besseres an Ihnen erzogen, als einen Bewunderer der schwarzen Rauchfänge. Was ist es für eine Kunst noch, ein Schiff zu regieren, seit unten im Bauch der schmutzige Maschinist den Kapitän spielen kann! Aber die Welt ändert sich; seit Sie ihren Bruder beerbt haben und im Unterhause sitzen, sind Sie so närrisch wie die Anderen. – Dampfschiffe statt der ehrlichen Leinwand und die Franzosen seitlängs von uns, ohne daß wir eine ehrliche Breitseite mit ihnen tauschen dürfen, Sie werden's erleben, das bringt der Flagge mit dem Doppelkreuz kein Glück.«

Maubridge – der Mann in Zivil war der Baronet, dessen Bekanntschaft wir im Landhause zu Bournabat beim Angriff der Räuber gemacht haben – lachte.

»Sie sind und bleiben der Alte, Warburne«, sagte er, »und werden sich nie in die Forderungen der Gegenwart schicken, obgleich Sie deren Nutzen einleuchtend vor Augen sehen. Passen Sie auf, es dauert nicht lange mehr, so wird Ihre alte Fregatte abgezahlt und kommt als Wachtschiff nach Plymouth oder Spithead. Wir sind in der langen Friedenszeit viel zu weit hinter den Franzosen zurückgeblieben und sie haben uns in Zahl und Einrichtung der Dampfschiffe überflügelt, gerade wie die Amerikaner.«

»Ja, ja, ich seh's, die alten Eichenbalken, die so lange die britische Flagge durch alle Meere zum Siege getragen und gefürchtet gemacht haben, werden auf Halbsold gesetzt. Alles soll Eisen sein, alles mit übermäßiger Geschwindigkeit gehen, – nur die Beförderung geht den Schneckengang. Es ist keine Dankbarkeit mehr in der Welt, und das rächt sich.«

»Ei, Warburne, Sie tun wieder Unrecht. Sehen Sie nicht in mir das Gegenteil? – Hab' ich nicht gleichfalls meinen jüngeren Bruder in Ihre Obhut gegeben, um einen tüchtigen Seemann aus ihm zu bilden, und bin ich nicht schon seit drei Wochen Ihr Gast und langweile mich mit Ihnen hier, blos um Ihnen meine alte Anhänglichkeit zu zeigen, nachdem ich in Smyrna schon so viele Zeit verloren habe?«

Der Kapitän schielte ihn von der Seite an.

»Hm! Der alte Adams – den ich wegen der Einkäufe in Smyrna zurückließ – erzählt ganz kuriose Dinge von der Weise, wie Sie ihre Zeit verloren haben, und daß Sie wohl taten, die Sicherheit eines britischen Kriegsschiffes zu suchen. Hören Sie, Maubridge, ich habe Sie noch immer lieb, weil Sie ein braver Bursche waren, der im Sturme seinen Mann stand, darum warne ich Sie, hüten Sie sich vor den Weiberröcken, sie sind ebenso falsch wie die Franzosen und haben noch keinem Manne Gutes gebracht.«

»Sie sind ein alter Hageprunk, Warburne, und Adams ist ein Schwätzer, der sich von einem Knaben, so hoch, hors de combat setzen ließ. Aber sehen Sie, wie jener französische Dampfer auf uns zukommt, es ist, als ob der Bursche uns verhöhnen wollte mit seiner Beweglichkeit.«

Warburne schaute nach der Flotte zurück.

Eine der kleineren französischen Dampffregatten hatte ihren Ankerplatz verlassen und strich gleich einem Schwan stattlich hinter ihrem Spiegel durch die Wellen.

»Master Hunter!«

Der erste Leutnant kam nach hinten.

»Sir!«

»Lassen Sie gefälligst das Schiff umlegen und nach Tenedos hinüber halten. Wir wollen dem französischen Maulaffen da nicht den Spaß machen, uns in eine Wettfahrt mit ihm einzulassen.«

»Sehr wohl, Sir!«

Der Leutnant gab den Befehl an den Offizier der Wache, das Schiff nahm seinen veränderten Kurs und schob nach der Insel zu. – –

Am Vorderkastell standen in mehreren Gruppen die Matrosen, die zu den abgelösten Wachen gehörten, und schauten über die Brüstungen hinaus auf die manöverierenden Schiffe oder hinauf zu den Segeln, die sich im frischen Landwind blähten. Die Brise, die durch das Felsentor der Dardanellen bläst, ist oft so stark und anhaltend, daß kein Segelschiff den Eingang gewinnen kann und häufig Hunderte von Fahrzeugen Wochen lang vor der Meerenge liegen bleiben müssen, um auf das Umsetzen oder Aufhören des Nordwindes zu warten.

Die Matrosen waren fast durchgängig von jener Bullenbeißerfigur, die den Seeleuten Alt-Englands eigen ist. Man konnte aber deutlich unterscheiden, wer aus einem anderen Lebensberuf durch Zufall oder das schmachvolle Recht der Pressung darunter geraten war, obschon es ein eigentümlicher Zug der Briten ist, daß mindestens zwei Dritteile dieser Unglücklichen nach kurzer Zeit mit ihrem Lose sich ausgesöhnt zeigen, alle früheren Verhältnisse vergessen und oft die besten Seeleute werden.

Die Hände in den Hosentaschen, ging die vierschrötige Gestalt des Deckmeisters Adams von einem Gangweg zum anderen, mit forschendem Blick ringsum die Ordnung prüfend.

»Herunter von dem Hühnerkasten, Sir, wenn's beliebt, Master Hunter sieht eben hierher. Warte, Hundesohn, kannst Du Deine schmutzigen Pfoten nicht wo anders hin tragen?«

Ein Hieb mit einem Tauende aus dem Vorrat der weiten Tasche nach einem unglücklichen Schiffsjungen, der mit einem Eimer vorbeihuschte, begleitete die Worte.

Die erste Anrede war jedoch an drei junge Männer gerichtet, die auf einem der Vorderdeck-Hühnerkasten hockend, über die Hängemattenwandung hinausschauten.

»Sei nicht so bärbeißig, Alter, wir werden Deinem Kasten kein Loch in den Rumpf stoßen. Schau', Gosset, wie sie daherkommt! Ist es nicht eine Schande, daß wir in diesem alten wurmstichigen Segelboot umherkrebsen müssen, wie ein Hummer am Lande?«

»Es ist unverantwortlich von der Krone Großbritanniens, daß eine Tischgesellschaft so gescheuter und stattlicher Mid's Midshipmen. wie die ganze Flotte sie nicht zählt, noch immer verurteilt ist, Raen spleißen, die Stagen reffen, Top- und Vortopsegel ansetzen zu lassen, kurz auf einem Segelschiff zu dienen. Hol' der Teufel all' die Arbeit.«

Der Deckmeister rollte grimmig das Prüntjen aus einer Backen in die andere und spritzte seinen Groll mit der eklen Flüssigkeit durch die nächste Stückpforte.

»Mit Verlaub, Sir, wollen Sie jetzt von meinem Kasten herunter oder nicht? Aus Ihnen wird im Leben kein ordentlicher Seemann werden, Master Gosset, sonst würden Sie nicht solches Wischiwaschi über ein Schiff zu Markte bringen, das hundert solcher Leute aufwiegt wie Sie und Master Frank.«

Die Midshipmen räumten lachend den Kasten. Es waren drei junge Burschen von 14 bis 17 Jahren, von denen der Eine große Ähnlichkeit in den Zügen mit Sir Maubridge aufwies. Der Zweite, Gosset, war ein ziemlich schmächtiger Knabe von affenartiger Beweglichkeit, während der Dritte und Älteste eine kräftige Figur mit einem ziemlich gemeinen stupiden Gesicht hatte.

»Segel und Dampf ist die schwache Seite von Meister Adam, gerade wie beim Kapitän selbst,« höhnte Gosset. »Ich wette, nur unser erster Leutnant ist meiner Ansicht und verwünscht diesen alten Segelkasten, weil er ihn schon zwei Mal bei der Beförderung im Stich gelassen hat. Ich quittiere den Dienst, wenn man den Nigger nicht bald abtakelt.«

»Vorläufig werden Sie hinunter gehen und das Verdeck räumen, Sie junger Hallunke,« sagte eine strenge Stimme hinter ihm. Es war der erste Leutnant, der unbemerkt nach vorn gekommen.

»Kümmern Sie sich um Ihre eigene Karriere, die Sie höchstens in den Mastkorb führen wird, und danken Sie Gott, daß man einen so spindelbeinigen, affengesichtlichen Burschen auf Ihrer Majestät Fregatte in Dienst genommen hat.«

Die Midshipmen tauchten eilig durch die Luke, denn Master Hunter verstand keinen Spaß. Auch die Matrosen rings umher drückten sich ihm aus dem Wege, oder nahmen irgend eine Beschäftigung vor. Der dritte Leutnant, welcher die Wache hatte, rapportierte vier Glocken. Der erste Leutnant ging nach hinten und tat das Nämliche, und der Kapitän befahl, zum Essen zu pfeifen. Der Befehl lief auf gleiche Weise zum Hochbootsmann und der Ruf: »Alle Mann zum Essen!« erscholl durch die Luken.

Es ist dies eines der buntesten Bilder selbst auf einem englischen Schiffe. Die Tischgesellschaften sammeln sich und nehmen ihre Plätze ein, um Herd und Küche drängen sich die Maate, die für jede die Portionen in Empfang zu nehmen haben und die schwarzen Gehülfen der Köche haben alle Hände voll zu tun. Der Stewart der zweiten Kajüte läuft eilig hin und her, um den Tisch der Offiziere zu besorgen, während der des Kapitäns höflich seine Einladung für die Tafel desselben macht, die um drei Uhr beginnt.

»Wer ißt heute noch beim Kapitän?« fragte der Zahlmeister den Eilenden.

»Der zweite Leutnant, Sir, und Master Duncombe, der Doktor. Auch der junge Maubridge.«

»Schön! Bringen Sie dem Kapitän meine Empfehlung und ich würde erscheinen.«

An Bord eines Schiffes weigert man sich selten, die Einladung des Kapitäns anzunehmen.

Auf dem Hinterdeck trat der erste Leutnant zu seinem Vorgesetzten.

»Der Dampfer hat gleichfalls gewendet, Sir, und scheint uns absichtlich folgen zu wollen. Es ist die »Veloce« Wir wählen für das Schiff absichtlich einen falschen Namen. D. V., Sir.«

»Lassen Sie die Mannschaft ihr Essen nehmen, aber die Mittelwache in Tätigkeit bleiben. Ändern Sie gefälligst von Zeit zu Zeit den Kurs und vermeiden Sie einen Segelstrich mit dem Franzosen. Es ist offenbar, daß der Narr uns seine Schnelligkeit zeigen will.«

Der erste Leutnant tippte an den Hut und ging, um das Kommando an den zweiten Leutnant zu übergeben, der die Mittelwache hatte.

Kapitän Warburne spazierte mit seinem Gast auf dem Deck weiter umher.

Die »Veloce« schoß unterdessen näher heran, stattlich und leicht, wie ein Schwan durch die Wellen streift, eine jener schönen zierlichen Bauten, die selbst das Auge eines britischen Seemannes entzücken mögen.

Dicht unter dem Spiegel des Nigger wendete der Dampfer und schoß an seinem Backbord vorüber, so daß alle auf den Decks befindlichen Gruppen gegenseitig vollständig gesehen werden konnten.

Wir haben die englische Fregatte bereits beschrieben; versetzen wir uns einige Augenblicke vor der Begegnung auf das Hinterdeck des französischen Dampfers.

Alle, die beim Beginn des großen Krieges die Gelegenheit hatten, die britischen und französischen Kriegsschiffe zu besuchen, sind erstaunt gewesen über den großen Unterschied, der sich auf den Schiffen beider Nationen bemerklich machte, und den überwiegend vorteilhaften Eindruck, den die französische Marine gewährte.

Während Offiziere und Schiffsvolk auf den britischen Schiffen fast durchgängig etwas Steifes und Plumpes, ja Brutales an sich haben, und in dieser Art sich der ganze Dienst kamaschenartig regelt und abspinnt, erscheint auf den französischen Schiffen Alles bei strenger Regelung und Ordnung, frei, frisch und beweglich.

Es herrscht statt des drohenden Gespenstes der neunschwänzigen Katze, die noch immer und allein das Tier im britischen Matrosen zähmen kann, ein natürlicher Geist anständiger Ordnung und Disziplin unter den französischen Seeleuten, der der Individualität eines Jeden vollen Spielraum läßt.

Leben und Heiterkeit, ein Scherz, ein Spaß mitten im regen Diensteifer, kurz ein gewisses point d'honneur, das nicht blos im Bulldoggenmut besteht, herrscht vorwiegend auf dem Vorderdeck eines französischen Kriegsschiffes.

Noch greller tritt der Unterschied in den beiderseitigen Offizier-Korps und in dem Verhältnis der Vorgesetzten zu den Untergebenen hervor. Ohne der Achtung und dem Range etwas zu vergeben, herrscht zwischen den Offizieren des Schiffes ein überaus freundlicher und kameradschaftlicher Ton. Bei den zahlreichen Ausflügen mit den Dampfern nach Konstantinopel, wie später, als die Flotten im Bosporus ankerten, sah man die älteren und jüngsten Offiziere stets in Gesellschaft, Arm in Arm, heiter und plaudernd und überall leicht Bekanntschaft machend, während die Engländer sich impertinent und abgeschlossen zeigten und das Schiffsvolk, jeder Ausschweifung hingegeben, sich so roh und brutal gegen die Bevölkerung benahm, daß häufig blutige Händel daraus entstanden.

Während die englischen Schiffe am Bosporus lagen, wurden tatsächlich auf Befehl des Seraskiers, abends und morgens die betrunkenen Matrosen von den türkischen Wachen aus den Straßen gesammelt und in Booten am Bord der nächsten Schiffe abgeliefert.

Auf dem Hinter- und Vorderdeck der »Veloce« waren Sonnenzelte ausgespannt, unter deren Schutz Offiziere und Mannschaft in zahlreichen Gruppen versammelt waren. Der Kapitän, ein Mann von einigen dreißig Jahren, unterhielt ein Gespräch mit zwei Fremden, von denen der Eine griechische Kleidung trug.

»Als wir uns in Paris trafen, Doktor,« sagte er lachend und blies den Rauch der Papierzigarre in die Luft, »hätten wir Beide schwerlich geglaubt, daß unser nächstes Wiedersehen am Grabe des Achilles stattfinden werde. Der Kaiser hat uns seitdem tüchtig umhergeschickt, und man scheint mir auch hier Adjutantendienste bei der Flotte aufbürden zu wollen. Wäre eine Vakanz auf meinem Schiffe und hätten wir hier nicht einen so lieben alten Freund, der vortrefflich mit unserem inneren und äußeren Menschen umzugehen weiß« – er reichte freundlich dem unfern mit mehreren Offizieren sich unterhaltenden Schiffsarzt die Hand – »so ließe ich Sie wahrhaftig nicht wieder fort, am wenigsten zu dem schlimmen Geschäft, das Sie vorhaben.«

»Der Mensch kommt und geht, Kapitän, Sie wissen das am besten,« sagte Welland, denn er und Caraiskakis waren es, die wir an Bord der »Veloce« wiedertreffen.

»Freilich möchte es schön sein, diese herrlichen Gewässer auf dem Schiffe eines Freundes zu durchstreifen, wenn auch die Freundschaft oder Ihre Güte sich nur aus der Bekanntschaft im Kaffee Carozza herschreibt, das wir Beide besuchten, während Sie im Marine-Ministerium antichambrierten. Doch freute ich mich aufrichtig, Kapitän, als ich in Dardanelli die Namen der ankernden Schiffe erfuhr und darunter den des Ihren, nicht blos weil ich Unterstützung von Ihnen hoffte, sondern auch weil es mir Vergnügen machte, Sie wiederzusehen.«

»Merci! Ich wünschte, ich könnte meine Freundschaft Ihnen nur energischer beweisen, als durch diese Kreuz- und Querfahrt hinter einem alten Segelschiff. Doch Sie wissen bereits, Doktor, die Ordres der Admiralität sind sehr streng, und wir müssen Alles vermeiden, was irgend Veranlassung geben könnte, die entente cordiale auch im Kleinen zu stören.«

»Ich würde unter keinen Umständen auch weiter Ihren Beistand annehmen, Kapitän Fontain. Sie haben schon mehr als genug getan, indem Sie uns Ihren allgemeinen Schutz gewähren. Ich kann mir nicht denken, daß wir gezwungen werden sollten, uns wirklich um Schutz an die französische Ehrenhaftigkeit zu wenden, worauf ich als Bürger Frankreichs dann nicht ohne Anspruch bin.«

»Und auf meine Ehre, Sie sollen ihn finden, und sollt' es mein Patent kosten! –«

»Doch da sind wir unterm Spiegel der Fregatte,« fuhr der Kapitän fort, »Monsieur Charleron, haben Sie die Güte, steuerbord wenden zu lassen und an der Fregatte zu stoppen.«

Der zweite Leutnant eilte die Treppe über die Maschine hinauf.

» A droit! – Halt!«

Die Fregatte schob langsam am Steuerbord des »Nigger« entlang.

Der französische Kapitän stand mit dem Sprachrohr in der Hand auf den Hängemattengittern.

»Bon jour, Herr Kamerad! Ist's Ihnen gefällig, beizulegen? Ich habe Besuch für Sie an Bord.«

Kapitän Warburne salutierte eben nicht besonders freundlich den Gruß.

»Zu Diensten, Herr Kapitän! Braßt die Segel! Steuer umlegen!«

Die Fregatte hielt in ihrem Lauf inne, während vom französischen Dampfer bereits ein Boot herunter gelassen wurde.

»Monsieur Bertaudin, Sie werden diese Herren begleiten und mit meinem Boot auf ihre weiteren Befehle warten. Adieu, Doktor! Ich hoffe, Sie zum Diner wieder an Bord zu sehen.«

Welland und Caraiskakis bestiegen das Boot und schoben ab, während sich der Dampfer durch einige Raddrehungen weiter von den Engländern zurücklegte. Nach einigen Ruderschlägen waren sie seitlängs der englischen Fregatte und stiegen die Schiffswand empor.

»Sir, ich habe die Ehre, Sie zu begrüßen. Darf ich um Auskunft bitten, ob Baronet Maubridge sich an Bord Ihrer Fregatte befindet?«

»Zu Befehl!«

»Sie würden uns sehr verbinden, Sir, wollten Sie die Güte haben, ihm diese Karte zu schicken und ihm sagen zu lassen, daß wir um eine Unterredung bäten.«

Master Hunter lud die Fremden ein, näher zu treten, und schickte den nächsten Midshipman mit dem Auftrage an den Kapitän.

»Der Besuch gilt Ihnen, Maubridge,« sagte dieser. »Wollen Sie sich meiner Kajüte bedienen, so lassen Sie die Herren dahin führen.«

Der Baronet hatte die Karte des Doktors gesehen.

»Ich kenne den Herrn nicht, – wenn Sie erlauben, empfange ich den Besuch hier.«

»Wie Sie wollen. Führen Sie die Herren hierher.«

Einige Augenblicke darauf betraten Welland und der Grieche das Hinterdeck.

Der Kapitän lud sie ein, auf den umherstehenden Schiffsstühlen Platz zu nehmen, und trat an das Bollwerk zurück.

»Darf ich Sie bitten, mein Herr, mir zu sagen, was mir die Ehre verschafft …?«

»Wir kommen, Sie um einige Auskunft in Angelegenheiten Ihrer Gemahlin, Lady Maubridge, zu bitten,« sagte Welland laut genug, um von dem Kapitän und den Leuten am Steuer gehört zu werden.

»Meiner Gemahlin, Sir? – Sie irren wohl!« Die Stirn des Baronet färbte sich dunkelrot.

»O nein, Sir; ich meine Lady Diona Maubridge, geborene Grivas!«

Der Baronet suchte gewaltsam seiner Verwirrung Herr zu werden.

»Ich wiederhole Ihnen, daß Sie sich irren; doch bitte ich, mir zu sagen, was oder welches Recht Sie zu der Anfrage veranlaßt.«

»Sogleich, Sir. Mein Auftrag besteht darin, Sie im Namen der Lady Maubridge um die Aushändigung des Ehekontraktes oder einer vidimierten Abschrift zu bitten.«

Der Engländer schwieg einige Augenblicke.

»Ich muß Ihnen wiederholen, daß Sie sich in Betreff einer Lady Maubridge täuschen. Ich bin nicht verheiratet.«

Der Grieche machte eine heftige Bewegung, doch Welland legte die Hand auf seinen Arm.

»Sie haben mir versprochen, mir die Angelegenheit zu überlassen.«

Er wandte sich wieder zu dem Baronet.

»Wir waren einigermaßen auf diese Antwort gefaßt. Doch erlauben Sie mir eine andere Frage. Sie kannten unzweifelhaft eine junge Dame im Hause des Kaufmanns Andriarchos in Smyrna, Diona Grivas.«

»Jawohl, mein Herr.«

»Was ist aus ihr geworden?«

»Diese Frage ist wirklich seltsam, doch muß ich gestehen, daß Sie mich selbst verbinden würden, wenn Sie mir über ihr Schicksal und ihren Aufenthalt Auskunft geben könnten.«

»Die Dame wurde in der Nacht des 23. Juni aus dem Landhause des englischen Vize-Konsuls in Burnabat und aus Ihrem Schutze entführt, Sir Maubridge.«

»Sie sind sehr gut unterrichtet, mein Herr. Um es kurz zu machen, sind Sie etwa der Sendbote des Banditen, der in meine Wohnung einbrach, und kommen Sie, um irgend ein Lösegeld für das junge Mädchen zu fordern?«

»Für Lady Maubridge, Sir. Diesmal irren Sie; wir waren es selbst, welche die Dame entführten.«

»Wie, Sir?«

»Ja wohl. Die Dame befindet sich gegenwärtig unter unserem Schutz, und in ihrer Vertretung kommen wir hierher, um Sie über das Schicksal derselben zu beruhigen und die weiteren Verhandlungen mit Ihnen zu führen.«

»Ich bin nicht gewohnt, mit den Genossen von Dieben und Mördern zu verhandeln. Danken Sie Gott, daß ich Sie nicht auf der Stelle wegen eines Angriffes auf britisches Eigentum und des Mordes britischer Untertanen verhaften lasse. Sie stehen auf diesem Schiff auf britischem Boden.«

»Und unter dem Schutze eines guten Freundes da drüben.«

Der Doktor wies kalt nach dem französischen Dampfer.

»Was das Recht auf diese Dame anbetrifft so hat Sir Maubridge das Beispiel der Entführung gegeben und mein Freund, Herr Gregor Caraiskakis, der Stiefbruder der Dame, konnte damals noch nicht wissen, daß Sie dieselbe zu Ihrer rechtmäßigen Gattin gemacht hatten.«

Der Baronet hatte jetzt seine volle Ruhe wieder gewonnen. Um seinen Mund zeigte sich ein kalter hochmütiger Zug, der von Zeit zu Zeit sein sonst schönes Gesicht entstellte.

»Ah! Also eine der gewöhnlichen Familienpressereien, von denen ich in Smyrna so Manches gehört! Nun wohl, meine Herren, ich gestehe, daß ich einen törichten Streich gemacht habe. Ihr Himmel ist heiß, aber dergleichen läßt sich hier leicht in Ordnung bringen. Was verlangen Sie für die Dame, die mich einige Zeit mit ihrer Gunst beehrt hat und von der ich nur bedaure, daß sie sich so früh schon von mir getrennt hat?«

»Sie leugnen, daß Sie das junge Mädchen unter dem Versprechen der Ehe entführt haben? Daß eine Trauung oder eine diese ersetzende Zeremonie im englischen Konsulate stattgefunden hat und Diona Grivas Ihre rechtmäßige Gattin ist?«

»Was vorgefallen, Sir, darüber werde ich Ihnen keine Rechenschaft geben. Das mögen Sie und dieser Herr, der wahrscheinlich kein Englisch versteht und daher die Rolle des schweigenden Bruders spielt, wissen, daß ich den Anspruch auf den Namen meiner Gattin zurückweise und sie in ihrem Interesse wohl tun wird, eine so tolle Idee nicht weiter zu verfolgen.«

»Sie weigern also bestimmt die Anerkennung.«

»Ich werde mich nicht so lächerlich machen, darauf weiter einzugehen; haben Sie Beweise, so legen Sie Ihre Klage bei dem britischen Gesandten ein. Und nun, meine Herren …«

»Einen Augenblick noch«, sagte der Grieche, indem er auf ihn zutrat. »Sie irrten, wenn Sie glaubten, ich verstände Ihre Sprache nicht. Ich hoffe, daß Sie eben so gut die Sprache eines Mannes von Ehre verstehen werden, der Ihnen sagt, daß Baronet Maubridge wie ein ehrloser Schurke gegen ein schutzloses Mädchen gehandelt hat!«

»Sir!«

»Die Willkür und das Unrecht, welche Ihre Nation dem griechischen Volke antut, müssen wir leider tragen, aber Gott sei Dank, noch ist der Einzelne im Stande, das angetane Unrecht zu rächen. Ich werde Sie zwingen, meiner Schwester den Namen zu geben, der ihr gebührt.«

»Bah!«

»Bestimmen Sie Zeit und Waffen!«

»Ich schlage mich mit einem griechischen Banditen nur bei einem Angriff und Überfall, Sie wissen das.«

»Wohl, so nehmen Sie dies als Angriff …« er hob die Hand zum Schlage, doch Maubridge kam ihm zuvor und faßte den Arm.

»Halt da – keine Beleidigung, für die ich Sie totschießen müßte; es sollte mir leid tun. Dieser Herr wird wahrscheinlich Ihr Sekundant sein.«

»Ich bin es.«

»Wohl. Der Meine wird Sie noch heute aufsuchen. Wo findet er Sie?«

»Ich werde ihn in Tenedos im griechischen Kaffeehause am Hafen von der nächsten Stunde ab erwarten.«

»Well! Auf Wiedersehen.«

»Sie sehen, Warburne, es ist Aussicht, daß Sie auch Ihren zweiten Midshipman zu Gunsten einer erledigten Baronetschaft verlieren. Lassen Sie uns zu Tische gehen.«

»Sie werden doch nicht toll genug sein, sich mit dem griechischen Landstreicher zu schlagen?«

»Es wird nichts anderes übrig bleiben, da er sich unter den Schutz unserer guten Freunde, der Franzosen, begeben zu haben scheint, und ich diese doch unmöglich sagen lassen kann, auf Ihrem Schiffe wären ein paar Pistolenschüsse verweigert worden. Sie werden mir einen Ihrer Offiziere leihen, Warburne, denn ich muß nun schon die Sache zu Ende bringen.«

»Gott verdamm', ich hab' es Ihnen gleich gesagt, es kommt nichts Gescheutes heraus, wo ein Weiberrock im Spiel ist. Unter uns gesagt, mein Junge, scheinen Sie in der Geschichte auch nicht besonders viel Recht zu haben.«

»Nicht das geringste«, sagte der Baronet ruhig, »es ist auch sehr leicht möglich, daß ich ganz anders gehandelt haben würde, wenn die Narren mir nicht hätten Zwang antun wollen. Die Kleine ist verteufelt hübsch und ich würde in London Aufsehen mit ihr gemacht haben. – Doch sprechen wir nicht mehr davon. – Die Burschen müssen ihre Lektion haben.«

Der Stewart des Kapitäns meldete zum zweiten Male, daß angerichtet sei.


Wo der Skamander aus dem weiten Bergtal tritt, liegen im Myrtengebüsch einige jener Säulentrümmer, die am südlichen Ende der Bucht sich noch so massenhaft zeigen. Hierher, um nicht zu weit entfernt von Dardanelli zu sein, hatte der Arzt das Rendezvous für den nächsten Morgen bestimmt.

Als die Freunde in der besprochenen frühen Stunde dort mit ihrer Barke eintrafen, fanden sie bereits den Baronet mit dem zweiten Leutnant des »Nigger« vor, der ihm zum Sekundanten diente. Der alte Matrose Adams hatte sie mit einem Genossen hierher gerudert und betrachtete mit Neugier die Kommenden, da Maubridge ihm mitgeteilt, daß sie unter ihren Angreifern in Burnabat gewesen waren.

Der Baronet, teilnahmslos für die weiteren Verhandlungen, belustigte sich mit Pistolenschießen, wobei der Deckmeister die Aufgabe hatte, die Waffen zu laden. In dem Baronet, von dessen Charakter wir noch wenig gesprochen haben, lag eine seltsame Mischung von Eigenschaften, wie sie in der britischen Nationalität häufig vorkommen. An und für sich edelherzig und warmfühlend, war er mit jener Vorliebe für das Seltsame, Ungewöhnliche ziemlich reichlich begabt, die in ihrer Ausartung ins Abgeschmackte seinen Landsleuten den Ruf der Seltsamkeit verschafft haben. Damit verband sich jedoch ein unbändiger Starrsinn, ein Eigenwille, der jede fremde Einwirkung von Außen, selbst bei der Erkenntnis des Besseren, beharrlich zurückwies, und eine Caprice, die durch Hindernisse wachgerufen, kein Mittel scheute, ihren Zweck durchzusetzen. Zu dem Allen gesellte sich jene Kälte und scheinbare Gleichgiltigkeit, die den Briten der höheren Stände durch die Erziehung eingeimpft zu werden pflegt.

Welland trat zu dem Baronet.

»Sir,« sagte er ernst, »erlauben Sie mir noch einmal, Sie daran zu erinnern, daß Ihre Handlungsweise die Ehre einer Familie trifft, deren Name und Abkunft sich sicher mit der jedes englischen Pairs messen kann. Aber sie trifft und bricht auch ein Herz, das in wahrer uneigennütziger Liebe an Ihnen zu hängen scheint, und das Sie nicht das Opfer einer Handlung werden lassen dürfen, von der wir nicht wissen, ob sie Täuschung, ob sie Wahrheit war. Diona, Ihre Gattin nach göttlichem Recht, hat mir diese Zeilen an Sie gegeben, und das Versprechen abgenommen, dieselben in Ihre Hand zu legen. Ich hätte es bereits gestern getan, wenn die Umstände es erlaubt.«

Der Baronet nahm das Blatt, erbrach und las es. Es schien nur wenige Zeilen zu enthalten, die indes einen großen Eindruck auf ihn machten. Seine hohe schöne Stirn färbte sich wieder, wie bei der ersten Begegnung auf dem Schiff, mit fliegender Röte und er wandte sich hastig zu dem Deutschen:

»Wo ist Diona, kann ich sie sehen?«

»Sie werden es erfahren, Sir, sobald Sie meinem Freunde jenes Papier ausgeliefert haben, das im Konsulat von Smyrna unterzeichnet wurde, oder uns die Erklärung auf Ihr Ehrenwort abgeben, ob Sie die Rechte Ihrer Gattin anerkennen wollen.«

Der Baronet biß sich auf die Lippen.

»Sie täuschen sich in mir und haben selbst Ihr Spiel verdorben. Diona hätte mich besser kennen sollen. Wir wollen die Sache beendigen, wegen der wir uns hierher bemüht haben, erlauben Sie nur, daß ich das Pistol entlade. Adams, auf!«

Der Deckmeister warf eine Zitrone in die Höhe, während sie in der Luft schwebte, hob der Baronet blitzschnell das Pistol und schoß. Die Frucht stob auseinander.

Welland blickte unwillig auf das prahlerische Spiel, und doch zog sich sein Herz krampfhaft zusammen bei dem Gedanken, daß das Leben des Freundes, der im vollen Recht die Ehre seiner Familie verteidigte, der sicheren Kugel des herzlosen Mannes verfallen sei.

Er wandte sich zu dem Offizier, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen.

Dies war bald geschehen, man wählte ein Paar Schiffspistolen und maß die Entfernung, und zwar fünfzehn Schritt. Jeder sollte das Recht haben, nach Belieben zu schießen.

Als Welland den Freund an seine Stelle geleitete, drückte dieser ihm herzlich die Hand.

»Sollte der Himmel gegen mich sein und mir ein Unglück passieren, so werden Sie Diona nicht verlassen und sofort an meine Brüder nach Athen schreiben. Die Adressen kennen Sie, und nun mit Gott!«

Maubridge fixierte ruhig den Griechen, als wäre er seines Sieges gewiß. Der Leutnant gab das Zeichen, einige Schritte ging Caraiskakis vor, dann schoß er.

Schiffspistolen sind eine unzuverlässige Waffe. Die wohlgezielte Kugel streifte den linken Ärmel des Baronet und einige Blutstropfen quollen aus dem Rock.

»Schade um den Schuß!« sagte der Brite spöttisch. »Jetzt ist die Reihe an mir, doch zuvor hören Sie einige Worte.«

Gregor stand finster vor sich hinblickend da; er antwortete nicht.

»Wollen Sie mir den Aufenthalt Ihrer Schwester nennen und mich das Weitere mit ihr allein verhandeln lassen?«

»Nein!«

»Überlegen Sie wohl, ich lasse mir nicht trotzen, und schulde Ihnen die Revanche für Burnabat.«

»Schießen Sie, Sir! Wenn ich zehn Leben hätte, würde ich sie an Ihre Verfolgung setzen und nicht von Ihrer Spur weichen.«

»Dann müssen wir freilich etwas tun, Sie daran zu hindern.«

Das Pistol hob sich rasch, ein Blitz zuckte, ein Knall, und Caraiskakis drehte sich um sich selbst, ehe er fiel.

»Sie haben ihn ermordet!«

»Keineswegs, ich müßte denn so schlecht schießen, wie mein Gegner. Richten Sie ihn auf, die Kugel sitzt in der linken Hüfte und wird Ihren Freund wohl zwei Monate von meinem Wege abhalten. Das genügt.«

Welland beschäftigte sich mit dem Verwundeten und fand es, wie der Baron in seiner kalten Ruhe gesagt. Er öffnete dem Freund die Kleider und legte einen vorläufigen Verband an.

Gregor kam dabei wieder zu sich und schaute ihm fragend ins Gesicht.

»Beruhigen Sie sich, ich stehe Ihnen für die Kur mit aller meiner Kunst.«

Maubridge trat heran.

»Es tut mir leid um Sie, aber Sie zwangen mich. Wollen Sie jetzt – wo Sie selbst der Hilfe bedürfen, meine Bitte erfüllen und mir den Aufenthalt Ihrer Schwester nennen?«

Caraiskakis machte eine heftige abwehrende Bewegung.

»Sir, stören Sie meinen Freund nicht, der Verband kann leicht aufbrechen und der neue Blutverlust würde ihm schaden.«

»Kann ich sonst Etwas für Sie tun? Mein Boot steht zu Ihrer Disposition.«

Eine abwehrende Bewegung.

»So leben Sie wohl und warnen Sie Ihren Freund, sich nicht in meinen Weg zu drängen. Kommen Sie, Malcolm.«

Er verbeugte sich höflich und ging nach dem Boot, in dem Beide den Fluß eine Strecke weit hinabfuhren. Adams, der alte Matrose, ruderte sie mit seinem Gefährten stillschweigend fort.

Maubridge saß in Gedanken, den Kopf in die Hand gestützt.

Endlich schaute er auf.

»Nun, Alter, Du hast nicht einmal ein Wort für mich, daß ich so gut davongekommen? Ist das Deine alte Anhänglichkeit?«

Der Seemann schüttelte den Kopf.

»Ich habe Sie gekannt, als Sie ein Bürschchen, lange nicht so groß wie ihr Bruder waren. Aber schon damals waren sie ein störrisches Blut. Was haben Sie nun davon, den Bruder niederzuschießen, nachdem Sie die Schwester unglücklich gemacht? Sie wissen selbst, daß er in seinem vollem Rechte war.«

Der Baronet zog die Stirne zusammen und legte seine Hand auf die Schulter des Matrosen.

»Du bist ein Thor und kennst mich noch eben so wenig, wie alle Anderen. Aber einen Dienst mußt Du mir dennoch erzeigen. Rudert hinter jenen Felsenvorsprung und laßt uns dort aussteigen. Wir werden den Weg über das Land zu Fuß machen.«

Das Boot schoß in das Versteck. Als eine Viertelstunde darauf der Kaik vorüberfuhr, der den Verwundeten und seinen besorgten Freund trug, folgte das Boot des Kriegsschiffes ihm unbemerkt in einiger Entfernung die Küste entlang bis nach Dardanelli.

Hier hatten die Drei im Hause eines griechischen Kaufmannes ein Unterkommen gefunden, der mit der Familie Grivas verwandt war. Diona warf sich wehklagend auf den Bruder und benetzte ihn mit ihren Tränen. Nur schwer vermochte sie Welland durch die Versicherung zu beruhigen, daß keinerlei Gefahr vorhanden sei.

Beide teilten sich nun in die Pflege des Bruders, doch war es Welland auffallend, daß die Griechin von Tag zu Tag schwermütiger wurde, und in sich versunken, den Zustand des Kranken wenig beachtete. Ja, er traf sie einmal, als sie weinend und aufgeregt ein Papier las, das sie bei seinem Eintreten eilig verbarg.

Er wollte den Freund nicht beunruhigen, dessen Genesung, nachdem die Kugel aus dem Knochen geholt worden, langsam fortschritt, und schwieg deshalb.

Seine Briefe hatte er zum Teil nach Konstantinopel vorausgeschickt.

Zwei Wochen waren vergangen, als ihm plötzlich von dort ein Fremder, der mit einem Dampfschiff gekommen, ein Schreiben brachte. Es enthielt nur wenige Worte, aber mit dem geheimnisvollen Zeichen, dessen Untertan er war.

Der Brief befahl ihm, mit dem ersten abgehenden Dampfschiffe in Konstantinopel einzutreffen und machte ihm Vorwürfe wegen seiner Versäumnis. Welland empfand selbst, daß längeres Verweilen in Dardanelli zwecklos war, und nachdem er sich mit dem Freunde besprochen, für diesen den Schutz des französischen Konsuls und des Kapitäns der »Veloce« gewonnen, schied er von den Geschwistern. Sobald Gregor ganz hergestellt war, wollte er ihm nach Konstantinopel folgen. –

Drei Tage darauf war Diona spurlos verschwunden. Caraiskakis, noch an das Lager gefesselt, bot vergeblich alles Mögliche auf, sie zu entdecken. Selbst das Einschreiten der französischen Offiziere hatte keinen Erfolg, denn Kapitän Warburne wies nach, daß sein Gast bereits lange vor des Doktors Abreise sein Schiff verlassen hatte.

Die Ungeduld, der bittere Ärger verschlimmerten aufs Neue den Zustand Gregors und fesselten ihn ans Krankenlager, so daß er nicht einmal dem Freunde Nachricht zu geben vermochte.


Guckkastenbilder.

I. Berlin.

Die Madrilena rauschte; Sie warf das süße, entzückende Bein dem Publikum entgegen, das in Logen und Parquet, auf Galerie und Proscenium in einen gelinden Wahnsinn geriet, sich im »Bravo« heiser schrie und sich die Hände wund klatschte, während Blumen in Masse rechts und links aus den Theaterlogen flogen.

Die Kammerfrau sprang zu, den weichen, warmen Hermelin um die Schultern der Tänzerin zu hängen.

»Die Blumen! Die Blumen!« sagte sie hastig; »rechts das Bouquet!« Dann floh sie in ihre Garderobe.

Bald darauf erschien die Duenna mit den Blumen. Die Sennora, ehe sie sich noch ihres Kostüms entledigte, fiel sogleich über dieselben her und riß die zierlichen Bouquets auseinander, daß die Blüten umherflogen.

»Wieder Täuschung!« sagte sie, ärgerlich mit dem Fuße stampfend; »ich sah ihn doch in der Proszeniumsloge und bemerkte ausdrücklich, wie er mir das Bukett warf. O, diese Männer.«

»Es war unvorsichtig von Dir, Kind, daß Du die zweihundert Taler beim Juwelier darauf zahltest. Ich warnte Dich gleich.«

»Bah! Das verstehst Du nicht. Diese Männer in ihrem kalten, eisigen Lande sind bloße Zahlen, sie rechnen bei der Liebe; es ist nicht wie bei uns, wo der Caballero sein Letztes opfert für das Vergnügen seiner Geliebten. Fünfhundert Taler wären ihm gewiß zu viel gewesen, so zahlte ich dem Juwelier zweihundert im Voraus.«

»Es ist aber nun bereits zwei Tage her, daß er den Schmuck gekauft hat.«

»Und seitdem ließ er sich nicht sehen. – Höre, ich muß sehen, wer die Dame ist, die mit ihm in der Loge war. Sie hatte den Schirm vorgezogen, so daß ich sie nicht genau erkennen konnte. Geh' auf die Bühne und frage, Sennor Asher kennt ja alle Welt. Ich werde mich allein entkleiden.«

Die Dienerin, von der Ungeduldigen fortgetrieben, verschwand. Ehe der neue Akt begann, kehrte sie zurück; das schlaue Gesicht verriet eine eigentümliche Verlegenheit.

»Nun, bringst Du Nachricht?«

»Es ist seine Frau, Sennora!«

» Diantre! – Dann konnte er nicht. Was hast Du noch? Ich sehe Dir's an. Sprich!«

»War der Schmuck nicht von Smaragden? Ohrgehänge in Glockenform und eine Broche in Perlen?«

»Ja, ja! Was soll's? Du sahst ihn ja!«

»Dann, mein Kind, trägt die Dame selbst den Schmuck.«

Die Tänzerin fuhr empor, als hätte sie eine Natter gestochen.

Sie warf einen langen Mantel über das noch nicht befestigte Kleid und sprang aus der Garderobe. Der Inspizient hatte bereits das Zeichen zur Räumung der Bühne gegeben.

»Monsieur Asher!«

Der Regisseur mit seiner bekannten Koulanz gegen die Damenwelt flog herbei.

»Einen Augenblick, ich bitte Sie.«

Sie war schon vorn am Vorhang und schaute eine Minute lang durch das Guckloch nach der Proszeniumsloge rechts.

»Es ist gut. Lassen Sie vorfahren, ich will nach Hause.«

Hinter ihr rauschte der Vorhang in die Höhe. Das launische Publikum, das eben noch dem Aufgebot alles Anmutigen im Sinnenreiz enthusiastisch gehuldigt, jubelte jetzt schon eben so laut der unübertrefflich trockenen und doch so gemütlichen Komik seines Lieblings zu, der zuerst verstanden hat, der Schärfe des Berliner Witzes ein doch lokales Gewand von Humor umzuhängen.

»Sennora haben heute wieder ausgezeichnete Triumphe gefeiert; es war ein kostbarer Abend.«

» Vous vous trompez, Monsieur! Non précieux, mais dispendieux. – Bon soir!«

Der Wagen rollte davon. –

Im Hotel Unter den Linden sprangen die wohlgeschulten Kellner mit den Armleuchtern voran die Treppe hinauf zu den drei eleganten Gemächern, die die Sennora bewohnte.

»Befehlen die gnädige Frau zu soupieren?«

»Nein! – Thee!«

»Ein Herr wartet schon seit längerer Zeit auf die gnädige Frau und bittet um die Erlaubnis, noch seine Aufwartung machen zu dürfen.«

»Ich empfange Niemand, wenn ich getanzt. Morgen.«

»Dann soll ich die Ehre haben, der gnädigen Frau dieses Billet zu übergeben.«

In ihrem Boudoir warf die Tänzerin erschöpft Mantel und Capuchon von sich und setzte sich auf das Sopha.

»Willst Du den Brief nicht wenigstens öffnen?«

»Gib! Eine gewöhnliche Karte; diese Herren glauben, es bedürfe nur ihres Namens, der so steif und unbeholfen klingt, daß man ihn nicht aussprechen kann.«

Sie hatte das Kouvert dabei erbrochen, – es lag allerdings nur eine einfache Karte darin, aber ein Blick darauf hatte sie schnell aufmerksam gemacht und sie zog den silbernen Leuchter herbei, um genauer darauf zu sehen.

» Vraiment! Da hätte ich bald eine Dummheit begangen. Geschwind, Ines, schelle!«

Der Kellner erschien.

»Ist der Herr noch unten?«

»Jawohl, gnädige Frau.«

»Ich ließe ihn bitten, in den Salon zu treten. Bestellen Sie ein Souper zu drei Personen und servieren Sie dann zwei Kouverts …«

Die Sennora warf sich mit Hilfe der Kammerfrau schnell in eine dunkle spanische Robe, ordnete einige Augenblicke das noch mit Blumen geschmückte Haar und warf die Spitzenmantille kokett um den schönen Nacken, dann trat sie in den anstoßenden Salon.

Der Herr erwartete sie bereits hier, eine nicht große, feste Gestalt, tief in den Dreißigern, von militärischer Haltung und etwas brüskem Wesen, das großes Selbstvertrauen verriet.

Ein starker, wohlgepflegter Bart füllte und umgab den unteren Teil des Gesichtes, in den grauen Augen blitzte eine gewisse kalte Energie und Selbstsucht.

Der Fremde trug elegante Zivilkleidung, im Knopfloch das schleswig-holsteinische Kreuz.

»Herr Major von …?«

»Ich habe die Ehre, mich als dieser vorzustellen, Madame. Entschuldigen Sie meinen späten Besuch; doch ich war gestern bereits zwei Mal hier, ohne das Vergnügen zu haben, die Sennora antreffen zu können. Madame sind von der hiesigen kunstliebenden Welt so in Anspruch genommen, daß gewiß jeder Ihrer Augenblicke besetzt ist, und ich freute mich, im Hotel zu hören, daß Sie für heute Abend keine Einladung angenommen.«

»Ach ja, ich darf über meine Aufnahme in Berlin nicht klagen, man fetiert mich und ich habe zahlreiche Freunde gefunden.«

»Leider nur nicht in den Kreisen, in denen man es wünschte. Ihr erstes Auftreten, Madame, gab den Ausschlag. Sie haben einen großen Kreis von Verehrern, aber in einer anderen Sphäre, als in welcher Diejenigen hofften, – von denen Sie wissen.«

Die Spanierin errötete leicht und beugte zustimmend den Kopf.

»Aber es ist nicht meine Schuld; man ist hier so prüde, und ich glaubte, wenigstens das Feld behaupten zu müssen, Herr Major.«

»Sie haben auch vollkommen recht gehandelt Madame. Man hatte nur ein falsches Kalkül gemacht, man kennt und würdigt Berlin zu wenig. Die norddeutsche Aristokratie, die preußische Armee sind anderer Natur, als man gehofft hat, ich widersprach sogleich, aber man wollte den Versuch doch machen. Das preußische Offizier-Korps, die Armee insbesondere, ist ein in sich abgeschlossenes Ganze, dessen einzelne Glieder keine Individualitäten bilden, den Leidenschaften und der Verführung offen. Hier ist zu sehr die Person vom Soldaten getrennt. Der junge Mann kann vielleicht Fehler und Torheiten begehen, und es kommen davon genug vor, aber dieselben werden nie auf den militärischen Geist Einfluß haben. Da kann nicht eine gewöhnliche sinnliche Verlockung Bresche machen in die Phalanx, sondern nur eine große, anregende, verführende Idee, welche Spaltung in den Gemütern und Ansichten hervorbringt. In dieser Beziehung sind bereits die nötigen Vorschläge gemacht.«

»Ich verstehe Sie nicht, mein Herr, – es fehlt doch nicht an Offizieren und vornehmen Herren unter meinen Verehrern.«

»Ich weiß, ich weiß! Aber das ist nichts, junge Elegants, die der Mode huldigen und das Extravagante lieben, aber nie Ihnen Einfluß auf ihre blinden Gesinnungen gestatten werden. Auch die nordische Aristokratie ist zu exklusiv für solche persönlichen Verführungen. Der jüngere Teil gehört ohnehin größtenteils dem Militärstande, und die Älteren, die von Bedeutung sind, haben eine Tradition und viel zu kaltes Blut, um einer Tänzerin zu Füßen zu liegen. Die Verhältnisse selbst haben Sie, Madame, auf den Boden geführt, wo allein Sie in Berlin glänzen und herrschen können, zu unserer blasierten Finanzwelt, der Eitelkeit der Börse und dem Enthusiasmus des pflastertretenden Rentiers.«

»Sennor, ich begreife nicht …«

»Seien Sie nicht böse, ich will Ihnen keineswegs Ihre Triumphe schmälern. Sie sind das Entzücken aller wichtigen Leute, die in Berlin den Ton angeben. Die süßen Formen, diese nie geschauten Hüftenkünste verzücken eine Klasse, die in Berlin allmächtig geworden ist, ich meine das vergoldete und vergesellschaftete Judentum. Aber das gehört ohnehin zum Liberalismus und zur Opposition, so lange es keine Opfer und Gefahr gilt. Sind Sie nicht auch das Entzücken der Kritik, so weit es eine solche in Berlin gibt? Freilich ist das, mit wenigen isolierten Ausnahmen, die jämmerlichste Gesellschaft, die existieren kann, und jedes Anspruchs auf Beachtung bar. Aber alle diese Triumphe Madame, so schmeichelhaft und angenehm sie für Sie sind, nützen unseren Zwecken nichts und werden – so viel ich diesen Enthusiasmus veranschlagen kann – auch nur schlecht Ihre Kasse und Ihre Toilette füllen.«

Die Spanierin zuckte verächtlich mit dem Munde.

»Ich habe mir allerdings Anderes von Berlin vorgestellt. Bouquets! Bouquets! Denken Sie, daß neulich ein – vornehmer Herr sich zum Souper einlud und für sein Couvert einen Fünfzigthalerschein zurückließ!«

Sie gedachte der Niederlage, die sie noch am Abend erlitten.

»Ich kenne die Berliner Renommagen, man verschwendet hier nur mit Worten. Wenn ich Ihnen raten darf, gehen Sie nach Wien, nach Prag, nach Pest, da ist ein glücklicherer Boden, als die norddeutschen Residenzen. Freilich haben sich seit Achtundvierzig dort auch die Verhältnisse geändert, aber es ist noch immer reiche Empfänglichkeit da von oben herab. So tapfer die Armee ist, so ist sie doch aus so vielen Ingredienzien zusammengesetzt, um in den Personen nicht zugänglich zu sein. Es gibt unabhängig von ihr einen lebenslustigen Adel. Sie werden, wo Sie hier Verehrung und Huldigung fanden, dort Begeisterung und Aufopferung haben und Männer finden, die Leidenschaft genug besitzen, sich zu ruinieren. Ihr Ruf ist jetzt begründet und Ihnen vorangegangen.«

Die Tänzerin wiegte schlau das Haupt.

»Ich habe bereits meinen Agenten Auftrag gegeben, für mich in Wien und Pest abzuschließen. In acht Tagen trete ich auf.«

»Ah, schön! Ich sehe, wir verstehen uns. Ich werde dafür sorgen, daß Sie in Wien Empfehlungen vorfinden, die Ihnen mehr nützen, als die hiesigen. A propos! Sie zählen doch noch hier zu Ihren Verehrern den jungen Baron H… und Herrn von M…?«

»Die Herren machten mir ihren Besuch und sind alle Abend im Theater, – aber sie sind so jung …«

»Es handelt sich nur um eine Gefälligkeit. Auch interessieren sie mich weniger als ihre Väter und Verwandten, die, wie Sie vielleicht wissen, besondere Stellungen bei Hofe haben. Ich besitze da zwei Schützlinge, zwei arme Bediente, die unverschuldet außer Brot gekommen sind und neue Kondition in vornehmen Häusern suchen. In den Familien der gedachten Herren sollen nun zwei Dienststellen vakant sein; Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie meine Schützlinge wie zufällig Ihren Verehrern, Jedem einen, empfehlen wollten.«

Der Major hatte seinen Wunsch mit möglichster Leichtigkeit hingeworfen, der schlauen Tänzerin jedoch entging es nicht, daß das gerade die Pointe seines Besuches war, und um sich für die früheren kleinen Zweifel in die Macht ihrer Reize zu rächen, schaute sie ihm fest ins Gesicht und fragte:

»Ist dies ein Auftrag der unbekannten Beschützer, denen ich zu gehorchen habe, Sennor?«

Der Major biß sich auf die Lippen.

»Sie haben aus dem Zeichen meiner Karte gesehen, daß ich nicht aus Galanterie Ihnen meinen Besuch mache, Madame; weiter wird mir dies in Ihren Augen Vollmacht geben« – er nahm aus seiner Brieftasche ein feines schwarzes Kreuz von jener Form, die wir bereits mehrfach erwähnt haben, mit fünf Silberstiften geziert – »und ich bitte Sie daher, das, was ich Ihnen vorhin in Bezug auf Wien und Pest sagte, als aus gleicher Quelle kommend anzusehen. In Betreff der beiden Diener werden Sie die Empfehlung so wie zufällig bei den bezeichneten Herren anbringen; Sie werden sagen, diese Leute wären dienstlos, Sie hätten im Hotel davon sprechen hören und dieselben hätten bei Ihnen in Dienst treten wollen, oder was Ihnen Ihr Witz sonst eingibt. Morgen früh werden sich beide Diener bei Ihnen vorstellen; mit guten Attesten sind sie reichlich versehen, so daß sie Ihrer Empfehlung Ehre machen werden. Und nun, Madame, erlauben Sie mir, Ihnen das Vergnügen auszudrücken, bei dieser Gelegenheit die persönliche Bekanntschaft der gefeierten Schönheit des Tages gemacht zu haben und mich Ihnen zu empfehlen.«

»Wie Sennor, Sie wollen schon fort? Ich hoffte, Sie würden mir die Ehre erzeigen, mit mir zu soupieren.«

»Ich weiß das Glück zu schätzen, Madame, aber meine Geschäfte nehmen mich noch in Anspruch. Ich hoffe, Sie wiederzusehen, ist es nicht hier, doch später an einem anderen Ort Ihrer Triumphe. Leben Sie wohl, Sennora.«

Er empfahl sich, und während die schöne Spanierin sich nachsinnend in die Ecke ihres Sofas kauerte, schritt er rasch die Linden entlang, unter denen noch reges, fröhliches Leben herrschte, nach dem Brandenburger Tore zu. –

Nachdem der Major seinen Weg durch verschiedene Straßen und Hintergassen genommen, kreuz und quer, wie, als wolle er jeder Beobachtung entgehen, blieb er vor einer niederen Gartenmauer stehen, zog einen Schlüssel hervor und öffnete die schlecht verwahrte Hintertür. Dann schritt er durch die hohen Laubgänge und Parkanlagen bis in die Mitte des Vorderhauses, eines mächtigen, stolzen Gebäudes, das sich vor ihm in der Nachtluft erhob. Aus dem großen Fenster des ersten Stockwerks im Seitenflügel, dem einzigen, das nach dem Garten heraussah, schimmerte durch die Gardinen ein ruhiges Licht. Nach aufmerksamem Umherlauschen und Schauen pfiff der Major leise aber scharf einige Takte und sogleich erschien der Schatten einer weiblichen Gestalt an dem offenen Fenster; die Vorhänge wurden fortgezogen und eine Dame lehnte sich heraus.

»Bist Du es, Ferdinand? Ist alles sicher?«

»Wenn Du oben unbehindert bist, so komm.«

Einige Augenblicke darauf verschwand das Licht, aus dem Fenster rollte, die dunkle Epheubekleidung der Mauer entlang, eine kurze Strickleiter von schwarzer Seide herunter, und die Dame schwang sich kühn und mit der Sicherheit der Gewohnheit über die Fensterbrüstung und stieg auf den schwanken Schlingen hinunter, wo sie der Erwartende in seinen Armen auffing und mit einem Kuß begrüßte.

»Ich glaubte schon, Du würdest nicht kommen, Ferdinand,« sagte die junge Dame, eine hohe, schlanke Figur im dunklen Capuchon und in ein weites, kostbares Shawltuch gehüllt; »es war so spät und ich hatte mich längst freigemacht.«

»Es ist elf Uhr vorbei, Marie, und ich habe Dir schon oft gesagt, daß die frühe Stunde uns leicht verderblich werden kann. Überdies hatte ich dringende Abhaltung. Doch nun komm'.«

Er verbarg vorsichtig das Ende der Strickleiter in den Epheuranken und führte dann die Dame, die sich zärtlich an ihn schmiegte, weiter hinein in die dunklen Bosquets des Gartens bis zu einer Bank unter hohen Ulmen und Kastanien, wo er sie niedersetzen ließ.

»Werden wir heute nicht zu unserm kleinen Engel gehen, Du versprachst es mir doch das letzte Mal, Ferdinand?«

»Du sollst ihn sehen, gewiß, Marie, aber ich wiederhole Dir, es ist noch zu früh, die Straßen sind noch zu belebt. Überdies habe ich Einiges mit Dir zu sprechen. Höre mich ruhig an, ich bitte Dich, Marie.«

Sie setzte sich dicht an ihn, Hand in Hand, den anderen Arm um ihn geschlungen und blickte ihm zärtlich in das harte, stolze Auge.

»Du weißt, Marie, und wir haben es hundert Mal besprochen, daß unter den jetzigen Verhältnissen keine Aussicht und Hoffnung für uns ist. Das Glück hat uns besonders wohl gewollt, daß wir vor dem Auge Deines Vaters und Bruders Deine Schwangerschaft zu verbergen vermochten, ihre häufige Abwesenheit und Dein Aufenthalt auf dem Land halfen uns dazu. Du verlangtest, daß das Kind in Deine Nähe komme, und es ist geschehen. Aber was soll weiter werden? Du weißt, daß ich nicht einmal Zutritt in Deiner stolzen Familie habe, meiner offen ausgesprochenen Ansichten und meines Bruches mit dem Herzog wegen.«

»Hast Du nicht meine Liebe, Ferdinand? Warum auch bist Du, der doch selbst von Adel, ein solcher Gegner aller seiner Rechte und Interessen, ein Verteidiger des Pöbels und seiner Zügellosigkeit? Mein Gott, wie kannst Du mit solchen Leuten umgehen, die auf zehn Schritt nach dem Handwerk riechen, zu dem sie geboren sind?«

Der Major schien widrig berührt.

»Laß uns nicht mehr streiten, Marie, über Dinge, über die wir uns doch nie einigen werden. Es ist leider eine traurige Wahrheit, daß die Lektion von Achtundvierzig und Neunundvierzig in Berlin nur dazu genutzt hat, den Adel vorsichtiger im Äußeren, aber desto exklusiver und hochmütiger unter sich zu machen, und im Bürgerstand die Zahl der Heuchler zu vermehren. Gehe hin und frage, welcher Dank denn den sogenannten Getreuen geworden ist, und ob sie nicht überall zurückgedrängt sind von der spekulativen Geheimratsdemokratie? – Männern wie ich kann man freilich die beiden Jahre nicht vergessen und ich will sie auch nicht vergessen haben, denn sie sind das Feld meiner und unser aller Zukunft. Aber diese untergeordnete Lage, die Untätigkeit ertrage ich nicht länger. Die Wogen der Zeit brausen vom Sturm bewegt und ein kühner Pilot kann da sein Schiff ans Ziel steuern. Den Mann ohne Dienst und Ruf würden die Deinen mit Hohn zurückweisen; dem General, dem Mann von Macht und Bedeutung, wird die stolzeste Familie dieses Preußens, das vielleicht an der Schwelle seiner bittersten Demütigung steht, Frau und Kind nicht zu verweigern wagen.«

»Was sinnst Du, Ferdinand, was beabsichtigst Du?«

»Laß das, frage mich nicht; ehe ein halbes Jahr vergeht, wirst Du wissen, was ich meine. Diesen Winter noch bleibe ich in Berlin, das Frühjahr schon führt mich zu einem meiner Kraft entsprechenden Wirkungskreis. Ich wollte Dich überhaupt nur auf die Trennung vorbereiten, da sie möglicherweise über Nacht kommen kann. Doch es ist Zeit jetzt, daß wir aufbrechen, die Straßen sind ruhig, komm'.«

Er hüllte sie sorgsam in das weite Tuch und führte sie durch das Pförtchen aus dem Garten. Durch die einsamen Wege an den Stadtmauern entlang und den Tiergarten gelangten sie in die neuen Stadtteile jenseits der Spree, nach dem Neuen und Oranienburger Tor hin. Hier in einer der Querstraßen blieben sie vor einem ansehnlichen Hause stehen, und der Major klopfte an ein Fenster des Kellergeschosses, in dem alles dunkel und still war. Aber er klopfte lange vergeblich. Nichts rührte sich, nur ein heiserer Kinderhusten und ein stilles Weinen drang von Zeit zu Zeit hervor und erfüllte jedesmal die Dame mit Schauern.

»Mut, Marie, Du mußt einige Augenblicke hier verweilen, das Weib ist offenbar nicht zu Hause; aber ich weiß, wo sie zu finden ist. Stelle Dich hier in den Schatten des Türvorsprungs, gleich bin ich wieder bei Dir.«

»Kann ich Dich nicht besser begleiten?«

»Nein,« sagte er hart, »das ist nichts für Dich!«

Im Grunde war es freundlich von ihm gemeint; er wollte der Armen einen ihr Mutterherz mit den bängsten Besorgnissen erfüllenden Anblick ersparen. Er verließ sie darum rasch und ging um die Ecke und rasch eine Querstraße entlang, bis ihm aus dem Souterrain eines kleinen Hauses ein wüstes Lärmen, untermischt mit den Tönen einer Ziehharmonika und einer kratzenden Geige entgegenklang, die eine beliebte Polka spielten.

In der Nähe fand der Major den Nachtwächter auf einer Türschwelle sitzen und nach der Musik hinhorchen.

»Da geht's lustig her, Herr; das Volk wird Einen bis zum Morgen in Atem halten!«

»Wollt Ihr ein Trinkgeld verdienen, Mann?«

»Warum das nicht, Herr? Der Magistrat bezahlt ohnehin knapp, und hier hat jedermann seinen Hausschlüssel.«

»So seht nach, ob in jener Kneipe sich eine Frau Müllendorfer befindet aus der …straße, und bittet sie, einen Augenblick herauszukommen, ich weiß, sie geht häufig hierher.«

»Ach, die Engelmacherin? Versteht sich ist die drinnen. Die ist Stammgast.«

»Wie nennt Ihr sie?«

»Nun, die Engelmacherin, Herr. Ins Gesicht mag ich sie freilich nicht so nennen, denn das Weibstück hat eine gottvergessene Zunge; aber das ganze Viertel kennt sie unter dem Namen und der Himmel weiß es, ich glaube, sie verdient ihn. Die Charité da drüben liefert im Vergleich nicht so viel Leichen zum Gottesacker als die Müllendorfer; aber die Kinderhecke bei ihr wird nicht leer.«

Der Major schauderte und winkte stillschweigend den Wächter hinunter. Dieser ging und als bald darauf der Tanz aufhörte, öffnete sich die Kellertür und ein großes Frauenzimmer keuchte die Stufen herauf und schaute sich mit einigen lästerlichen Redensarten um, wer sie um diese Zeit wohl in ihrem Vergnügen störe.

Es war, wie erwähnt, eine Frau von großer, ziemlich robuster Statur und wohlgenährt, etwa vierzig Jahre alt. Unter der schiefsitzenden Tüllhaube mit hochrotem, fliegendem Bande hing das Haar unordentlich umher, überhaupt hatte der ganze Anzug ein wüstes, zerzaustes Ansehen. Dieser Charakter sprach sich auch in dem Gesicht des Weibes aus, das gemein und sinnlich, vom Tanz und von starken Getränken erhitzt, eine fast kupferne Farbe zeigte.

»Tausend Schwerenot, wat is denn det für eene Jeschichte, det man nich 'n Mal in der Nacht sein bißken Vergnügen haben kann!« sagte das Weib in niederem Dialekt, sich von der Stirn den Schweiß trocknend, »schreien die verfl… Beesters schon wieder, daß die Nachbarschaft rebellersch wird? – Na wart't, ick will sie …«

Die ernste Stimme des Majors unterbrach ihr widriges Keifen.

»Ich wollte Sie auf einen Augenblick sprechen, Frau Müllendorfer. Es ist eine Dame bei mir, die Ihr Pflegekind zu sehen wünscht, und wir haben nur spät am Abend Zeit, darum ließ ich Sie von dem Ort herausrufen, wo Sie mir selbst sagten, daß ich Sie in solchen Fällen finden würde.«

Das Weib erkannte den Redner schnell und änderte im Nu ihr Benehmen in eine kriechende Freundlichkeit um, die um so widerlicher war, als sie dazwischen nicht ganz den Rausch zu verbergen vermochte, der sie bereits erfaßt hatte.

»Ach, der gnädige Herr,« sagte sie mit einem tiefen Knix. »Bitte recht sehr, ick stehe jleich zu Diensten. Glauben Sie ja nich, daß ich den Engel darum vernachlässigt hätte, i Gott bewahre, der liegt gut ingepackt in seiner Wiege, ganz aparte von den anderen. Sie wissen, gnädiger Herr, unsereins muß doch auch manchmal een Vergnügen haben, wenn man so kümmerlich sich durch die Welt schlägt, und die lange Guste, meine Nichte, hält heute Hochzeit, det S… hat richtig noch Eenen erwischt.«

So schwatzend, lief sie mit manchem Fehltritt neben dem Herrn her bis zu ihrer Wohnung, wo der Major die zitternde Geliebte aus ihrem Versteck holte und an seinen Arm nahm.

»Vorsicht, Marie, ich bitte Dich, und halte Dein Gesicht verhüllt. Du trägst doch den Schleier unter dem Capuchon?«

Sie preßte, in Aufregung zitternd, bejahend seinen Arm.

»Gleich, gnädige Frau, gleich sollen Sie das allerliebste Krabbelchen sehen. Kommen Sie nur mich nach ich will gleich Licht machen.«

Die Frau hatte die Haustür aufgeschlossen und zog das Paar in den dunklen Flur, von wo ein zweiter Eingang zu ihrer Kellerwohnung hinunterging. Nach einigem Umhertappen und mehreren halbleisen Verwünschungen, gelang es ihr, Licht zu machen. Der Major und die junge Dame befanden sich in einem Keller, dessen vorderer Raum zum Grünkram- und Gemüseladen diente. Fässer, Bütten und Körbe standen in wüster Unordnung umher, im Hintergrund einige zerbrochene Möbel und ein großer Waschkorb, aus dem jenes Husten und Wimmern herkam. Die Dame wollte unwillkürlich dahin, doch das Weib trat ihr mit der angezündeten Öllampe in den Weg.

»Oh, nich dahin, gnädiges Madamken, det is nur een armes Balg, die Mutter is een Dienstmädchen, die sich gleich wieder vermieten mußte. Es hat een Bisken die Masern und wenn das kleene Jeschöpf druf geht, na, lieber Gott, is es keen so großes Unglücke. Ick kriege bloß anderthalb Thaler für den Wurm alle Monate und da is freilich nich viel zu machen.«

»Mein Kind! Mein Kind!«

»Seien Sie ganz ruhig, Gnädige, darum hab ick eben des Wurm hier abgesperrt, deß es mir die anderen nich ansticht. Kommen Sie hier herein – stoßen Sie sich nich!«

Sie öffnete eine Seitentür, die zu einer niedrigen, aber ziemlich geräumigen Kellerstube führte, ganz im Geschmack dieser Klasse aufgeputzt. An der gegenüberliegenden Wand stand ein großes, breites Himmelbett, in dem ein etwa elfjähriges Mädchen schlafend lag, die Tochter der Frau. Rechts zwischen den Fenstern die Kommode mit den Gläsern und Kaffeetassen, an der Hinterwand der Kleiderschrank und ein großer, bequemer und weichgepolsterter Sorgenstuhl vor dem Tisch. In der Ecke hinter der Tür endlich war eine Art von Pritsche oder kurzem, breitem Bett, mit alten Decken, einigen schlechten Bettstücken und dergleichen gefüllt, und hier lagen, als der Lichtschein darauf fiel, nicht weniger als fünf Kinder von dem zartesten Alter von kaum einigen Wochen an bis zu etwa drei bis vier Jahren; dürftige kleine Gesichtchen, denen das Elend und Mangel an wahrer Pflege aus den hohlen Augen und den mageren, nackten Gliederchen sah, als der Schein des Lichtes, das ihre Versorgerin jetzt angezündet auf den Tisch gestellt hatte, durch die Schatten des niederen, dumpfen und ungesunden Gemaches auf sie fiel.

Neben dem Himmelbett an der Wand stand eine Wiege von Kiefernholz, rotbraun gebeizt, deren Betten von etwas reinlicherem Ansehen waren, als das allgemeine Lager der unglücklichen Früchte leichtsinniger Stunden oder trauriger Verhältnisse. Ein Rohrgeflecht, mit alter Leinwand überzogen, überspannte das Kopfende der Wiege.

Auf diese, vom mütterlichen Instinkt getrieben, stürzte die junge Dame zu und warf sich vor ihr auf die Kniee. Ein junges, etwa fünf Monate altes Kind mit einem Engelgesichtchen lag schlafend darin. Der Major war ihr gefolgt, auch das Weib mit der Lampe, deren Schein sie mit der Hand verhüllte, während sie ihn in gemeiner Neugier immer so zu wenden suchte, daß er das Gesicht der durch Kapuze und Schleier Verhüllten treffen sollte. –


Trotz aller Vorsicht der Obrigkeit, trotz aller privaten Wohltätigkeit und Menschenliebe, sind bei den gegenwärtigen Einrichtungen in Betreff der Aufziehung verlassener und hilfsbedürftiger Säuglinge und Kinder Scheußlichkeiten in Menge vorgekommen und kommen noch vor, die das Blut im Herzen erstarren machen!

Es ist bekannt in ganz Berlin, daß es unter den Frauen, die aus der Aufnahme dieser Kinder ein Gewerbe machen, viele gab, die den Namen » Engelmacherin« allgemein führten, weil die Kinder, die ihnen übergeben wurden, nach kurzer Zeit zu Engeln wurden, das heißt, starben.

Man konnte mit positiver Gewißheit darauf rechnen, daß binnen kurzer Zeit die Kleinen tot waren.

Diese Weiber hatten förmlichen Ruf da, wo man sich eines unglücklichen Kindes entledigen wollte.

Sollen wir zur Schmach der menschlichen Gesellschaft glauben, daß es wirklich Eltern gab, welche auf diesen Ruf spekulierten? – – – –

Wahr aber ist, daß solche Weiber jahrelang ihr schändliches Handwerk betrieben, daß sie sich jedem offiziellen Verdachte, jeder Untersuchung und Bestrafung zu entziehen wußten.

Ärzte und Sachverständige haben uns traurige Fälle in dieser Beziehung mitgeteilt. Eine einzige dieser Frauen machte in nicht vollen neun Monaten sieben »Engel«.

In neuester Zeit ist die Sache vielfach von den Ärzten wieder angeregt worden, ihr Einschreiten, ihre Denunziationen haben die Teilnahme auf's Neue darauf hingewandt und gezeigt, daß eben noch immer Entsetzliches auf diesem Gebiete zu beklagen ist.

Ein Kriminalprozeß, der ganz kürzlich wegen einer dieser Haltefrauen verhandelt worden ist, hat einen tiefen, schrecklichen Einblick in die Rohheit solcher Charaktere, in das furchtbare Elend und die entsetzlichen Qualen gewährt, denen mitunter die armen hilflosen Wesen ausgesetzt sind.

Die Kindesmörderin, welche die unglückliche Tat im Wahnsinn der Erregung, der Angst, im unzurechnungsfähigen Augenblick vollbracht, muß sie büßen mit langjähriger, schwerer Zuchthausstrafe.

Für den überlegten, langsamen Mord der Engelmacherinnen hat das Gesetz nur verhältnismäßig eine sehr geringe Strafe.

Wäre es nicht möglich, diese armen, von ihrer Geburt verstoßenen, hilflosen Geschöpfe zu schützen, ihre Mütter in eine Lage zu bringen, in der sie den begangenen Fehltritt leichter verbergen, in der sie die Existenz ihres Kindes sichern können?

Die Säuglingskrippen tun unendlich viel Gutes und sind schützende Engel für viele Kinder. Aber sie schützen meistens nur das eheliche Kind des Armen vor den Gefahren, denen es die Verhältnisse der Familie aussetzen.

Wir meinen das Findelhaus!

Warum scheut man sich in Berlin so vor diesem Wort und vor dieser offenbar menschenfreundlichen Einrichtung?

Wir haben gehört, daß bedeutende Summen und Vermächtnisse für die Gründung einer solchen Einrichtung seit vielen Jahren vorhanden sind, daß aber deren Ausführung an einer gegengefaßten Meinung noch immer gescheitert ist.

Man glaubt in der Gründung des Findelhauses eine Beförderung der Unmoralität zu sehen, die einer christlichen Regierung nicht geziemt.

Es ist dies ein tiefer und hoher Grund, und wir verkennen keineswegs seine religiöse Bedeutung, wie seine materielle Wahrheit.

Die Leichtigkeit, sich der Last des Kindes zu entledigen, wird viele dazu führen, sich der heiligen Pflicht zu entziehen.

Aber ist bei solchen Müttern das Findelhaus für die Neugeborenen nicht die Rettung?

Die hundert wohltätigen und barmherzigen Anstalten der Versorgung von Kranken, Schwachen, Greisen und Armen, die Waisenhäuser und Erziehungs-Institute für die der Eltern Beraubten – sind sie etwas anderes als Findelhäuser für die Unglücklichen und Hilfsbedürftigen?

Das Findelhaus ist die Waisenanstalt der Säuglinge!


Die Dame hob behutsam das schlafende Kind aus dem Bettchen und preßte es an ihre Brust.

»Sehen Sie nur, Gnädige, was das Kleine für Bäckchen hat, rot wie Äpfelchen. Ja, ja, die Kinder haben's bei der Müllendorfern gut. Schöne Nahrung und Reinlichkeit. Ick sage Ihnen, es geht nichts über die Reinlichkeit.«

Sie hätschelte mit widerlicher Freundlichkeit das Kind, obschon die Mutter, die sich damit auf einen Stuhl gesetzt, sich ekelnd vor dem Branntweinodem abwandte, den das Weib ausströmte.

Davon erwachte das Kind, schlug die Augen auf und fing an zu schreien. Nach wenigen Minuten antworteten im Chor die anderen, die unter den Lumpen des allgemeinen Bettes zusammengepackt lagen.

»Werdet Ihr still sein, Ihr Bälger! Wart, des is der Schreihals, die Mine das Ding, is drei Jahr und wie'n Einjähriges. Na wart' laß mich hineinkommen. – Entschuldigen Sie, Gnädige, es sind nur gewöhnlicher Leute Kinder und eene Magistrats-Waisenkrabbe. Ick werde sie aber gleich zur Ruhe bringen.«

Damit nahm sie vom Tisch eine große Saugflasche, die mit Milch gefüllt schien, und hielt sie den jüngsten Kindern vor, die begierig daran sogen und sogleich wieder in tiefen Schlaf verfielen.

Weder der Major, noch die mit ihrem Kinde zärtlich beschäftigte Dame bemerkten die Stöße und Knüffe, welche die beiden größeren der erwachten Kinder von dem Weibe erhielten und wie sie sich heimlich wieder in Schlaf weinten.

Die junge Mutter ging mit dem beruhigten Kleinen durch die Stube auf und nieder und legte es dann zurück in sein Bettchen. Zufällig fiel ihr Auge auf die Milchflasche, und ehe es noch die Frau hindern konnte, nahm sie dieselbe in die Hand, zog den Pfropfen heraus und goß einige Tropfen auf die Hand. Ein widerwärtiger Dunst quoll ihr aus der geöffneten Flasche entgegen, wie von saurer, verdorbener Milch, mit scharfem Alkohol geschwängert.

»Um Gott, Frau, was haben Sie da? Was ist das für Milch? Ferdinand ich bitte Dich!«

Der Major nahm ihr die Flasche aus der Hand und probierte einige Tropfen.

»Da ist ja Branntwein darunter, Frau!«

»Nu freilich, een Tröpfchen; was schad'ts denn? Die Kinder schlafen denn desto besser. Es ist blos für die Nachtruh'.«

»Aber Frau, Sie werden doch einem kaum entwöhnten Säugling nicht das schändliche Getränk geben?«

»I Jott bewahre, Jnädige, das is nur da für die gemeinen Krabben, die sonst gar nicht stille zu kriegen sind. Das Engelchen schläft ganz von selber und kriegt die allerfrischeste Milch, wie sie nur der Charlottenburger Milchmann früh bringt. Der Kleine könnt's bei Ihnen selber nicht so gut haben, wie bei mir.«

Die Verlegenheit des Weibes, das rote Gesicht des Kindes hätten freilich bei einer erfahrenen Mutter böse Zweifel gegen die Ableugnung erweckt.

Die junge Dame warf sich schluchzend in die Arme des Mannes.

»Führe mich fort, Ferdinand; diese Luft, dies Alles erstickt mich. O, wie bin ich so grenzenlos unglücklich!«

Der Major gab der Frau Geld und befahl ihr auf das Strengste an, dem Kinde nur die reinste Nahrung zu reichen, und sagte, daß er alle Woche einen Arzt hierher senden werde, um sich von dem Zustande desselben zu überzeugen.

Das Weib beteuerte und versprach alles Mögliche, und geleitete so das Paar durch den Hausflur zurück auf die Straße. Dann, allein, schlug sie verächtlich ein Schnippchen hinter ihnen drein, steckte dem Kinde in der Wiege wie zum Trotz die entsetzliche Flasche in den Mund, und als sie den nächtlichen Besuch weit genug entfernt glaubte, löschte sie rasch die Lampe und eilte aufs neue zu ihrem Gelage, ohne das kranke, wimmernde Kind im Vorderkeller auch nur eines Gedankens zu würdigen. –

Leise weinend schritt indeß die junge Mutter neben dem Major her, der vergeblich sie zu beruhigen und zu trösten suchte.

»Du hast es selbst gewollt, Marie; das Kind war auf dem Lande gut aufgehoben bei der armen Frau, aber Du bestandest darauf, es in Deiner Nähe zu haben, um es wenigstens hin und wieder sehen zu können. Ich habe mich nach verschiedenen Haltefrauen erkundigt, aber man rühmte mir diese immer als eine der zuverlässigeren. Bei vielen anderen waren wir auch weniger vor Entdeckung sicher. Überdies birgt uns der eigene Vorteil dieser Person dafür, daß sie dem Kinde die möglichste Sorgfalt widmet. Du hörtest selbst, daß es ihr ›bestes‹ ist. An anderen Orten ist es vielleicht noch schlimmer aufgehoben.«

Aller Trost nützte begreiflicherweise nichts, und er mußte ihr versprechen, sobald als möglich für das Kind einen andern, besseren Ort zu ermitteln oder es wieder auf das Land zurückzubringen, indem sie lieber darauf verzichten wollte, es zu sehen. Der Major versprach alles, um die Erregte zu beruhigen. So brachte er sie wieder zurück zu dem Garten und nach weiteren Verabredungen für die nächste Zukunft, bis zu ihrem Hause.

»Und nun leb' wohl, Marie, sei stark und mutig, wir werden sicher noch alle Hindernisse besiegen; vertraue auf meine Kraft, nur mache Dich los von den Vorurteilen, die Dich noch mit hundert Banden gefesselt halten. – Zum Henker«, unterbrach er sich, indem er mit der Hand im Epheugeländer umhersuchte, »wo steckt denn die Leiter?«

»Sie wird nicht nötig sein«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihnen; »ich werde die Komtesse, meine Tochter, auf einem passenderen Wege nach ihrem Zimmer geleiten.«

Das Paar fuhr wie vom Blitzstrahl getroffen auseinander.

Zwischen ihnen stand ruhig und gemessen ein großer, stattlicher Mann mit breiter Brust und grauen Haaren. Das Sternenlicht der Sommernacht ließ freilich die Züge nicht erkennen, aber sie beide wußten, wen sie vor sich hatten.

Der Major faßte sich alsbald, während die junge Dame halb ohnmächtig an der Wand lehnte.

»Herr Graf«, sagte er, »es ist eine peinliche Situation, in der ich Ihnen in diesem Augenblick gegenüberstehen muß. Erlauben Sie, daß ich Ihnen morgen früh eine Rechtfertigung gebe, wie sie unter Männern von Ehre nötig ist.«

»Bemühen Sie sich nicht, mein Herr – der Zufall und Schlaflosigkeit haben mich hinter die nächtlichen Promenaden dieser jungen Dame gebracht, und ich werde sie künftig zu verhindern wissen, ebenso wie alle unpassenden Liebschaften. Weiter weiß ich nichts und will ich nichts wissen. Gute Nacht, mein Herr.«

»Herr Graf, ich bitte Sie – hören Sie mich an.«

»Mein Herr, zwingen Sie mich nicht, die Bedienten durch meinen Ruf zu wecken. Mit Leuten Ihrer Art und Ihrer Gesinnung hat ein Edelmann von unbeflecktem Namen nichts zu tun. Ich sollte meinen, zum galanten Verführer wären Sie doch schon zu alt. Es ist also die Spekulation! – Dieser Garten aber und dieses leichtsinnige Mädchen sind noch mein Eigentum, und Gott sei Dank gelten hier noch nicht die Gesetze der Herren Kommunisten und Weltverbesserer. – Entfernen Sie sich, ich befehle es, und lassen Sie sich nicht wieder in dieser Umgebung blicken.«

Er faßte die Komtesse hart am Arm und führte sie fort nach dem Hofraum. – Der Major schlug sich wild vor die Stirn und drohte mit der Faust nach dem Hause. Dann ging er rasch in die Büsche des Gartens.


Zur selben Zeit ungefähr, als der Fremde die spanische Tänzerin verließ, fand eine andere, für das Schicksal Europas und den Gang unserer Darstellung bedeutsame Unterredung statt.

In dem großen Empfangszimmer eines Hotels der sogenannten Diplomatenstraße von Berlin saß an dem Tisch ein Mann von einigen fünfzig Jahren und ziemlich kleiner, wenig auffallender Statur mit legerer, leicht gebeugter Haltung, in einem geschriebenen Memoire lesend und zuweilen mit dem Bleistift einzelne Stellen darin bezeichnend. In dem ziemlich faltenreichen, fast viereckigen Gesicht lag eine gewisse Lethargie, dabei ein Ausdruck großer Gutmütigkeit, doch zuweilen flog es über die Züge, als säße ein jovialer Spott darin, wie der Schalk im Nacken. Die hohe, volle Stirn verkündete den ruhigen Denker und Beobachter. Das merkwürdigste an dem Kopfe waren die Augen eben in ihrer Verborgenheit. Unter matt, fast schläfrig gehobenen Augenlidern, mit häufigem Zwinkern, gleich als könnten sie das Licht nicht vertragen, oder wären angegriffen von dem Staub der Aktenstube, verschwanden sie fast ganz hinter der Brille, als wollten sie unter dem Schutz der Gläser nur beobachten und wieder beobachten.

Es lag über der ganzen Persönlichkeit eine unendliche Ruhe, ein Zusehen, ein Abwarten, eine Zähigkeit, die einen vollendeten, in sich abgeschlossenen Charakter bildeten.

In der Tat entsprach das bedeutende öffentliche Leben des Mannes ganz seiner Persönlichkeit. Er war der Fabius cunctator der modernen Politik und Diplomatie, jener Staatsmann, dessen merkwürdigen, zähen Eigenschaften und unverwüstlicher Ruhe unterm Schutze seines erhabenen Monarchen Preußen seit fünf Jahren die glückliche Leitung seines Staatsschiffes durch eine Unzahl von Klippen und Brandungen und die schwierigsten inneren und äußeren Situationen verdankte. Nicht mit jener eisernen Konsequenz erhabener Charaktere, aber mit einer Zähigkeit und Ausdauer, die zuletzt immer ihren Weg macht, wenn sie auch im Augenblick biegsam und nachgebend erscheint, verfolgte seine Politik ihr Ziel.

Wenn auch nicht ohne Vorurteile, so doch ohne Leidenschaften, ist er unbedingt der glücklichste und an Erfolgen reichste Diplomat seiner Zeit gewesen und wäre wahrscheinlich ihr größter Staatsmann, wenn er zu seinen Eigenschaften noch das eigentümliche Talent großer Männer zählte: raschen und glücklichen Scharfblick in Beurteilung und Wahl der Personen und deshalb stets gut bedient zu sein.

Der im Vorzimmer Wache haltende alte Kanzleidiener öffnete jetzt die Tür und meldete leise einen Besuch.

Der hohe Beamte verließ seinen Sessel, drehte vorsichtig die Lampe auf dem Tisch um, so daß ihr Licht jetzt nach dem Sofa fiel und ging dem Eintretenden bis an die Tür entgegen, die er sorgfältig hinter ihm schloß.

»Nehmen Sie Platz, Herr Baron! Ich habe Ihr Billet heute Mittag erhalten und Sie erwartet. Wir werden ungestört sein.«

Der Eingetretene war eine hohe schlanke Gestalt mit blassem, feinen Gesicht und auffallend breitgewölbter Stirn, in der Mitte der dreißiger Jahre. Er sprach das Deutsch langsam, fein und ruhig, nur wenn die Unterhaltung lebhafter wurde oder es ihm auf eine subtile Wendung anzukommen schien, bediente er sich im Gespräch der französischen Sprache.

»Euer Exzellenz sind sehr freundlich«, sagte er, indem er auf die Einladung des Wirtes auf dem Sofa Platz nahm. »Erlauben Sie, daß ich nochmals erwähne – um jeden Zweifel über den Charakter unserer Unterredung zu beseitigen – daß ich dieselbe von Euer Exzellenz nur als eine private und persönliche erbeten habe, um Ihre Ansichten und Ihren Rat zu hören, bevor ich morgen die Ehre haben werde, Ihnen offiziell die neueste von meinem Kabinett eingetroffene Note zu überreichen.«

»Unsere Unterredung soll also blos eine rein private, bedeutungslose sein, von der ich Sr. Majestät dem Könige keinen Bericht zu erstatten brauche?«

Der andere zögerte.

»Das nicht ganz, – Sie mißverstehen mich, Exzellenz. Ich wünsche Ihnen auch – nicht offiziell – aber unter der Hand – einige Mitteilungen und Vorschläge zu machen, deren weitere amtliche Kundgebung natürlich von Ihrem Entgegenkommen abhängen würde. Auch bin ich beauftragt, in gleicher Weise die Ansichten Ihres Gouvernements über gewisse Eventualitäten der Zukunft zu erfragen.«

Ein leises, diplomatisches Lächeln glitt über das Gesicht des Kleinen.

»Da Sie unserer Unterredung weder einen offiziellen, noch rein unterhaltenden Charakter zugestehen wollen, Herr Baron, so müssen wir sie vielleicht eine ›offiziöse‹ nennen. Das ist ja wohl der Ausdruck, den die Neue Preußische Zeitung, Ihre Freundin, dafür erfunden hat.«

Der Baron verbeugte sich zustimmend.

»Gestatten mir Euer Exzellenz zunächst einen kurzen Rückblick auf die letzten diplomatischen Verhandlungen, der uns um so rascher auf den zu nehmenden Standpunkt führen wird, als Euer Exzellenz gewiß bereits wissen oder vermutet haben, daß die Note, welche ich morgen die Ehre haben werde Ihnen zu überreichen, die Antwort des Herrn Reichskanzlers auf die alle Chancen der friedlichen Ausgleichung aufs neue bedrohenden Amendationen des Divans zu der vereinbarten und unsererseits angenommenen Note der Wiener Konferenz enthält.«

»Ich bin mit der Art dieser Verhandlung ganz einverstanden, Herr Baron, und bitte Sie, bis auf den beklagenswerten und auch von Seiner Majestät dem Könige tief bedauerten Schritt des Einmarsches Ihrer Armee in die Donau-Fürstentümer am 3. Juli zurückzugehen. Sie kennen bereits meine Ansicht, daß dieser Schritt, zu dem sich Ihre Regierung hat hinreißen lassen, mir keineswegs durch die bestehenden Verträge gerechtfertigt scheint, und daß ich in ihm das Hindernis aller gütlichen Ausgleichung und die notwendige Ursache kriegerischer Verwickelungen sehe.«

»Aber, mein Gott, was wollen Sie, das geschehen soll? Eine Macht wie Rußland konnte sich doch von einem so untergeordneten, lebensunfähigen Staat wie die Türkei in ihren gerechten Forderungen nicht Trotz bieten und die gemachte Androhung unausgeführt lassen! Und nun, da die Besetzung geschehen, wird der Kaiser, mein Herr, doch unmöglich seiner politischen Ehre so viel vergeben, um seine Truppen den Rückzug antreten zu lassen, ohne daß die Gewähr seiner Forderungen gesichert ist? Die geringe Zahl der Truppen, welche den Pruth überschritten haben, bürgt Europa dafür, daß es sich nur um eine Pfandnahme, nicht um ein militärisches Vorgehen gegen die Türkei handelt.«

»Sie vergessen, Herr Baron, daß die politische Ehre eine Sache ist, die sehr vielfacher Deutung unterliegt. Vielleicht erinnern Sie sich, daß Preußen vor nicht langer Zeit auf den dringenden Rat einer befreundeten Macht – ich will es nicht anders nennen – in seinen innere deutsche Interessen betreffenden Streitigkeiten, zwei Mal einen militärischen Rückzug aus seinen avanzierten Stellungen nehmen mußte. Ich meine Schleswig-Holstein und Kassel, und wenn ich nicht sehr irre, wurde uns hier auf der nämlichen Stelle klar gemacht, daß die politische Ehre durch ein solches Rückgehen keineswegs eine Einbuße erleiden könne.«

Der Baron errötete stark, antwortete jedoch nicht auf den Fechterstreich, den er erlitten, sondern nahm sofort die Darstellung der diplomatischen Verhandlungen auf.

»Die Pfandnahme der Donau-Fürstentümer hatte in Konstantinopel einen Aufstand der Kriegspartei und die kurze Änderung des Ministeriums Reschid zur Folge, ein Beweis, wie wenig die alttürkische Partei zu einer billigen Nachgiebigkeit geneigt ist. Die Vermittelung der Gesandten bei Seiner Hoheit dem Sultan hat zwar die sofortige Wiedereinsetzung des Großwessirs und Reschid-Pascha's zur Folge gehabt, indes glaube ich, daß es den Vertretern von Frankreich und England mehr darum zu tun gewesen ist, den gesicherten Einfluß sich zu bewahren, als den Krieg zu verhindern, denn wir wissen sehr wohl, daß das Kabinett der Tuilerien bereits unterm 13. Juli das englische Gouvernement aufgefordert hat, sich über das weitere Agiren der Flotten zu verständigen, wenn die Vermittelung nicht zu Stande käme. Dahin zielt auch die Note der französischen Regierung vom 15., welche uns das Recht der Besetzung streitig macht. Auch das englische Kabinett antwortete in gleicher Weise unserer Zirkular-Depesche vom 2. Juli. Während hierauf die Gesandten der vier Großmächte in Konstantinopel darüber verhandelten, den Protest der Pforte gegen unser Einrücken in die Fürstentümer uns mundrecht zu machen, und die Pforte den von Lord Stratford redigierten Noten-Entwurf annahm, hatte der Minister des Auswärtigen in Wien, Graf Buol, die Repräsentanten Preußens, Englands und Frankreichs bei sich vereinigt, um in Wien selbst einen Ausgleichungsvorschlag zu vereinbaren, dem die frühere französische Note zur Grundlage diente.«

»Es war ein unglückliches Zusammentreffen, daß beide Vorschläge gleichzeitig konkurrierten.«

»So sehe auch ich es an, Exzellenz. Graf Buol fügte der französischen Note zwei Verbesserungen bei, deren eine die Erklärung der Pforte enthält, den Vertrag von Kainardji treu beobachten zu wollen. Der englische Gesandte setzte hierbei die unnütze Änderung durch, daß dem ganz klar lautenden Vertrage von Kainardji von uns nicht eine beliebige Auslegung gegeben werden dürfe.«

»Ich weiß nicht, Herr Baron, ob diese Einschaltung so unnötig war,« unterbrach ihn der Minister; »wenigstens hat die Folge gezeigt, daß gerade die Auslegung den streitigen Punkt abgab. Jedenfalls war das preußische Gouvernement ganz mit dem Vorschlage des Herrn Grafen Buol einverstanden, den unterdeß von Konstantinopel eingegangenen Notenentwurf zurückzubehalten und den der Wiener Konferenz zur Annahme zu empfehlen.«

»Die Feststellung desselben erfolgte am 31sten; Oberst von Ruff ging mit einem eigenhändigen Schreiben Seiner Majestät des Kaisers Franz Joseph nach Konstantinopel, um dem Sultan die Annahme des Vermittelungsvorschlages auf das dringendste zu empfehlen, und die Regierungen von England, Frankreich und Preußen – wir wollen vorläufig an die Aufrichtigkeit der beiden ersten glauben – instruierten ihre Gesandten bei beiden Kabinetten, alle Bemühungen darauf zu richten, daß die Note acceptiert werde.

»Graf Nesselrode benachrichtigte bereits am 3. August unseren Gesandten in Wien, daß Seine Majestät der Kaiser die Wiener Note angenommen habe, und die Depesche vom 6ten brachte die ausführliche Erklärung über diese Annahme unter der Voraussetzung, daß die Pforte sie auch unverändert acceptiere. Wenn nicht, konnte sich Rußland, das sich der Annahme nur zur Beschwichtigung der Besorgnisse Europas unterworfen hatte, nicht weiter für gebunden halten. Sie werden mir zugestehen, Exzellenz, daß hier die Sachlage und die Verpflichtung ganz einfach und klar ist. Die vier Großmächte stellen – unabhängig von den streitenden Parteien – die für den Frieden Europas und die Lösung des Zwistes von ihnen notwendig gehaltenen Punkte eines Abkommens fest. Rußland acceptiert dieselben ohne Abänderung und fügt sich dadurch dem Beschluß seiner bisherigen Verbündeten. Diesen fällt hierdurch die ganz natürliche Verpflichtung anheim, auch nach der anderen Seite hin die Unabänderlichkeit ihres eigenen Werkes zu vertreten.«

»Das ist richtig, Herr Baron; es ist nur zu bedauern, daß während der Verhandlungen Rußland die Pforte aufs neue durch Maßregeln reizte, die man höchstens in einem feindlichen eroberten Lande anwendet. Ich meine den Befehl Ihres Oberkommandierenden an die Hospodaren, die Verbindung mit Konstantinopel und ihrem rechtmäßigen Souverän abzubrechen und den Tribut zurückzubehalten.«

»Ich glaube, daß dies Zwischenfälle sind, die auf die allgemeine politische Rechtsfrage keinen Einfluß haben. – Am 11. August traf die Nachricht in Konstantinopel ein, daß Rußland die Wiener Note angenommen habe. Hier, Exzellenz, – ich rede nicht von Preußen – scheint mir die Aufrichtigkeit der vermittelnden Mächte ihr Ende zu haben.«

»Ich verstehe Sie nicht, Herr Baron. Nach dem Bericht unseres Gesandten in Konstantinopel hat Lord Stratford am 13. eine Konferenz mit Reschid-Pascha gehabt, in welcher er dringend von diesem verlangte, den Vorschlag der vier Mächte sich zu eigen zu machen, obschon derselbe erklärte, es seien mehrere bedenkliche Punkte darin, die sich der Annahme entgegenstellen würden. Am 14. wurde der Vorschlag vor den türkischen Ministerrat gebracht und verworfen. Lord Stratford, um die nochmalige Ablehnung zu vermeiden, sandte bei dem aufs neue am 15ten gehaltenen Ministerrat einen Vorschlag an Reschid, die Pforte solle die Note annehmen, indem sie sich reserviere, zu ihren Gunsten die bedenklichen Stellen auszulegen und ihre Interpretation der Bestimmung der vier Mächte unterbreite, die so den Sinn der Wiener Note sicher stellen würden. Der Vorschlag wurde nach vieler Mühe angenommen.«

»Aber diese Amendationen geben dem ganzen Wiener Entwurf eine neue Fassung.«

»Daß ich nicht wüßte, Herr Baron. Die Bedenken der Pforte gründen sich auf drei Punkte. Zunächst soll der Passus über die tätige Sorgfalt des Kaisers von Rußland für die griechischen Christen in der Türkei zu der Auslegung Raum geben, als ob die Sultane nur in Folge dieser tätigen Sorgfalt der griechischen Kirche Rechte und Freiheiten gegeben hätten, und damit Rußland einen Vorwand zur weiteren Einmischung bieten. Danach glaubt die Pforte, daß der Passus über den Vertrag von Kutschuk-Kainardji die Fragen in betreff der religiösen Privilegien in einer Weise hineinmenge, die durch jenen Vertrag gar nicht erfordert werde und die Souveränität der Pforte bedrohe. – Endlich verlangt die Pforte, daß in dem Passus über die Gleichstellung der griechischen Kirche mit den anderen Riten ausdrücklich ausgesprochen werde: daß dies insoweit gemeint sei, als ihre Untertanen zu diesen anderen Riten gehören. Mir scheint, Herr Baron, daß namentlich die beiden letzten Verlangen ganz gerechtfertigt sind.«

»Aber das ändert die ganze Lage und Deutung unserer Forderung. Wir wollen nicht die Gleichstellung der griechischen Christen mit dem Zustande anderer christlicher Sekten, die Untertanen des Sultans sind, sondern mit den christlichen Kulten unter fremdem Schutz, mit den christlichen Untertanen fremder Mächte in der Türkei.«

»Zu viel auf ein Mal zu erlangen, Herr Baron, möchte zunächst eine gefährliche Sache sein. Mir scheint, daß eine solche Auslegung die griechisch-christlichen Untertanen des Sultans zunächst unter ein Protektorat Seiner Majestät des Kaisers von Rußland bringen würde, das sie in facto aufhören läßt, Untertanen der Pforte zu sein.«

Der andere schwieg; er fühlte, daß er sich eine voreilige Blöße gegeben hatte.

»Überdies,« fuhr sein Gegner fort, »sind die Verhältnisse der christlichen Konfessionen leider auch in anderen – in christlichen – Staaten noch immer nicht so geregelt und befreit, daß man ganz berechtigt erscheint, einem nichtchristlichen Souverän aus den obwaltenden Verhältnissen einen Vorwurf zu machen. Ich beklage gewiß tief die Leiden der Christen in der Türkei, aber ich weiß nicht, ob sie ärger sind als z. B. die Verfolgungen der Katholiken und Protestanten, welche man noch in der neuesten Zeit christlichen Staaten zum Vorwurf gemacht hat, ohne daß eine Rechtfertigung erfolgt ist.«

Der Diplomat biß sich auf die Lippen.

»Euer Exzellenz scheinen gegen die Redlichkeit unserer Absichten eingenommen,« sagte er nach kurzer Pause. »Was ich vorhin von den Rechten der griechisch-christlichen Untertanen der Pforte äußerte, ist natürlich nur das wünschenswerte Ziel einer Emanzipation der orientalischen Christenheit überhaupt, welche zu erreichen doch wohl die Schlußaufgabe aller zivilisierten Staaten ist.«

»Sie irren, Herr Baron, wenn Sie mir das geringste Vorurteil in dieser Beziehung zuschreiben. Ich habe allerdings unterm 28sten vorigen Monats unseren Gesandten in Petersburg dahin instruiert, auf alle Weise bei Ihrem Kabinett die türkischen Vorschläge zu befürworten, aber nur weil ich darin durchaus keine Beeinträchtigung Rußlands sehen kann.«

»Aber selbst Graf Buol hat offen diese Änderungen der Pforte bedauert, da sie unnütz und mehr Wortveränderungen sind. Ich muß Euer Exzellenz darauf aufmerksam machen, daß diese neuen Hindernisse weniger von der Pforte ausgegangen, als von den beiden Vertretern Frankreichs und Englands. Wir sind auf das Beste unterrichtet und wissen, daß Master Alison, der erste Sekretär der englischen Gesandtschaft, während dieser ganzen Verhandlungen in dem Hotel der Pforte sein Bureau aufgeschlagen hatte und dem Divan die Antworten und Ausflüchte ausarbeitete.«

»Das weiß ich nicht,« sagte der Minister trocken, »meine geheime Polizei erstreckt sich nicht bis Konstantinopel.«

»Der Beweis dafür ist die doppelseitige Stellung, die England und Frankreich sofort angenommen haben. Letzteres drang bereits darauf, daß, wenn unsere Armee nicht bis zum 1. Oktober über den Pruth zurückgezogen sei, – unter den schwebenden Verhandlungen eine Sache der Unmöglichkeit! – die Flotten die Dardanellen passieren sollten, während öffentlich beide Kabinette ihren Gesandten in Konstantinopel schreiben, daß sie die Erwiderung der Pforte nur mit größter Mißbilligung hätten aufnehmen können und Alles aufzubieten sei, daß die einfache Annahme der Note erfolgte. Auf der anderen Seite verlangt man in Petersburg die Annahme der Abänderungen. Dies ist kein redliches Verfahren und kann nur neue Verwickelungen herbeiführen.«

»So weit ich übersehe, Herr Baron, sind wir jetzt auf dem Punkt angelangt, in dem sich die Verhandlungen befinden und auf dem ich Ihre neueren Eröffnungen erwarten darf.«

»So ist es. Ich mag Euer Exzellenz nicht verhehlen, daß der Kaiser, mein Herr, keineswegs gewillt ist, auch nur einen Schritt über die Position hinauszugehen, die er durch wahrhaft erhabene Nachgiebigkeit in der Annahme der Wiener Note eingenommen. Jede weitere Konzession wäre eine Schwäche. Die an Baron Meyendorf in Wien gerichtete Depesche vom 7. September, die ich morgen die Ehre haben werde, Euer Exzellenz in Abschrift zu überreichen, erklärt ganz bestimmt, daß Rußland es mit seiner Würde unvereinbar halten müsse, nachdem es den Vorschlag der vier Mächte akzeptiert, nunmehr den Forderungen der Pforte sich fügen zu sollen. Das Kabinett von St. Petersburg verharrt übrigens bei seiner früheren Zusage, daß, wenn ein türkischer Gesandter die unveränderte Note überbringt, die Donau-Fürstentümer alsbald geräumt werden sollten.«

»Ich fürchte das.«

»Die Interpretation meiner Regierung ist, wie ich wiederhole, folgende: Die Wiener Note ist nicht Rußlands Werk, sondern das Werk der vier Mächte England, Frankreich, Preußen und Österreich. An ihnen ist es nicht allein, in Konstantinopel ihrem Werke Achtung, oder besser gesagt, Gehorsam zu verschaffen, sondern auch Sache jeder einzelnen Macht ist es, die Mitkontrahenten zur Erfüllung dieses Vertrages anzuhalten und sich im Weigerungsfalle auf die Seite Rußlands zu stellen.«

»Ich muß gestehen, Herr Baron, daß bis hierhin Ihre Regierung in vollem Recht ist, und ich zweifle nicht, daß in Folge der Antwort Sr. Majestät des Kaisers mein königlicher Gebieter mir ganz bestimmte Erklärungen in Konstantinopel, Paris und London befehlen wird.«

»So dürfen wir nötigenfalls auf ein Defensivbündnis mit Preußen und Österreich rechnen und die weiteren Einleitungen dazu treffen?«

»Einen Augenblick, Herr Baron. Ist die kaiserliche Ablehnung der türkischen Amendationen Alles, was Sie mir morgen zu übergeben haben?«

Der Diplomat stutzte.

»Zu dienen, Exzellenz, wie meinen Sie das?«

Der Minister legte schwer und ernst seine Hand auf das Memoire, in dem er vorher gelesen, und das noch umgekehrt vor ihm auf dem Tische lag.

»Es ist mir da von unbekannter Hand ein Schriftstück zugegangen, das die Abschrift einer zweiten Depesche vom 7. September an Herrn von Meyendorf enthalten soll, in welcher Graf Nesselrode diesem eine genaue Kritik der Amendationen der Pforte und die Auslegung des russischen Kabinetts zu jedem streitigen Passus gibt. Ich weiß nicht, Herr Baron, ob das Aktenstück echt und ob es Ihnen bekannt ist?«

Er reicht ihm das Memoire. Die zweite russische Depesche vom 7. September, welche eine ziemlich weit gehende Auslegung und Deutung der Stipulationen der Wiener Note in Form einer Kritik der türkischen Amendationen enthält, wurde der preußischen Regierung erst später, am 20. oder 21. September offiziell bekannt.

Das blasse Gesicht des Russen wurde womöglich noch durchsichtiger; er sprang, wie von einem elektrischen Funken getroffen, empor.

»Ein Verräter unter meinen Sekretären?«

Der Minister lud ihn mit einer vornehmen Handbewegung ein, sich wieder niederzulassen.

»Ich achte zu sehr die Rechte der fremden Gesandtschaften, mein Herr, um mich auf eine unpassende Weise in ihre Geheimnisse zu drängen. Diese Papiere sind mir vor zwei Stunden anonym zugegangen, und ich stelle sie Ihnen zur Disposition, um zu beurteilen, ob sie von einem Ihrer Untergebenen herrühren können, was ich jedoch bezweifle, da in letzterer Zeit mir mehrfach Winke und Mitteilungen von derselben Handschrift von ganz anderen Orten aus zugegangen sind.«

»Ich kann,« fuhr er nach kurzer Pause fort, während welcher sein Besuch die äußere Ruhe wieder gewonnen hatte und in dem Manuskript blätterte, »von diesem, jedes offiziellen Charakters entbehrenden Schriftstück natürlich auch keine amtliche Notiz nehmen und es auch nicht Sr. Majestät dem König vorlegen, um auf die Allerhöchsten Entschließungen einzuwirken. Privatim aber gestehe ich Ihnen, Herr Baron, daß ich es allerdings für echt und sein Bekanntwerden ganz für geeignet halte, die bereits zweifelhafte Haltung der Kabinette von London und Paris in eine offene Lossagung von den Wiener Beschlüssen zu verwandeln, wenigstens – ich will offen mit Ihnen übereinstimmen – die Gelegenheit dazu zu geben.«

»Und Preußen? – Wir sind der österreichischen Zustimmung sicher auch nach der Überreichung dieser zweiten Note.«

Wieder überflog ein leichter Zug von Spott das Gesicht des Kleineren.

»Dann gratuliere ich Ihnen. – Preußen, Herr Baron, wird, solange ich die Ehre habe, an der Spitze seiner Verwaltung zu stehen, und solange Se. Majestät der König mich würdigt, meinen Rat entgegen zu nehmen, – sich und Deutschland von einer tatsächlichen Beteiligung an der orientalischen Verwicklung und dem – ich glaube kaum noch zu vermeidenden – Kriege frei halten und nur eine zuratende, vermittelnde und abwartende Stellung einnehmen. Es ist mein festes Bestreben, uns durch kein temporäres Bündnis in dieser Frage nach irgend einer Seite hin zu verpflichten.«

»Da wir auf diesen Punkt der Offenheit gekommen sind, Exzellenz, so erlauben Sie, daß ich unverhohlen meine Meinung über die Zukunft sage. Es liegt in den ganzen Ereignissen ein gewisser geheimnisvoller Faden, dessen Ursprung und Lauf ich nicht durchschauen kann, der aber offenbar konsequent alle Vermittelungen und Ausgleichungen hindert und beide Teile immer weiter treibt. Daß die Absichten von England und Frankreich ganz wo anders hin zielen, als auf einen Schutz der Türkei gegen etwaige Übergriffe unsererseits, ist wohl ganz Europa klar. Ich bin überzeugt, daß über kurz oder lang die beiden neuen Beschützer der Türkei um der öffentlichen Meinung willen von ihr ganz andere Konzessionen für die christlichen Untertanen und die Zivilisation werden erzwingen müssen, als Rußland jetzt verlangt. Daß die Türkei einer vollständigen Reorganisation bedarf, um im europäischen Staatenbund fortbestehen zu können, ist von allen Seiten anerkannt. Man sucht uns nur das natürliche Recht der Avance streitig zu machen. Der sich vorbereitende Zusammenstoß ist ein Kampf des Westens gegen den Osten, wie er bereits mit einigen Variationen unter dem ersten Napoleon sich ereignet hat, und um so mehr dürfte es die Aufgabe der alten heiligen Alliance sein, fest auf der alten Basis zusammenzuhalten. Dies ist der Wunsch und die Erwartung meines kaiserlichen Herrn.«

Der Minister schwieg nachdenkend einige Augenblicke, dann sagte er ernst und würdig:

»Die Zukunft der Reiche und der Ausgang der Kämpfe, die sich vorbereiten, liegt in der Hand des allmächtigen Gottes. Jeder Staat hat seine erhabene Aufgabe, und der König, mein Herr, erkennt die Seine aus vollem, christlichen Herzen und wohlgeprüftem Sinn. Die heilige Alliance ist eine mit dem Heldenblut der Völker besiegelte und erworbene Erbschaft, die durch Preußen nicht leichtsinnig gebrochen werden soll. Die persönliche Liebe des Königs, die Sympathien eines großen Teiles der besten Männer Preußens gehören Ihrem erhabenen Monarchen. Aber das Wohl und die Blüte Preußens, seine eigentümliche, selbst territoriale Stellung im europäischen Staatenbund, an der zum Teil Rußland selbst die Verschuldung trägt, müssen den Gedanken jeder Beteiligung an einem Kriege uns fernhalten, der – gerade heraus gesagt – nur um fremde, uns nicht direkt berührende Interessen geführt wird. Seine Majestät der Kaiser hat Unrecht gehabt in dem Hervorruf, er wird das Recht auf seiner Seite haben in der Fortführung, Preußen und Deutschland werden ihm den besten Dienst erweisen durch eine unbedingte Neutralität.«

»Rußland würde bedeutende Vorteile für ein Offensiv-Bündnis gewähren. Die vollständige Öffnung seiner Grenzen …«

»Das ist ein Recht, das Deutschland ohnehin aus dem Wiener Vertrage her beanspruchen könnte, wenn sich auch vom russischen Standpunkt die Vorteile der uns schädigenden Absperrung nicht erkennen lassen. Wenn für Preußen die Öffnung der Ostgrenzen einen Krieg aufgewogen hätte, würde es denselben früher begonnen haben.«

»Wir dürfen also wenigstens auf eine bewaffnete Neutralität im Falle eines Krieges rechnen? Bedenken, Euer Exzellenz, daß die westlichen Grenzen nicht gesichert sein würden. Der Kaiser Napoleon ist Ihr heimlicher Gegner so gut wie der unsere, und das Rheinland ist eine sehr zugängliche Position.«

»Wir werden uns die Rheinprovinz zu schützen wissen, Herr Baron, gegen etwaige Gelüste danach. Es ist vollkommen Zeit, daß Deutschland sich von jedem äußeren Einfluß, jeder äußeren Bedrohung emanzipiert und endlich seine Grenzen festhält gegen alle fremden Dispositionen darüber. Das ist der ernste deutsche Wille Seiner Majestät des Königs und Seines erhabenen Verbündeten, des Kaisers Franz Joseph.«

»Euer Exzellenz werden doch nicht an die thörichten Behauptungen der französischen Zeitungen glauben.«

»Ich glaube in der Politik an wenig, Herr Baron, am wenigsten an die Zeitungen. Ich weiß, daß das Kabinett von St. Petersburg unmöglich den Tuilerien für die Zustimmung zu den russisch-türkischen Arrangements das linke Rheinufer zugesagt haben kann, wie es England Cypern und Egypten versprochen haben soll, – denn Kaiser Nikolaus ist ein Ehrenmann und die Sache wäre nicht nur moralisch schlecht, sondern auch politisch thöricht. Ich wiederhole Ihnen, dergleichen Geschwätz kümmert mich nicht.«

Der Diplomat kniff leicht die schmalen Lippen.

»Also eine bewaffnete Neutralität, wie Österreich sie bereits so gut wie zugesagt hat? Es könnte leicht geschehen, ja es ist wahrscheinlich, daß man die Revolution zu Hülfe ruft. In London wird bekanntlich ganz offen von den Flüchtlingskomitees gegen uns propagandiert. Polen und Ungarn sind noch immer offene Herde, darum wäre es gut, im Vereine mit Österreich …«

»Österreich, Herr Baron, ist nicht Deutschland. Österreich hat seine slavischen Staaten und Italien zu wahren. Es würde ein großer Mißgriff sein, uns durch eine Demonstration in Verwickelungen zu bringen und in Kosten zu stürzen. Was die Revolution betrifft, so seien sie unbesorgt, wir haben Lehrgeld gegeben, und Preußen wird sie auch an seinen polnischen Grenzen nicht dulden. Im Übrigen: Neutralität, Herr Baron, Neutralität, begnügen Sie sich damit.«

Der Diplomat erhob sich.

»In jeder Beziehung, Exzellenz, auch in der Presse?«

»Auch in der Presse, so viel in der Macht der Regierung steht. Sie wissen, der König ist für eine anständige, freie Diskussion in den gesetzlichen Grenzen.«

»Ich fragte und bat nur darum,« sagte der Diplomat mit feinem Lächeln, indem er ein Papier aus der Brusttasche zog, »weil auch mir da eine Art von Zirkular zugekommen, das verschiedenen Zeitungsredaktionen die Freude ausspricht, nun endlich von dem Druck russischer Suprematie erlöst zu sein, und sie auffordert, ohne weitere Rücksicht der Stimme der öffentlichen Meinung Raum zu geben.«

Diesmal war es der Minister, welcher sich auf die Lippen biß.

»Das ist offenbar eine Dummheit, die höchstens von irgend einer taktlosen Voreiligkeit herrührt. Ich werde der Sache nachforschen. Im Übrigen wissen Sie, Herr Baron, daß bei uns die Sache selbständig ist und wir mit Absicht ein anerkanntes Regierungsorgan vermeiden. Sie werden daher auch Ihre Vertretung in der Presse selbst suchen müssen.«

»Wir überlassen das dem Gefühl für das Recht. Leben Sie wohl, Exzellenz, und nehmen Sie meinen Dank für die freundliche Aufnahme, die Sie mir diesen Abend gewährt haben. Wenn auch nicht mit Erfüllung meiner Wünsche, so doch über vieles beruhigt, verlasse ich Sie.«

»Auf offizielles Wiedersehen morgen, Herr Baron,« sagte lächelnd der höfliche Wirt, »und einen freundlichen Rat noch: Lassen Sie nie die Worte meines verstorbenen Kollegen, des Fürsten Schwarzenberg, aus dem Gedächtnis. Sie werden wissen, welche ich meine. Ich empfehle mich.«

Die Tür des Vorzimmers, bis zu welcher er seinen Besuch begleitet, schloß sich.


II. Petersburg.

In einem mittelgroßen halb gewölbten Zimmer des kaiserlichen Winterpalastes, jenes erhabenen Prachtbaues, den der Befehl eines unumschränkten Gebieters in Jahresfrist aus der Asche neu hervorzauberte, brannte hinter einem hohen Schirm eine kleine Lampe, das Gemach notdürftig erhellend. Die Ausstattung desselben war eine ziemlich einfache. Vor den beiden großen Fenstern, die nach der Newa hinausgingen, hingen schwere, grünwollene Vorhänge, ebenso vor beiden Türen. Zwei große Arbeitstische standen mitten im Zimmer. Der eine war mit Papieren und Mappen bedeckt, ebenso ein Seitenrepositorium. Der zweite Tisch zeigte auf seiner breiten Platte ein kunstvoll gearbeitetes Schreibgerät von oxydiertem Silber, Petschafte, Briefbeschwerer von seltsamem Material und ungewöhnlichen Formen, Einzelnes offenbar von großem historischen oder Kunstwert, dazwischen ein Lesepult mit einer einfachen Perlenstickerei und eine kleine Standuhr. Ein Thermometer und ein Doppelkalender nach alter und neuer Rechnung hingen an dem vorspringenden Pfeiler neben einigen Papptafeln mit Listen und Notizen. Zwei offene Bücherschränke rechts und links zeigten eine Auswahl von Werken in französischer, englischer, deutscher, russischer und italienischer Sprache. Der Inhalt des ersten Schrankes gehörte der militärischen Litteratur an, namentlich waren es Werke über das Geniewesen. Auch befanden sich darunter die Jahrgänge der preußischen Wehrzeitung, von der die beiden neuesten Nummern offen auf dem Tische lagen. Den zweiten Schrank füllten ernste und schönwissenschaftliche Schriften und einige lexicographische Werke.

Neben dem zweiten Tisch stand ein langes, niederes, eisernes Rollbett von höchst einfacher Konstruktion. Die Unterlage bildete eine Matratze von Maroquin mit Seegras gestopft, ein ebensolches Kissen den Kopfpfühl.

An den Wänden hingen einige schöne, große Gemälde geistlichen Inhalts, darunter eine Madonna von Murillo, und Porträts; auch zwei kleine Bleistiftzeichnungen in einfachen Rähmchen. Neben dem schriftenbedeckten Arbeitstisch befand sich an der Wand eine große Karte des russischen Reiches, gegenüber die von Europa. Eine große Ordnung und Regelmäßigkeit herrschte in der ganzen Einrichtung des Gemaches und verlieh ihr einen gewissen militärischen Charakter.


Auf dem Rollbett, nur von einer wollenen Decke und einem Militärmantel verhüllt, lag ein Schlafender von fast riesiger Körperform.

Die breite, kolossale Brust hob und senkte sich ruhig, das Antlitz war nach aufwärts gekehrt, ein Arm unter den Kopf gelegt. Eine hohe, glänzende, eherne Stirn, in der Mitte zwischen den Augenbrauen über der langen, geraden Nase in einer ernsten, halb drohenden Falte zusammengezogen. Das Gesicht lang, das Kinn stark und von großer Willenskraft, fest gerundet, der regelmäßige Mund, von einem militärischen Schnurrbart überschattet, ernst geschlossen. Die ganze Figur des Schlafenden schien wie aus Granit gehauen, so fest und straff war alles daran. Es lag etwas Soldatisches, Starres, Titanenhaftes in ihr.

Der Zeiger der kleinen Uhr auf dem Tische wies auf 5 Uhr und zugleich ließ sich das scharfe, kurze Rasseln eines Weckers hören. Bei dem ersten Tone desselben öffnete der Schlafende maschinenmäßig die Augen.

Diese Augen entsprachen dem Körper, dem ehernen Antlitz. Sie waren ruhig, fest, klar, groß und von jener Eigentümlichkeit, daß, ohne einen bestimmten Ausdruck zu haben, ihr Blick doch durchdringend, durchbohrend, niederdrückend war, wie z. B. das Auge Friedrichs des Großen von Preußen.

Die Augen waren echt kaiserlich.

Es war auch der Kaiser, der eben erwachte.

Europa hat diesem erhabenen Charakter, diesem ehernen Bilde unter den lebenden Herrschern, an dessen Sterblichkeit zu glauben man sich entwöhnt hatte, viele und schwere Vorwürfe gemacht; es ist viel Haß, viel Blut und viel Leiden auf diesen Hünen gewälzt worden. Der da oben die Wagschale hält, richtet auch über die Könige und Kaiser der Erde, wie über den Paria, den Lepero, und den Muschik. Aber das Gewicht, womit die Gewaltigen der Erde gewogen werden, ist ein anderes.

Wer viel gehaßt und viel verleumdet wird, wird auch viel geliebt.

Kaiser Nikolaus ist geliebt worden, geliebt, wie man das Erhabene liebt.

Er war eine einsame, mächtige Natur auf seinem Piedestal, und dieses Piedestal war der Thron des größten Reiches der zivilisierten Erde. – –

Der Kaiser warf rasch Decke und Mantel von sich und bekleidete sich ohne Hülfe mit den Kleidern, die auf einem Stuhle vor seinem Bette lagen.

Dann zündete er an der Lampe die Kerzen der silbernen Armleuchter an, deren je zwei auf jedem Tische standen.

Der Selbstherrscher des mächtigen Reiches tat das Alles allein; er bewahrte bis in das Kleinste herab so viel es sich mit seinem erhabenen Range vertrug, die militärischen Gewohnheiten.

Dann trat er einige Augenblicke an das Fenster und schaute die weite Perspektive hinab. Die frühe Morgenstunde des Spät-Septembers hüllte unter der nordischen Breite noch alles in Dunkel, das an tausend Stellen durch die Gasflammen unterbrochen wurde, die sich in dem Wasser des breiten Stromes spiegelten.

Der Kaiser setzte sich hierauf an den ersten Arbeitstisch und begann einen Stoß Papiere durchzusehen. Die mächtige Natur bewahrte eine immense Arbeitskraft, die durch die strengste Regelung der Beschäftigung und der Zeit vermehrt wurde. Für gewöhnlich stand der Monarch um halb sieben Uhr auf, nahm schon während seiner kurzen Toilette verschiedene Meldungen und Rapporte an, machte dann einen Gang durch das ganze Palais bis zur Wiege seiner Enkel und blieb bis um acht Uhr in seinem Kabinett. Von acht bis neun Uhr machte er stets, und wo er sich auch befand, Sommer und Winter, einen Spaziergang in freier Luft. Um neun Uhr empfing er regelmäßig den Kriegsminister, Fürst Dolgorucki, auf den er großes Vertrauen setzte.

Um zehn Uhr pflegte sich der Kaiser für kurze Zeit zur Kaiserin und seiner Familie zu begeben; nie ließ er aber auch dort einen angemeldeten Minister oder eine befohlene Person warten. Wenn gegen zwei Uhr alle Geschäfte im Palais beendet waren, fuhr er in seiner einspännigen Droschke oder im Schlitten aus und besuchte dabei drei bis vier Anstalten der verschiedensten Art. Um vier Uhr speiste er im kleinen Familienkreise, zu dem nur wenige Auserwählte zugezogen wurden. Der Kaiser aß stark, trank aber sehr mäßig. Selbst die Abendstunden waren meist den Staatsgeschäften gewidmet; wenn er im Salon der Kaiserin oder der Großfürstinnen erschien, sprach er wenig und nahm selten an der allgemeinen Unterhaltung Teil. In sein Kabinett zurückgekehrt, arbeitete er wieder und begab sich selten zur Ruhe, wenn noch irgend ein Bericht zu erledigen war. Oft stand er des Nachts auf, verließ allein das Winterpalais und stattete irgend einem Institut, namentlich den Kadettenhäusern einen Besuch ab. Sein erster Blick galt dann stets dem Thermometer, der die vorgeschriebenen 14 Grad zeigen mußte und seine Untersuchungen erstreckten sich bis ins Detail.

Der Kaiser hielt sich nach seinen eigenen Worten stets »im Dienst« und nur in Peterhof gestattete er sich auch in der Kleidung einige Abweichungen von der sonst streng ordonnanzmäßigen Uniform und Haltung. Auch im strengsten Winter trug der Monarch nur den einfachen Offiziermantel, nie einen Pelz.

Mit dem Beginn der orientalischen Verwicklungen vermehrte sich die Tätigkeit des Kaisers und er gönnte sich noch weniger Erholungen als früher. Er stand fast zwei Stunden früher als sonst des Morgens auf, um zu arbeiten, und empfing von sechs Uhr ab die Vorträge der Minister und Adjutanten, um später für die militärischen Geschäfte, die Besichtigungen frei zu sein. Eine auffallende Aufregung und Rastlosigkeit hatte sich seines ganzen Wesens bemächtigt und man sah, wie tief ihn der Gegenstand und das Scheitern vieler Erwartungen berührte.


Nachdem der Monarch den Stoß von Papieren, die vor ihm lagen, durchgesehen und die Unterschriften vollzogen hatte, sah er auf die Uhr, die halb Sechs zeigte, und nach einer der Notiztafeln über dem Schreibtisch.

»Mittwoch – das ist Nesselrode's Tag, da habe ich noch Zeit, er kommt erst um sieben Uhr.«

Damit erhob er sich, holte aus dem Ankleidekabinett, zu dem eine Tapetentür führte, Mantel und Helm und verließ leise das Zimmer.

Das Vorgemach war erhellt, zwei Pagen saßen darin und schliefen in den Lehnstühlen. Am Tisch wachte der diensthabende Kammerherr und las; er erhob sich rasch, als er die Tür gehen hörte.

»Ei sieh, Menger,« sagte der Kaiser, »bist Du wach? Geh' hinein und ordne das Kabinett; um Sieben bin ich zurück.«

Er schritt hindurch nach dem äußeren Vorzimmer, in welchem während der Nacht ein Offizier der Schloßwache seinen Aufenthalt hatte, um außergewöhnliche Meldungen entgegen zu nehmen.

Es war an dem Morgen ein Leutnant von der Preobraczenskischen Garde, diesem Lieblingskorps des Kaisers, das ihn einst gegen die Empörer verteidigt hatte. Der noch sehr junge Mann war auf dem Stuhl vor dem Tisch, an dem er die abendlichen Wachtrapporte eingetragen, eingeschlafen; sein Kopf ruhte auf dem aufgestützten Arm. Es mußte erst spät geschehen sein, denn eine Depesche, die auf dem Tische lag, zeigte den Präsentationsvermerk einer späten Stunde. Vor ihm lag ein halbvollendeter Brief, über dem ihn offenbar die Müdigkeit überrascht hatte, – die Feder war seiner Hand entfallen.

Der Kaiser, dessen Schritt der dicke Teppich des Fußbodens unhörbar machte, nahete sich leise dem Tisch.

»Sie haben gestern Morgen scharf exerziert,« sagte er wie entschuldigend und bog sich über den Schlafenden, die Depesche zu nehmen. Sein Blick fiel auf den Brief und auf seinen Namen. Er nahm vorsichtig das Blatt in die Hand und las.

Der Brief war an die Mutter des jungen Mannes gerichtet, die in dem Gouvernement Nischni-Nowgorod wohnte und die Witwe eines früheren Offiziers war. Der Sohn, in dem Kadettenhause erzogen, schrieb ihr, wie er hoffe, daß der Krieg ihm Gelegenheit zur Auszeichnung geben werde, mit der er dem geliebten Kaiser für die Wohltaten danken könne, die er ihm durch seine Erziehung erzeigt habe. Er beklagte kindlich, daß er sie, die er seit zehn Jahren nicht wiedergesehen habe, nicht zuvor noch einmal umarmen dürfe, aber selbst wenn er – was sehr unwahrscheinlich, – Urlaub erhalten könne, sei es unmöglich, da die Entfernung so weit und er ohne Vermögen nur durch die strengste Sparsamkeit die kostspielige Stellung bei der Garde bewahren könne, in die ihn der Zufall und die guten Zeugnisse im Kadettenhause gebracht.

Das Adlerauge des Monarchen hatte in wenigen Augenblicken den Brief überflogen und ruhte wie nachdenkend auf dem Schläfer. Dann nahm er vorsichtig die Feder, schrieb einige Worte unter den Brief und legte denselben wieder an seine vorige Stelle.

Mit leichten Schritten, ohne daß der Schläfer erwachte, verließ er das Gemach. Draußen auf dem Korridor standen zwei Grenadiere des Regiments gleich Statuen auf ihrem Posten. Der Kaiser nickte ihnen zu und schritt die breite Treppe hinab, die in den Vorhof führt. Einen Augenblick blieb er sinnend an der großen, mit drei Kreuzen geschmückten Steinplatte stehen, welche die Stelle bezeichnet, auf der er an jenem blutigen 26. Dezember den Grenadieren den Naslednik (Thronfolger) übergab. Dann hüllte er sich in den Mantel und verließ den Bereich des Palastes.

Es war noch zu früh, als daß die Isworstschiks (Droschkenkutscher), deren sich der Kaiser bei seinen Besuchen häufig bediente, bereits auf den Halteplätzen sein konnten, und der Monarch ging daher rasch zu Fuß weiter, die Alexander-Newski-Perspektive hinauf. Es war sechs Uhr, als er das Korps – wie die Kadettenhäuser und Militär-Erziehungs-Anstalten genannt werden – erreichte, dessen Besuch er beabsichtigt hatte, die Zeit, um welche die jungen Soldaten regelmäßig Winter und Sommer aufstehen müssen. Die Wache schlug eben die Reveille, als der Kaiser das Tor passierte und sofort nach einem der großen Speisesäle sich begab. Wie ein Lauffeuer ging die Nachricht von der Ankunft des Kaisers durch alle Gänge des weitläufigen Gebäudes, und ehe die fünf Minuten, welche er bei solchen Gelegenheiten, wie bei Audienzen, der Verspätung einräumte, vergangen waren, wirbelten im Hofraum die Trommeln zum Antreten, und der Gouverneur der Anstalt, Oberstleutnant Moradowitsch, begrüßte den Monarchen in dem Saal.

»Die Offiziere, welche vor drei Tagen das Examen bestanden haben, sollen heute das Korps verlassen und in die Garnisonen abgehen?«

»Zu Befehl, Sire.«

»Gut! Ich will sie vorher sehen. Später habe ich keine Zeit. Komm!«

Er ging voran nach dem Hof. Der Gouverneur und die den Unterricht erteilenden Offiziere, die sich vor dem Saale aufgestellt hatten, folgten ihm.

Auf dem Hofe standen kompagnieenweise in ihren Hausuniformen die jungen Leute, welche ihre Erziehung in der kaiserlichen Anstalt genossen, um von dieser aus in die Armee zu treten. Da der Kaiser auf eine möglichst gründliche Ausbildung für den Dienst und hohe Klassen hielt, in denen das Avancement bis zum Leutnant erfolgen konnte, auch den allzu frühen Eintritt in den aktiven Dienst nicht liebte, so war das Alter der Kadetten sehr verschieden.

Die Offiziere traten an ihre Abteilungen, der Kaiser ging musternd an den Fronten vorüber. Das Tageslicht war bereits vollständig eingetreten.

»Laß die neuen Offiziere und Fähnriche vortreten.«

Der Gouverneur erteilte den Befehl; einundzwanzig Jünglinge traten aus den Reihen und stellten sich vor dem Monarchen auf. Zwei derselben, die an der Spitze standen, waren die Ältesten und schienen bereits das zwanzigste Jahr erreicht oder überschritten zu haben.

»Die Zeugnisse!«

Der Oberleutnant präsentierte sie und der Kaiser nahm sie ihm einzeln ab, wie er nach der Reihe die jungen Leute musterte.

Gleich bei dem ersten blieb er stehen und betrachtete ihn mit durchdringendem Blick, den der Jüngling fest und unverrückt aushielt.

Es war ein junger Mann von hoher, schlanker Figur, mit blassem, klassisch geschnittenen Gesicht von energischem Ausdruck, das Auge dunkel und feurig, sonst in seinem Wesen einfach und anspruchslos.

»Wir kennen uns. Du bist Djemala-Din, der Sohn des Imam Schamyl?« Djemala-Din, der älteste Sohn Schamyl's, war von ihm im Jahre 1839 bei dem Sturme auf Achulgo, wo er selbst nur wie durch ein Wunder entkam, als ein kaum 7jähriger Knabe dem russischen Gouvernement als Geißel gestellt und war seitdem auf kaiserliche Kosten in dem Kadetten-Korps erzogen worden. – Wir werden später Gelegenheit haben, sein ferneres Schicksal dem Leser vorzuführen.

»Ja, Sire!«

»Dein Vater hat mir in diesem Sommer viel zu schaffen gemacht. Ich wünschte, er wäre so gut russisch wie Du. Ich habe Dich lange warten lassen mit einer Offiziersstelle, aber ich wollte, daß Du tüchtig ausgebildet würdest, damit es hafte, was Du gelernt hast. Es freut mich, daß Deine Zeugnisse sämtlich gut lauten. Du hast Dir, wie ich sehe, selbst das Ulanenkorps gewählt und gehst nach Polen?«

»Mit Ihrer Erlaubnis, Sire!«

»Schön! Du wirst immer an mir einen Freund finden und ich habe für Deine Ausrüstung bereits gesorgt. In Warschau melde Dich sogleich beim Fürsten Statthalter, er wird Dir das Nötige mitteilen. Nimm die beiden Pferde, die Du dort findest, als Geschenk von mir und halte Dich brav. Ich habe die Augen auf Dich gerichtet.«

Er reichte ihm die Hand, und als der junge Mann sich tief gerührt darüber beugte, küßte er ihn auf die Stirn.

»Sire! Welche auch meine Zukunft sein möge, ich werde nie Ihrer Güte vergessen!«

Er trat zurück in die Reihe seiner Gefährten. Der forschende Blick des Kaisers traf seinen Nachbar und er sah aufmerksam das Zeugnis durch, das der Gouverneur ihm reichte.

Der junge Mann war eine mittelgroße, gedrungene Gestalt mit intelligentem Gesicht, aber einem starken Zug von Trotz und Eigenwillen um den Mund.

»Ein Ocholskoi? Ein guter Name, aber viel schlimmes Blut in dem Geschlecht. Du bist zwei Jahre länger in dem Korps geblieben, junger Mensch, als Deine Fähigkeiten nötig machten. Warum?«

»Man hat mir die Erlaubnis zum Examen verweigert, Euer Majestät.«

»Ich sehe es. Du bist zehn Mal in einem Jahre wegen Ungehorsams und Widerspenstigkeit bestraft. Wie ist's mit ihm, Maradowitsch?«

»Er ist einer der besten Zöglinge des Korps, Majestät,« sagte der Gouverneur entschuldigend, »aber er ist schwer zu bändigen.«

»Ich werde es übernehmen,« entgegnete der Zar, »Gehorsam, unbedingter Gehorsam ist das Erste, was ein Soldat lernen muß. Ohne blindes Gehorchen kein Befehl. Ich habe gehört, Du machst Verse, freie Verse, die Du drucken läßt. Das ist keine Beschäftigung für einen Soldaten. Denke an Lermontof. Derselbe wurde wegen seines Gedichtes auf Puschkins Tod: »An Rußlands Schutzgeist«, als Soldat nach dem Kaukasus geschickt. Ist bereits über ihn verfügt?«

»Er wird bei den Felddragonern eintreten.«

»Halt da. Lassen Sie die Bestimmung ändern. Er soll zu Bodisko gehen nach Bomarsund, und wenn er dort zwei Jahre sich tadelfrei geführt und Gehorsam gezeigt hat, mag er in das bestimmte Korps eintreten.«

Eine fahle Blässe überzog das Gesicht des jungen Mannes. Die Alandsinseln gelten in der russischen Armee für eine Strafkolonie, gefürchteter als die Verbannung nach dem Kaukasus. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück in die Reihe.

»Halt!«

Der Verbannte stand wie eine Mauer.

Der Kaiser küßte auch ihn auf die Stirn.

»So, nun tritt zurück und lerne gehorchen!«

Er kontrollierte ebenso sorgfältig die Zeugnisse der übrigen Neunzehn, lobte und tadelte. Als er dann an der Kolonne der Kadetten vorüberging, trat plötzlich einer derselben, fast noch ein Knabe, mit schönem, blondgelocktem Haar und offenem, Zutrauen erregendem Gesicht vor und beugte ein Knie. Der Kaiser blieb freundlich stehen und sagte zu dem jungen Mann:

»Steh' auf, Kind, was willst Du von mir?«

»Euer Majestät danken für das Glück, daß ich meinen Großvater umarmen durfte, und …«

»Wie heißt Du, mein Sohn? Wer ist Dein Großvater?«

»Graf Lubomirski, Euer Majestät. Euer Majestät haben den alten Mann begnadigt und er befindet sich hier.«

Der Zar runzelte leicht die Stirn; er liebte es nicht, an Verurteilungen oder Begnadigungen erinnert zu werden.

»Es ist brav von Dir, daß Du die Deinen liebst. – Aber Du wolltest noch etwas?«

»Ich wollte Euer Majestät um die Gnade bitten, daß ich den Feldzug gegen die Türken mitmachen darf. Ich möchte Euer Majestät so gern meine Dankbarkeit und meine Treue bezeigen.«

Der Kaiser lächelte, so weit in dies eherne Gesicht Lächeln treten konnte, und klopfte den Knaben auf den Kopf.

»Wie steht's mit ihm, Moradowitsch?«

»Er ist ein fleißiger und talentvoller Schüler, Sire, aber erst sechszehn Jahre.«

»Nun, so warte noch ein Jahr, die Sache ist noch lange nicht zu Ende für Dich und mich. Dann sollst Du als Junker eintreten. – Adieu, Kinder, gehabt Euch wohl, es wird Zeit für mich.«

Die Trommeln rasselten, der Kaiser salutierte und verließ den Hof. Am Ausgang lehnte er mit einer strengen Handbewegung jede weitere Begleitung ab und schritt allein auf die Straße hinaus eine kurze Strecke, bis ihm ein Isworstschick mit dem leeren Gespann entgegenkam. Er winkte ihm, umzukehren und warf sich in das offene Gefährt.

»Na domo!« (Nach Hause!) sagte er zerstreut.

Die Droschke flog davon und hielt in der Nähe des Winterpalastes. Befremdet stieg der Kaiser, der es ungern sah, wenn man ihn auf seinen frühen Ausgängen erkannte, aus und fragte den Kutscher:

»Kennst Du mich denn?«

Ein schlaues: »Nein, Väterchen!« war die Antwort.

»Aber ich habe meinen Geldbeutel vergessen!«

»Tut nichts, Väterchen, Du bezahlst mich ein ander Mal!«

»Nein,« sagte der Kaiser, »ich mache keine Schulden. Warte hier.«

Er verschwand in dem Hofe des Palastes, und der Kutscher, der den Kaiser sehr wohl erkannt hatte, hielt geduldig sein Pferd an. Eine kurze Weile darauf brachte ihm ein Offizier aus dem Palaste drei Imperials. Das Gesicht des Kutschers, als er mit dem reichen Fahrgeld davongaloppierte, konnte nicht froher und glücklicher sein als das des Offiziers, der ihm das Geld gebracht. Es war derselbe, der im Vorzimmer des Kaisers über dem Briefe eingeschlafen war. Als er erschrocken durch die zufallende Tür aufwachte, fand er unter dem Briefe die Worte: Historisch.

»Vorzeiger hat zwei Monate Urlaub und aus der Kaiserlichen Schatullen-Kasse 500 Silberrubel zu erheben.

Nicolas.«

Als der Zar zurückkehrte, warf sich der junge Offizier ihm zu Füßen. Der hohe Herr aber sandte ihn mit jenem Geschenk zu dem Isworstschick. –

Es war fünf Minuten vor sieben Uhr, als der Kaiser sein Kabinett wieder betrat und Helm und Mantel ablegte. Der Kammerdiener brachte ihm das bereit gehaltene Frühstück. Während er dasselbe genoß, schlug die Uhr Sieben und zugleich wurde der Reichskanzler gemeldet.

Es war ein Greis von 75 Jahren, denn der Graf war 1780 – als Kosmopolit auf einem englischen Schiff auf der Rhede von Lissabon – geboren, während sein Vater, aus der rheinisch-bergischen Familie der Grafen von Nesselrode-Ehreshoven stammend, dort russischer Gesandter war. Bei dem Wiener Kongreß machte sich der Graf zuerst in der politischen Welt bemerklich und galt auch für einen der schönsten Männer jener zahlreichen und glänzenden Versammlung.

Noch zeigten sich die Spuren der ehemaligen Schönheit in dem ruhigen, feinen Gesicht mit der hohen Greisenstirn. Selbst die hohe Gestalt war nur wenig gebeugt.

Der Kaiser bewies stets große Achtung und Rücksicht für den alten Staatsmann und legte sehr bedeutendes Gewicht auf seine Meinung. Er kam ihm auch diesmal beim Eintritt einige Schritte entgegen und lud ihn ein, sich an dem zweiten Tisch niederzulassen, auf dessen Platte der Minister das mitgebrachte, ziemlich umfangreiche Portefeuille öffnete.

»Ich bitte, Graf, gieb mir zuerst die auswärtigen Tagesberichte; welche Neuigkeiten? Ich bin seit einiger Zeit begieriger darauf, als es sonst der Fall war.«

»Baron von Brunnow, Sire, hat auf meine Anweisung durch den Telegraphen am 15ten bei Lord Clarendon offiziell angefragt, welchen Weg die englische Regierung nun einschlagen werde, nachdem ihr bekannt geworden, daß Euere Majestät die Vorschläge der Pforte abgelehnt haben. Am 16ten sind dem englischen und dem französischen Kabinett durch unsere Gesandten unsere beiden Depeschen vom 7ten mitgeteilt worden.«

»Und die Antwort?«

»Es liegt erst die des Herrn von Kisseleff vor, die gestern Abend eingetroffen. Der Gesandte hat von Brüssel aus in der geheimen Chiffre telegraphiert, also das Resultat nur im Geheimen erfahren. Hier ist die Depesche.«

»Lesen Sie, Graf.«

»Herr von Kisseleff meldet: Am 17ten Depesche nach Wien, daß Frankreich nicht weiter zur Annahme der Note rate, da unsere Kritik vom 7ten anderen Sinn als die Westmächte unterlege.«

»Ein leerer Vorwand, nach dem man gesucht hat.«

»Der Gesandte meldet weiter: Vorschlag des Herrn Drouin nach London, wegen der Unruhen die Flotten nach Konstantinopel zu berufen.«

»Wieder ein willkommener Vorwand! Und wie lauten die Nachrichten aus London?«

»Sire, es fehlen noch die Depeschen.«

»Sie könnten längst hier sein, wenn man eine Antwort gegeben hätte. Lord Clarendon wird sich besinnen, auf die neuen Wühlereien des Herrn Drouin de L'huys einzugehen.«

Der greise Staatsmann zuckte leicht die Achseln.

»Was denken Sie davon, Herr Graf?«

»Sire, Euer Majestät Vorliebe für England behindert Ihren sonst so klaren politischen Blick. Wenn auch im Augenblick der Einfluß unseres Gegners Lord Palmerston beseitigt ist, bleibt England doch unverändert der geheime und bittere Gegner Rußlands und wird die Lockung nie vorbeigehen lassen, unsere Suprematie im Orient zu brechen.«

Der Kaiser schritt einige Male ungeduldig im Zimmer auf und ab.

»Dieses England! Dieses England! – Ich meinte es so aufrichtig mit ihm. Der Osten und das Meer gehörten uns beiden ohne Eroberung, wenn es ehrlich gehandelt hätte.«

»Sire, ich habe Ihnen immer gesagt, Rußlands natürlicher Verbündeter ist Amerika. Ein Reich, das noch eine Zukunft hat, muß sich nie mit einer Macht alliieren, die bereits auf dem Gipfel steht und nach den Gesetzen der Geschichte und der Natur nur die absteigende Linie vor sich hat.«

»Das hieße aber, sich mit der Revolution, mit der Demokratie verbinden, die ich hasse und bekämpfe.«

»Sire, der Konstitutionalismus von England ist die permanente gefährliche Revolution, nicht Amerika, das nur damit kokettiert. Nach Euer Majestät Prinzip gäbe es dann kein loyaleres Bündnis als Frankreich.«

Der Kaiser schwieg einige Augenblicke.

»Was schreibt man aus Konstantinopel?«

»Staatsrat Pisani berichtet über die revolutionäre Bewegung der Kriegspartei am 10ten. 29. August alten Stils. Um die doppelten Bezeichnungen zu vermeiden, geben wir auch wo die Szene in Rußland spielt, nur die Daten des neuen Kalenders, der mit dem älteren um 12 Tage divergiert. Was er mitteilt, ist von Wichtigkeit und bestätigt meine Ansichten.«

»Geben Sie mir einen Auszug!«

»Schon seit Beginn des Monats machten sich in Konstantinopel die Bewegungen der Kriegspartei auffallend bemerkbar. Die zweimalige Verwerfung der Wiener Note in dem Divan vom 14. und 15. August war offenbar ihr Werk. Eure Majestät wissen, daß der Schwager des Sultans, Mehemed Ali, an der Spitze dieser Partei steht und unser gefährlichster Gegner ist. Mehemed Ruschdi-Pascha (Kommandeur der Garden), Mahmud-Pascha (Großadmiral) und Hamik-Pascha (Handelsminister) sind seine Anhänger. Wenn auch Mehemed nicht, der offenbar von ehrgeizigen Spekulationen getrieben wird, so doch bei mehreren anderen Persönlichkeiten, hätte meiner Ansicht nach Fürst Mentschikoff die zwei Millionen Silberrubel, die er für dergleichen Zwecke mitnahm, weit nützlicher für die Interessen Eurer Majestät verwenden können, als daß er sie unberührt nach Odessa wieder zurückgebracht hat. Der tiefe Verfall der Türkei bedingt, daß in Konstantinopel alles für Geld feil ist.«

»Er ist ein Eisenkopf,« sagte der Kaiser, »und haßt die Türken.«

»Ein wichtiger Teil der kriegslustigen Partei waren von Anfang an die Ulemas und Saftas. (Der Koran – in arabischer Sprache geschrieben, aus welcher er nicht übersetzt werden darf – ist nicht allein das religiöse, sondern auch das bürgerliche Gesetzbuch. Die Ulemas sind die Ausleger des Korans und bilden daher gleichsam eine Klasse religiöser Rechtsverständiger: Saftas heißen die Schüler und Studierenden. Das Haupt der Ulemas ist der Scheik ul Islam, gleichsam Justizminister. Unter ihm steht an der Spitze der Ulemas jeder Provinz ein Karaskier, der aber in Konstantinopel residiert. Diese bilden einen Rat, an den sich der Sultan in wichtigen Dingen mit der Frage wendet, was der Koran entscheidet. Die Erklärung des Rates heißt Fetva. – Der Rat hat sich für den Krieg entschieden.) Es ist dies natürlich, da sie eigentlich den Ultramontanismus des Islam vertreten und für die eigene Existenz kämpfen. Euer Majestät wissen aus den früheren Berichten, daß Sultan Abdul Medschid aller Energie bar und ein Spielwerk in der Hand seiner Untergebenen ist. Um so mehr ist die geringe Diplomatie des Fürsten Mentschikoff zu beklagen. Reschid-Pascha hat zwar die westmächtlichen Sympathieen, ist aber klug genug, einzusehen, daß der Türkei das unbeschränkte Bündnis mit Frankreich und England mehr Opfer kosten wird, als alle Forderungen des bisherigen diesseitigen Einflusses. Es lebt ein tiefes unabweisbares Gefühl in der türkischen Bevölkerung, daß eine gewaltsame Entscheidung zwischen der Herrschaft des Islam und des Christentums erfolgen müsse. Selbst die Friedensfreunde suchen sie nur hinauszuschieben.«

»Der unheilbar kranke Mann. Meine Großmutter (Katharina II.) hat es schon gesagt.«

»Bereits seit Anfang des Monats hat man an verschiedenen Orten Konstantinopels Anschläge gefunden, durch welche der Sultan aufgefordert wurde, die Fahne des Propheten gegen die Christen zu erheben, oder abzudanken. Die Saftas und Ulemas hielten geheime Versammlungen und am 10. überreichte eine Deputation von ihnen dem Konseil eine Adresse an den Sultan, in welcher durch Sprüche aus dem Koran die Notwendigkeit des Krieges dargetan wurde. Eine zweite Adresse forderte ihn auf, bis zum Beginn des Beiram, bis zum 15. seine Entscheidung abzugeben oder dem Throne zu entsagen!«

»Ha! Advokaten, Pfaffen auch dort!«

»Wir wissen ganz bestimmt, Sire, daß diese Bewegung im Stillen von Ruschdi und zwar im Auftrage von Mehemed Ali geleitet wurde. Sowohl Lord Redcliffe, als Herr de Latour wußten darum, denn, nachdem sie auf Grund der bald und mit einem Dutzend Köpfe der Softas gedämpften Emeute erklärt hatten, daß sie zum Schutze der Christen am Beiram einige Kriegsschiffe nach Konstantinopel rufen würden, trafen ohne den Ferman, den der Sultan für die Flotten beharrlich verweigert, bereits am Morgen des 15. von den Geschwadern in der Besika-Bai zwei englische und zwei französische Dampffregatten ein. – Dies wäre ganz unmöglich gewesen, wenn dieselben nicht bereits vorher Anweisung gehabt hätten. Die englisch-französische Absicht liegt daher klar am Tage.«

»Und der Beiram?«

»Die Prozession ist ruhig vorübergegangen.«

Der Kaiser blieb am Tische des Grafen stehen und stützte die Hand darauf.

»So mögen sie es denn haben,« sagte er nach einer Pause; »man zwingt mich zum Kriege. Ist er einmal eröffnet, so ist sein Ende schwer zu übersehen und eine innere Stimme sagt es mir, – ich werde dies Ende nicht erleben. Aber mein Rußland wird, und wenn halb Europa dagegen in die Schranken treten sollte, – es wird – es muß siegen! Ich habe es dafür stark gemacht.«

Er ging noch ein Mal gedankenvoll durch das Zimmer.

»Ich habe diesen Krieg nicht mutwillig oder eigensinnig hervorgerufen, bei Gott nicht! Aber ich und dieses Reich haben unsere Mission zu erfüllen. Diese Mission ist das Erbe meiner Väter, ein politisches und religiöses. Rußland ist der Damm gegen die Revolutionen, gegen die umstürzenden, zerstörenden Ideen von Westen her; darum, um ihnen Trotz bieten zu können, mußte es stark und mächtig sein, und ich habe getan, was an mir war, selbst auf Kosten des eigenen Herzens, vielleicht des Rechts, es kräftig in seinem Innern, gefürchtet nach außen zu machen. Das schwarze Meer ist eine Lebensnotwendigkeit für Rußland, und um seiner Existenz und Zukunft willen kann und wird es nie dulden, daß am Bosporus ein anderer Einfluß dominiert. Seine religiöse Mission, sein Erbe ist der Schutz unseres heiligen Glaubens im Süden und Osten. Elf Millionen Christen sehen aus ihrer Not, aus der täglichen Bedrängnis vertrauend auf mich. – Ich habe das Werk meines Urgroßvaters Peter fortgesetzt, den Russen zum Bürger seines Landes zu machen und ihm seine Menschenrechte zu geben, – und ich sollte zögern, wo es gilt, unseren unterdrückten Glaubensgenossen zu helfen und endlich ihre Christenrechte zu sichern?«

»Erinnern Sie sich, Sire, daß diese Absicht schon einmal an der Rivalität von Frankreich und England scheiterte.«

»Sie haben Recht, ich war zu nachgiebig, man soll mich nicht mehr so finden, wenn man mich denn mit Gewalt herausfordern will.«

»Wie denken Eure Majestät über den Plan, den Vice-Admiral Nachimow vorgelegt hat?«

»Nein, Nesselrode, nein! ich weiß, daß er den Erfolg mit einem Schlage sichern, den Sieg in unsere Hände geben und einen vielleicht langen und schweren Krieg vermeiden würde. Die russische Flotte von Sebastopol unerwartet in den Bosporus werfen, die Schlösser als Pfand besetzen und Konstantinopel mit einer Armee im Schach halten – der Plan ist militärisch vortrefflich, aber – es geht nicht!«

»Sire – im Falle eines Krieges sichern Sie dadurch allein Ihre Flotte und die Herrschaft des Meeres.«

»Nein – nein! – Sebastopol wird meine Flotte schützen, man kann mich höchstens an den Küsten verwunden. Ich aber opferte damit meine ganze Vergangenheit, die bewiesen hat, daß ich kein Eroberer bin. Habe ich nicht im Frieden von Adrianopel, als die Türkei in meiner Hand war, alle Eroberungen zurückgegeben? Haben meine Schiffe und meine Armee nicht den Sultan zwei Mal vor seinen rebellischen Vasallen gerettet? Wer, frage ich, hinderte mich im Jahre 1848, als alle Welt die Hände voll zu tun hatte, zu nehmen, was ich wollte? – Statt dessen brach ich die Revolution in Ungarn und rettete Österreich.«

Der Reichskanzler beugte sich, ohne ein Wort zu entgegnen, auf seine Papiere nieder.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, man hat mich vielfach gewarnt. Fürst Schwarzenberg soll mit Bezug auf Rußland noch kurz vor seinem Tode gesagt haben: Europa würde binnen wenig Zeit über die Undankbarkeit Österreichs staunen, aber ich glaube daran nicht. Von Fritz, meinem Schwager, weiß ich, daß er es ehrlich meint mit Rußland, wenn ich auch nur passiven Beistand von dort erwarte. Die heilige Alliance, die Sie selbst mit schließen halfen, ist ein Erbe unserer Vorgänger, das uns heilig ist. Ich traue auf den Kaiser Franz Joseph, er ist ein junger Mann, der die Traditionen Österreichs nicht zu Schanden machen wird. Vertrauen erweckt Vertrauen! Hier biete ich es!«

Der Kaiser nahm einen versiegelten Brief von seinem Tisch, der dort umgekehrt gelegen, und reichte ihn dem Kanzler.

»Ich schrieb ihn diese Nacht. Schicken Sie ihn sogleich mit einem Kourier nach Olmütz ab, wo auch mein Schwager Wilhelm bereits eingetroffen sein wird. Es ist die Anzeige meines Besuchs im Olmützer Lager. – Sie werden mich begleiten; wir reisen morgen nach Warschau ab.«

Der Graf legte den Brief in sein Portefeuille.

»Und nun, Batuschka,« (Väterchen) sagte der Kaiser freundlich und legte ihm die Hand auf die Schulter, »wie denkst Du über den Erfolg? Werden England und Frankreich im Falle eines Krieges wirklich auf den Kampfplatz gegen mich treten, wenn man meine Westgrenzen durch Deutschland gesichert sieht?«

»Sire, ich habe bereits Euer Majestät wiederholt meine Überzeugung ausgesprochen und durch Gründe belegt, daß die Verwicklung von Frankreich veranlaßt ist und nicht so weit getrieben sein würde, wenn man nicht von vornherein die Absicht eines Krieges zwischen Eurer Majestät und England gehabt hätte. Ich bin noch immer der Ansicht, daß unsere Zeit noch nicht gekommen ist; unsere Einrichtungen und Transportmittel sind noch nicht vorgeschritten genug, – mit einem Wort, Sire, wir sind nicht vorbereitet.«

»Dolgorucki steht für die Armee, ich kenne sie selbst genau und weiß, was Kronstadt und Sebastopol leisten können.

»Kleinmichel hat Zeit und Mittel gehabt, die Straßen im Süden genügend in Stand zu setzen, so daß der militärischen Kommunikation kein Hindernis im Wege steht, wenn wir auch noch keine Eisenbahn haben.«

»Die geringe Anzahl unserer Truppen in den Fürstentümern beunruhigt mich, Sire. Ist der Krieg unvermeidlich, so muß man ihn mit voller Energie beginnen.«

»Aber ich habe Dir gezeigt, man macht mir die Pfandnahme ohnehin schon zum Vorwurf, selbst mein Schwager in Berlin. Eine Operations-Armee würde unseren Gegnern nur Waffen in die Hände gegeben haben. Übrigens ist Gortschakoff stark genug, dem Renegaten Omer die Spitze zu bieten.«

»Die französische Armee ist in vorzüglichem Stand und disponibel. Die verschiedenen Lager sind nicht ohne weitergreifende Absichten gebildet. Wenn auch die englische Landmacht nicht ins Gewicht fällt, so kann das Bündnis doch binnen kurzer Frist eine sehr bedeutende Macht an den Bosporus werfen, die entente cordiale wird sich ergänzen und hat die Mittel in Händen.«

»Sie ist unerhört, diese unnatürliche Verbindung, gegen alle Tradition und Politik! Und es scheint Ernst damit zu werden.«

»Sire, ich glaube, ganz Europa hat sich in Napoleon III. verrechnet. Es ist offenbar, daß England hierbei sein Werkzeug ist. Er hat eine Erbschaft angetreten, deren erster Artikel der Haß gegen England und Rußland ist, an denen sein Oheim unterging. Er hat vor diesem die Erfahrung und Ruhe voraus. Ein einziges Wort, das ihm zur Zeit des Staatsstreiches entschlüpft ist, enthüllt seine Pläne und seinen Charakter.«

»Was meinen Sie?«

»›Die Rache ist ein Gericht, das kalt genossen werden muß.‹

»Die Verbindung mit England in einem Kriege wird und muß die Schwäche desselben vor der ganzen Welt enthüllen. Frankreich, selbst geschlagen, wird der Sieger sein. Der Kampf zwischen England und Rußland kann durch die Schwächung beider Gegner nur sein Vorteil werden. In einem einzigen Calcül wird sich hoffentlich der Kaiser Napoleon irren, in der Spekulation, daß Oesterreich und Preußen sich in einem Kriege durch Teilnahme gegen uns gleichfalls schwächen werden. Diese beiden, wenn sie fest bleiben gegen die Verlockung, könnten einst das Paroli bilden, denn glauben Eure Majestät, man wird versuchen, halb Europa in eine Revolution gegen uns zu verwickeln.«

»Wissen Sie, Nesselrode,« sagte der Kaiser vertraulich, »daß ich anfange, gewisse Vorschläge an Frankreich zu bereuen?«

»Die von Eurer Majestät großem Ahnen überkommene Politik und das Interesse Rußlands geboten den Versuch und gehen über jede andere Rücksicht.«

»Sie überzeugen mich, und dennoch kann ich noch immer nicht glauben, daß man zu einem Angriff gegen mich schreiten wird.«

»Ich wiederhole Eurer Majestät, der Angreifende hat den Vorteil. Es ist ein Krieg und eine Rache der Revolution gegen uns.«

»Europa, die Throne sollten das bedenken.«

»Leider ist auch in dieser Beziehung zu wenig vorbereitend geschehen. Eure Majestät sind nun einmal eingenommen gegen die Macht und die Bedeutung der Presse.«

»Bah, ich verachte sie, es ist hohle Lüge und Deklamation durch und durch. Nichts Zuverlässiges. Auf Ihren Wunsch habe ich ja zwanzigtausend Imperials für die Zwecke bewilligt, was wollen Sie noch mehr?«

»Sire, ich glaube, es war zu spät. Die Presse läßt sich in unserer Zeit wohl beeinflussen, aber nicht mehr kaufen. Wir haben manches versäumt. Ich kann mich von dem Glauben nicht losmachen, daß Eure Majestät der altrussischen Partei zu schnell nachgegeben haben.«

»Wohl, so sei diese Reise der letzte Versuch, den Frieden zu sichern. Ich werde den Angriff abwarten und sie mögen zerschellen an Rußlands Kraft.

»Sind weitere Depeschen und Nachrichten eingegangen?«

»Der ausführliche Bericht des Staatsrats Fonton über seine Reise durch Serbien liegt vor. Die Bevölkerung ist begeistert für Eure Majestät und das Auftreten Rußlands.«

»Das gibt Oesterreich einige Beschäftigung und sichert uns vor Ueberflügelung.«

»Oberst Berger befindet sich wieder in Cettinje. Sein Einfluß ist durch die Bemühungen des Wiener Kabinetts sehr beschränkt. Der Vladika hat neuerdings strenge Verfügungen gegen die Razzias erlassen müssen. Im Volk selbst aber herrscht die Erbitterung fort und zeigt sich bei jeder Gelegenheit, namentlich seit einer der gefeiertsten Häuptlinge, der Beg Martinowitsch, von den Türken ermordet worden ist.«

»Wenn der russische Adler ruft, werden meine wackeren Montenegriner nicht müßig sein. – Es war ein großer Fehler am Wiener Kongreß, Montenegro zu isolieren und Corfu aufzugeben.«

»Baron Meyendorf meldet aus Wien, daß man dort die bestimmten Beweise habe, daß die Führer der revolutionären Propaganda, namentlich Kossuth und Mazzini, mit der Kriegspartei des Divan in genauem Rapport stehen.«

»Das müßte man von Konstantinopel aus wissen. Wir sind dort bei weitem nicht mehr so gut bedient wie früher.«

»In Madrid ist das Ministerium Lersundi gefallen. Der Sieg der revolutionären Partei bereitet sich vor.«

»Der Fluch des begangenen Unrechts. Es fehlt diesen Bourbonen an persönlichem Mut, ihr alles in die Schranken zu werfen, sonst hätten längst die Dinge im Westen einen anderen Gang genommen.«

»Der Kriegsminister wird Eurer Majestät die Berichte des Fürsten Gortschakoff vorlegen, sowie den Rapport über den Zustand der Festen am kaukasischen Ufer.«

»Es ist bereits beschlossen, ich gebe sie auf.«

»Fürst Mentschikoff sendet Berichte aus Konstantinopel. Der Rest der türkischen Truppen ist am 10. nach Varna abgegangen. Die türkisch-egyptische Flotte liegt noch immer unverändert vor Beykos. Der spanische General Prim ist nach Schumla abgereist, nachdem er in Konstantinopel spärliche Beachtung gefunden hat.«

»Der Don Quixote!«

»Am Libanon unter den Drusen sind neue Unruhen ausgebrochen, – ich habe unsere Agenten in Syrien instruieren lassen. An verschiedenen Stellen Rumeliens, z. B. in Saloniki, haben neue schändliche Mißhandlungen der christlichen Untertanen ganz ungescheut stattgefunden. Aus Bulgarien ist eine Deputation in Konstantinopel angekommen, welche über die Scheußlichkeiten der Baschi-Bozuks gegen die Bevölkerung Beschwerde führen soll.«

Der Kaiser lachte verächtlich.

»Gerechtigkeit und Schutz bei dem Moslem! – Täglich solche Erfahrungen und das christliche Europa will mir nicht gestatten, Christen gegen ihre geborenen Henker zu schützen! – Haben Sie aus Athen Nachrichten?«

»Eine unbedeutende Veränderung im Ministerium. Das Ministerium der Justiz, das der Minister des Auswärtigen Pajkos bisher verwaltet, ist an den Professor Gilitza übergegangen. Der englische Gesandte tritt in animoser Weise gegen die Sympathien auf, die sich offen unter der Bevölkerung Athens und des Landes für uns zeigen.«

»Nichts Näheres? – Sie wissen, Graf, seine Macht ist Null, aber ich rechne viel auf die Sympathien Griechenlands vor den Augen Europas.«

»Ihre Majestät die Königin wiederholt unserem Gesandten die gegebenen Zusicherungen, doch ist Vorsicht nötig und man klagt über die Intriguen dieses Herrn Kallergis, der eben aus Paris zurückgekehrt ist. – Alle Vorbereitungen sind getroffen, im Augenblick einer Kriegserklärung wird Major Caraiskakis sofort an der Grenze die Fahne des Kreuzes aufpflanzen und den Aufstand nach Epirus und Thessalien werfen. In Albanien von Montenegro aus wird sein Stiefbruder Grivas dasselbe tun. Es gährt überall im Lande und wird die Truppen in Süd-Rumelien zur Genüge beschäftigen.«

Die Uhr schlug acht.

Mit dem letzten Schlage trat der diensttuende Adjutant in das Kabinett.

»Sind wir zu Ende, Herr Reichskanzler?«

»Ja, Sire!«

»Ah, guten Morgen, Mansuroff. Sie werden mich begleiten. Wer hat heute außer den Befohlenen um Audienz nachgesucht?«

»Fürst Iwan Oczakoff bittet um die Gnade, sich vor seiner Abreise beurlauben zu dürfen.«

»Ist er nicht dem Stabe des Fürsten Mentschikoff beibeordert worden?«

»Zu Befehl, Sire, doch hat er zuvor Urlaub, seine auf der Kourierfahrt von Paris in Berlin erkrankte Schwester auf ihre Güter in der Krim zu bringen. Die Aerzte haben ihr den Aufenthalt im Süden verordnet.«

»Wer weiter?«

»Graf Lubomirski, den Eure Majestät vom Exil begnadigt haben, will Allerhöchstderselben seinen Dank zu Füßen legen.«

»Lubomirski? – Er hat einen braven Enkel, doch liebe ich die Begegnung mit dem alten Rebellen nicht; es ist genug, daß ich verzeihe. Es war ja wohl auf Ihre Empfehlung, Nesselrode?«

»Er ist ein alter Mann und hat uns in Paris mancherlei Dienste geleistet.«

»Genug; sagen Sie den Herren, ich nähme die Meldung für empfangen an, aber meine Zeit wäre heute allzu beschränkt. Herr Reichskanzler, für morgen früh 6 Uhr! Der Großfürst Nicolas wird uns begleiten, von Warschau aus der Fürst Statthalter.«

»Sire, ich werde die Ehre haben, Eure Majestät auf der ersten Station zu erwarten. Ich beurlaube mich!«

»Adieu! Adieu! – Geben Sie mir den Helm, Mansuroff, kommen Sie!« – – –

Der Kaiser verließ das Kabinett. – – –

Wir werden es in einer schweren Stunde wieder betreten.

III. Wien.

Im Hofraum eines jener alten aristokratischen Palais, deren die Altstadt Wien in ihren krummen, mittelalterlichen Straßen noch viele bewahrt hat und welche die hohen Familien, wie zu ihrem alten Geschlecht gehörig, sorgsam hegen, hielt ein reichgallonierter Stalldiener zwei prächtige, ungarische Pferde in schwerem Silbergeschirr mit rotseidenem Behang und Zügeln, vor einen zierlichen Tilbury gespannt, dessen leichter graziöser Bau das englische Muster verriet. Ein Jockey, in Grün und Silber gekleidet, stand daneben, während nicht weit davon ein Reitknecht zu Pferde mit einem schönen, halbblütigen Reitpferde wartete.

Die Vordertreppe des Mittelbaues kamen soeben ein Herr und eine Dame herunter; die Letztere, eine elegante Schönheit, etwa 24 Jahre, von feinen, zierlichen Formen. Das länglich schmale, blasse Gesicht mit der feingebogenen Nase und den hochgeschwungenen, scharf gezeichneten Brauen über den feurigen Augen kündete den sarmatischen Ursprung. Eine große Lebendigkeit und Rastlosigkeit tat sich in allen Bewegungen der kaum mittelgroßen Gestalt der Dame kund.

Ihr Begleiter trug die Interims-Uniform eines russischen Kapitäns mit dem Kasket. Er war ein großer, schlank gewachsener Mann von nahe an dreißig Jahren und ernster, denkender Gesichtsbildung. Seine Brust schmückte die Miniatüre dreier Orden, eines russischen, eines österreichischen und eines preußischen.

»Da Ihr Onkel mich für die Spazierfahrt im Prater zu Ihrem Kavalier ernannt hat, schöne Gräfin,« sagte der Offizier, indem er die Dame auf den Sitz des Wagens hob und Zügel und Peitsche aus der Hand des Stallknechts nahm, »so erlauben Sie, daß ich Jockeydienste verrichte.«

»Nichts da, Kapitän; lassen Sie Ihr Pferd meinetwegen folgen und setzen Sie sich zu mir. Aber von der Brücke ab verwalte ich selbst mein Amt und lasse mir durch Sie das gewohnte Vergnügen nicht schmälern. Sehen Sie, wie Ali und Miß Baba in die Zügel beißen, weil sie die gewohnte Hand vermissen.«

»Die Pferde sind in der Tat heute sehr unruhig,« sagte der Kapitän, indem er sich auf den Sitz schwang und der Jockey hinten aufsprang; »es wird eine Männerhand erfordern, sie zu bändigen.«

Er nahm ihre Zügel zusammen und ein leichter Schmiß der Peitsche trieb sie vorwärts und aus dem Torweg.

»Nehmen Sie sich in Acht,« lachte die Dame, »ich bin gestern und vorgestern nicht gefahren, und meine Pferde sind heißblütig wie die Söhne ihres Landes.«

Der Wagen bog in eine der Gassen, die nach dem Stephansplatz führen. Hoch und kühn streckte sich dieser schönste und berühmteste Dom Deutschlands in die blaue Luft. Nach dem Rotenturmtor ging die Fahrt, während deren in den Straßen die Unterhaltung stockte, da die unbändigen Rosse alle Aufmerksamkeit des Führers in Anspruch nahmen; dann über die schöne Donaubrücke durch die Jägerzeile, aus der des Banus Croaten vor fünf Jahren die Rebellen Haus um Haus schlugen, nach dem Praterstern. Als sie ins Freie gekommen, legte die Gräfin die Hand auf den Arm ihres Kavaliers.

»Halt da, Herr Kapitän, hier endet Ihr Amt. Ist es Ihnen wirklich Ernst, meinen Jockey zu spielen, ei, so nehmen Sie seinen Platz ein und lassen Sie meinen Joan Ihr Pferd besteigen, der kleine Bursche reitet vortrefflich. Ich muß Raum haben für meine Zügelkünste.«

Der Kapitän hielt an und schaute ihr einen Augenblick in die dunklen Augen, auf deren zauberhaftem Grund ihm hinter dem leichten Ton des Scherzes eine ernstere, verhaltene Stimmung zu begegnen schien. Dann übergab er galant Zügel und Peitsche, schwang sich auf den Hintersitz und schickte den Jockey zu seinem nachfolgenden Reitknecht.

Die Peitsche pfiff durch die Luft, die mutigen Rosse schlugen aus, und im Galopp bog das leichte Fuhrwerk in die große Prater-Allee.

Obschon in diesem Augenblick der Hof, alle höheren Militärs und ein großer Teil des vornehmen Adels und der Diplomatie sich im Lager von Olmütz befanden, wo eben der Besuch des Kaisers Nikolaus stattgefunden, – war doch, aus den Bädern zurückgekehrt, vornehme und reiche Welt genug in Wien, um die tägliche Praterfahrt glänzend zu machen. Es war der erste Oktober, ein prachtvoller Herbsttag, und Equipagen aller Art, besetzt von Damen in jener elegant harmonischen Toilette, durch welche die Schönen Wiens berühmt sind, kreuzten sich in der breiten vierten Allee, die dem Korso der vornehmen Welt vorbehalten scheint. Dazwischen Reitergruppen oder einzelne Reiter auf schönen Pferden, durch die sich Wien gleichfalls auszeichnet. Während der Tilbury der Magyarin in raschem Trab oder im Galopp des Gespanns dahinflog und die geschickte Hand der Führerin nach rechts und links ausbog oder im wilden Lauf die Vorfahrenden überholte, erwiderte sie zahlreiche Grüße, die ihr von allen Seiten wurden, und manch neidischer Blick folgte dem Gefährt und dem Kapitän.

Unter den Begegnenden befand sich ein großer, schöner Mann von militärischem Aussehen, in eleganter Zivilkleidung, der den feurigen Rappen, den er ritt, kräftig im Zügel hielt. Das Gesicht trug die italienischen Formen mit dem wachsartigen Teint; um Mund und Nasenflügel lag ein eigentümlich scharfer Zug. Er verbeugte sich tief vor der Gräfin, die sehr freundlich, aber mit einiger Verwirrung den Gruß erwiderte und zugleich die Pferde zu noch rascherem Laufe anfeuerte.

Der Kapitän lehnte über die Wand des Vordersitzes.

»Sie treiben Ihre Pferde zu stark, Gräfin, es ist Gefahr, daß sie durchgehen.«

Sie lachte spöttisch.

»Wie kann der tapfere Besieger des Ungarvolkes von Gefahr sprechen? – Doch Sie haben Recht, Ali und Baba haben ihre Schuldigkeit getan und uns aus diesem Gaffen und Begegnen geführt. Jetzt mögen sie Ruhe haben.«

Damit bog sie in eine Seitenallee, die fast leer war.

Indem sie das schöne Gespann nachlässig im leichten Trabe vorangehen ließ, setzte sie sich bequem in die Ecke des Sitzes zurück.

»Darf man fragen, warum Kapitän Meyendorf nicht, wie halb Wien, mit seinem Onkel, dem Ambassadeur, in dem glänzenden Lager von Olmütz sich befindet?«

Der Kapitän errötete leicht.

»Außer Ihrem demütigen Diener scheinen doch auch andere Militärs und Verehrer der Schönheit in den Ringmauern Wiens zurückgeblieben, so daß mein Verweilen wohl nicht auffallen kann. Graf Pisani zum Beispiel, von der sardinischen Gesandtschaft, dem wir eben begegneten.«

Die Dame lächelte.

»Sie sind eifersüchtig, Kapitän?«

»Nein – aber ich fürchte!«

»Für mich?«

»Ja!«

»Und was könnte wohl Ihre Besorgnis für die Gräfin Laszlo, die Nichte eines Esterhazy, rechtfertigen?«

Der Offizier beugte sich noch weiter vor, gleich als sollten selbst die Bäume umher seine leisen Worte nicht hören.

»Gräfin Helene besucht häufig die Gesellschaften der Frau von Czezani, die auch Oberst Pisani frequentiert!«

»Was weiter, mein Herr?«

»Die Wiener Polizei ist berühmt, doch Gräfin, entgeht auch ihr so mancherlei. Warum soll ich nicht aussprechen, was doch stadtbekannt ist, – daß man in unserem Gesandtschaftshotel besser unterrichtet ist, als selbst Herr von Bach. – Ich kenne die Berichte über jene Zirkel.«

»Ich hätte nie geglaubt, daß Kapitän von Meyendorf sich mit politischer Spionerie beschäftigen könnte.«

Der Offizier schwieg tief verletzt und lehnte sich zurück. Sie sah, daß sie sich zu weit hatte hinreißen lassen und legte mit bezaubernder Freundlichkeit die Hand auf seinen Arm.

»Ich habe Unrecht, – aber bedenken Sie selbst, welche tiefe Erbitterung diese fortwährende geheime Polizei unter meiner Nation erregen muß. Frau von Czezani ist meine Jugendfreundin.«

»Ich weiß es, und deshalb warne ich so dringend. Ich weiß, daß unter der Maske von Soiréen der eleganten Welt sich dort offen und geheim zusammenfindet, was die Hauptstadt an unruhigen, revolutionären Geistern in ihren höheren Schichten birgt. Die glänzenden geselligen Unterhaltungen, unbeargwohnt von ganz Wien, decken geheime Zusammenkünfte in entlegenen Zimmern und Pläne, die ihre Fäden nach Pesth, wie nach Prag und Mailand senden und ihren Ausgangspunkt in London, Turin und Paris haben. Von hier aus datierte das geheimnisvolle Komplott im Juni mit dem Vergiftungsversuch und den Verhaftungen in Schönbrunn, dessen Zusammenhang die Pforte vergeblich zu erforschen suchte. Und mit Schmerz muß ich es sagen, daß Gräfin Helene, die Zierde Wiens und ihres Vaterlandes, diesem dunklen Treiben nicht fremd ist, es wenigstens kennt und billigt.«

Die schöne Witwe war während dieser Enthüllung bleich geworden, ihre feingeschnittenen Lippen kniffen sich fest aufeinander.

»Es ist wahr, – was soll ich es leugnen,« sagte sie endlich stolz; »ich weiß von jener Abscheulichkeit nichts, aber ich werde gern eine Märtyrerin sein für mein Vaterland, wie so viel bessere Frauen gewesen sind unter der Stauprute des Prangers, wie in dem Moder österreichischer Kerker. Glauben Sie wirklich, daß das Blut der Bathyani, das in meinen Adern fließt, vergessen kann, daß mein Verwandter den Galgen zierte, daß es vergessen kann Ungarns Rechte und Freiheiten?«

»Aber Ihr Oheim, Ihre Vettern sind auch Ungarn und doch gute Oesterreicher, wie tausend andere.«

»Sie sind Diener und Anhänger des Kaiserhauses. Ich aber habe die Milch meines Landes getrunken und bin in ihm groß geworden. Doch sind das Anschauungen des Gefühls und der Entscheidung jedes einzelnen. Um vieles nicht möchte ich Kummer auf das weiße Haar meines Onkels bringen und danke Ihnen deshalb für Ihre Warnung. Ich werde in drei Tagen auf meine Güter am Maros gehen. Will Kapitän Meyendorf einen Teil der Jagdzeit auf meinem Schloß Bisztra zubringen, das er kennt, so findet er dort – wenn auch nicht durchgängig angenehme – Gesellschaft und wird willkommen sein.«

Der Kapitän schwieg einige Augenblicke.

»Ich verlasse Wien wahrscheinlich noch früher als Sie, Gräfin.«

»Wie das?«

»Man erwartet jeden Augenblick von Konstantinopel eine entscheidende Nachricht. Der Kaiser ist gestern, wie Sie wissen, nach Warschau zurückgereist und wird sie dort in Empfang nehmen. Ist die Pforte wahnwitzig genug, die Kriegserklärung zu beschließen, so werde ich wahrscheinlich als Kourier zum Fürsten Gortschakoff gehen müssen. Ohnehin ruft mich dann meine militärische Pflicht in die Reihen der Donau-Armee.«

»Wissen Sie, Kapitän, daß ich Ihnen dort näher sein werde als Sie glauben?«

»Wie meinen Sie das, Gräfin?«

»Von der Familie meiner Mutter habe ich zwei Güter am Schyl in der Nähe von Krajowa geerbt. Sie sehen daraus, daß ich schon als gute Untertanin des Sultans, meines Oberherrn, Ihre Gegnerin sein muß. Ich denke, noch in diesem Herbst, spätestens im Frühjahr, meine Walachen zu besuchen.«

»Das dürfte doch leicht zu gefährlich sein. Sollte es wirklich geschehen, so würde es mir hoffentlich leicht werden, ein Kommando in jener Gegend zu erhalten, um zu Ihrem Schutze bereit zu sein.«

»Sie sind zu galant, Kapitän,« lächelte die Gräfin mit leichter Koketterie; »ich kann kaum annehmen, daß meine kleine Person wirklich einen Anspruch auf Ihr Interesse hat.«

Der Offizier beugte sich weit über den Sitz vor.

»Sollte Gräfin Helene in der Tat nicht wissen, welches Bild in diesem Herzen lebt, seit ich Sie damals auf Schloß Bisztra am Lager ihres kranken Gemahls zuerst erblickte?«

Die Gräfin schwieg. Zügel und Peitsche ruhten achtlos in ihrer Hand.

»Es ist eine eigentümliche Gelegenheit, es auszusprechen,« fuhr der Kapitän in bewegtem Tone fort, »aber Sie wissen, dem Soldat gehört der Augenblick. Seit jener Zeit, seit ich Sie sah, Helene, liebe ich Sie innig und fest, so lange dies Herz schlagen wird. Als Mann von Ehre darf ich jetzt keine Frage an Sie richten, da ich im Dienst und bei den drohenden Verhältnissen nicht Herr meiner selbst bin; ich möchte es nicht – weil ich in Kampf und Tod wenigstens die Hoffnung mit mir tragen will, in diesem stolzen Herzen ein Gedächtnis zu finden. – Aber sagen, sagen mußte ich es Ihnen, ehe ich scheide und jetzt, Gräfin von Laszlo, wissen Sie, warum ich in Wien blieb.«

Eine lange Pause folgte dem inhaltschweren Geständnis; auf Stirn und Wangen der schönen Magyarin zeigte sich die Röte innerer Erregung. Ein Kampf schien in ihrer Seele vorzugehen.

»Ich muß und will Ihnen dennoch eine Antwort geben, Herr Kapitän. – Wissen auch Sie, warum ich aus den Reihen der Equipagen in die einsame Allee einbog?«

Er schaute sie fragend an. Ihr dunkles Auge war zu Boden geschlagen, – sie achtete es nicht, wie die Zügel ihrer Hand entglitten.

»Ich glaubte, – ich wußte, daß Sie mir das sagen würden, was ich eben gehört.«

»Helene!«

»Halt, mein Freund! – Sie wissen, daß ich jung einen greisen Gatten erhielt, den ich kaum zwei Jahre lang als meinen Vater ehrte.«

»Ich habe ihn gesehen. Sie pflegten den Greis wie einen Geliebten.«

»Familienverhältnisse ließen mich seine Gemahlin werden, – er sah den Ausgang der Erhebung unseres Landes voraus, den sicheren Ruin unserer Familie vor Augen und wollte mich, die er als Kind geliebt, retten und mir eine Zukunft bereiten. Ich wurde die Erbin aller seiner Güter.«

»Gräfin!«

»Still! Was kümmert es uns, ob diese reich oder gering sind, ob diese Hand eine ihres Goldes wegen so vielbegehrte ist! – Krankheit fesselte meinen Gemahl an sein Schloß während des ganzen Krieges, obschon er an dem Aufstand keinen Teil nahm und jeden Verkehr mit den Führern so viel als möglich vermied. Aber mein Herz flog mit unseren Fahnen, meine Seele war in den Schlachten, die mein Volk kämpfte, meine Tränen flossen mit seinem Blut und meine Pulse jubelten mit seinen Siegen!«

»Und ich, Ihr Feind!«

»Da kommen Sie, mit den Armeen des Zaren, die Ungarn aufs neue in Fesseln schlugen. Sie, die fremde Nation, brachten die Ketten, die den erwachten Riesen zu Boden warfen. Welche Gefühle, meinen Sie, müßte die Tochter Ungarns für die fremden Unterdrücker haben?«

Er schwieg.

»Doch Sie sind Soldat, Sie, der Einzelne, Willenlose. Als solcher waren Sie edel und gut, – ich danke Ihnen viel, vielleicht Ehre und Leben, als Sie die Marodeurs unserer eigenen Armee, – den Auswurf der Zerstreuten, Geschlagenen, bei der Plünderung unseres Schlosses überraschten und zurückschlugen. Sie schützten uns gegen alle weiteren Gefahren.«

»Auch das war Soldatenpflicht.«

»Es waren zwei Bilder, die in meiner Erinnerung blieben, derselbe Gegenstand und doch so verschieden, der Feind und der Freund.«

»Und welchen von beiden sehen Sie jetzt?«

»Es wird darauf ankommen. – Ich werde meine Hand nur einem Freunde Ungarns geben, nie seinem Feinde.«

Wiederum unterbrach ein längeres Schweigen das Gespräch. Dann sprach er mit tiefem, schweren Ton:

»Ich bin Soldat – aber ich bin auch Royalist aus fester innerer Ueberzeugung. Ich werde stets dahin gehen, wohin mein Kaiser befiehlt.«

Sie atmete schwer, ihre Stimme zitterte.

»Die drohenden politischen Stürme werden, auch ohne unser Zutun, in vielen Ländern Veränderungen hervorbringen, – wie ich hoffe, auch in meinem Vaterlande.«

»Täuschen Sie sich nicht mit solchen Erwartungen und, ich beschwöre Sie und will für diese Bitte jede Hoffnung opfern, – denken Sie an das Schicksal der Gräfin Teleky. Bricht der Krieg aus, so wird Oesterreich sicher mobil machen und seine slavischen Provinzen besetzen und niederhalten; denn es weiß sehr wohl, daß ihm hier die nächste Gefahr droht. Geben Sie einen Traum auf, der nur zum Verderben führt.«

Die Hände ruhten gefaltet in ihrem Schoß, – so jagten die Pferde, die Zügel am Boden schleifend, – sie merkte nicht – er achtete nicht auf die Gefahr.

»So leben Sie wohl – meine Gebete geleiten Sie in den Sturm der Schlacht!«

»Helene!«

Sie reichte ihm stumm die Hand, die er an seine Lippen preßte. – – –

Aus einem Seitenweg brachen im Galopp drei Reiter, Graf Pisani unter ihnen. Die Pferde vor dem Tilbury der Gräfin scheuten zurück, die haltende Hand fehlte, im rasenden Lauf brausten sie dahin.

»Um Gott – die Zügel!«

Die Gräfin saß bleich, ratlos in der Ecke ihres Sitzes. Tief von dem seinen beugte sich der Offizier und versuchte vergeblich die Zügel zu haschen, die unter den Rädern dahin schleiften und, sich um die Füße der Pferde schlingend, diese nur noch scheuer machten.

Der leichte Wagen flog von einer Seite zur anderen – jeder Augenblick drohte ihn zu zerschellen. Gräfin Helene hielt sich mit Mühe fest auf dem Sitz. In der plötzlichen Todesgefahr hatte die Schwäche des Weibes die Oberhand gewonnen.

»Allmächtiger Gott – wer hilft?«

»Halten Sie fest, Gräfin, – ich versuche alles!«

Während des rasenden Laufes, doch mit besonnener Vorsicht, schwang sich der Offizier, nachdem er seinen Degen von sich geworfen, an die Seite des Wagens nach dem Auftritt zum vorderen Sitz, darauf Fuß fassend. Der Auftritt war kaum anderthalb Fuß hoch vom Boden, und so, mit der Hand sich am Wagen selbst festhaltend, versuchte er die Leine zu haschen. Die ersten Versuche mißglückten, dann gelang es ihm, die Zügel zu erfassen; aber verwickelt in das Geschirr, wie sie waren, und durch das Anspringen der Pferde erhielt er von ihnen einen so gewaltigen Ruck, daß er die Balance und den leichten Halt verlor und schwer zu Boden stürzte. Ein lauter Aufschrei der Gräfin gellte in seinen Ohren, – einen dunklen Schatten sah er vorüberfliegen, während er, die Zügel nicht loslassend, mehrere Schritte fortgeschleift wurde; dann ein plötzlicher Ruck, daß der Wagen erzitterte, und die wilden Renner standen wie die Mauer.

Als der Offizier sich aus der augenblicklichen Betäubung emporraffte, hielt Graf Pisani auf seinem schäumenden Renner vor dem Gespann, und dessen Kinnketten in seiner kräftigen Faust. Dann den herbeispringenden Gesellschaften die weitere Bändigung der Pferde überlassend, sprang der Graf aus dem Sattel und eilte, die halb ohnmächtige Dame von ihrem Sitz zu heben, worauf er sie zu einem nahen Ruhesitz unter den Bäumen der Allee trug.

»Gerettet und durch mich!« sagte der Italiener mit Bedeutung. »Ein glücklicher Tag, der mir zugleich die Hoffnung gibt, Sie nochmals zu sehen, Gräfin. Es sind vor einer Stunde höchst wichtige Nachrichten eingegangen – alle Vertrauten versammeln sich bei der Czezani.«

Sie vermochte, erregt, alle Pulse fliegend, ihm nicht zu antworten, kaum zu stammeln:

»Mein Begleiter – der Kapitän – –«

»Ah, sorgen Sie nicht,« lachte spöttisch der Graf. »Ein bißchen Schmutz – das ist ja ihr Element. Ein Russe macht sich nichts daraus und kommt immer wieder auf seine Füße.«

Er beschäftigte sich eifrig um sie, die mit Gewalt die Aufregung überwand und sich schnell erholte.

»Wir rechnen sicher auf Ihr Erscheinen, Gräfin, – es ist dringend, ich muß Sie sprechen.«

» Ich werde kommen. – Doch wo ist Herr von Meyendorf?«

Sie wandte umherblickend das schöne Haupt, – ihr Auge traf auf den Kapitän, der, beschmutzt vom Staub des Weges, den Uniformrock an mehreren Stellen zerrissen, kaum zwei Schritt von ihnen stand und beide mit finsteren Blicken maß.

Sie stand auf und reichte ihm die Hand.

»Sie haben sich um meinetwillen gefährdet, – Sie konnten sich töten!«

Indem bemerkte sie dunkle Blutstropfen, die seine linke Manchette färbten und an der Hand herunterrollten.

»O Gott, Sie bluten – sind Sie schwer verletzt?«

»Nur unbedeutend, – das scharfe Eisen ritzte mir den Arm. – Diesmal,« fügte er mit kaltem Lächeln hinzu, »blute ich wenigstens für Ungarn.«

»Es ist unser Handwerk,« sagte Pisani, »und der Herr Kapitän achtet dessen um so weniger, als vielleicht russisches Blut bald in Strömen vergossen werden wird.«

»Vielleicht ist es auch möglich, die Farbe des sardinischen zu erproben!«

»Ich hoffe,« entgegnete der Oberst stolz, »daß Seine Majestät, der König Viktor Emanuel, uns diese durch seinen Beitritt zu den Westmächten gewähren wird.«

Die Gräfin unterbrach die bitteren Worte, die wie Pistolenkugeln hinüber und herüber flogen.

»Die Pferde sind beruhigt, Dank Ihrer mutigen Dazwischenkunft, Herr Oberst. – Ich glaube, ich kann ungefährdet meinen Sitz wieder einnehmen.«

»Darf ich mir erlauben, meine Dienste anzubieten, da der Herr Kapitän wahrscheinlich vorziehen wird, die Rückkehr seines Dieners mit neuen Kleidern aus der Stadt zu erwarten?«

»So wollen wir das gemeinschaftlich tun; ich bitte, Kapitän, senden Sie rasch.«

»Es ist bereits geschehen,« sagte der Offizier, der seinem eben herbeigekommenen Reitknecht den Befehl gegeben und den Zügel seines Reitpferdes in die Hand genommen hatte. »Indes bitte ich dringend, gnädigste Gräfin, sich meinetwegen nicht aufzuhalten. Ich werde im nächsten Café die Rückkehr meines Dieners erwarten und bedauere nur, daß der Unfall mich hindert, die mir von Ihrem Oheim übertragene und von mir schwer vernachlässigte Pflicht besser zu Ende zu führen. Der Herr Oberst wird sicher aufmerksamere Sorge tragen.«

Sie sah ihm erstaunt in das Auge, das kalt und gemessen dem ihren begegnete. Dann ging sie stolz nach dem Wagen, an dem die beiden Begleiter des Obersten noch hielten. Die Pferde hatten sich vollständig beruhigt, der Jockey stand an seinem Platz.

»Darf ich die Ehre haben, den Rosselenker zu machen?«

»Nein,« sagte sie kurz, »ich will selbst fahren; man würde sonst glauben, ich hätte mich gefürchtet.«

»So erlauben Sie mindestens, daß wir Sie zu Pferde begleiten, unmöglich können wir Sie allein lassen.«

Sie nickte stumm und ließ sich auf den Sitz heben, wo sie die Zügel aus des Jockeys Hand empfing. Während die Kavaliere sich auf die Pferde schwangen, wandte sie sich noch ein Mal zu ihrem früheren Begleiter, der mit kalter Höflichkeit an der Seite des Wagens stand.

»Werde ich Sie noch sehen, vor Ihrer Abreise?«

Ein eisiger Blick begegnete ihrem fast zärtlich fragenden Auge.

»Die Gräfin von Laszlo hat der Freunde so viele, die sie sehen und sprechen muß, daß ich ihre kostbare Zeit nicht beschränken darf.«

Der Wagen flog dahin – er sah die Träne nicht, die sie im stolzen Zorn zwischen den dunklen Wimpern zerdrückte.

Aber am Boden sah er es weiß schimmern, das hob er auf und preßte es an das heiße Gesicht und barg es auf dem tief verletzten Herzen. – – – – – – – – ––

In der Nähe des Palais beurlaubten sich die Reiter von der schönen Gräfin, und Oberst Pisani kehrte nach seiner Wohnung zurück. Als er dort ankam, fand er am Haustor einen Mann von wildem, kühnen Aussehen. Der Fremde mochte an zehn Jahre mehr als der Oberst zählen, der eben das vierzigste angetreten, doch zeigten nur wenig ergrauende Haare am Scheitel und in dem kräftigen Bart, der den unteren Teil des Gesichts bedeckte, das beginnende Alter. Obschon der Mann in gewöhnlichen, wenig auffallenden Kleidern steckte, schien doch sein ganzes Ich nicht da hinein zu gehören, und hätte über dem funkelnden, schwarzen Auge der bänderverzierte, spitze Kalabreser gesessen, wäre die breite, gewölbte Brust statt von Rock und Weste von dem roten, silbergestickten Latz des römischen Banditen bedeckt gewesen, mit seinen Uhren, Ketten, Ringen und Amuletten beladen, – um den Leib die neapolitanische Binde geschlungen mit den Pistolen darin und den Stiletts, so hätte das den passenden Anzug abgegeben für die sehnige, mittelgroße Gestalt, die kräftigen Beine, die den Bergbewohner verrieten und das ganze Wesen des Mannes, das den Gegner auf Tod und Leben zu bedrohen schien.

»Ah, Signor, das nenn' ich pünktlich,« sagte der Sarde laut zu dem Fremden, indem er sich vom Pferde schwang. »Kommen Sie mit hinauf zu mir, damit wir unseren Handel abschließen.« Damit klopfte er das treffliche Roß kosend auf den Nacken. »Du hast mir heute einen großen Dienst erwiesen, Diavolo, der mich meinem Ziele um vieles näher bringt, und sollst doppelte Ration haben zum Dank.«

Er übergab es dem Stallknecht und befahl ihm besondere Sorgfalt für das schöne Tier; dann lud er den Fremden nochmals ein, ihm zu folgen und führte ihn hinauf in sein Zimmer.

Dort warf er sich aufs Sofa, winkte seinem Begleiter, sich niederzulassen und änderte sofort den Charakter der Anrede.

»Nun, Sta-Lucia,« sagte der Oberst, indem er ein Cigaretto nahm und dem Fremden die Büchse derselben zuschob, »ich habe was Ihr braucht ermittelt, und es wird gut sein, wenn Ihr Euch bereit haltet, morgen mit dem Frühzuge nach Pesth abzureisen.«

»Warum Signor Conte? – Es gefällt mir recht gut hier, ich bin erst drei Tage in Wien und habe die Fahrt noch in den Knochen.«

»Vorerst, mein Bester,« entgegnete der Graf, behaglich die Dampfwolke verfolgend, die er von sich blies, »taugt die Wiener Luft nicht besonders für Leute Eures Schlages, die unter Garibaldi gefochten und außerdem so ein anderthalb Dutzend Personen ohne Absolution und Vollmacht aus der Welt spediert haben, die anderen nicht gerechnet, die nachgekommen sind und von denen ich nichts weiß. Wien ist ein heißes Pflaster und man liebt uns Italiener nicht gar so sehr hier.«

»Ich bin Franzose, Signor!«

»Ah, ich vergaß. Das liebe Korsika ist ein französisches Departement und liefert Frankreich seine Kaiser und seine Banditen. Aber abgesehen davon möchte die Rückreise Euch sonst Schwierigkeiten machen; das nächste Dampfschiff, welches die Donau hinabfährt, dürfte wahrscheinlich das letzte sein.«

»Wieso?«

»Das werde ich Euch besser fünf Minuten vor der Abfahrt sagen. Genug, Eure Rückkehr nach Konstantinopel hat Eile, denn es wird dort jetzt reichliche Beschäftigung geben. Hier ist zunächst die Auskunft, die das Komitee in Konstantinopel verlangt und wegen deren Ermittlung es Euch hierher sandte, da Ihr Euer Lebelang nicht hier gewesen, also kein Wiedererkennen zu fürchten hattet.«

»Darf ich fragen, Signor Conte, ob sich der Verdacht bestätigt hat?«

»Das kann ich Euch so bestimmt nicht sagen, das müßt Ihr selbst an Ort und Stelle durch Vergleichung des Signalements ermitteln. Daß der capitano tedesco Robert Blum in dem bezeichneten Hause sich versteckt hielt und durch einen Bewohner desselben angezeigt wurde, steht fest. Der Mann ist später von Wien fortgezogen, weil er Verfolgungen fürchtete, und es ist richtig, daß er nach dem Orient gegangen sein soll. Der Name stimmt freilich nicht, aber das ist kein Hindernis. Das möglichst genaue, hierbei befindliche Signalement wird entscheiden, ob die erhobene Anklage des Komitees begründet ist.«

»Gibt sie ein besonderes Kennzeichen an?«

»Eine starke Narbe an der linken Schläfe.«

»Per bacco! Es ist unser Mann!«

»So sind wir fertig. Seid Ihr mit einem Anzug versehen, um Euch in eine Gesellschaft einführen zu können?«

»Der Teufel hole die verwünschten Kleider, in denen man sich überall beengt fühlt. Was ich auf dem Leibe trage, ist alles was ich habe.«

»So ist hier Geld, Ihr werdet in jedem Kleidermagazin das Nötige finden. Binnen einer Stunde müßt Ihr elegant equipiert bei mir sein, um mich an einen Ort zu begleiten, wo ich Euch als den Marchese Lucaboni vorstellen werde. Es ist möglich, daß man Eurer dort für Auskunft und Instruktion in betreff Konstantinopels bedarf.«

Der Korse steckte das Geld ruhig in die Tasche, zündete sich ein neues Cigaretto an und empfahl sich.


Ungefähr anderthalb Stunden nach der vorerzählten Szene rollte ein elegantes Coupee auf der Straße nach Hietzing, dem beliebten Sommeraufenthalt der Wiener. Obschon die Jahreszeit weit vorgeschritten, wohnten doch viele vornehme Familien noch hier und die schöne Herbstwitterung erlaubte selbst noch einen großen Teil der Abende im Freien zuzubringen.

Der Zirkel, welcher sich an zwei Abenden in der Woche in dem eleganten Landhause versammelte, das Frau von Czezani, eine geborene Ungarin, in Hietzing bewohnte, bildete eine interessante Gesellschaft aus den verschiedensten Kreisen der lebenslustigen Residenz, und man fand hier – so weit die Bäder- und Sommerreisen sie nicht entführt – Mitglieder der Aristokratie und Diplomatie, Koryphäen der Geschäftswelt, Fremde, Offiziere und Künstler. Ganz natürlich erschien es dabei, daß namentlich Ungarn das Haus ihrer Landsmännin besuchten. Ein Vorgarten schied die elegant gebaute Villa von der Straße und diente mit dem offenen Vestibüle und dem die ganze Mitte des Gebäudes einnehmenden Salon gewöhnlich zum Aufenthalt der Gesellschaft, so daß so zu sagen aller Verkehr öffentlich und vor den Augen des Publikums sich bewegte, und also um so weniger Aufmerksamkeit oder Verdacht erregen konnte. Rechts und links vom Salon befanden sich Spielzimmer, hinter dem Hause schloß sich, wie gewöhnlich bei den Villen, ein ziemlich großer, mit modernen Anlagen gezierter Garten an. Einen Seitenflügel des Gebäudes bildete ein Gewächshaus, an dessen Ende ein großer, gemauerter Pavillon stieß, für Sommer und Winter zum Bewohnen geeignet. Die Laubgänge und dunklen Bosketts des Gartens umschatteten ihn und verbargen auf diese Weise den äußeren Zugang.

Die Gesellschaft war an diesem Abend bereits ziemlich zahlreich anwesend und hatte sich im Garten um eine fremde Schönheit gruppiert, die vor einigen Tagen in Wien eingetroffen und durch einen Empfehlungsbrief bei Frau von Czezani eingeführt war.

Es war die spanische Tänzerin, der wir bereits in Paris und Berlin begegnet sind.

Während ein Kreis von Verehrern um die Spanierin eine lebhafte Konversation unterhielt, promenierten einzelne Gruppen im Garten und Salon. Graf Pisani suchte die Dame des Hauses auf, der er seinen Begleiter laut als den Marchese Lucaboni präsentierte, worauf er es diesem überließ, sich so gut wie möglich zu unterhalten oder durchzuhelfen und sich in der Gesellschaft verlor.

Er selbst ging durch den Salon nach dem hinteren Garten, in dem verschiedene Paare promenierten. Sein scharfer Blick fand bald Personen heraus, die er suchte und er folgte zweien, die im eifrigen, halbleisen Gespräch vertieft waren. Die eine war ein kleiner, magerer Abbé mit fuchsartigem Gesicht und scharfen, stechenden Augen, Italiener wie der Graf; die andere war der Bankier, dessen Mission nach Wien im Rat der »Unsichtbaren« der Leser beigewohnt hat.

Als der Graf zu ihnen trat, geschah es an einer Stelle des Gartens, an der sie durch die freie Umgebung vor jedem Lauscherohre gesichert waren.

»Ich erwartete kaum, Sie schon hier zu finden, Baron,« sagte der Graf, »und glaubte Sie noch mit der Flut der Geschäfte überhäuft, die diese wichtige Nachricht mit sich bringen mußte. Wie haben Sie Ihre Dispositionen getroffen?«

»Der Herr Abbé war so gütig, mir zu helfen, überdies waren alle Vorbereitungen getroffen. Um 7 Uhr ist mein erster Kommis mit der Eisenbahn abgegangen und gibt in Brünn die Depeschen nach Berlin, Paris und London zur telegraphischen Beförderung auf. Man wird sie an allen drei Orten morgen mindestens zwei bis drei Stunden vor Eröffnung der Börsen haben, und die Geschäfte können vollständig vor deren Beginn abgemacht sein. Ein Milliönchen, Herr Graf, ein Milliönchen mindestens muß uns der Schlag eintragen, abgesehen von den Vorteilen für die Verbindung.«

Er rieb sich vergnügt die Hände.

»Aber warum gingen Sie nicht lieber selbst bis Brünn? Es wäre weit sicherer gewesen!«

»Der Baron,« meinte der Abbé, »muß notwendig in Wien bleiben, seine Abreise hätte Verdacht erregen können, und er allein konnte die Spekulation hier ausführen.«

»Glauben Sie hier noch zu reüssieren? Wie hoch rechnen Sie genau den Vorsprung unserer Nachricht?«

»Die Depesche ist darüber natürlich sehr unklar, indem sie ihren wahren Inhalt unter einer gleichgültigen Mitteilung verbergen mußte. Danach ist am 26. die Kriegserklärung im großen Rate beschlossen worden. Nehmen wir an, daß der Tatar am 26. mittags Konstantinopel verlassen hat. Fünf bis sechs Tage braucht die Botschaft bis Belgrad. Der Pascha wird sie demnach heute Morgen erhalten und unserem Agenten ausgehändigt haben, der uns von Semlin aus die verabredete Aktienzeichnung telegraphiert hat. Nach dem Uebereinkommen gibt Hussein-Pascha die Depesche erst zwölf oder achtzehn Stunden nach der Ueberlieferung an uns an den österreichischen Konsul ab, dies wird also erst morgen früh geschehen, und die offizielle Nachricht, die verschiedenen Verzögerungen mitgerechnet, nicht vor morgen Mittag hier eintreffen, wenigstens nicht bekannt werden. In jedem Falle haben wir an den drei anderen Börsen die Avance, wahrscheinlich auch hier, denn man wird sie nicht eher veröffentlichen, als bis Bescheid von Olmütz eingetroffen.« Die telegraphische Nachricht wurde in der Tat erst am 3. in London und Paris bekannt.

»Die Berechnung scheint mir allerdings richtig. Sind Ihre Depeschen nach auswärts auch der Art abgefaßt gewesen, lieber Baron, daß sie den Telegraphenbeamten unverständlich bleiben und arglos weiterbefördert werden?«

»Vollständig. Als ich vor vierzehn Tagen zuletzt in Paris war, ist die genaue Verabredung getroffen worden. Die Zahlen der Kurse bilden die geheime Chiffre der Worte.«

»So müssen wir den Erfolg abwarten. Ich werde Sie jetzt verlassen, um durch unser Zusammenbleiben keinen Verdacht zu erregen. Sobald die Gesellschaft sich etwas gelichtet und Sie die Zurückgebliebenen beschäftigt sehen, treffen wir uns wie gewöhnlich im Pavillon.«

Während er in den Gesellschaftskreis zurückkehrte, wandelte das Paar noch einigemale in den Gängen auf und ab.

»Wir wurden unterbrochen durch Pisani,« sagte der Abbé; »der Gewinn, die Habsucht regiert und füllt die Seele dieses Mannes. Auf die Befriedigung dieser Leidenschaften zielen alle seine Pläne. Nebenbei ist er ehrgeizig, schlau und namentlich kühn, – man muß dies anerkennen. – Der Plan also, den Sie mir entwarfen, hat bereits die Zustimmung in Paris erhalten?«

»Er ist in der vollen Ausführung begriffen. Bedenken Sie wohl. Der Kredit und das bare Vermögen Europas sind offenbar gegenwärtig in den Händen des Hauses Rothschild. Abgesehen davon, daß die Mitglieder desselben dem orthodoxen Judentum angehören, also dadurch schon Feinde aller revolutionären Prinzipien sind, bringt es die eigentümliche Stellung, die sie in Europa einnehmen und welche die einer souveränen, erblichen Macht ist, mit sich, daß sie nur in der Aufrechterhaltung des monarchischen Systems ihre Sicherung und ihren Vorteil sehen.«

»Aber sie haben ebenso gut mit Karl X. wie mit Louis Philipp und Louis Napoleon Geschäfte gemacht.«

»Ich sage auch, wohl zu merken, in der Aufrechterhaltung des monarchischen Systems, nicht der Dynastieen. Diese sind ihnen gleichgiltig. Die Monarchen aber sind ihr persönlicher Schutz; außerdem bietet das Königtum immer mehr Gelegenheit zur Influierung und Dominierung. Eine sozial revolutionäre Reform der Staaten würde auch sie sofort von ihrem goldenen Throne stoßen. Selbst wenn die Prinzipien allgemeiner Gleichheit und Teilung, die doch nur der Köder für die einfältige Menge sind, glücklich an ihnen vorübergingen, wäre es aus mit ihrer Herrschaft im Geschäftsleben.«

»Die Spekulation würde über die einzelne Geldmacht siegen.«

»So ist es. Die Rothschilds sind demnach streng konservativ und royalistisch, und werden dies Prinzip stets mit ihren kolossalen Mitteln unterstützen. Es gilt nun, eine Macht ihnen gegenüberzustellen, welche die ihre brechen kann. Das ist: Das Kapital aller gegen das Kapital des Einzelnen.«

»Ich verstehe Sie noch nicht ganz.«

»Die Staaten, die Privaten besitzen noch immer mehr als das Hundertfache in reellen Werten, was die Rothschilds doch zum größten Teil problematisch, das heißt im Kredit der Papiere besitzen. Man versucht nun ein Unternehmen zu gründen, welches einen großen Teil dieser materiellen Werte konzentriert; der Kredit und die problematischen Werte, die sich weiter daran knüpfen, werden dann ungeheuer sein. Mit diesen Mitteln in Händen wird man mit Erfolg gegen die Rothschilds kämpfen und sie endlich erdrücken.«

»Ich begreife das.«

»Man wird mit diesen beweglichen Mitteln, mit diesem Crédit mobilier, alle staatlichen und privaten Unternehmungen an sich bringen und sich zu deren Herren aufwerfen können. Die Eisenbahnen, die Banken, die Bergwerke müssen uns in die Hände fallen. Sie haben die Anfänge bereits hier in Wien gesehen. Das Institut ist ein freies, bewegliches, es kann überall ins Leben treten, überall seine Spekulationen verbreiten. Wir richten unser Augenmerk zunächst auf Frankreich, – in weiterer Folge auf Oesterreich und Spanien, weil das die in ihren Finanzen bedrängtesten Staaten sind und jede herbeischaffende Spekulation begünstigen werden. In Paris hat das Unternehmen bereits festen Fuß gefaßt. Der Kaiser Napoleon hat viele tüchtige Regenteneigenschaften, aber er ist kein Finanzmann. Der beginnende Krieg wird enorme Summen und Anleihen absorbieren, die napoleonische Eitelkeit gegenüber dem anderen Europa desgleichen.«

»Aber der direkte Zweck für uns, die Erfolge für die Revolution?«

»Sie liegen auf der Hand, Abbé, und ich begreife nicht, wie ein Mann von Ihrem Scharfsinn sie nicht sofort übersieht. Zunächst der bedeutende Gewinn, den die Verbindung aus allen diesen Geschäften ziehen muß. Geld ist Macht. Das Pfand- und Eigentumsrecht über die Institute und Nerven des öffentlichen Verkehrs ist von nicht zu übersehendem Einfluß. Das Wichtigste aber von allem, was das Schicksal Europas in die Hände der »höchsten Gewalt« legt, das ist –«

»Nun?«

»Das ist der Staatsbankerott, der allgemeine Bankerott der Nationen, der jeden Augenblick in der Macht der Unternehmer liegt. Denken Sie die kolossalen sozialen Folgen, welche ein solcher unter den jetzigen Verhältnissen haben muß, selbst wenn er nur nach einer oder der anderen Seite hin ausgeführt wird!« – –

An dem Treppenaufgang der Villa traf Graf Pisani die Wirtin des Hauses, etwas erregt mit dem Kammerdiener und der Zofe scheltend.

»So geht es im häuslichen Leben, Graf, immer Aerger und Verdruß.«

»Und was erzürnt Sie, schöne Frau?«

»Mein zweiter Diener ist schon vor mehr als zwei Stunden nach der Stadt geschickt, um mancherlei zu holen, und der Mensch läßt uns im Stich und kommt nicht wieder. Ich habe ihm heute Morgen den Dienst gekündigt, weil er mir ohnehin nicht gefällt, und nun trotzt er wahrscheinlich, weil ich auf seine dringenden Bitten und Vorstellungen nicht nachgab.«

»Ei, gnädige Frau, das sind kleine Unannehmlichkeiten, wie sie jeder Haushalt mit sich führt. Darf ich das Vergnügen haben, Sie zu begleiten?«

Die Gesellschaft hatte sich zum Teil wieder entfernt, zum Teil in den Salon und die Spielzimmer zurückgezogen. Der Graf sah sich mit Frau von Czezani einige Augenblicke allein.

»Ist die Gräfin gekommen?«

»Vor einer Viertelstunde. Ich glaube, sie befindet sich bereits im Pavillon und erwartet Sie.«

»Ich darf doch sicher auf den versprochenen Beistand rechnen, schöne Frau? Die Ereignisse drängen sich jetzt, und ich habe heute Mittag einige Bemerkungen gemacht, die mir Besorgnis einflößen würden, wenn der Zufall mir nicht glücklich zu Hilfe gekommen wäre.«

»Verlassen Sie sich ganz auf mich. Ich folge ihr nach Schloß Bisztra, und wenn Sie uns dort besuchen, werden Sie sie für Ihre Absichten möglichst vorbereitet finden. – Doch sagen Sie mir um des Himmels willen, Graf, wer ist dieser Pseudo-Marchese, den Sie uns heute zugeführt? Denn daß Titel und Namen falsch sind, sieht man auf zehn Schritt, und ich fürchte wirklich, mich stark zu kompromittieren, so unheimlich scheint er sich in unserer Gesellschaft zu fühlen, und so unheimlich wird mir in der seinen.«

Pisani lachte.

»Es ist ein gezähmter Wolf und nicht zu fürchten. Sie sehen in dem Marchese ein vollkommenes Exemplar eines Korsen vor sich, der einige kleine Unannehmlichkeiten gehabt hat. Sta-Lucia schwor, seinen unschuldig von den Geschworenen auf die Galeere geschickten Bruder an den achtzehn falschen Zeugen zu rächen, die seine Verurteilung herbeiführten. Er hat Wort gehalten: dem Einen hat er, nachdem er sich mit der Polizei nach der ersten Affäre gründlich überworfen, eine Kugel in den Leib geschickt, den anderen die Augen ausgedrückt, noch anderen furchtbare Verstümmelungen beigebracht. Ein Einziger war noch übrig, der Schuldigste von allen, der Anstifter des Verbrechens, der in seinem Hause in Ajaccio sitzen blieb. Als er eines Sonntags zur Kirche ging, warf ihn am hellen Mittag ein Dolchstoß auf der Schwelle der Kirche zu Boden. Sta-Lucia durchschreitet ungefährdet wie der Engel des Todes die Menge, läuft nach dem Meere und besteigt im Angesicht der ganzen Bevölkerung wieder die Barke, die ihn hergebracht. Später schloß er sich der Truppe Garibaldis an, wo ich ihn kennen lernte, und lebt jetzt in Konstantinopel.«

»Aber mein Gott, – ich habe mein ganzes Silberzeug offen stehen – er wird doch nicht –«

»Keine Besorgnis, schöne Wirtin! Unser Freund ist Bandit aus Liebhaberei, aber kein Spitzbube. Sie könnten Säcke Geld offen stehen haben, und er würde sie nicht anrühren. Doch ich eile zu unserer kleinen Gräfin, der die Zeit lang werden dürfte. Beschäftigen Sie möglichst die Uneingeweihten.«

Er verließ die Dame und begab sich nach kurzem Verweilen in der Gesellschaft durch das Gewächshaus nach dem daranstoßenden Pavillon, der ein achteckiges Gemach bildete, in dem für alle Fälle zum Schein ein Spieltisch arrangiert war, während eine Ampel nur im Halblicht das Gemach erhellte und die Läden fest geschlossen waren.

Er fand die Gräfin Helene Laszlo dort im eifrigen Gespräch mit dem Bankier und seinem Begleiter und einem alten Herrn, dessen faltenreiches Gesicht den scharfen sarmatischen Schnitt trug, Haar und Bart aber die Schneefarbe des Greisenalters.

»Ich sehe,« sagte der Oberst zu der jungen Witwe, »unsere Freunde sind mir bereits zuvorgekommen, und haben Sie von der wichtigen, uns heute Nachmittag zugekommenen Nachricht unterrichtet. Am 26sten ist in Konstantinopel die Kriegserklärung beschlossen worden, sie wird natürlich sofort erfolgen und die Feindseligkeiten an der Donau werden alsdann beginnen. Damit ist auch für uns die Zeit eines energischen Handelns gekommen. Erringt der Sirdar, was bei der Schwäche der Russen kaum zu bezweifeln ist, an der Donau Vorteile, so kann jeder Aufstandsversuch in Ungarn sich auf ihn lehnen, er wird ihm den Rücken decken.«

»Aber die Wunden meines Landes sind noch tief und schwer; so sehr ich es wünsche, glaube ich kaum, daß es schon wieder die Kraft haben wird, dem Feinde entgegen zu treten.«

»Ein Volk verliert nie die Kraft, für seine Freiheit zu kämpfen, und ob Ströme seines Blutes vergossen werden. Wie aus der Kadmus-Saat wachsen aus dieser geharnischte Männer. Ich meine auch keineswegs, daß die Erhebung sogleich erfolgen soll. Es ist vorerst nur nötig, daß das Volk auf die Bedeutung des orientalischen Krieges, auf diese Gelegenheit, seine Freiheit zu erringen, aufmerksam gemacht, und daß die Verbindung mit den Ungarn in Omers Armee hergestellt wird. Für den ersteren Zweck hat das Komitee in London entsprechende Proklamationen bereits erlassen. Wir rechnen auf Sie, Gräfin, uns bei der Verbreitung in den Theißgegenden behilflich zu sein.«

»Ich habe bereits mit der Gräfin das Nötige verabredet,« unterbrach der alte Magyare. »An einem geeigneten Orte auf einem ihrer Güter wird eine Druckerei eingerichtet werden. Der Herr Abbé übernimmt es, für ein zuverlässiges Personal zu sorgen.«

»Sehr gut, Doktor, wir verlassen uns ganz darin auf Ihre alte Erfahrung. Was den zweiten Punkt anbetrifft, so wird man besondere Vorsicht wegen des verstärkten Grenzkordons anwenden müssen. Es handelt sich vor allem um erste ausführliche Besprechungen.«

»Ich werde von Bisztra aus meine Güter in der kleinen Walachei bei Krajowa besuchen. Hier kann die Verständigung leicht erfolgen.«

»Das ist der beste Plan. Wenn die Frau Gräfin ihre Einladung nicht zurücknimmt, oder mich nicht dringende Geschäfte abhalten, werde ich schon Ende dieses Monats die Ehre haben, ihr meinen Besuch zu machen.«

»Mein Retter von heute kann nur willkommen sein.«

»Kennen Sie schon die Nachricht, Herr Graf, die uns hier eben Doktor Todd aus dem Ministerium des Auswärtigen von Olmütz bringt?« fragte der Bankier.

»Nun?«

»Kaiser Franz Joseph, statt morgen, wie bestimmt war, hierher zurückzukehren, reist mit Herrn von Buol nach Warschau. Eine Zusammenkunft zwischen ihm, dem Kaiser Nikolaus und dem Könige von Preußen soll dort stattfinden.«

»Das ist neu und – gefährlich!«

»Ich hoffe nicht,« sagte der Abbé. »Es gilt nur eilig unsere Freunde in Konstantinopel zu benachrichtigen, daß alles Mögliche aufgeboten werden muß, eine Verzögerung im Beginn der Feindseligkeiten zu verhindern. Ist der Krieg erst im Gange, so sind alle Vermittelungen unnütz.«

Während des Gespräches war Frau von Czezani auf einige Augenblicke eingetreten.

»Zum Glück habe ich die Notwendigkeit sicherer Botschaft vorausgesehen, ich habe den Boten sogar mit hierher gebracht.«

»Ich wollte meine Freundin bitten,« sagte die Dame des Hauses, »mit mir nach dem Salon zurückzukehren, man hat bereits nach ihr gefragt, und Vorsicht ist nötig.«

»Ich habe Ihnen allen eine wichtige Mitteilung zu machen, die ich in der Aufregung des Gespräches beinahe vergessen,« rief die junge Gräfin. »Wissen Sie, daß unsere Zusammenkünfte verraten sind, daß man weiß, was unsere Gesellschaften verbergen sollen, – daß ich selbst auf das Bestimmteste gewarnt worden bin?«

Alle traten unruhig näher, mehrere Gesichter, namentlich das der Wirtin, wurden bleich.

»Unmöglich! Woher wissen Sie das?«

Die Wangen der Gräfin färbte eine dunkle Röte.

»Das ›Woher‹ ist mein Geheimnis. Ich kann Sie jedoch heilig versichern, daß dem so ist.«

»Aber wenn die Polizei eine Ahnung hätte, würde man bereits eingeschritten sein.«

»Nicht die Regierung ist davon unterrichtet, wenigstens zur Zeit noch nicht, – andere Personen. Ich glaube, daß wir der Gefahr begegnen werden, wenn wir die heutige Zusammenkunft hier die letzte sein lassen. Ich reise in den nächsten Tagen und Frau von Czezani braucht nur die Empfangsabende aufzuheben und mir zu folgen.«

»Aber so geben Sie uns doch einen Fingerzeig, damit wir dem Verräter auf die Spur kommen können,« sagte der Abbé.

Der Oberst zog die schwarzen Brauen zusammen. Der scharfe Zug um seinen Mund zeigte entschlossene Härte und Grausamkeit.

»Der Tod muß notwendig seinen Mund verschließen.«

– Ein leises, kurzes Aechzen scholl durch das Gemach – alle sahen sich erschrocken und fragend an – dann schüttelte jeder verneinend den Kopf.

Die Augen liefen umher, gleich als könnten sie entdecken, woher der Laut gekommen – man lauschte nach den Fenstern – –

Da plötzlich wies der Abbé stumm mit dem Finger nach dem Kamin.

Eine hölzerne Vorsatztür verdeckte das Innere. Das scharfe Auge des Priesters hatte eine kaum merkliche Bewegung des Holzes erfaßt.

Wie ein Tiger sprang der Oberst auf den Ort los und riß mit einem Griff die Tür heraus – im Innern des Kamins hockte zusammengekrümmt ein Mensch mit bleichem, erschrockenen Gesicht in Bedientenlivree.

Die Hand des Grafen riß ihn heraus, mitten ins Zimmer. Dort fiel die Jammergestalt auf die Kniee und streckte flehend die gefalteten Hände empor – die Zunge schien ihm vor Schreck und Angst den Dienst zu versagen.

»Johann – mein Diener.«

Der Oberst erinnerte sich dessen, was er vorhin zufällig vom Ausbleiben des Menschen gehört.

»Wie kommst Du hierher?«

»Ach, gnädige Frau, verzeihen Sie mir,« jammerte der Elende. »Bei allen Heiligen im Himmel, ich kam zufällig herein und versteckte mich, wie ich die Herren kommen hörte.«

Jeder fühlte, daß der Mensch log, – daß er der Spion war, welcher sie verriet. Die beiden Damen zitterten und waren leichenblaß.

»Das lügst Du, Bursche!« sagte der Oberst mit kalter Ruhe. »Zunächst wollen wir Dir einmal etwas näher auf den Zahn fühlen und Deine Geständnisse hören, zuerst uns aber Deiner versichern. Baron, reichen Sie mir den Shawl dort her!«

»Gnädige Frau, Sie werden mich doch nicht ermorden lassen! Ich will ja alles gestehen! Zu Hil…«

Die feste Hand des alten Ungars preßte sich auf den Mund des Elenden, daß der Ruf in seiner Kehle erstickte. Zugleich schnürte der Oberst ihm mit Hilfe des Abbé den Shawl um Arme und Leib. Dann zog er aus der Brusttasche ein feines glänzendes Stilett, dessen Klinge er vor den starren Augen des Unglücklichen auf dem Nagel des Daumens probierte.

Gräfin Helene stürzte auf ihn zu und fiel ihm in den Arm.

»Allmächtiger Gott, Sie werden den Menschen doch nicht morden wollen?«

»Wenn es nötig ist, schöne Gräfin, warum nicht? Jeder ist sich selbst der Nächste. Aber beruhigen Sie sich, dies Instrument soll ihn nur ein wenig schrecken und die Wahrheit ans Licht bringen. Das ist jedoch keine Szene für Damennerven und ich bitte Sie, sich zu entfernen.«

»Nicht eher, als bis Sie mir Ihr Wort geben, kein Blut zu vergießen.«

»Auf mein Ehrenwort, es soll kein Blut vergossen werden! Baron Riepère, ich sehe Sie zittern wie diese Damen; reichen Sie der Frau Gräfin den Arm und führen Sie dieselbe zur Gesellschaft. – Ich bitte, nehmen Sie sich zusammen; unser aller Freiheit und Leben steht auf dem Spiel.«

Der Bankier beeilte sich, dem halben Befehl Folge zu leisten; er war selbst so bleich wie der ertappte Spion.

Als der Graf Frau von Czezani zur Tür geleitete, flüsterte er ihr zu: »Schicken Sie mir sogleich Sta-Lucia hierher und bringen Sie ihn selbst bis an die Tür.« –

Nach einer kurzen Zeit kehrte die Dame zurück mit dem Pseudo-Marchese, den der Oberst in das Zimmer schob, dessen Tür er wieder schloß.

»Merken Sie auf und fassen Sie sich,« sagte er zu der Zitternden. »Wie ich vorhin hörte, weiß keiner Ihrer anderen Leute, daß der Diener bereits zurückgekehrt ist?«

»Niemand hat ihn gesehen; sie schalten noch vorhin auf seine Saumseligkeit.«

»Wo schläft der Mensch?«

»Mit dem Kutscher zusammen über den Ställen.«

»Wenn ich nicht in der Lokalität irre, so führt am Eingang des Gewächshauses eine dunkle Treppe nach dem oberen Stock. Läuft diese bis zum Boden und sind die Türen offen?«

»Ich glaube ja.«

»Dann gehen Sie zur Gesellschaft und suchen Sie den Diener und das Mädchen in den Zimmern zu beschäftigen. Hüten Sie die Gräfin; bedenken Sie, Freundin, es geht um Tod und Leben.«

Sie versprach alles und eilte davon. – – –

Auf dem Sofa im Pavillonzimmer lag ausgestreckt und festgebunden, ein Tuch in den Mund gedrückt, der Diener.

Er hatte gebeichtet, – man wußte, was man wissen wollte, daß bis jetzt nur Unbestimmtes verraten worden und daß die Entdeckung von heute Abend sie gerettet hatte.

Am Kamin standen die drei Männer, – auf der anderen Seite des Zimmers lehnte die kräftige Gestalt des Banditen in der Fensternische.

Die Drei wechselten nur wenige Worte, – alle empfanden die schreckliche, aber unabweisbare Notwendigkeit.

Der Oberst trat zu dem Korsen; auch ihre Unterhaltung war kurz.

»Kein Blut und kein Zeichen von Gewalt?« sagte der Bandit. »Ei, ich weiß ein vortreffliches Mittel: ich habe es bei dem Schuft von altem Advokaten versucht, der meinem Bruder auf die Galeeren half. Am andern Morgen glaubte ganz Ajaccio, der Schlag habe ihn gerührt, bis ich's selbst erzählte. Verschaffen Sie mir ein Kissen, Signor Conte.«

Der Oberst schaute umher – auf der Lehne des Sofas lag ein weiches, gesticktes Daunenkissen.

»Genügt dieses?«

»Ich denke, ja. Nehmen Sie seine Füße in Acht.«

Der Unglückliche sah mit weit geöffneten Augen die Mörder auf sich zukommen. Vergeblich waren seine Anstrengungen zu schreien und aus den Tüchern, mit denen er gebunden, sich emporzuwinden. Der Bandit stand jetzt vor ihm und legte ihm das ziemlich große Kissen auf das Gesicht. »Ich sehe, Signor, Sie sind ein Geistlicher,« sagte er zu dem Abbé, »ich bitte Sie, sprechen Sie ein Gebet für den Sünder.« Dann schlug er selbst in der furchtbaren Blasphemie seiner Erziehung und seiner Natur das Kreuz und setzte sich mit der ganzen Wucht seines schweren Körpers auf das Kissen. – – – –

Pisani und der Abbé traten, im Gespräch begriffen, aus dem Garten in den Salon. Der letztere war ein wenig bleich, der Oberst ruhig wie immer; der tiefe Zug von grausamer Energie um Nase und Mund war in der gewöhnlichen Falte verschwunden.

An einem der Spieltische stand der Bankier und pointierte zerstreut; die Gräfin saß an dem Klavier, ohne zu spielen und schien kaum die Worte zu hören, die zwei Herren der Gesellschaft an sie verschwendeten. Ihre Augen richteten sich furchtsam fragend auf die Eintretenden, auch der Baron warf einen hastigen Blick voll Angst auf sie.

»Es wird kühl im Garten,« sagte unbefangen der Oberst, »und wir sind wahrlich nicht so vertieft in den schönen Abend wie der Herr Marchese und Ihr gelehrter Landsmann, gnädige Frau, um nicht die Behaglichkeit des Salons vorzuziehen. – Wie steht's, Baron, ist das Glück wie immer auf Ihrer Seite?«

Er trat zu den Spieltischen.

»Diesmal droht es mich zu verlassen,« entgegnete der Bankier mit Bezug, »die Chancen sind gegen mich.«

»Ei was, man muß nicht bei jeder Bedrohung den Mut verlieren. Männer wie wir lassen sich nicht sogleich einschüchtern von einer Ungunst der launischen Fortuna. Ihr Spiel steht am Ende auch gar nicht so schlecht.«

»Wollen Sie für mich eintreten?«

»Ich pointiere nicht, ich überlasse nie mein Glück dem Zufall.«

»Und sind Sie denn Ihres Erfolges immer gewiß?«

» Ich habe ihn gesichert

Der Bankier atmete tief auf, die Worte wälzten eine Bergeslast von seiner Brust.

Gräfin Helene wurde noch bleicher als vorher. »Ich will nach Hause, mir ist nicht ganz wohl – der Schreck von heute Mittag hat mich doch mehr angegriffen als ich dachte.«

Der Aufbruch veranlaßte weitere Folge. Der Oberst nahm die Gelegenheit wahr, sich dabei Frau von Czezani zu nähern, deren Augen ihn schon lange befragt hatten. »Gute Nacht, gnädige Frau, und – wenn Sie morgen zufällig etwas vom Boden Ihres Hauses holen lassen, so versäumen Sie die sofortige Anzeige bei der Polizei nicht. Ich glaube, der törichte Bursche hat sich in Verzweiflung über seine Dienstentlassung aufgehängt.«


(Schluß des ersten Teils.)

 


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