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Seine und Bosporus.

Der Prolog.

Ein heftiger Regenschauer, wie der März sie in Paris häufig mit sich führt, hatte mit der späten Stunde des Abends – die Uhren zeigten bereits über Zehn – die bewegliche Masse der Spaziergänger und Flaneurs von den Straßen und Boulevards vertrieben, als an einem Nebenausgang der Galerie Heinrichs IV. in den Tuilerien ein eleganter, aber durch keinerlei Zeichen oder Livree auffallender Wagen wartend hielt. Endlich gegen halb Elf öffnete sich die Tür und zwei in Mäntel gehüllte Personen, die beide Zivilkleidung trugen, kamen heraus und bestiegen den Wagen, der auf einige dem Kutscher zugeflüsterte Worte sofort über die Pont Royal, durch die Rue du Bac und de Grenelle nach der Esplanade der Invaliden seinen Weg nahm. Ein Losungswort am Tor öffnete ihm den Eingang und der Wagen rollte durch den Cour Royal nach dem berühmten Dom, an dessen Seiteneingang er still hielt. Ein Mann in Generalsuniform schien hier den Wagen erwartet zu haben, öffnete selbst den Schlag und begrüßte höflich die Aussteigenden, von denen der Eine den Mantel dicht und verhüllend um sich geschlagen hielt.

»Sie haben mein Billet bekommen, General,« sagte der Begleiter, »und wir sind Ihnen sehr verbunden für Ihre Aufmerksamkeit. Ist unser Mann an Ort und Stelle?«

»Er wartet seit einer halben Stunde.«

»Ah, dann haben Sie wohl die Güte, uns einzulassen und dafür Sorge zu tragen, daß wir unter keinerlei Umständen gestört werden. Die sämtlichen Eingänge sind doch geschlossen, und niemand mehr in der Kirche?«

»Es ist alles geschehen, Herr Graf, wie Sie gewünscht,« entgegnete der General. »Hier ist der Schlüssel zur Pforte, so daß Sie zu jeder Zeit von innen öffnen können. Ich werde die Ehre haben, Sie selbst hier zu erwarten.«

Die beiden Fremden traten in die Kirche und schlossen die Tür hinter sich; der alte Offizier aber lehnte sich sinnend unter einem Vorsprung der Mauer an die Wand, um vor dem Regen geschützt zu bleiben; das Schiff der Kirche war dunkel, nur vor dem Hochaltar und in der Kapelle zu Häupten des großen Katafalks, welcher jene sterblichen Reste umschließt, die eine vertriebene Herrscherfamilie als erstes Siegel der entente cordiale von dem Felseneiland St. Helena holen ließ, zu Häupten des Katafalks Napoleons I. leuchtete der Schimmer der ewigen Lampen. Ehe die Männer den Gang betraten, hielt der Verhüllte den Anderen einen Augenblick am Arm zurück. »Sie kennen Ihre Instruktionen. Graf,« sagte er, »wenn etwas Weiteres nötig, werde ich Ihnen ein Zeichen geben.« – Ihre Schritte hallten wieder an dem mächtigen Gewölbe, als sie sich der Kapelle näherten. Ein leiser Luftzug schien die Banner und Standarten in Bewegung zu setzen, die ringsumher aufgehängt sind. Aber es sind Siegesdenkmale der neueren Zeit, wehende Roßschweife und Prophetenfahnen, welche die Bourbonen und Louis Philipp dem Vasallen des Großherrn in den heißen Kämpfen auf afrikanischem Boden entrissen; jene Standarten aber, die Napoleon einst auf den Feldern von Arcole bis zur Moskwa den Völkern Europas nahm, und die er im Dom seiner Invaliden aufhängen ließ, sind längst verschwunden. Joseph Napoleon hatte wenigstens so viel Achtung vor dem Königsruhm seines verratenen Bruders, daß er diese Zeichen einstiger Siege verbrennen und vernichten ließ, ehe die Verbündeten ihren Einzug in Paris hielten, um sie wieder zu holen.

Von den zu beiden Seiten des Grufteinganges aufwärts führenden Stufen des Mausoleums erhob sich bei dem Nahen der beiden ein Mann und blieb, sie erwartend, stehen. Dem gegenseitigen stummen Gruß folgte eine kurze Pause, in der die beiden Parteien im Halblicht des Lampenschimmers sich zu mustern schienen. Von den beiden Eingetretenen hielt sich der Größere auch jetzt mehr im Schatten und in den Falten seines Mantels verborgen, ohne im Gotteshause den Hut abzunehmen; der andere trat näher ans Licht; seine Gestalt war mittelgroß und ziemlich schlank, und sein Kopf trug charakteristische Züge, geeignet, die Erinnerung jedes Franzosen wachzurufen. Ein ergrauender Schnurr- und Knebelbart bedeckte den unteren Teil seines Gesichts, aus dem ein Paar scharfe, unruhige Augen unter starken- buschigen Brauen den Dritten forschend vom Kopf bis zu den Füßen maßen. Dieser erwiderte ruhig, mit einem etwas matten, starren Auge den Blick. Es war ein Mann in hohem Lebensalter, offenbar den Siebenzig nahe, von ungebeugter, fester Körperhaltung. Haupthaar und Bart waren weiß, das Gesicht, außer von zwei tiefen Narben, auch von den Runzeln des Alters durchfurcht. Die dicht bei einander stehenden Augen hatten, wie gesagt, einen seltsamen, starren Ausdruck, der sich nur von Zeit zu Zeit feurig und dann unwiderstehlich belebte. Eine der Narben lief von dem linken Backenknochen aus bis auf den Schädel, auf dessen hoher, kahler Platte sie endete. Der Greis hatte den Reitermantel auf den Stufen des Mausoleums fallen lassen und stand vor den beiden gekleidet in eine offenbar alte und unscheinbar gewordene Offiziersuniform der Poniatowski'schen Lanziers.

»Sie sind der Herr,« begann derjenige, der den General am Eingang angeredet hatte, auch hier das Gespräch, »der Seiner Majestät dem Kaiser vor drei Tagen dies Memoire eingereicht hat?« Er zeigte ihm hierbei ein ziemlich starkes Heft und fuhr, als der Angeredete sich zustimmend verneigte, fort: »Sie werden aus dem Besitz dieser Papiere ersehen, daß ich von allem in Kenntnis gesetzt bin und Vollmacht habe, mit Ihnen zu verhandeln. Es sind dem Kaiser seit ungefähr zwei Jahren von Zeit zu Zeit ähnliche Denkschriften zugegangen mit – wir müssen es gestehen – sehr umfassenden und schätzenswerten Materialien.«

»Die der Kaiser auch benutzt hat, sonst wäre er schwerlich der Kaiser,« unterbrach ihn mit sarkastischem Lächeln der Greis.

»Auch das, wenn Sie wollen, wir gestehen es zu, die Tatsachen sprechen. Selten hat man eine genauere Voraussicht und Kombination der politischen Ereignisse gefunden, als der Verfasser dieser Schriften besitzt, wohl nie eine umfassendere und tiefere Kenntnis aller auch der geheimsten Triebfedern, die Europa, ja die Welt gegenwärtig bewegen. Es ist unmöglich, daß diese Kenntnis die Wissenschaft eines einzelnen Mannes sei, der nicht wenigstens einen Thron zu Gebote hat. Der Kaiser, mein Herr, ist begierig, den Verfasser dieser Winke kennen zu lernen, und da es heute das erste Mal ist, daß Sie eine persönliche Annäherung selbst gewünscht haben, obgleich, wie ich gestehe, an einem seltsamen Ort und zu seltsamer Zeit, so hat mich Seine Majestät beauftragt, Ihre Eröffnungen entgegenzunehmen und Sie nötigenfalls, wenn Sie darauf bestehen, zu ihm zu führen.«

»Das ist unnötig, Herr Graf,« bemerkte der andere, »ich weiß vollkommen die Person zu schätzen, mit der ich hier zusammentreffe.«

Der Graf errötete leicht und warf einen Blick auf seinen Begleiter, der an der zweiten Seitenwand des Mausoleums lehnte. »Sie kennen mich, mein Herr,« sagte er rasch.

Der Alte verneigte sich ehrerbietig. »Es rollt ein Blut in Ihren Adern, Exzellenz, das ein alter Offizier des Kaisers, der nicht zu sagen gewohnt war: l'empire c'est la paix, sondern l'empire c'est l'épée! nie verkennen wird. Überdies sind wir gewissermaßen Landsleute, ich bin Pole von Geburt.«

»Sie gehören zu der Konföderation des Fürsten Czartorynski?« fragte jener rasch.

Der Pole schüttelte spöttisch das Haupt. »Herr Graf,« sagte er, »ich bin nicht siebenundsechszig Jahre alt geworden, ohne gelernt zu haben, daß die Wiederherstellung Polens nicht auf dem Parkettboden der Salons von Paris gemacht werden kann. Ich kenne den Herrn Fürsten nur dem Namen nach. Doch lassen wir das, – es führt uns nur von unserem Gegenstand ab. Ich bitte rekapitulieren wir für einen Augenblick den Stand der Angelegenheiten.«

Der Graf verneigte sich zustimmend, und der alte Offizier fuhr fort:

»Im Mai 1850 ging das Kabinett der Tuilerien auf den ihm von mir anonym vorgelegten Plan der Initiative in der orientalischen Angelegenheit ein und ließ durch General Aupik von der Pforte den Besitz der heiligen Orte fordern.

»Gerade ein Jahr später nahm Herr von Lavallette die Frage aufs neue auf und brachte im Herbst die Pforte zu einem Zugeständnis. Dies hatte, wie wir vorausgesagt, die Reklamationen des Petersburger Hofes zur Folge, der auf den Vorrechten der griechischen Kirche bestand. Der Divan, von den russischen Forderungen ins Gedränge gebracht, verzögerte eine genugtuende Erklärung, und Marquis von Lavallette brach zu Ende des Jahres seine diplomatischen Beziehungen ab.

»Auch das Jahr 1852 verging mit den angeregten Verhandlungen, die immer verwickelter wurden. Die Pforte, zwischen den beiden bedrohenden Mächten, suchte nach beiden Seiten hin einen gütlichen Ausweg. Wie das damalige Memoire der Regierung voraussagte, spannte bei der Erklärung des französischen Gesandten, zufrieden gestellt zu sein, der russische seine Forderungen höher und verlangte jenen Ferman zu Gunsten der Griechen, dessen Auslegung und Proklamation neue Verwickelungen hervorrufen mußte.

»Hiermit war zugleich erreicht, daß die weiteren Aggressionen dem Petersburger Kabinett anheimfielen und von Frankreich abgeleitet, sowie, daß die Interessen der englischen Regierung mit dem Auftreten der französischen verbunden werden. Herr von Lavallette war in der Lage, im November zu drohen, daß bei einem Bruch der an Frankreich gegebenen Zusage er die Flotte herbeirufen müsse.

» England, um weder Frankreich noch Rußland die Oberhand zu gewähren, nahm Teil an den diplomatischen Verhandlungen und erklärte die beiderseitigen Ansprüche für zu weit getrieben. Das war der Augenblick, um Frankreich vollends herauszuziehen und den Zusammenstoß jener beiden mächtigen Feinde der Napoleoniden, Rußlands und Englands, vorzubereiten; und in der Tat, Herr Graf, ich muß gestehen, daß man dies sehr geschickt getan hat.«

»Ah, Sie meinen die Erklärung unseres Gesandten vom zehnten Dezember, daß Frankreich keinen Anspruch auf ein Protektorat über die römisch-katholischen Untertanen der Pforte mache, und die Erbötigkeit unseres Gesandten in Petersburg, sich mit dem russischen Kabinett über die streitigen Punkte in der Frage der heiligen Stätten zu verständigen?«

»Ganz recht, Herr Graf. Seine Majestät der Kaiser hatte die Gnade, damals mein letztes Memoire zu empfangen und dessen Versicherung zu vertrauen, daß Kaiser Nikolaus auf dem unbedingten Protektorat über die griechischen Christen in der Türkei, das ist, bei einem Verhältnis von neun zu vier Millionen, über die Türkei selbst, bestehen, und seine Forderung durch eine unüberlegte Waffendemonstration unterstützen würde. Rußland dirigierte in der Tat bereits Truppen aus ganz Bessarabien und dem Chersones nach der Grenze der Fürstentümer, und England …«

»England,« unterbrach die Stimme des Verhüllten zum ersten Male mit dem Tone der Ungeduld die Unterhaltung. »England, mein Herr, begann seinen Rückzug. Die Depeschen Lord John Russels an den Gesandten in Paris und an den Oberst Rose konstatieren, daß das Kabinett von St. James die Schuld der ersten Drohung immer noch auf Frankreich schiebt, die beiderseitige Haltung mißbilligt und sich von jeder Einmischung fern halten will.«

»Ich werde sogleich die Ehre haben, diese Anschuldigung näher zu erläutern,« entgegnete mit einer Verbeugung nach der Richtung hin, in welcher der Verhüllte stand, der alte Offizier. »Diese Haltung war bei dem schwankenden Charakter des Lord John vorauszusehen. Aber sie wurde paralysiert, indem man in Rußland die Wahl einer außerordentlichen Mission auf den Fürsten Menschikoff lenkte, und durch die Erklärungen, zu denen sich Kaiser Nikolaus unvorsichtiger Weise hinreißen ließ. Diese sind Ihnen ohne Zweifel bekannt, Herr Graf?«

»Ich weiß in der Tat nicht, was Sie meinen.«

»Dann haben Sie die Güte, diese Aktenstücke zu lesen. Es sind die genauen Abschriften der geheimen Berichte, die Sir Seymour, der englische Gesandte in Petersburg, über vier Privat-Unterredungen eingesendet, die er am 9. und 14. Januar, sowie am 20. und 21. Februar mit dem Kaiser Nikolaus hatte, desgleichen die eines Memorandums vom letzten Datum, das der Kaiser jenem Gesandten zustellen ließ.« Der alte Offizier zündete eine der auf dem nahen Altare stehenden geweihten Kerzen an und übereichte ein Heft Papiere, das der andere hastig ergriff und mit großer Aufmerksamkeit durchflog, während auch der Verhüllte näher hinzutrat und über die Schulter des Grafen hinweg mitlas.

»In der Tat, mein Herr,« sagte der letztere nach einer Pause von etwa zehn Minuten, während der ihm beim eifrigen Lesen der Depeschen – jener Aktenstücke, die später unter dem Namen der Enthüllungen des blauen Buches bekannt geworden sind – hin und wieder ein Ausdruck der Überraschung entschlüpft war, »in der Tat, ich kannte zwar im allgemeinen den Inhalt der Unterredung vom 9ten, doch diese wichtigen Details sind mir neu. Es scheint, Lord John spielt ein doppeltes Spiel, indem er uns die Kenntnis so bedeutsamer Entschließungen vorenthielt. Sie müssen auf Ehre eine Art Hexenmeister sein, um sich den Besitz so wichtiger Dokumente verschafft zu haben.«

»Dem Golde, Herr Graf,« entgegnete der Pole, »ist in London alles möglich, gerade wie in Paris den Frauen. –

»Ich erlaube mir, bis zu dem Augenblick, in dem wir uns befinden, die Vorgänge weiter zu resumieren. Die Art und Weise, in der Graf Nesselrode offiziell den Kabinetten von London und Paris die Instruktionen des Fürsten Menschikoff bezeichnete, verzögerte den Ausbruch der Differenzen. Darnach sollten diese Instruktionen sehr gemäßigt sein, beträfen nur die Montenegriner und die heiligen Stätten und hätten zum Zweck, ein Äquivalent für jedes den Griechen genommene Privilegium zu erreichen. Trotz der Beweise, die ich Ihnen eben über die Absichten Rußlands vorzulegen die Ehre hatte, zögerte das englische Kabinett noch immer mit einer Einmischung, ernannte aber einen besonderen Gesandten in der Person des Lord Stratford. Sie kennen den Lord, Herr Graf, und wissen, daß bei seinem Ehrgeiz und seinem echt britischen Charakter ein Kampf mit der Anmaßung und dem Stolz des Fürsten Menschikoff unmöglich ausbleiben kann, wenn der letztere Forderungen stellt, die in den Augen des Lords mit dem britischen Interesse im Orient nicht vereinbar sind. Das erste Auftreten des Fürsten in Konstantinopel haben die Zeitungen gemeldet. Es war beleidigend und herausfordernd in dem Maße, daß die Pforte den britischen Gesandten aufforderte, die englische Flotte zu ihrem Schutz herbeizurufen und Oberst Rose an Admiral Dunde wirklich die Aufforderung gestellt hat, das Geschwader nach Vourla zu führen.«

»Aber der Admiral hat sich geweigert, der Oberst hat seine Aufforderung zurückgenommen, die englische Regierung hat, was Sie vielleicht nicht wissen werden, vorgestern den Obersten desavouiert und uns ihr Bedauern ausgesprochen, daß der Kaiser unserem Geschwader im Mittelmeer gleichfalls den Befehl erteilt hat, in die griechischen Gewässer abzugehen.«

»Der Kaiser, mein Herr,« entgegnete der Greis, »ist ein kluger Politiker und hat sehr recht daran getan, die gute Gelegenheit zu benutzen, die ihm der Schritt des Obersten Rose geboten hat. Sie werden sich erinnern, daß mein Memoire auf eine solche Gelegenheit spekulierte. Nach der Absendung der Flotte Frankreichs bleibt England nichts, als über kurz oder lang die Nachfolge.«

»Ich gestehe es zu,« sagte der Graf, »daß es für uns großes Interesse haben muß, England in einen Krieg mit Rußland zu verwickeln und seine ganze Macht im Orient engagiert zu sehen. Die Forderungen des Fürsten Menschikoff können allerdings den Charakter von Demonstrationen gewinnen, die den Kaiser und das Kabinett von St. James zwingen würden, für eine Krise den Gesandten besondere Instruktionen zu geben.«

Der Pole lächelte. »Euer Excellenz trauen mir noch immer nicht. Vorgestern, am 22sten, hat Seine Majestät Ihrem Gesandten in Konstantinopel bereits diese Instruktionen zugesandt. Soll ich Ihnen die vier Fälle der Instruktion noch bezeichnen? – Gestern ist die Note an Sie nach London abgegangen, worin die Regierung die Hoffnung an das englische Kabinett ausspricht, daß bei der Krisis in Konstantinopel beide Gouvernements gleiche Haltung beobachten werden. Die Depesche wird Ihren Weg gekreuzt haben, Herr Graf, da Sie, durch den Telegraphen berufen, gestern Abend Dover verlassen haben.«

Der Graf trat erstaunt einen Schritt zurück, der Verhüllte aber ungestüm auf den Fremden zu, indem er durch die heftige Bewegung den verbergenden Mantel zum Teil fallen ließ. »Wer sind Sie, mein Herr? Sie sehen, ich habe ein Recht zu fragen, und ich will wissen, auf welche Weise die Geheimnisse des Staates in Ihre Hände kommen?«

Der alte Mann verbeugte sich ehrerbietig. »In Frankreich,« sagte er, »hat stets das Wort eines Edelmannes gegolten, und ich bin im Vertrauen auf dies hierher gekommen. Das Recht, nicht gekannt zu sein oder zu scheinen, sei ein beiderseitiges

Der andere hüllte sich wieder in den Mantel. »Nach Ihrem Belieben, mein Herr, doch ich glaube, Sie sind mir noch immer das Resultat schuldig.«

Der Pole zog nochmals Papiere hervor und überreichte sie dem wieder herangetretenen Grafen. »Hier finden Euer Excellenz das, was jede englische Zögerung aufheben wird. Es ist die geheime Instruktion des Fürsten Menschikoff; sie weist ihn an, auf unbedingte Anerkennung des Protektorats Rußlands über die griechische Kirche und somit auf Unterwerfung der Pforte unter die russische Oberhoheit zu dringen und einen Vertrag mit ihr abzuschließen, der 400 000 Mann und die Flotte von Sebastopol zu ihrem Schutz gegen die Westmächte stellt.«

Der Mann im Mantel riß ihm die Papiere aus der Hand und durchflog sie eilig. »Das ist genug, mehr als genug!« sagte er hastig. »Lesen Sie, Graf!«

Der Pole überreichte ein zweites Papier. »Hier ist das Verzeichnis der sämtlichen Streitkräfte, welche Rußland in diesem Augenblicke disponibel hat. Die Positionen der Truppen und die Dauer der Etappen sind genau verzeichnet, ebenso die Streitkräfte und Vorräte an den Ufern des Schwarzen Meeres.«

»Gut, sehr gut! Aber was raten Sie nun, mein Herr?«

»Der Kaiser, von dem unterrichtet, was ich soeben hier vorzutragen die Ehre hatte, wird seine Vorbereitungen treffen, um im Augenblick der Krisis eine entsprechende und die britische Streitmacht überwiegende Landarmee nach Konstantinopel oder an die Ufer des Schwarzen Meeres werfen zu können. Die Bildung eines Nord- und eines Südlagers würde die Zusammenziehung der Truppen erleichtern. Während Frankreich ohne Mühe 100 000 Mann zum Schutz der Türkei an das andere Ende des Mittelmeeres setzen kann, wird eine solche Anstrengung England in seinen besten Lebensquellen erschüttern. Es wird genötigt sein, die Truppen aus Indien und den Kolonien heranzuziehen, und indeß seine unzureichende Armee im Kampf gegen Rußland sich aufreibt, wird Frankreich kräftiger und mächtiger denn je als der wahre Hort Europas und der Zivilisation dastehen. Dann – ja dann, wenn England und Rußland sich gegenseitig geschwächt haben, wird es Zeit sein, die Maske abzuwerfen und die Asche des großen Toten, der hier ruht, zu rächen an seinen beiden stolzen Feinden. Dann werden der russische Doppelaar und der britische Leoparde sich krümmen und beugen unter den Krallen des napoleonischen Adlers, und das Blut des Kaisers wird wieder der Herr der Welt sein, wie es ihm und Frankreich gebührt.«

»Aber Oesterreich – Deutschland?«

»Oesterreich – Es wird zuerst den Fuß des Siegers auf seinem Nacken fühlen, von zwei Seiten zugleich, an der Donau und am Po bedroht. Deutschland? – Will der Kaiser den Rheinbund? Er wird im Nu zu seinen Füßen liegen. Und dies Preußen, hochmütig und abgeschlossen in sich selbst, es wird zaudern und zaudern, bis ihm der Kampf bleibt um die eigene Existenz, und in diesem Kampfe wird es sich selbst verbluten. An dem wiedererstandenen Polen und Ungarn und an dem neugeborenen Italien wird das kaiserliche Frankreich drei Stützen haben, die ihm die Welt unterjochen helfen.«

Der Mann im Mantel hatte, die Rechte fest auf die Stirn gepreßt, die Worte des alten Offiziers angehört, während die Linke sich auf den Vorsprung der Gruft stützte. Der Mantel war von seinen Schultern gesunken, so stand er eine Weile stumm und still; dann wandte er sich mit einem stolzen Ausdruck zu dem Polen.

»Was immer auch Ihr Zweck sein mag, – und ich glaube ihn in jenem schönen Traum von der Wiederherstellung ihres Vaterlandes zu erkennen, – Sie haben gesiegt, und ich werde um jenes großen Toten willen Ihre Prophezeiung erfüllen, wenn Gott mir so lange das Leben läßt. – Leben Sie wohl, mein Herr, und nehmen Sie meinen Dank. Es ist hoffentlich nicht das letzte Mal, daß wir uns sprechen, und ich bitte Sie, mir recht bald wieder Nachricht zu geben.«

Er grüßte den Fremden höflich, aber vornehm, während der Graf ihm den Mantel wieder umhängte, und wandte sich nach dem Ausgang der Kirche. »Sie gehen mit uns?« fragte sein Begleiter den Offizier und verweilte einen Augenblick bei diesem. »Verzeihen Sie, Exzellenz, ich habe hier noch ein Gebet zu verrichten. In London werden Euer Exzellenz das Weitere von mir hören, und ich bitte Sie, jedem Boten zu vertrauen, der Ihnen zu seiner Beglaubigung dies Zeichen übergeben wird.« Er zeigte dem Grafen ein eigentümlich geformtes kleines Kreuz von schwarzem Holz mit Silberstiften geziert. Der Graf neigte bejahend den Kopf, grüßte und eilte dem Vorangegangenen nach, um mit dem erhaltenen Schlüssel die Kirchtür zu öffnen.

Draußen fanden sie den General auf seiner übernommenen Wache. Mit gezogenem Hut begleitete der Veteran die geheimnisvollen Gäste bis an den harrenden Wagen und schloß selbst den Schlag. Der Graf legte zum deutungsvollen Zeichen den Finger auf den Mund, während sein Gefährte nur mit leichtem Kopfnicken Abschied nahm, und dahin rasselte die Equipage.

Der Mann im Mantel wandte sich, als der Wagen das Tor verlassen, zu seinem Begleiter. »Hat Maurepas auch die gehörigen Instruktionen und sind Sie sicher, daß dieser Mensch uns nicht entgeht, wenn er das Hotel verläßt? Ich muß wissen, woran ich mit diesem geheimnisvollen Treiben bin: eine solche Macht im Staate ist viel zu gefährlich, um sie unbeachtet zu dulden.«

»Es ist alles nach Ihrem Befehl geschehen, Sire,« entgegnete der Graf, »auf allen Seiten sind die zuverlässigsten Agenten ausgestellt, und sie werden dem Manne auf allen Tritten folgen. Morgen früh, Sire, haben Sie den gewünschten Rapport.«

Auf den Arm des nach dem Dom zurückkehrenden Generals aber legte sich im Schatten der hohen Mauern des Hofes eine Hand und hielt ihn zurück; es war der Pole. »Kennt General Beaupré wohl diesen Ring?« fragte er freundlich. »Ein Kadett der großen Armee gab ihn schwerverwundet in Leipzig dem Soldaten, der ihn aus dem brennenden Hause der Vorstadt und über die Brücke der Pleiße trug, wenige Minuten, ehe sie gesprengt wurde.«

»Das war ich,« sagte erregt der General; wie kommen Sie zu diesem Ring, Herr, Sie sind doch nicht –«

»Der polnische Lanzier, der Sie zufällig rettete, allerdings, wenn auch diese Züge Ihnen wenig mehr kenntlich sein werden. Unter braven Soldaten, General, bleibt immer Kameradschaft, und Sie werden mir gewiß eine kleine Gefälligkeit nicht verweigern, um zu verhindern, daß Ihr Lebensretter vielleicht in eine Schlinge der geheimen Polizei fällt.« Er nahm den General unter den Arm und ging mit ihm einige Schritte im Dunkel auf und ab, leise zu ihm sprechend. Eine Viertelstunde darauf entfernte sich durch eine Seitentür nach dem Latour-Maubourg unbeachtet ein Mann in dem Rock eines Aufwärters und schlug die Richtung nach dem Marsfelde ein.


In einem der belebtesten Stadtteile von Paris – die Szene selbst verbietet natürlich die nähere Bezeichnung – bereitete sich in derselben Nacht ein geheimnisvoller Vorgang. Eine mittelgroße, gewölbte Halle von eirunder Form, anscheinend unter der Erde, denn es fehlten alle Fensteröffnungen, war von einer Lampe und mehreren auf einer rotbehangenen und quer durch die schmale Breite laufenden Tafel stehenden silbernen Armleuchtern erhellt. Hinter der Tafel, um welche sieben Sessel sich reihten, verdeckte ein roter Vorhang das Ende des Gewölbes.

Sechs der Sessel nahmen Personen, in weite rote Ärmelmäntel gehüllt, ein, deren Kapuchons hauben- und larvenartig den Kopf bis zum Munde verdeckten. Der siebente Stuhl war leer, – auf dem Tische selbst lagen mehrere Papiere, mit deren Verlesung und Eintragung in ein Buch zwei der Mitglieder beschäftigt waren. Keines der gewöhnlichen Wahrzeichen und Symbole geheimer Gesellschaften zeigte sich weiter in der Dekoration des Gemaches, wenn eine in der Mitte gebrochene goldene Krone nicht als solches erschien, die oben den Vorhang zusammenhielt.

»Die Berichte aus Amerika, England und Ungarn sind notiert,« sagte der, welcher dies Geschäft vollzogen. »Das Mitglied für Italien hat das Wort.«

Der Vierte in der Reihe an der Tafel erhob sich. »General Pepe berichtet aus Turin. Der Mann bleibt auch im hohen Alter Phantast und ist zu nichts zu brauchen, sein Name aber wirbt uns zahlreiche Kräfte. Man hat in Turin und Genua eine Reihe von Verhaftungen vorgenommen, doch betreffen sie nur untergeordnete Personen. Auch an anderen Orten Italiens, namentlich in Parma, tritt man in Folge der österreichischen Interventionen mit auffallender Strenge gegen die Verbindungen auf. Es ist Zeit, daß der mißglückte Stoß des Ungars Libényi auf den Habsburger durch eine festere Hand am andern Orte korrigiert werde, damit die Männer auf den Thronen wissen, daß das rächende Verhängnis über ihnen schwebt. Das Jahr 1852 hat seine Warnung gehabt, ich schlage für das nächste Beispiel Ferdinand Karl von Bourbon, den Herzog von Parma, vor, unseren erbitterten Feind. – Unsere Presse hat die Nachricht verbreitet, daß Mazzini auf der »Retribution« sich nach Malta eingeschifft hat, damit ist vorläufig die Aufmerksamkeit abgelenkt. Der Aufstand in Palermo ist zwar fehlgeschlagen, wie der in Mailand und Comorn, doch meldet Baron von Bentivoglio, daß die Organisation zur Verbreitung der Mazzini'schen Proklamation vollständig geordnet ist und großen Erfolg zeigt. Die Sammlungen haben im Monat Februar ein Resultat von achtunddreißig Tausend vierhundert Livres ergeben, die ich hiermit in Wechseln abliefere. Mit den Triester Dampfschiffen sind die befohlenen Verbindungen eingeleitet.«

Der Redner übergab mehrere Papiere und nahm wieder Platz. Während seiner letzten Worte hatte sich eine Seitentür geöffnet; ein Mann, gleich den Anwesenden in einen roten Mantel gehüllt, war eingetreten und hatte den leeren siebenten Sessel am Ende der Reihe eingenommen.

»Sektion Deutschland und Schweiz,« sagte der Sekretär.

Der dritte Verhüllte nahm das Wort. »Die Berichte aus Wien lauten wenig befriedigend. Das Attentat vom 18. Februar hat die zaghaften Gemüter geschreckt und die Polizei doppelt aufmerksam gemacht. Libényi hat mit heroischer Ruhe den Opfertod erduldet. Die genauen Berichte über seine letzten Tage liegen vor. Man hat selbst die Gewissensbedrohung durch die feile Geistlichkeit erschöpft, um ihn zum Geständnis zu bringen, von wem die Sendung von 600 Gulden herrührt, die er kurz vor der Tat durch Anweisung des Londoner Hauses erhalten hat; der Brave schwieg. Weniger treu seinem Eide starb in Pesth der Verräter Andrassy, der die Pläne zum Aufstand in Comorn Kossuth's Schwester überbringen sollte und in die Hände der Schergen fiel. Er hat die mit Omer-Pascha angeknüpften Verhandlungen über dessen Einrücken in Croatien verraten, soweit er davon Kenntnis hatte, und dieser Entdeckung ist die augenblickliche Stellung des Wiener Kabinetts gegen die Pforte zuzuschreiben. Man will den Divan um jeden Preis zur Vertreibung der Flüchtigen drängen. Die Finanzverlegenheit jedoch wächst immer ärger und man sucht nach neuen Hilfsmitteln. – In Berlin tritt die Spaltung der Konservativen immer mehr hervor und man arbeitet unseren Absichten in der kommenden Verwickelung damit in die Hand. Die Polizei hat eine Verbindung aufgehoben, deren unreife Organisation ein Kind der eingeborenen Demokratie war. Die Beteiligten wurden von den Wissenden des Bundes zum Teil bei der Flucht Kinkels benutzt, können aber die höheren Interessen in keiner Weise kompromittieren. Es ist hier vorläufig nichts zu machen, als die Zerwürfnisse mit Oesterreich möglichst zu erneuern und die Sympathieen des Heeres für den bevorstehenden Krieg von Rußland abzulenken. Dem russischen Gesandten liegt ein Memoire vor über die Influierung der Tagespresse – unsere Gegenanstalten sind getroffen. Die Sammlungen haben äußerst geringe Resultate gebracht, – man gibt dort nur öffentlich. – Die Regierung von Tessin ist im Begriff, den österreichischen Anmaßungen zu weichen; ich habe die Tribune Suisse angewiesen, bei weiterer Nachgiebigkeit mit der Revolution zu drohen. – Die Sammlung der Schweiz ergibt zwölfhundertzwanzig Franken; das Gesamtresultat der Sammlung aus Deutschland ist noch nicht eingegangen.«

Er übergab die Papiere. Der Zuletztgekommene erhob sich nach ihm, ohne die Aufforderung abzuwarten. Wer der geheimnisvollen Zusammenkunft im Dom der Invaliden beigewohnt hätte, würde leicht in dem Sprecher den alten polnischen Offizier wiedererkannt haben. Ausführlich berichtete er über den Gang der Zusammenkunft, das Mißtrauen, das man ihm anfangs gezeigt, und den Eindruck, den die übergebenen Abschriften der wichtigen politischen Dokumente gemacht hatten. »Der Kaiser,« schloß der Greis seinen Bericht, »ist offenbar ein scharfsichtiger, gewandter Politiker, aber wir haben ihn besiegt, indem wir uns an das verborgenste Geheimnis dieses verschlossenen Herzens gewandt haben. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn nicht vorher schon dieser Kopf von der Vernichtung Englands und der Weltherrschaft der Napoleoniden geträumt hätte; unser Beistand hat sie ihm klar gemacht und die Möglichkeit der Verwirklichung ihm gezeigt. Er würde den Krieg hervorrufen, selbst wenn er keinen anderen Gewinn daran hätte, als die britische Armee und die britische Flotte von seinen Schöpfungen verdunkelt zu sehen. Aber ich warne vor diesem Kopf. Er ist schlau und tatkräftig genug zu einem Versuch, die Bande, die ihn geheimnisvoll umschlingen, mit eigener Hand zu zerreißen. Möge der Augenblick nicht versäumt werden, wo sein Fall uns nötig ist, ehe er uns zuvorkommt.«

Der einmalige scharfe Klang einer Silberglocke ließ sich hören und augenblicklich schwieg die Unterhaltung. Der Vorhang im Hintergrunde öffnete sich ein wenig und ein Mann, ganz wie die an der Tafel verhüllt, nur daß die rote Maske selbst den unteren Teil des Gesichts verbarg, trat hervor. Die Sieben erhoben sich sämtlich.

» Die höchste Gewalt ist zufrieden, meine Herren, mit dem Resultat der Berichte,« sprach der Unbekannte mit einer milden, etwas zischenden Stimme, »namentlich erkennen wir die große Geschicklichkeit an, mit welcher der Vertreter der Sektion VII heute seinen Auftrag für die französische Regierung gelöst hat. Das Geschick Frankreichs ist damit in unseren Händen und wir können seine Kräfte ohne Gefahr benutzen. Zur rechten Zeit wird jene einschreitende Hand bereit sein, die stürzt, wie sie allein erhoben hat.«

Der Zuletztgekommene der Sieben verneigte sich; der andere fuhr fort: »Die Botschaften für London, Wien, Berlin, Petersburg und Konstantinopel liegen bereit. Haben Sie die geeigneten Persönlichkeiten dazu ausersehen, je nach dem Grade der Wichtigkeit, welche die Mission hat?«

Der Sekretär des Rates bejahte und übereichte ein Blatt mit den Namen und den persönlichen Notizen, das jener genau überlas. » Warschau und Petersburg!« sagte er überrascht – »der Vorstand der Sektion selbst will diese Mission übernehmen?«

Der Verhüllte, den der Leser als den Offizier aus dem Invalidendom erkannt hat, erhob sich. »Ich habe diesen Auftrag als Lohn für die wenigen Dienste erbeten,« sagte er, »die ich dem Bunde der Unsichtbaren geleistet. Ich glaubte, daß mir die Mitglieder der höchsten Gewalt das Vertrauen schenken würden, ich werde meine schwierige Aufgabe mit allen Kräften lösen. Ohnedies ist hierzu ein Mitglied des siebenten Grades notwendig, um im Augenblick der Entscheidung den Befehl in die Hand nehmen zu können.«

»Sehr wahr, mein Herr, aber wir werden Sie kaum hier entbehren können. Auch sind Sie eine in Warschau sehr bekannte Persönlichkeit und stehen auf der Liste der Geächteten.«

Der alte Soldat nahm ein Papier aus dem Portefeuille und überreichte es: »Die Begnadigung des Kaisers und die Erlaubnis zur Rückkehr! Ich empfing sie heute von Herrn von Kisseleff.«

»Das ist allerdings viel, doch« – eine behandschuhte Hand, die sich aus den Falten des Vorhangs hervorstreckte, reichte dem Sprechenden einen Streifen Papier, den dieser las und sofort am Licht einer Kerze verbrannte. »Die Majorität der höchsten Gewalt ist mit Ihrer Sendung einverstanden. Sie haben also die Vollmacht zur Reise und werden als Mitglied des Rates bis zur Summe von fünfzigtausend Rubeln disponieren können. Doch ist es Ihnen bekannt, daß Sie von diesem Augenblick an bis zur Beendigung Ihrer Mission aus dem Rat selbst ausscheiden und unter die Gehorchenden zurücktreten.«

Der Pole verneigte sich. »So nehmen Sie die nötigen Papiere in Empfang, und die Sonne der Freiheit leuchte Ihnen nach Osten.«

Er reichte dem Scheidenden die Hand, jeder der Beisitzer tat dasselbe, und der Pole verließ den Saal durch die erste Tür, während der Verhüllte dessen Sitz einnahm.

» Smyrna und Konstantinopel?« fuhr dieser nach einem weiteren Blick in das Papier fort. »Nach diesen Notizen hält der Rat es für gut, den dahin beorderten Gehorchenden von hier zu entfernen und in eine Lage zu bringen, in der er, gehörig überwacht, dem Bunde bessere Dienste leisten kann als hier. Welchen Grad zählt der Gehorchende?«

»Den vierten.«

»Das ist genügend, wir haben sichere Leute an Ort und Stelle. Lassen Sie ihn eintreten.«

Der Sekretär drückte auf eine Feder, die zweite Tür gegenüber dem Tisch öffnete sich, und ein Mann, anscheinend in den ersten dreißiger Jahren, von offenen, männlichen Gesichtszügen und festem, ruhigen Auge, einfach aber gut gekleidet, trat ein und nahte mit einer Verbeugung dem Tisch.

»Sie wollen nach der Levante gehen, um als Arzt dort Beschäftigung zu suchen?«

»So ist es.«

»Seit wann sind Sie Mitglied des Bundes?«

»Seit fünf Jahren.«

»Gut, Sie werden die Briefe erhalten, die Sie auf Gefahr Ihres Lebens sicher zu überbringen haben. Die weiteren Instruktionen werden Sie an Ort und Stelle finden. Die Mittel der Reise sind hier.« Er reichte ihm zwei Goldrollen. »Wann reisen Sie?«

»Morgen früh.«

»Wir werden in Konstantinopel von Ihrer Kunst den geeigneten Gebrauch machen. Bedenken Sie: Willenloser Gehorsam! Leben Sie wohl!«

Der Angeredete nahm mehrere Papiere in Empfang und entfernte sich durch dieselbe Tür, durch die er eingetreten.

»Die Person für Berlin und Deutschland!«

Ein neuer Druck der Feder öffnete die dritte Tür: eine elegant in schwarze Seide und Spitzen gekleidete Dame trat mit graziösen Manieren ein. Ein kühner, interessanter Kopf blickte aus den umhüllenden Falten des kokett um das dunkle Haar geschlungenen, von einer prächtigen Brillantnadel gehaltenen Spitzenschleiers. Die dunklen geschwungenen Brauen über dem feurigen Glutauge, die zierlich üppigen Formen von Busen und Hüften, der ganze Typus des zwar nicht mehr in der ersten Jugendfrische prangenden, aber überaus interessanten und anregenden Gesichts ließen die Südländerin nicht verkennen. Die sieben Männer erhoben sich artig vor der schönen Erscheinung.

»Sie gehen nach Berlin, Madame, um dort neue Triumphe zu feiern?«

»Sennor sind sehr galant,« entgegnete die Dame. »Ich habe das immer erfahren, seit ich in Frankreich bin, wenn ich auch leider die mächtigen Beschützer nicht kenne, die sich meiner angenommen und mich aus den verabscheuten Fesseln befreit haben. Sie wissen, Sennor, daß ich ganz zu Ihren Befehlen stehe.«

»Wir wünschen vor der Hand nichts, Madame, als daß Sie diese Empfehlungsbriefe in den verschiedenen Hauptstädten, die Sie berühren werden, abgeben, und die Personen, an die sie gerichtet sind, mit der bekannten Gewalt Ihrer Reize an sich fesseln. Sie wissen, daß wir mächtig sind und namentlich Schweigen verlangen. Denken Sie immer daran, daß selbst die Wände in unserem Solde stehen. Vor allem, Madame, wenden Sie die Geschosse Ihrer Feuerblicke und die Macht Ihrer Reize gegen die Herren vom Militär und bilden Sie aus diesen den Kreis Ihrer Sklaven. Ist das besorgt, was für Madame bestimmt war?«

Der Sekretär überreichte ihm ein Samtetui, der Verhüllte schlug es auf und ein prachtvoller Brillantschmuck glänzte in dem Strahl der Kerzen. Die Augen der Dame funkelten bei dem Anblick in unbezähmbarer Begierde.

»Nehmen Sie,« sagte galant der Redner, »es ist ein vorläufiges Zeichen unseres Dankes und seien Sie gewiß, daß dieser dabei nicht stehen bleiben wird. Au revoir, Madame, vielleicht, ehe Sie es denken.«

Er erhob sich, während die Dame eine ziemliche Anzahl Briefe in Empfang nahm, und führte sie bis an die Tür zurück, die sich hinter ihr schloß. »Bei meinem Eide,« sagte der Verhüllte zurückkehrend, »ein entzückend schönes Weib. Sie wird uns treffliche Dienste leisten. Doch lassen Sie uns eilen, die Zeit ist vorgeschritten. Ich sehe, die nächsten für London bestimmten Personen gehören den unteren Klassen an?«

»Man hat um Persönlichkeiten geschrieben, die weniger als Führer und Wissende, an denen es in London nicht fehlt, denn als geeignet erscheinen, kameradschaftlich unter den Arbeitern und dem Volk selbst zu wirken. Die beiden Personen, die wir gewählt haben, sind sehr zuverlässig; der eine finster, brütend, jedes Entschlusses und jedes Opfers fähig, ohne Familienbande und nur für die Revolution tätig; der Zweite ein Kind derselben, begeistert, einer jener Pariser Proletarier, die durch Berangers Lieder entflammt worden sind.«

Ein Zeichen befahl den Eintritt; aus der vierten Tür erschienen zwei Männer, sehr verschieden im Äußeren. Der jüngere mochte etwa 23 Jahre zählen, ein echtes Pariser Kind, dem, wenn auch von der Konskription durch eine glückliche Losung befreit, doch das soldatische Blut des Franzosen aus Haltung und Bewegung leuchtete. Ein freies, männliches Gesicht, von schönem Bart umschattet, ein etwas wild und hitzig blickendes Auge, die kräftige und doch gelenke Gestalt mit den ausgearbeiteten Händen, bekleidet mit der reinlichen Bluse, machte den jungen Mann zum Ideal eines lebensfrischen Repräsentanten der arbeitenden Klasse. Ganz im Gegensatz zu ihm stand sein Begleiter, anscheinend fünf bis sechs Jahre älter, nicht groß und dennoch von gebückter Haltung, das straff anliegende schwarze Haar fast bis zu den buschigen Augenbrauen herabgehend, unter denen tiefliegende, unheimliche Augen funkelten; im gelblichen Italienergesicht um den kleingekniffenen Mund lagen Züge unbeugsamer Entschlossenheit.

»Sie gehen nach London und Manchester,« redete der Verhüllte die beiden an, »und werden dort der großen und heiligen Sache der freien Arbeiterverbrüderung wichtige Dienste leisten. Ich brauche Sie nicht an das Joch der Tyrannei erinnern, denn Sie fühlten es selbst an jedem Tage, an dem Ihre Mühen und Ihr Fleiß die Geldkisten Ihres Fabrikherrn füllten. Nur die erhobene Fahne der sozialen Republik kann in ihrem Schatten jedem freien Mann seine Geltung verschaffen. Werben Sie unter Ihren Brüdern in England und bereiten Sie dieselben vor, denn ich sage Ihnen, der Anbruch des Tages ist nahe, an dem die Flamme der Völkerfreiheit über Berg und Tal, über See und Land leuchten und zum großen Kampfe rufen wird für die ewige Gleichheit!«

Die schwülstigen, wohlberechneten Worte verfehlten ihren Eindruck nicht; der junge Mann hob begeistert die Hand in die Höhe wie zum Schwur, der Italiener ballte die Faust; zwischen den zusammengebissenen Zähnen zischte die Drohung:

»Tod den Tyrannen!«

»Diese Papiere werden Ihnen sagen,« fuhr der Redner fort, »an wen Sie sich in London zu wenden, und wie Sie Instruktionen zu erhalten und auszuführen haben. Im Namen der Freiheit und Gleichheit weihe ich Sie zu dem großen Werke des Bundes. Gehen Sie!«

Die beiden wendeten sich nach der Empfangnahme der Papiere zur Tür, an der der Jüngere einen Augenblick zauderte; dann kehrte er rasch um und trat entschlossen nochmals zu dem Tisch.

»Morbleu, meine unbekannten Herren! Es drückt mir da etwas das Herz, und das möchte ich gern los sein, ehe ich die befohlene Reise zu den Beefsteaks antrete. – Mein Alter hätte das Geld sparen können, das er in meiner Jugend darauf verwendet hat, mich in einer englischen Maschinenwerkstätte in die Lehre zu geben, dann hätte doch meine Schwester jetzt einen Notpfennig. Ich kann das arme Mädchen wahrhaftig nicht so zurücklassen ohne Schutz und Hilfe, das Grisettenblut in ihren Adern ist gar zu leicht und die Verlockung oft groß genug.«

»Sie werden vor Ihrer Abreise einen Vorschuß von zweihundert Franken erhalten, den Sie von Ihrem guten Verdienst in England abtragen können,« sagte der Rote. »Ihre Schwester wird im Auge behalten werden, gehen Sie unbesorgt.«

Der junge Arbeiter verneigte sich dankend, warf noch einen neugierigen Blick rings umher und folgte seinem Gefährten.

»Ich glaube, der Vorstand der Sektion England,« sagte der Verhüllte, »hat da keine besondere Wahl getroffen. Der Mann gehört auf die Barrikade, nicht in die Werkstätten.«

»Er ist ein trefflicher und für seinen Stand schwungvoller Redner,« wandte der Getadelte ein, »und wir finden wenig französische Arbeiter, die der englischen Sprache mächtig sind. Überdies ist sein Begleiter der Mann, der seine Fähigkeiten auf den bestimmten Punkt fesseln wird.«

»Sie mögen Recht haben, der Zweite scheint ein Mann, der, was er erfaßt, nie aus den Augen verlieren wird. Ich kann den Namen nicht deutlich lesen, der Mann heißt?«

» Pianori. Er focht in Rom, brachte uns die letzten Depeschen von Turin und hält sich seitdem heimlich hier auf.«

»Lassen Sie den Letzten für heute erscheinen.«

Die fünfte Tür öffnete sich, und ein elegant, ja überladen gekleideter Mann in mittleren Jahren, von einem gewissen Embonpoint, wie es vielen unserer Börsenkoryphäen so behaglich steht, trat unter Verbeugungen ein. Der Schnitt des Gesichts verriet die orientalische Abstammung, vielleicht aus dem zweiten Grad; die schmal zulaufende hohe Stirn den geübten Rechner und Zahlenmann, die rastlos sich bewegenden Finger und die kurz und scharf umherblickenden Augen zeigten den tätigen Geschäftsmann und Spekulanten.

Ohne die Anrede abzuwarten, begann der Eingetretene: »Im Begriff, nach Wien abzureisen, erhielt ich die Ladung des Rates und beeilte mich, dem Befehle nachzukommen. Darf ich wissen, welche Angelegenheiten meine Dienste erheischen?«

Der Verhüllte nahm ein kleines Buch in rotem Saffian, das der Sekretär ihm reichte und durchblätterte es einige Augenblicke schweigend, dann fragte er:

»Haben Sie zufällig unser Konto zur Hand, Herr Baron?«

»Gewiß, ich steckte es zu mir. Der letzte Abschluß vom vorigen Monat ist, wie ich ersehe, 75 000 Franken zu meinen Gunsten. Man hatte in dem Monat stark gezogen.«

»Ganz recht, mein Herr, indeß die anvertrauten Fonds ergeben eine Summe von achtmalhundertdreiundsechzigtausend Franks, – so viel ich weiß, in Metalliques und Bank-Aktien?«

Der Geldmann warf einen hastigen Blick auf den Redner. »So ist es, ich machte auch nur die Bemerkung in Beziehung auf das laufende Konto.«

»Ich vermutete das. Doch, mein Herr, der Bund braucht in diesem Augenblick bedeutende Mittel, und ich wollte Sie ersuchen, die Werte bis auf achtmalhunderttausend Franks auf morgen Mittag 12 Uhr für uns disponibel zu halten. Wir brauchen gerade österreichische Papiere und werden sie auf die gewöhnliche Weise in Empfang nehmen lassen.«

Der Bankier erbleichte leicht, faßte sich aber rasch. »Sie werden zu Ihrer Disposition sein.«

Ein scharfer durchbohrender Blick sprühte aus der verhüllenden Maske. »Ist das auch gewiß, Herr Baron, werden wir die Metalliques vorfinden?«

Das Gesicht des Gefragten überzog sich mit fahler Blässe; dennoch wankte er nicht unter dem Schlage, sondern entgegnete mit fester Stirn: »Ich werde die Ehre haben, Ihnen meine Kasse zu öffnen, das Geld befindet sich darin.«

Diese Worte waren kaum ausgesprochen, als der Vorhang hinter der Tafel auseinanderrauschte und in einer dunkel behangenen, weiten Nische zwei Männer sichtbar wurden, die dasselbe verhüllende Kostüm trugen wie ihr Gefährte. Der eine war eine große, breitschultrige Gestalt, der andere klein, offenbar schwächlich und verwachsen. Alle Mitglieder der Tafel standen auf, – der Geldmann vor ihr trat unwillkürlich einen Schritt zurück und beugte das Haupt.

»Einen Augenblick,« sagte die ernste, dröhnende Stimme des Größeren der neuen Zeugen, »ich möchte Sie fragen. Gehorchender, ob dieser Auszug über den gegenwärtigen Bestand Ihrer Kasse richtig ist? Danach ist der Bestand an Aktien der österreichischen Bank nur 2000 Gulden, baar vielleicht 40 000 Franks, die in diesem Moment wahrscheinlich in Wechseln in Ihrer Tasche oder in Ihrem Koffer sind; aber von den Ihnen anvertrauten Metalliques gibt es in Ihrer Kassette keine Spur.«

Der Baron war vernichtet. »Ich hatte Forderungen zu decken,« stammelte er endlich, »das Geld ist nicht verloren – ich habe Spekulationen – gönnen Sie mir nur Zeit.«

Der Große lachte verächtlich. »Armer Narr, wenn wir das nicht wüßten, lebten Sie bereits nicht mehr, um hier von Ihrem Verhalten Rechenschaft zu geben. Merken Sie sich die Lektion, der nächste Bruch des Vertrauens wird mit Ihrem Herzblut gesühnt. Hätten Sie uns Ihre Absicht, auf die Eskompten-Bank zu spekulieren, mitgeteilt, so würden wir dem gar nicht widersprochen haben, und Sie hätten nicht auf eigene Rechnung sieben Prozent an dem Verkauf der Papiere verloren. So wie es ist, tragen Sie den Schaden. Sie werden nach Wien reisen und das Eskomptengeschäft in Ordnung bringen. Je mehr Aktien Sie erwerben, desto besser. Es ist nötig, daß wir die Majorität der Stimmen benutzen. Doch haben wir noch ein anderes und besseres Geschäft für Sie. Dies Memoire werden Sie, nachdem Sie es sich zu eigen gemacht, in einer Audienz an Herrn von Bach in Wien persönlich übergeben und ihm Vortrag darüber halten. Es betrifft den Vorschlag zum Ankauf der österreichischen Staatsbahnen für Rechnung einer zu bildenden Gesellschaft. In diesem Portefeuille finden Sie 2 Millionen Gulden in Wechseln auf Sina und Eskeles; fünfzigtausend davon werden Sie nötigenfalls für die Beamten verwenden, von deren Empfehlung das Geschäft abhängt, den Rest stellen Sie dem Premier sofort zur Disposition als Anzahlung auf den Kauf. Die weiteren Auseinandersetzungen finden Sie in den Papieren.«

Der adelige Bankier ergriff erfreut das Portefeuille, prüfte aber als Geschäftsmann sorgfältig die darin enthaltenen Anweisungen. Dann steckte er alles zu sich und versicherte hoch und teuer, daß man volles Vertrauen in ihn setzen könne.

»Sie werden selbst am besten dabei fahren,« sagte der große Verhüllte, »denn ich schwöre Ihnen, Ihr Leben ist keinen Schuß Pulver mehr wert, wenn Sie im geringsten nochmals von der Ihnen vorgezeichneten Bahn abweichen. Jetzt, Herr Baron, reisen Sie mit Gott und – denken Sie Ihres Auftrages zu jeder Zeit und an jedem Orte!«

Der Agent verneigte sich dankend und verließ, etwas weniger sicher, aber leichteren Herzens als er gekommen, das Gemach.

»Jetzt, meine Brüder,« nahm der zuerst Eingetretene der Drei das Wort, »ist unser Geschäft für heute beendet. Sie werden die nötigen Anstalten treffen, daß unsere Missionäre genügend überwacht und geleitet werden. Seien Sie tätig in sämtlichen Sektionen, Sie wissen, wie wichtig die Gegenwart ist. Wenn ganz Europa erst in Krieg verwickelt worden, kommt die Zeit unserer Ernte. Die Monarchien schwächen sich durch die Opferung ihrer Armeen; England wird seine Zuflucht wiederholen müssen, Fremdenlegionen in allen ihm zugänglichen Staaten zu bilden, deren Kern unsere Gehorchenden sein werden. Ist der Zeitpunkt der Erschöpfung gekommen, haben wir die Kämpfe zu dem Ende geleitet, das wir bezwecken, dann ist es Zeit, den Boden zu bestimmen, auf dem unsere Siege erfochten werden müssen, und dieser Boden wird zwei Weltteile umfassen. Wann die höchste Gewalt im einzelnen oder insgesamt Ihren Sitzungen wieder beiwohnen kann, ist leider unbestimmt; darum leben Sie wohl bis dahin.«

Der Verwachsene winkte mit der Hand, einen Augenblick zu warten. Ein leiser, schrillender Ton ließ sich hören, und aus dem Druckapparat eines elektrischen Telegraphen, der unter einer entsprechenden Scheibe an der Wand der Nische angebracht war, schob sich langsam ein Streifen Papier, mit Punktierzeichen versehen. Er nahm denselben, las die Chiffreschrift und sagte lachend mit offenbar italienischem Akzent: »Graf Walewski hat sich an den Tuilerien beurlaubt und ist zu Mademoiselle Rachel gefahren. Dem Polizeiminister meldet man soeben, daß die Spione am Invaliden-Hotel keine Spur entdecken konnten. Mit dem Abendzug ist ein Kurrier von Petersburg für Herrn von Kisseleff eingetroffen, Fürst Oczakoff. Da haben Sie die neuesten Nachrichten. Buona notte!«

Die Lichter erloschen, im Dunkel hörte man mehrere Türen sich öffnen und schließen – dann Schweigen.


Das erste Blut.

Entzückend schön ist der Sonnenaufgang im Golf von Smyrna!

Der »Egytto« hatte während der Nacht auf Chios angelegt und eine Menge neuer Passagiere an Bord genommen. Erst als das Tagesgrauen über die fernen Berge Anatoliens herauf dämmerte, erhoben sich die Reisenden vom Verdeck, wo sie ihr improvisiertes Lager gefunden, oder kamen langsam aus den Kajüten und Kabinen zum Vorschein. Das Verdeck eines Levante-Dampfers bietet, nachdem er von Athen abgefahren, ein eigentümlich seltsames Schauspiel. Der Kapitän läßt das Deck der Schanze mit einer vorbereiteten Bretterlage überziehen, um es vor den Spuren des Kochens, Bratens und Schlafens säuberlich zu bewahren. Eine besondere Abteilung für die Frauen und Kinder wird abgegrenzt, mit Teppichen und Ballen aller Art und Form nehmen die Ankömmlinge den kleinen ihnen gestatteten Raum ein; Kreise bilden sich um den Dreifuß, auf dem alsbald der Granatapfel schmort oder die Zwiebel und das Hammelstückchen zieht; die Frauen bereiten den Kaffee oder holen ihn in kleinen Schälchen von dem alten Moslem, der mitten auf dem Verdeck seine Bude gleich den Schilderhäuschen unserer Obsthöker aufgeschlagen hat. Überall strecken sich lange Pfeifen quer über den schmalen, von dem hochaufgetürmten Gepäck gelassenen Gang; um die Küche drängt sich eine lärmende Menge, vom Koch glühende Kohlen zum Anzünden ihrer Nargilehs und Schibuks zu erbetteln; zwischen den Haufen der plappernden, lachenden, gestikulierenden Griechen sitzt auf seinen Kissen in ernster Gravität der Muselman, von seinem schwarzen Sklaven bedient; Weiber mit dem wundervoll zarten Teint und den unzierlichen Gestalten der Frauen der Cykladen schlürfen in ihren klappernden Holzpantoffeln umher. Das dunkle, brennende Auge zwischen den gefärbten Wimpern, durch die eigentümliche Schwärzung des unteren Augenlides noch flammender gemacht, mißt frei und offen den Fremden oder blickt neugierig unter dem Yaschmack hervor, dem Mousselinschleier, der die orientalischen Schönheiten verhüllt, und den die Bekennerin des Propheten nur in den vertrauten Gemächern des Harems ablegt. Dazwischen bewegt sich das Volk der Matrosen, meist sehnige, sonnverbrannte Figuren von den Küsten der oberen Adria, hin und wieder ein Italiener aus dem Golf von Tarent, stößt ohne Unterschied der Person, den, der ihm im Wege steht oder liegt, bei Seite; den Armenier, der auf den Hühnerkorb sein Gold zählt und mit einem anderen um den leichten venetianischen Dukaten oder den beschnittenen Ghazi feilscht, ebenso wie den türkischen Juden, der in seinem blauen Tuchtalar geschmeidig durch die Menge schlüpft. Für den europäischen Reisenden hört mit dem Schritt über Athen hinaus jede Bequemlichkeit und Gewohnheit der nördlichen Zivilisation auf; der Platz auf dem Hühnerkasten, auf dem Bugspriet oder den Bänken des großen Decks, von dem aus behaglich hingestreckt er unterm Schutz des Zeltpavillons die Oliventerrassen der ionischen Inseln, die dunklen Felsenwände von Tschernagora und Albanien, den zauberhaften Golf von Lepanto betrachtet hat, ist besetzt, kaum findet er einen Raum an der Brustwehr frei, von dem aus er das trunkene Auge tauchen kann in die unermeßliche Fläche der Wasser, deren Azurbläue mit der des Himmels wetteifert. Das widrige Schauspiel anderer Meere und Seereisen, die Seekranken, verderben ihm das Bild nicht. Dieses Volk lebt und stirbt am Strand, das blaue Meer ist sein Element wie die Luft, die Fahrt von einer der prächtigen Cykladen zur andern seine Lebensgewohnheit. Gern opfert der Reisende sein eigenes dolce far niente, um diese Kinder des Südens das ihre verträumen zu sehen.

Aus den blauen Tiefen des Meeres wachsen Felsen empor, Felsen mit Rosen und Myrten, mit dem dunklen Grün des Lorbeers und der Olive, mit dem schlanken Stamm der Zypresse und der Platane. Smaragden sind es in ihrem dunklen Grün, Diamanten in dem gelben Strahle des Lichts, schaukelnd wie Schmuck auf dem üppigen Busen einer Lais! Edelsteine sind es, die die tobende Glut des Vulkans aus dem inneren Gewerk der Erde emporgeworfen an die Oberfläche des Tages, daß sie Kunde geben von den Zaubern der Tiefe; die Götterwelt der Alten bevölkert sie in der Erinnerung, – weiße Segel auf leichten Barken, mächtige Handelsschiffe und die Flaggen aller Nationen ziehen gleich Tauben und Schwänen durch ihre Buchten und Labyrinte. –

Glänzend stieg die Sonne über die in den fernen Nebeln noch unsichtbare Königin der Städte Anatoliens empor. Neben dem ernsten etwa vier- bis fünfunddreißigjährigen Mann in einfacher aber moderner europäischer Kleidung mit dem grauen, breiträndrigen Filzhut, der schon seit einer Stunde an dem Bollwerk des Vorderschiffes lehnte, um das herrliche Schauspiel mit allen seinen hier so wunderbaren Farbenwechseln nicht zu verlieren, breitete ein Türke seinen Teppich aus und knieete mit dem Antlitz gen Mekka nieder, sein Gebet zu verrichten. Was an Moslems auf dem Verdeck war, folgte dem Beispiel; der große Haufe der Griechen und Franken kümmerte sich aber wenig um die Andacht der Ungläubigen und unterbrach keinen Augenblick seine Unterhaltung; ja viele der ersteren spuckten verächtlich und mit grimmigen Seitenblicken nach dem Erbfeind ihres Glaubens ins Wasser. Eine Hand legte sich an die Achsel jenes Mannes, der die ihm fremde Andacht beobachtete; als er sich umwandte, blickte er in ein Gesicht, das ihm wohl bekannt schien, doch ließ die fremdartige Kleidung, der das Haupt bedeckende griechische Fez ihn im ersten Moment den anderen nicht gleich erkennen.

»Erinnert sich Doktor Welland wirklich nicht mehr des Kommilitonen,« fragte der Grieche, »mit dem er vor Jahren die Kollegien unter Dieffenbach gehört, oder haben die acht Jahre, die seitdem vergangen, Gregor Caraiskakis so ganz aus dem Gedächtnisse der Freunde seiner schönen Jugendtage verdrängt?«

Welland faßte die Hand, die jener ihm bot: »Die Schulbank des Knaben, die Aula des Jünglings schlingt ein Band gemeinschaftlicher Erinnerungen, das wahrlich auch im Männerleben sich nicht vergißt. Verzeihen Sie mir, Caraiskakis, daß ich 500 Meilen von dem Orte, wo wir zusammen gelebt, und in der veränderten Tracht Sie nicht wiedererkannte. Glauben Sie mir, ich habe, während der Dampfer mich an den Küsten Ihrer klassischen Heimat vorübertrug, gar oft Ihrer gedacht, und nur die Kürze unseres Aufenthaltes in Athen verhinderte mich, nach dem lieben Kommilitonen alter Zeit zu forschen. – Aber,« fuhr er fort und sah aufmerksam in das Antlitz des Universitätsfreundes, – »warum die Wahrheit verhehlen, gewiß, Sie haben sich auch sehr verändert, Gregor, und diese Falten, diese Blässe stimmen wenig mit Ihren Jahren und dem frischen, kecken Lebensmut, den der Sohn des Helden vom Piräus sonst in jeder Bewegung, in jedem Worte zeigte.«

»Sie haben Recht,« entgegnete der junge Mann, »ich fühle es selbst. Aber zuerst, wie kommen Sie hierher nach der Levante, in die drohenden Gewitter, Sie, den ich in Berlin in der Gewißheit eines brillanten Examens und einer baldigen guten Praxis oder einer Anstellung im Staatsdienst zurückließ? – Lassen Sie mich das erst hören.«

»Der Mentor, der sich Ihnen gegenüber so oft als älter und erfahrener geriert hat, wußte sich selbst nicht zu leiten. Etwa zwei Jahre, nachdem Sie, lieber Freund, nach München, und von dort, wie ich hörte, nach Griechenland zurückgekehrt waren, brach bei uns jene merkwürdige, mir selbst kaum erklärliche Revolte aus, die man die Märztage nennt. Sie kennen sie aus den Zeitungen. Ich war töricht genug, mich daran zu beteiligen, nachdem ich mir bereits seit einigen Monaten eine kleine Praxis gegründet hatte. Zu der Zeit ging alles drunter und drüber, auch meine Existenz. Meine Familie trennte sich im Zorn von mir; so packte ich mein Bündel und zog nach Frankfurt, wo das deutsche Reichsparlament tagte. Dort blieb ich bis zum Frühjahr 49, und ein eigentümlicher Zufall, den ich Ihnen wohl später erzähle, führte mich nach der Pfalz und Baden, als der Prahler Mieroslawski dort seine Lorbeeren zu pflücken gedachte. Mir war die Sache zuwider, denn ich hatte viel gesehen und erlebt in der Zeit; aber es stand doch mancher eherne Mann mit aufrichtiger Gesinnung, mancher Jüngling mit glühender Phantasie und ehrlichem Herzen unter den Freischaren, und wenn ich auch nicht an ihrer Seite gegen meine Landsleute focht, so widmete ich Ihnen doch meine Kunst und wirkte als Arzt unter den Verwundeten und Sterbenden. Der Fall von Rastatt trieb mich nach Straßburg, und von da nach Paris. Ich hätte vielleicht wiederkehren können in meine Heimat, da ich nicht so sehr kompromittiert war, um sie mir für immer versperrt zu sehen; gewiß hätte es nur einer Bitte bedurft. Aber teils war ich mit meiner Familie ganz zerfallen und erhielt nur heimlich hin und wieder einen Brief von den Schwestern, teils fesselten mich viele Freundesbande an Paris. Das Flüchtlings-Komitee unterstützte mich, und ich gründete mir unter den Verbannten aller Nationen eine Praxis, die wenigstens ihren Mann nährte. Aber, ich will es Ihnen gestehen, es fehlte mir die Befriedigung, ich sehnte mich fort in die Ferne, auf ein Feld, wo ich mehr wirken und schaffen konnte, aus den Mauern von Paris mit seinen tausend politischen und sozialen Intriguen hinaus in die frische Natur. Schon wollte ich nach Algerien gehen, als ein Auftrag von Freunden mir einen anderen Weg wies. Ich erhielt Empfehlungen nach Konstantinopel und an Herrn de Latour, den französischen Gesandten, der mir bei den jetzigen Verhältnissen gewiß leicht eine meinen Absichten entsprechende Stellung verschaffen wird. Vorläufig werde ich kurze Zeit in Smyrna bleiben.«

»Da ist unser Ziel dasselbe,« sagte freudig der Grieche, dem die etwas zurückhaltende und vorsichtige Erzählung vollkommen genügte. »Auch ich gehe nach Smyrna, mögen die Heiligen geben, mit gutem Erfolg. Selbst in anderer Beziehung ähnelt sich unser Schicksal, auch die Familie Caraiskakis ist ausgewiesen von hellenischem Boden, aus jener Heimat, die ihr Vater mit seinem Blut erkauft hat!«

»Sie sind verwiesen aus Athen?« fragte erstaunt der Deutsche. »Aber König Otto hat Sie und Ihre Brüder ja selbst erziehen lassen als eine Dankespflicht für den Heldentod Ihres Vaters.«

»Wir haben auch über den König nicht zu klagen, er ist gut und will das Beste. Aber Sie kennen die Parteiungen nicht, die das arme Griechenland zerreißen und es immer am Emporblühen hindern werden. Nur wenn es galt, das Kreuz gegen unseren alten Erbfeind zu erheben, waren Griechen jedes Stammes einig, und selbst da noch trieben Neid und Ehrgeiz ihr zerstörendes Spiel. Wenn der Wille des Königs auch gut, so ruht die Regierung doch größtenteils in Händen, die nur darauf bedacht sind, zur eigenen Bereicherung oder Unterdrückung der politischen Gegner alle Macht zu verwenden. Die Verwirrung wird gesteigert durch die Einflüsse der mächtigen Staaten Europas. Wo an anderen Höfen die diplomatische Intrigue ihr verdecktes Ziel zu erreichen strebt, da tritt bei uns die offene, drohende Forderung auf. Das arme, gedrückte Hellas erliegt unter der Last des europäischen Protektorats. Blicken Sie hin nach Jonien, der proklamierten freien Republik! Der britische Schutz hat es in Fesseln geschlagen, ärger als die indischen. Ich führe Ihnen nur die einzige Tatsache an, daß auf allen sieben Inseln nur eine einzige Druckerei ist, die englische Regierungsdruckerei, und daß kein anderes Blatt als das Regierungsorgan erscheinen darf. Der Gouverneur von Korfu ist mehr Herr in unserem Griechenland als König Otto, und seinem peremptorischen Verlangen und der Forderung des englischen Gesandten verdanke ich die Verweisung vom Festlande, die mich seit zwei Jahren auf den Inseln des Archipel umhertreibt, weil ich in einigen Artikeln der »Elpis« die unterdrückten Brüder auf Korfu in Schutz nahm und die Auflösung des Senats kritisierte.«

»Wenn ich mich recht erinnere,« fragte Welland, »so stammen Sie ja wohl ohnehin von den Inseln?«

»Von dem unglücklichen Chios, das, trotz seines Märtyrertums im Befreiungskriege, der englische Machtspruch unter den Fesseln des Halbmondes ließ. Meine Mutter flüchtete mit uns aus den Mörderhänden des Kapudan-Pascha auf's Festland, wo mein Vater bereits für das Kreuz kämpfte. Die Sehnsucht nach der Geburtsstätte ließ vor zwei Jahren meine Mutter mich begleiten; ich brachte sie nach Chios zu Verwandten und schweifte seitdem umher, von Insel zu Insel, durch die Klöster des Athos, bis Stambul hinauf und an den Küsten des Pontus. Überall wo ich weilte, fand ich die Herzen nach Erlösung schlagend, die Faust sich ballend in ohnmächtigem Grimm. Überall mein Volk trotz des Tansimats und aller Fermans vom Moslem unterdrückt. Glauben Sie mir, Welland, was ich gesehn und erlebt, würde Ihnen das redliche Herz in der Brust umkehren. Nur in Konstantinopel und in den Küstenstädten, wo die europäischen Konsuln residieren, und ihre Anwesenheit die Paschas im Zaume hält, haben die griechischen Christen geduldete Rechte; im Innern des Landes herrscht der Jahrhunderte alte Druck noch in seiner vollen Willkür und Barbarei.«

»Aber Ihre Geschwister? Sie erzählten mir so oft von ihnen.«

»Mein älterer Bruder steht im griechischen Heere an der Grenze, mein jüngster ist in diesem Augenblick in Cettinje und hält die Schluchten der Tschernagora mit dem tapferen Bergvolk gegen Omer-Paschas Rediffs. Beide sind ihrer Väter würdig, und ich nenne sie mit Stolz meine Brüder. Wenn ich sie sehe, werde ich ihnen den Segen ihrer greisen Mutter bringen, denn ich komme von ihrem Sterbebett auf Chios, wo ich sie gestern unter den Platanen begrub, die auf den Trümmern meines väterlichen Hauses wachsen. Möge die blutgetränkte Erde der Heimat ihr leicht sein!«

Welland reichte dem trauernden Freunde die Hand. »Und Ihre Schwester?«

Des Griechen Augen flammten auf. Über sein bleiches Gesicht flog die Zornesröte heftiger Erregung, und er streckte den Arm aus gegen die Stadt, die aus dem Duft von Licht und Wasser emporschwamm, überragt von dem Pagus, an dessen Seiten über die Kuppeln und Minarets der Türkenstadt sich die Zypressenwälder der Friedhöfe hinaufziehen, während hoch von der Spitze die Trümmer des alten genuesischen Kastells sich gegen den Himmel zeichnen.

»Ich gehe sie zu schützen oder – zu richten!« sagte er mit tiefer Stimme und wandte sich ab. Die drängende Menge umgab sie und verhinderte jedes weitere Gespräch.

Ismir, – wie es die Türken nennen, – Smyrna im Munde der Geschichte, das Kind Alexanders des Großen – zehn mal verwüstet von der Hand mächtiger Feinde und zehn mal wieder emporgestiegen aus seinen Trümmern, Smyrna, eine der sieben heiligen Kirchen Kleinasiens, dehnte sich vor den Blicken der Reisenden an seinem prächtigen drei Meilen breiten Golf aus. Wie fast alle Uferstädte Griechenlands und Kleinasiens an der Höhe der Berge terrassenmäßig emporsteigend, bietet es einen prächtigen Anblick. Rechts am türkischen Kastell vorüber mit seinen schläfrigen Schildwachen und unbehilflichen Geschützen fliegt der Dampfer gegen die Stadt, die von Bergen umgeben, nur rechts am Ufer hin sich nach der Karawanenstraße öffnet, auf der in langen Reihen die gekoppelten Kameele die köstlichen Früchte und Erzeugnisse des südwestlichen Asien zum Stapelplatz des levantinischen Handels bringen. Rechts im Vordergrund die neue Kaserne, ihre Höfe in das Meer tauchend; darüber empor die Türkenstadt mit ihren zahlreichen Minarets und Kuppeln, den kleinen, zum Terrassenbau so prächtig geeigneten Häusern, dem Grün der Büsche und der Bäume, den mäandrischen Windungen der Straßen; höher am Berge Pagus das armenische Quartier, links die Franken- und Griechenstadt mit den Flaggen der Konsulate, den Kaffeehäusern und Magazinen auf der Marina, zur Seite einschneidend die Wässer des Golfs zwischen den Bergen, eine Bucht tief hinein, deren Ufer von den zierlichen Landhäusern des Dorfes Bournabat besetzt sind. Im Hafen, und das ist der ganze Golf, ankern Hunderte von Schiffen aller Nationen, Kriegsfahrzeuge auf dem Wege von und nach Konstantinopel, Handelsschiffe jeder Art und Größe, von der leichten Küstenschebecke bis zum Fregatten-Dreimaster, der die Erde umkreist und ihre Produkte sammelt. Dampfer kommen und gehen, von Beiruth und Alexandrien, von Malta und Athen, aus dem Bosporus her, – – das Meer ist belebt von den flatternden Wimpeln und Segeln und dem Schlag der Dampfmaschinen.

Auf den Höhen des Golfes lag eine österreichische Brigg vor Anker, der » Hussar«, und von der Gaffel wehte lustig im Morgenwinde der schwarze Doppeladler im gelben Feld. Bollwerk und Wandtaue waren besetzt von dem Schiffsvolk, das zur Begrüßung des Lloyddampfers die Hüte schwenkte, auf dem Hauptdeck standen die Offiziere um eine gedrungene, markige Gestalt, den Kommandanten Major Schwarz. Kaum daß der »Egytto« in einiger Entfernung von der Stadt Anker geworfen, so hörte man auch auf der Brigg den schrillen Ruf der Bootsmannspfeife ertönen, und mit der den Kriegsschiffen eigenen Schnelligkeit hob sich ein Boot vom Schiffsrand und wurde bemannt, um zum Dampfer zu rudern. Noch ehe dasselbe jedoch anlangte, umschwärmten zahlreiche Uferbarken das Dampfschiff. Die erste derselben brachte den türkischen Sicherheitsbeamten an Bord, der die Papiere des Schiffes zu prüfen und seine Überkunft aus pestfreien Gegenden zu konstatieren hat. Auf seine Erlaubnis erst verschwindet die kleine gelbe Flagge vom Mast und das Schiff tritt in den freien Verkehr.

Während der Beamte noch mit den Papieren beschäftigt war und sein Khawaß in der malerischen weißen Tracht, den Leibbund mit einem Arsenal von Waffen gespickt, im Boote Wache hielt, daß kein Unberufener die Schiffstreppe besteigen möge, drängten sich die Boote, teils zur Aufnahme der Fremden, teils zum Handel bestimmt, um den Bord, und vielfache Nachfragen und Unterhaltungen in allen Sprachen des Südens wechselten hinauf und hinab. Welland saß auf dem Rande des Bugspriets, und seine Blicke schauten mit Neugier auf das malerische Getümmel; in seiner Hand wehte zufällig oder absichtlich ein Taschentuch von hellgrüner Seide. Nach wenigen Augenblicken bemerkte Caraiskakis, der wieder neben dem Freunde stand, daß in einem der um das Schiff kreuzenden Boote zwei Männer scharf auf den Deutschen blickten, und der eine von ihnen nach wenigen eifrig gewechselten Worten ein ebensolches Tuch aus der Tasche zog und wehen ließ. Welland erblickte es und machte mit der Hand ein Zeichen, das rasch erwidert wurde, worauf der Nachen mit den Fremden sich an das Schiff drängte und dabei heftig mit dem Boot der Brigg zusammenstieß, das eben heranfuhr. In diesem Augenblick wandte sich Welland zufällig um und bemerkte, daß die Augen zweier Männer sein Tun scharf beobachteten. Der eine war ein Grieche, der andere ein Passagier, der schon von Triest aus die Fahrt mitgemacht und mit auffallender Freundlichkeit sich an den Doktor zu drängen versucht hatte. Diesem aber gefiel des Mannes Wesen nicht, auch machte ihn ein zufällig hingeworfenes Wort des Kapitäns aufmerksam und hatte ihn gewarnt. So hatte er sein Benehmen auf den äußerlichen höflichen Verkehr beschränkt und namentlich den Fragen auszuweichen verstanden, die der Fremde, seiner Aussprache nach ein Wiener, obschon er sich für einen Ungar ausgab, nach Zweck und Ziel seiner Reise geschickt einzuflechten verstand. Eine leichte Röte überflog Wellands Gesicht, als er sich so beobachtet und ertappt sah, doch wurde seine Aufmerksamkeit alsbald durch einen Streit abgezogen, der sich unten zwischen den beiden Booten erhoben hatte. In dem des Kriegsschiffs saß ein junger schlanker Schiffsoffizier in der österreichischen Midshipman-Uniform, und gebot heftig den beiden Ruderern des anderen Bootes, an der Treppe Raum zu geben. Einer der beiden Insassen jedoch lachte höhnisch zu dem herrischen Befehl und hieß in italienischer Sprache, die in den Küstenländern des Orients, selbst bis an die Ufer der Donau hinauf überall gesprochen und verstanden wird, seine Fährleute ihren Platz zu behaupten.

Der junge Offizier, an Gehorsam gewöhnt und über den Widerstand der Kahnführer entzürnt, erhob sich und ergriff eine neben ihm liegende Speiche, dieselbe zum Schlage halb gegen die feigen griechischen Ruderer, halb gegen den trotzigen Passagier erhoben. Wie ein Blitz flammte das Auge des Bedrohten auf den Oesterreicher, und seine Hand fuhr nach der Brusttasche; aber der Zweite, Besonnenere, derselbe, welcher das Tuch gezeigt, riß ihn zurück und gab den Ruderern ein Zeichen zum Weichen. »Bist Du rasend, Fumagalli?« herrschte er dem Gefährten zu, »Dein Tollkopf wird uns noch verderben.« – Der Offizier bestieg mit dem Worte »Gesindel« die Schiffstreppe, ohne sich weiter um die Zurückgewiesenen zu kümmern, denn eben war das Zeichen gegeben worden, daß die Revision beendet und das Schiff in freien Verkehr gesetzt worden, und er hörte nicht das » Cospetto, Bursche, wir treffen uns wieder!«, das der Italiener hinter ihm her fluchte. Der Andrang der Kähne von allen Seiten überflutete jetzt die kleine Zwischenszene, und bald war das Verdeck förmlich im Sturm genommen von all' den Bootführern, Verkäufern und Agenten, die das Schiff umringt hatten. Während der junge Offizier von dem Schreiber des Schiffes ein Packet mit Briefen in Empfang nahm und von dem Wiener angesprochen wurde, hatten die beiden Männer mit den scharfgeschnittenen südlichen Physiognomien, die in dem Kahne mit Welland die Zeichen gewechselt, sich diesem genaht und verkehrten an einer weniger beengten Stelle des oberen Verdecks lebhaft mit ihm. Bald schienen die Drei sich verständigt zu haben; denn die Fremden winkten ihre Kahnführer an Bord, und diese brachten das wenige Gepäck der Deutschen in ihr Boot.

Jeder hatte genug zu tun, sich in dem Gedränge um seine Habe zu kümmern und die Zudringlichkeiten der türkischen und griechischen Bootsleute abzuwehren, die mit Gewalt sich der Reisenden zu bemächtigen suchten. Die Geschwätzigkeit und Unverschämtheit der Griechen trug gewöhnlich den Sieg über ihre Rivalen davon, und bald flogen Boote mit den Reisenden, die teils in Smyrna bleiben, teils den Tag, während dessen das Dampfschiff auf der Reede ankerte, dort zubringen wollten, dem Strande zu.

Welland trat zu dem gleichfalls beschäftigten Jugendfreund und reichte ihm mit einiger Verlegenheit die Hand. »Ich habe bereits Leute getroffen, Gregor,« sagte er, »an die ich empfohlen bin, und mit denen ich Geschäfte habe. Sagen Sie mir, Freund, wo wir uns heute Abend in dem mir fremden Smyrna treffen können; wir haben uns noch so vieles zu sagen und können dann besser unsere weiteren Pläne besprechen.«

Caraiskakis drückte ihm eifrig die Hand. »Hüten Sie sich vor fremden Flüchtlingen,« sagte er ihm eilig und leise. »Es sollen in Smyrna deren jetzt mehr als fünfhundert sich befinden, und das niedere Gesindel ist zahllos und macht die Stadt und die Gegend unsicher. Mein Weg führt mich nach dem armenischen Quartier, und wenn ich kann, suche ich Sie heute Abend bei Sonnenuntergang auf der Terrasse des englischen Kaffeehauses am Hafen auf, das Ihnen jedes Kind zeigt.«

Damit trennten sich die Freunde, und bald fuhr die Barke der Italiener mit Welland über die im Sonnenschein leuchtende und blitzende Wasserfläche zur Stadt. Ihren Weg kreuzte das Boot der Korvette, in dem der Wiener saß und dem Reisegefährten vertraulich zunickte. Am Quai des österreichischen Generalkonsulates sahen sie es landen.

Smyrna, das wie viele andere orientalische Städte, aus der Ferne einen so prächtigen Eindruck macht, bietet im Innern dem Fremden den ganzen türkischen Schmutz, grenzenlose Fahrlässigkeit und Unordnung. Nur das Frankenquartier mit seinen vielen Konsulaten und den großen europäische Handelsmagazinen, deren Durchgänge von der Frankenstraße her sich am Meeresstrande öffnen, und ein Teil der armenischen Stadt sind nach europäischen Begriffen einigermaßen erträglich. Die Straßen aber auch dieser Stadtteile sind krumm, eng und ungepflastert, doch Promenaden, im Vergleich zu den Gäßchen und Winkeln der Türkenstadt. Keines der Häuser hat mehr als ein Stockwerk außer dem Erdgeschoß und die meisten sind nach orientalischer Art, also eng und unbequem mit flachen Dachterrassen und mauerumgebenen Höfen gebaut. Ein Quai am Hafen existiert ebenso wenig wie in Konstantinopel; die Höfe der meisten anliegenden Häuser laufen bis unmittelbar an das Ufer des Meeres und die einzelnen freien Strecken auf der Marina, die den Spaziergang der Bevölkerung Smyrnas an der See bilden, sind kaum 200 Schritt lang. Das Café anglais, ein im Quadrat in die See hinausgebauter, mit leichtem Geländer umgebener Vorsprung, liegt an der Seite derselben.

Welland hatte aus verschiedenen Gründen die Einladung seiner neuen Bekannten nicht angenommen und seine Wohnung bei Madame Giraud aufgeschlagen, der behaglichen, freundlichen Französin, die eine weitbekannte Pension in der Frankenstadt hielt. Er hatte eben seine Sachen geordnet, als seine beiden neuen Bekannten erschienen und ihm einen Dritten vorstellten, den Ungarn Costa. Es war ein Mann von einigen dreißig Jahren, nicht groß, doch schlank gebaut, dabei von breiten Hüften und festen Muskeln. Sein keck geschnittenes Gesicht, von dunklem Bart umgeben, nahm für ihn ein und Welland fühlte sich von Anfang an mehr zu ihm hingezogen als zu den Italienern. »Sie haben, wie ich von meinen Freunden höre, Briefe für mich von Paris,« sagte der Ungar verbindlich, »ich habe so lange die Nachrichten entbehrt, daß ich voll Erwartung bin. Wollen Sie mir dieselben aushändigen?«

»Sie werden selbst wissen, daß vorher einige Bedingungen zu erfüllen sind,« bemerkte Welland und nahm ein sorgfältig verwahrtes Briefpacket aus seiner Brieftasche. Costa beugte sich zu ihm und flüsterte: »Die Flamme ist die Mutter des Lichts. Die Mariannen beten die Flamme an!«

Sie waren zur Seite getreten. »Das sind die Worte des dritten Grades,« sagte Welland, »ich brauche die Losung des vierten.«

Costa flüsterte noch leiser als zuvor: »Flamme und Eisen machen Asche und Leichen. Asche und Blut düngen den Boden der Freiheit. Die Joseffiten sind die Blätter des Baumes. – Sind Sie nun befriedigt?«

Welland übergab ihm die Briefe. Der Ungar betrachtete ihn einige Augenblicke scharf, dann zog er ein kleines schwarzes Kreuz von Ebenholz aus der Tasche, das von eigentümlicher Form, dem des Ordens vom heiligen Grabe glich, und in das fünf breite silberne Stifte eingeschlagen waren. »Sie sehen,« sagte er leise, »daß Sie mir zu gehorchen haben, denn ich setze voraus, daß Ihre Mission mit dem vierten Grad endigt!«

Welland verbeugte sich. »Ich stehe zu Ihrer Disposition, Signor Costa.«

Der Ungar winkte die anderen wieder herbei, setzte sich an den Tisch und schickte sich an, das Kuvert zu erbrechen. Ehe er dies tat, untersuchte er es sorgfältig von allen Seiten und betrachtete namentlich aufmerksam das Siegel, das ein wie oben beschriebenes Kreuz auf guillochiertem Grunde zeigte. Seine scharfen Augen schienen einen Umstand zu entdecken, der seine Besorgnis erregte.

»Auf Ihren Eid als Bundesbruder,« fragte er, »ist das Packet nie aus Ihren Händen gekommen, Signor?«

»Ich trug die Briefe stets in meinem Portefeuille und dies in der inneren Brusttasche meines Rockes. Des Nachts verschloß ich sie in meine Kassette und stellte diese in die Kabine, in der ich schlief.«

Costa schüttelte den Kopf. »Das war zu viel Vorsicht, oder zu wenig,« sagte er, »man hätte uns einen mit der österreichischen Polizei vertrauten Mann schicken sollen. Der Brief ist geöffnet worden.«

Er sagte dies mit solcher Bestimmtheit, daß alle erschrocken und neugierig näher traten, um selbst zu prüfen. Welland behauptete, es sei nicht möglich; doch der Ungar nahm eine Scheere, schnitt rings um das Siegel das Kuvert durch, hob das erstere dann in die Höhe und zeigte an seiner Doppellage, daß das Papier mit einer feinen, erwärmten Klinge unter dem Rande aufgetrennt gewesen und später auf gleiche Weise wieder befestigt worden war. Dann sah er rasch die Papiere durch. »Zum Glück«, sagte er, »sind die wichtigeren Stellen in Zeichen geschrieben, deren Lösung wohl dem Dechiffrierbureau in Wien arges Kopfzerbrechen machen dürfte, selbst wenn es gelungen wäre, Abschrift zu nehmen. Haben Sie auf niemand Verdacht, Signor Wellando? Wer waren Ihre Mitreisenden?«

Welland dachte an den Wiener. »Nur einer könnte es gewesen sein, die anderen waren unbedeutende Menschen. Der Mann versuchte sich auffallend an mich zu drängen, doch wies ich ihn zurück.«

»Wo schlief er?«

»Jetzt fällt mir auf, daß, obschon er auf dem ersten Platz reiste, er mehrmals sein Nachtlager auf den breiten Bänken unserer zweiten Kajüte aufschlug, unter dem Vorwande, daß ihm in den engen Kabinetten die Hitze unerträglich sei.«

» Bassa manelka! Verlassen Sie sich darauf, er ist der Spion. Wo ist er geblieben?«

»Er fuhr in einem Boot des österreichischen Kriegsschiffes, das an Bord kam, ans Land.«

»Ich sah es am Quai des österreichischen Konsulats landen,« flocht einer der Italiener ein. »Ich beobachtete es genau, denn ich hatte ein kleines Renkontre mit dem Laffen, der es kommandierte.«

»Sie werden uns sicher noch Unannehmlichkeiten mit Ihrer Hitze bereiten, Fumagalli,« sagte Costa streng. »Wir sind zwar augenblicklich die Herren in Smyrna, und die Autorität des Paschas ist gleich Null. Aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein, um die Aufmerksamkeit nicht nach hier zu lenken. – Signor Wellando, Sie werden in zwei oder drei Tagen mit mir nach Konstantinopel gehen müssen, unsere Gegner sind tätig, und wir dürfen ihnen keinen Vorsprung lassen. Sie, Fumagalli, mit Bassitsch berufen die Ungarn und Italiener auf morgen Abend nach dem Tempel des Jupiter, denn für heute bleibt uns keine Zeit. Eine Stunde vor Sonnenuntergang! Und nun, Signor, ruhen Sie sich aus, und schauen Sie sich diese sogenannte Königin Anatoliens an, Sie werden finden, daß sie einer Reinigung stark bedarf.«

Costa schied, die Italiener folgten ihm, nachdem sie dem Deutschen versprochen, ihn einer oder der andere am Abend zu einem Gange abzuholen und ihm geraten hatten, vor dem Essen ein türkisches Bad zu seiner Erholung zu nehmen.

Diese gewährte es ihm wirklich. Ein türkisches Bad ist einer der Genüsse, die wir Occidentalen leider nicht kennen, – es ist eine Wollust des Körpers, aus der man wie neugeboren hervorgeht. Stundenlang kann man sich unter der knetenden, streckenden, drückenden Hand des Badedieners einem behaglichen Gefühl überlassen, gegen das jenes dolce far niente des Italieners nur ein Schatten ist.

Am Tisch, der bei Madame Giraud vortrefflich war und die Genüsse des Orients und Occidents vereinigte, waren Gäste aller Zungen. Man sprach und erzählte von den Verwickelungen in Konstantinopel, von den beginnenden Aushebungen in Syrien und Egypten und der großen Unsicherheit der Gegend, ja der Stadt selbst, die Jan Katarchi, der Kameltreiber, mit seiner Bande in Schrecken zu setzen begann. Welland vernahm mit Erstaunen, daß eine Stadt von 150 000 Einwohnern von einem Räuber in fieberischer Angst gehalten wurde, der kaum 10-15 Mann zu Gebote hatte.

Es war damals eine merkwürdige Zeit in Smyrna. Die Flüchtlinge aus Ungarn, Italien und Frankreich hatten sich in Massen an dieser Stätte unzivilisierter Freiheit und Nachlässigkeit gesammelt, es mochten ihrer wohl an 500-600 sein. Dazu kam die abnorme Masse von Gesindel, die von dem griechischen Festland, den Inseln, denn ionischen Staat und namentlich von Malta und Egypten her sich zusammen findet. Räuber und Mörder, denen der Galgen und die Garotte auf der Stirn geschrieben steht, Männer, die bei dem geringsten Streite oder für ihre Zwecke Menschenblut wie Wasser vergießen, füllten die Gassen und die Kaffeehäuser der Stadt. Verworfene Subjekte, deren Handwerk das Verbrechen, namentlich Malteser, diese Pest des Orients unter englischem Schutz, sprachen jeder Ordnung, jedem Gesetz Hohn. Längst hatten der Pascha und die türkischen Behörden die Aufrechterhaltung einer gewissen Sicherheit, wie sie sich im Orient etwa erwarten läßt, aufgegeben. Den Mörder, den Räuber – und deren ergriffen die Khawassen des Paschas täglich auf offener Tat in den Straßen der Stadt – reklamierte sofort der englische Vizekonsul; denn der Vertreter der britischen Macht lag Tag für Tag in Ruin berauscht, – oder die Konsuln voll Sardinien, von Griechenland oder sonst ein gefälliger Beamter, als Angehörige ihres Staates, und ließen sie nach einer Haft von kaum 24 Stunden wieder auf die menschliche Gesellschaft los. Um diesem allen die Krone aufzusetzen, streiften die freien Räuber rings um die Stadt und plünderten die Karawanen und Reisenden. Ja, es war allgemein bekannt, daß Jan Katarchi, der berüchtigste und kühnste unter diesen Bandenführern, fast täglich frank und offen in den Straßen Smyrnas verkehrte, und jeder Grieche ihm zum Spion und Freund ward, da er kühn erklärt hatte, nur gegen die Feinde des Kreuzes, gegen die Moslems, die Engländer und Franzosen seinen Säbel erhoben zu haben. Obschon eine Menge Freiwillige ihm zuströmten, vermied er doch, die Zahl seiner Bande zu vermehren, mit der er ganz Smyrna bald derart in Schrecken setzte, daß kein Mensch mehr wagte, die nächste Umgebung der Stadt allein zu überschreiten. Selbst in dieser hatte der Räuber schon, von allen Verhältnissen sorgfältig unterrichtet, wohlhabende oder angesehene Personen aus der Mitte ihrer Familie aufgehoben, in die Berge geschleppt und schweres Lösegeld für sie erpreßt, oder er sandte ihre Ohren oder gar die Köpfe, zum Hohn des Paschas, in die Stadt zurück.

Es war am Abend bei Sonnenuntergang, als Welland auf der Terrasse des englischen Kaffeehauses den Freund seiner Jugend traf. Finsterer Schmerz, ruhelose Gedanken lagerten auf den Mienen des Griechen. Er drückte dem Deutschen schweigend die Hand, und beide setzten sich unter das Zeltdach an das äußerste Ende der niedrigen Barriere, die in die plätschernden Wellen des Golfes taucht. »Sie haben nicht alles so gefunden wie Sie gewünscht, lieber Freund,« sagte Welland vertraulich, »Sie empfinden Schmerz und Kummer, wollen oder können Sie mit dessen Ursache mitteilen?«

Gregor Caraiskakis sah einige Augenblicke vor sich hin, dann strich er mit der Hand über die Stirn und entgegnete: »Sie sollen erfahren, was mich hierher nach Smyrna trieb. Sie wissen bereits aus meinen Erzählungen von der Heimat, daß meine Schwester und mein jüngerer Bruder aus einer zweiten Ehe stammen, die meine Mutter sechs Jahre nach dem Tode meines Vaters mit einem früheren Waffengefährten desselben schloß. Es war ein braver und gerechter Mann, der an uns beiden Älteren, die wir im Pädagogium zu Athen auf Kosten des Staates erzogen wurden, wie ein aufrichtiger Freund handelte, und bei seinem Tode sein Erbe gleichmäßig unter uns Viere teilte. Meine Schwester Diona, jetzt ein Mädchen von 18 Jahren, kam, als man mich aus Athen verbannte und meine Mutter nach Chios zog, von dort aus zu armenischen Verwandten ihres Vaters nach Smyrna. Wir Brüder liebten das Mädchen innig, das, als ich es das letzte mal sah, bereits zur schönen Jungfrau erblüht war, wie sie nur dieser milde Himmel erschafft. Eine Botschaft der erkrankten Mutter rief mich an ihr Sterbebett, und hier vermißte ich mit Staunen die Schwester, sie war von Smyrna nicht zurückgekehrt. Ihre Briefe, – denn sie hatte eine gute Erziehung genossen, was wenigen von unsern Mädchen zuteil wird, – brauchten offenbar leere Vorwände zur Verlängerung ihres Aufenthaltes und verbargen sichtlich vieles vor den Augen der Mutter. Ich konnte diese nicht verlassen, so kurz auch die Entfernung war – in wenigen Tagen ging es zu Ende. An ihrem Todestage erhielt ich zugleich einen Brief von Diona, der, verworren und schmerzlich aufgeregt, von uns allen leidenschaftlich Abschied nahm. Mir ahnte Böses, – als das Grab unter den Platanen sich über meiner und ihrer Mutter geschlossen, eilte ich nach Kastron und traf am andern Abend Ihr Schiff.«

»Und hier?«

»Hier fand ich Diona verloren! – Freund, Sie wissen nicht, was unter diesem warmen Himmel, der das Blut heiß durch die jugendlichen Adern treibt und zur Nachsicht mahnen sollte, ein Fehltritt des unbewachten Mädchens für Folgen nach sich zieht! Bei uns besteht noch die Sitte der Väter, die die Jungfrau rein und unbescholten in das Haus des Gatten liefert, nicht jene Nachsicht und Vergebung, die in Ihrem kalten Norden gegen die Sünde des warmen Blutes geübt wird. Die Reinheit unserer Töchter und Schwestern ist ein Ehrenpunkt, der heilig gehalten wird; das gefallene Mädchen ist verstoßen und verflucht von ihrer Familie, wenn sie nicht die Pistole oder der Dolch des Blutsfreundes in rascher Tat straft. – Ja, die Schwester des Gregor Caraiskakis ist die Maitresse eines Engländers geworden!«

Er schlug die Hände vor das Gesicht und barg das Haupt auf der Balustrade. Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter, noch ehe Welland ihm zu antworten vermochte. »Caraiskakis?« fragte eine tiefe Stimme in italienischer Sprache, während die frühere Unterhaltung deutsch geführt worden. »Wer spricht hier von Gregor Caraiskakis?«

Die Freunde blickten erstaunt um.

Ein Mann mittlerer Größe, von gedrungenem, kräftigen Bau, in fränkischer Kleidung, die ihm offenbar ungewohnt und unbequem war, stand hinter ihnen und mußte während der Erzählung an einem Tisch in ihrer Nähe Platz genommen haben. Ein kräftiges, orientalisches Gesicht, von der Sonne tief gebräunt, wurde von einem ergrauenden Bart umschattet; der Mann mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen. Ein Zug kecker Entschlossenheit und eiserner Willenskraft preßte seinen Mund zusammen, dunkle, rastlose Augen glühten mit vom Alter ungeschwächtem Feuer unter den dicken Brauen. Seine Hand spielte mit der den Orientalen eigentümlichen Rastlosigkeit an der Stelle des Gürtels, gleich als sei sie gewohnt, dort den Pistolenknauf oder den Handjar zu finden.

Welland hatte sich zuerst gefaßt. »Was wünschen Sie von uns, mein Herr?« fragte er.

»Verzeihen Sie, Signor,« sagte der Fremde »dieser Herr nannte, wenn ich recht gehört, soeben einen Namen, den ich lange nicht vernommen habe, der mir aber lieb und wert ist. Ist ein Gregor Caraiskakis noch unter den Lebenden, und kennen Sie das Kind?«

»Das Kind,« sagte der Deutsche lächelnd, »freilich nicht. Aber den Mann kenne ich, der aus dem Kinde geworden, und Sie auch. Dort sitzt er, mein Freund ist Gregor Caraiskakis.«

Der Fremde stürzte auf den jungen Griechen zu und faßte seine beiden Hände; sein Gesicht war lebhaft erregt. »Sie sind Gregor Caraiskakis?« fragte er hastig, »der Sohn von Michael Caraiskakis und Anastasia Maliolis, in Chios geboren?«

»Derselbe!« entgegnete erstaunt der Grieche.

»Wo hatte ich auch mein Gedächtnis!« sagte der Mann, »das ist ja sein Gesicht, das sind ihre Augen! – Herr,« fuhr er fort, »halten Sie mich nicht für närrisch oder aufdringlich, daß ich mich freue wie ein Knabe, einen ihres Geschlechts wiederzusehen. Wenn Sie wüßten, wie sehr dies Herz noch an ihm hängt, wenn Sie erfahren, wie nahe ich ihm gestanden – sprechen Sie, Signor, ist Ihnen dies Gesicht denn ganz unbekannt geworden, haben Sie keine Erinnerung mehr für –? Doch nein,« fuhr er, sich umsehend auf der Terrasse, die sich mit Spaziergängern zu füllen begann, und auf der Costa mit mehreren Begleitern eben sich den Freunden nahte, fort, »jetzt nicht, hier nicht, diese Menge ist nicht für mich. Leben Sie wohl, Signor, Sie werden von mir hören!«

Damit wandte er sich ohne Gruß und ging langsam, wie absichtslos sein Gesicht mit dem Tuche verbergend, durch die Reihen der Gäste, welche hier ihren Sorbet, ihre Limonade oder Granita schlürften. Unter den zahllosen Barken, die am Ufer lagen, wurde sogleich eine von zwei Ruderern frei gemacht, als hätte sie auf ihn gewartet. Der Fremde stieß einen riesigen Mann in niederer griechischer Tracht zur Seite, der am Ufer lungernd, ihm den Weg versperrte, und stieg in den Nachen, der sofort sich in Bewegung setzte und davonfuhr, während der Zurückgedrängte ihm aufmerksam nachsah und bald darauf mit einigen Männern in seiner Nähe sprach, eifrig nach dem bereits entfernten Kahne deutend. Caraiskakis schien übrigens diesen Menschen zu kennen, denn während Costa den Deutschen ansprach und ihm mehrere Begleiter vorstellte, ging er zu dem Griechen.

»Andrea,« sagte er, »kanntet Ihr den Mann, der eben in jenem Boote davonfuhr?«

»Exzellenza werden das selbst am besten wissen,« entgegnete mit übertriebener Höflichkeit und ausweichend der Angeredete, der Wirt eines griechischen Speisehauses, in dem Caraiskakis einstweilen wegen dessen Nähe am armenischen Quartier seinen Aufenthalt genommen. »Ich bin ein armer Mann und lebe und lasse leben. Exzellenza haben ja selbst mit ihm geredet, und in Smyrna muß jetzt keiner die Augen da offen haben, wo er sie besser schließen sollte. Messerstiche sind eine billige Ware in dieser Stadt. Doch Exzellenza wollen mir eine Gegenfrage erlauben. Wer ist der Herr mit dem dunklen, kurzen Rock und dem breiten Strohhut, der eben mit Ihrem Freunde spricht, mit dem sich Exzellenza so lange unterhalten haben?«

»Ihr scheint ja genau hier aufzupassen, Andrea,« sagte verwundert Caraiskakis. »Wenn ich recht gehört im Fortgehen, nannte ihn mein Freund Signor Costa. Kennt Ihr, der halb Smyrna kennt, denn diesen Herrn nicht?«

»Bitte um Verzeihung, Exzellenza,« entgegnete unterwürfig der Wirt, »aber ich war meiner Sache nicht ganz gewiß, obschon ich den Signor oft gesehen habe. Doch kann ich Ihnen gute Nachricht in Ihrer Angelegenheit zu heute Abend bringen, einer meiner Freunde ist der Sache auf der Spur.«

»Desto besser, Ihr wißt, es wird Euer Schaden nicht sein. In einer Stunde bin ich bei Euch.«

Damit kehrte der Grieche zu seinem Freunde zurück; an Andrea, dem Speisewirt, aber streiften in der rasch auf den Sonnenuntergang folgenden Dämmerung zwei Gestalten vorüber, deren eine Wellands scharfes Auge, wenn er sie beobachtet hätte, leicht für seinen Wiener Reisegefährten erkannt haben würde. Der Zweite, eine robuste Figur mit einem österreichischen Orden im Knopfloch, winkte ihn nach einem der Durchgänge und fragte:

»Habt Ihr das Wild gefunden?«

»Ja, Exzellenza!«

»So sorgt dafür, – tot oder lebendig, Ihr kennt den Preis.«

»Ihr werdet zufrieden sein, Signor Cancellario, wenn nicht heute Abend, so doch sicher bis morgen um diese Zeit, und sollte ich ihn aus seinem Bett holen.«

»Auch den andern vergeßt nicht!« fügte der Wiener hinzu, »es geht in einem hin und er wird uns notwendig sein. Doch bleibt der Erste die Hauptsache. Lebendig womöglich – ich lege hundert Piaster zu.«

»Verlaßt Euch auf mich, Exzellenza!«

Beide betraten das Kaffeehaus.

Caraiskakis war unterdeß zu Welland gekommen, der sich lebhaft mit dem Kreis um ihn her unterhielt. »Ich muß Sie verlassen, lieber Freund,« sagte er, als sich dieser sogleich losmachte, »ich habe Ihnen zwar noch viel zu erzählen und Ihren Rat, vielleicht auch Ihren Beistand zu erbitten, doch sind mir eben Nachrichten versprochen, die ich nicht versäumen darf. Wenn es Ihnen genehm, hole ich Sie morgen zu einem Gang nach dem Bazar ab. – Noch eins. Eben erkundigte sich ein Mann, der auch Ihnen vorhin am Ufer auffiel, bei mir nach Ihnen und Ihren Freunden. Er ist mein Wirt gegenwärtig, ein berüchtigter Mensch in Smyrna, und ein so verworfenes Subjekt, wie irgend eines die Erde trägt. Aber ich brauche ihn augenblicklich und habe deshalb sein Haus vorgezogen. Doch wollte ich Sie warnen, der Schurke fragt nie ohne Absicht.«

Welland zuckte die Achseln. »Ich bin noch so ganz unbekannt und deshalb wohl ungefährdet. Ich verlasse mich darauf. Sie kommen morgen, gebe Gott, mit erleichtertem Herzen.«

Er drückte dem Freunde die Hand und kehrte zu dem Kreise zurück; Caraiskakis aber wandte sich nach dem griechischen Quartier.


Es war bereits gegen Mittag, die Stunde der Siesta nahte, als Caraiskakis den Freund abholte und mit ihm durch die mäandrischen Windungen der Straßen hinauf zum Bazar stieg, in dessen weiten Kreuzgängen sich alle Schätze des Morgenlandes und Abendlandes vereinen. Züge von Kamelen begegneten ihnen, Menschen aller Zonen und Farben drängten sich nach dem Weltmarkt. Nach und nach wurden, der Mittagshitze wegen, die Gänge leer. Welland kaufte einige Gegenstände in den verschiedenen streng gesonderten Abteilungen des Bazars, unter anderem einen vollständig orientalischen Anzug und von einem Turkomanen einen trefflichen Handjar und sandte die Sachen durch die Kaufleute in sein Quartier. Schon während des Handels war es dem Deutschen aufgefallen, daß ein Knabe in zerlumpter türkischer Kleidung sie unablässig verfolgte und aufmerksam beobachtete. Als sie nun durch die leeren Gänge zurückkehrten, trat ihnen der Bursche an einer Biegung nochmals entgegen. Welland glaubte, es sei ihm um den Bakschis – ein Trinkgeld – die gewöhnliche Forderung im Orient bei allen Gelegenheiten, bei denen man mit Türken verkehrt, zu tun, und reichte ihm einige Paras; doch der Knabe schüttelte den Kopf und zeigte ihm ein Stück schmutziges Papier, auf dem in griechischer, doch kaum leserlicher Schrift der Name »Caraiskakis« geschrieben stand. »Aha, wohl von Ihrem geheimnisvollen Freund,« meinte der Doktor und wies den Boten an seinen Gefährten. Gregor, den ganzen Morgen über zerstreut und noch düsterer als am Tage vorher, fragte ihn kurz nach seinem Begehr.

»Ich soll Euch bitten, Effendi,« sagte der Junge, »Ihr möchtet heute mit Eurem Freunde die Marina (den Quai) meiden und um Sonnenuntergang an der Karawanenbrücke sein, dort würde jemand Eurer warten.«

»Torheit,« entgegnete der Grieche, »meine Zeit ist gemessen und ich kann unbekannten Botschaften keine Folge leisten. Nach der Marina gehen wir eben.«

»Sie sollten die Botschaft doch nicht so leicht von sich weisen,« sagte Welland, »vielleicht betrifft sie einen Gegenstand, der Ihnen gerade von Wichtigkeit ist.«

»Das ist nur einer, – und von dem kann jener Mann nichts wissen. Ich bitte Sie, hören Sie mich weiter, denn ich muß meine Geschichte von gestern vollenden und Ihre Ansicht hören, um so mehr, als Sie, wie Sie mir sagten, morgen schon Smyrna und mich wieder verlassen wollen.«

Er legte seinen Arm in den des Freundes, und beide gingen an das Ufer, wo sie vom Seewind gekühlt, auf der kurzen Strecke umherwandelten. Später begegnete ihnen der Ungar Costa, nickte aber nur, da er sie im eifrigen Gespräch sah, dem Deutschen zu, und setzte sich in einem entfernteren Kaffeehaus am Ufer nieder, eine Zeitung zu lesen und seinen Kaffee zu schlürfen.

»Ich habe Ihnen bereits gesagt,« erzählte der Grieche, »wie meine Schwester Diona hierher gekommen ist und welches Unglück uns betroffen hat. Als ich gestern zu meinen armenischen Verwandten kam, bei denen sie sich aufgehalten, fand ich sie dort nicht mehr vor. Die Familie war bestürzt über meine Ankunft und wollte offenbar nicht mit der Sprache heraus. Erst durch lange Bitten und Drohungen erfuhr ich endlich, daß meine Schwester vor etwa drei Monaten die Bekanntschaft eines Engländers gemacht, der sich hier aufhielt, und daß sich das Verhältnis heimlich weiter gesponnen, bis die Familie dahinter gekommen wäre und Diona strenger bewacht gehalten habe. Vor einer Woche etwa sei sie plötzlich verschwunden, mit ihr zugleich der Brite, und alle Anstrengung sei vergebens gewesen, ihre Spur aufzufinden. Manche Umstände der Erzählung schienen mir verdächtig, und nach einem heftigen Auftritt mit der Familie verließ ich das Haus. Ich kannte Smyrna von früher und wußte, daß hier für Geld alles zu erlangen ist. Nach kurzem Besinnen nahm ich meine Wohnung bei jenem Speisewirt Andrea, einem berüchtigten Schurken, der aber die Fäden der meisten Verbrecher hier in der Hand hat – bei Gott,« unterbrach er sich, »da geht der Bursche eben wieder bis an die Zähne bewaffnet, mit einigen seines Gelichters umher! – Ich nahm also bei ihm meine Wohnung und schickte sein Weib auf Kundschaft aus. Bald wußte ich alles! Meine Verwandten hatten, durch das verschleuderte Gold des Briten geblendet, die Bekanntschaft des Mädchens mit diesem begünstigt, ja er kam täglich in ihr Haus und der Jungfrau Ruf war vernichtet, wahrscheinlich eher, als sie es wirklich verdient hatte. Erst als sie von meiner Ankunft aus Chios Nachricht erhielten, fanden sie es für gut, meine Rache fürchtend, dem Umgang ein Ende zu machen und Diona einzusperren. Es war zu spät; in einer Nacht waren beide, das Mädchen und ihr Liebhaber, entflohen und meine Kundschafterin beteuerte mir, daß die Kuppler selbst keine Ahnung hätten, wohin. Verschiedene kleine Umstände, namentlich der, daß man den Verführer noch vor drei Tagen hier gesehen haben will, ließen mich argwöhnen, daß das Paar noch in der Nähe sich aufhielt und ich bot nun alles Mögliche auf, seine Spur zu verfolgen. Der Schurke Andrea war mir förderlich; gestern Abend führte er mir den Mann zu, der das Paar über den Golf nach Bournabat geführt hatte. Hier bewohnten sie, oder bewohnen sie noch ein wohlverwahrtes Landhaus, das dem englischen Vizekonsul gehörte, einem Mann von schlimmem Ruf, dem für Geld alles feil ist, und der für blanke Doublonen schon die ärgsten Schurken vom Galgen gerettet hat.«

»Und haben Sie seit gestern Abend bereits Schritte getan?«

»Heute Morgen führte mich derselbe Fährmann hinüber nach der Villeggiatura. Ich forderte Einlaß am Hause; aber ein englischer Diener weigerte denselben unter dem Vorwand, daß es gänzlich unbewohnt sei. Daß dem nicht so ist, sah ich an dem Umstand, daß sich zwei Khawassen im Hofe umhertrieben. Ich war allein und konnte den Zutritt nicht erzwingen. Zur Stadt zurückgekehrt, eilte ich zu dem englischen Konsulat und drang bis zum Generalkonsul. Er war wie gewöhnlich wie ein Vieh betrunken; sein Stellvertreter aber, jener Eigentümer des Hauses, der alle Geschäfte und alle Macht in Händen hat, wies mich barsch zurück, wollte von nichts wissen und drohte, mich verhaften zu lassen.

»Was gedenken Sie zu tun?« fragte teilnehmend der Doktor.

»Was ich tun will?« antwortete zähneknirschend der Grieche. »Sehen Sie hin auf jenes Boot, das, mit Männern besetzt, wie hier Hunderte umherlaufen, eben dem Strande naht, mit Männern, die nicht fragen nach dem Erlaubt oder Gestattet, wenn es eine kühne Tat gilt, – mit einem solchen Boot und einem Halbdutzend solcher Bursche will ich morgen bei Nacht landen an der verschlossenen Tür, die die Schande meines Hauses birgt, und dann, bei dem Geist meiner Väter, will ich Gericht halten über die beiden!«

»Um Gotteswillen, Gregor, tun Sie keinen unsinnigen Schritt, der alles verdirbt und Sie in die größte Gefahr stürzen muß,« beruhigte Welland. »Gehen Sie zu dem griechischen Konsul, er hat die Pflicht, einzuschreiten. Wenden Sie sich selbst an den türkischen Gouverneur, er muß Ihr Recht schützen.«

»Recht in der Türkei?!« hohnlachte Caraiskakis. »Wissen Sie nicht, daß ich verbannt bin von den Machthabern in Athen? Meinen Sie, daß der feige entnervte Moslem, der nicht den offenen Meuchelmord aus den Straßen seiner Stadt verbannen kann, Mädchenraub bestrafen wird an einem seiner hundert Herren, an einem aus jenem Volke, das die wahre Pest des Orients durch seinen Übermut und die Tyrannei ist, gegen die selbst das türkische Joch milde genannt wird? – an einem Engländer? Wenn die Hand seines Allah aus den Wolken reichte, würden sich die Bekenner des Halbmondes nicht so beugen, wie vor der Tyrannei jener gekreuzten Flagge. Nein, ich selbst – – Heiliger Gott! Was geht dort vor – der blutige Schurke Andrea mordet Ihren Freund!«

Ein wildes Geschrei ertönte von der etwas entfernten Stelle des Quai, an der sie den Ungarn verlassen hatten, – Menschen drängten eilig hinzu, der Ruf nach Hilfe aus vielen Kehlen übertönte den Lärm.

Eine schreckliche Szene hatte sich dort entspannen. Sie ist historisch geworden in ihren empörenden Einzelheiten.

Wir haben bereits erwähnt, daß die Zahl der politischen Flüchtlinge in Smyrna zu jener Zeit sehr bedeutend war, und daß sie eine gewisse Herrschaft in der Stadt ausübten. Nächst London war Smyrna bereits der offene Zentralpunkt der Agitation. Öffentlich gegründete Komitees verhandelten über die Revolution von Europa, und die große Tätigkeit der Einzelnen in der Erlernung der orientalischen Sprachen, die Bemühungen, unter der griechischen Bevölkerung sogenannte philharmonische Vereine zu gründen, an deren Spitze sie standen, wiesen darauf hin, daß die Emigration sich in Smyrna und im Orient überhaupt einen neuen Haltpunkt zu schaffen suche. In keinem Lande der Welt würden die Flüchtlinge bei einem ruhigen Verhalten weniger gestört worden sein; denn die lässigen türkischen Behörden kümmerten sich durchaus nicht um ihre Person, ja der englische und amerikanische Konsul beschützten sie bei jeder Gelegenheit. Der Zusammenhang dieser Agitation mit der Mailänder Februar-Revolte war ganz offenkundig, und man sprach – gerade wie im Jahre 48 von Berlin und Wien, – am Tage des Ausbruchs in Mailand bereits davon in der ostasiatischen Handelsstadt. Da nun hauptsächlich alle diese Umtriebe und Angriffe gegen die österreichische Regierung gerichtet waren, so forderte der kaiserliche General-Konsul von Wexbecker endlich wiederholt von dem damaligen Generalgouverneur von Smyrna die Ausweisung der ohne Schutz einer Nationalität sich dort aufhaltenden Flüchtlinge, besonders die mehrerer in Österreich schwer gravierter Persönlichkeiten, die hier die Führer bildeten. Zu diesen gehörte Martin Costa, im ungarischen Revolutionskriege Adjutant Kossuths und einer der tätigsten und entschlossensten Offiziere des Insurgentenheeres. Er war nach dem Übertritt Kossuths auf türkisches Gebiet mit diesem in Kiutahia interniert, folgte ihm 1851 nach London und ging dann nach Amerika, von wo er zu Anfang des Jahres 1853 unerwartet nach Smyrna zurückkehrte, wo er alsbald an die Spitze der Klubs und Verbindungen trat. Die österreichische Regierung hatte die sichere Kunde von neuen Bewegungen und, da selbst das Einschreiten des Gesandten beim Divan und ein Befehl des Wessirs Ali-Pascha den Gouverneur nicht aus seiner Untätigkeit aufzurütteln vermochte, so sah sich die österreichische Regierung veranlaßt, selbst einzugreifen, und an ihren General-Konsul bestimmte Befehle zu erlassen, auf Grund der ihr traktatenmäßig zustehenden Rechte die Verhaftung der Flüchtlinge österreichischer Nationalität vorzunehmen und sie an die kaiserlichen Militärbehörden auszuliefern. Wäre dies in der geeigneten offiziellen Weise geschehen, etwa durch die Bemannung der Brigg Hussar, oder durch die Khawassen des Konsulats, so wäre trotz der Anwesenheit so vieler Flüchtlinge der Ausgang offenbar ein ganz anderer gewesen und hätte einen bedeutenderen Schrecken verursacht. Die ungeschickte und eklatante Weise aber, mit welcher der Kanzler des General-Konsulats die Sache begann, den ersten Schlag in Folge besonderer, am Tage vorher eingegangener Nachrichten gegen Costa richtend, kehrte das Resultat gegen die Behörde selbst.

Der Ungar saß ruhig und nichts ahnend auf dem Quai, auf dem zu dieser Zeit nur wenig Menschen der Hitze wegen verkehrten, als der Kneipenwirt Andrea mit drei bewaffneten Gefährten seines Gelichters sich ihm näherte. Zugleich kam ein Boot mit vier berüchtigten Gesellen derselben Bande herangefahren, und ein anderes, mit zwei Ruderern bemannt, hielt sich in der Nähe zur Aufnahme des Griechen. Andrea, den breiten Bund mit Pistolen und Dolchen gespickt, schlug von hinten dem Lesenden auf die Schultern und sagte: »Seid Ihr Signor Costa?« – Überrascht über die Frechheit sprang der Ungar empor und maß den Wirt mit den Augen. Ehe er aber noch eine Erklärung fordern konnte, stürzten sich alle Vier auf den Erstaunten und suchten ihn zu Boden zu werfen. Ein wildes Ringen entstand, der Ungar rief: »Verrat!« und so groß war seine Körperkraft, daß er sich aus den Händen der Angreifer los machte, zwei derselben packte und rasch entschlossen sich mit ihnen über die Balken des Bollwerks ins Meer stürzte. In diesem Augenblicke eilten Welland und Caraiskakis herbei und zugleich von mehreren Seiten andere Personen. Aber auch das Boot der Banditen hatte sich genähert, und von seinem Bord versuchten die Insassen, dem Ungarn, der sich im Wasser von seinen Angreifern befreit hatte und zum Strande zurückschwamm, eine Schlinge überzuwerfen. Zweimal gelangte Costa an das Bollwerk und klammerte sich daran fest, um sich emporzuhelfen, zweimal zerschnitt ihm der Handjar Andreas die Finger und Arme, daß er blutend zurückfiel, während dessen Genossen mit Messern und Pistolen die andrängenden Menschen zurückhielten. Verzweifelt rang Welland mit einem der Banditen, einem kräftigen Mohren, aber immer wieder wurde er zurückgestoßen, und sein Allarmruf erschallte vergeblich. Während dessen war es den Mördern im Kahne gelungen, dem Unglücklichen die Schleife um den Hals zu werfen und blutend, halberdrosselt, halbertrunken schleiften sie ihn an dem Strick durch die Wellen fort. Andrea pfiff dem zweiten Boote und sprang dann auf Welland zu, diesen hineinzuzerren, doch Gregor warf sich schützend vor den Freund und eine kleine Hand, die Hand des Knaben, der vorher die Freunde angesprochen, schlug zugleich die Pistole zur Seite, die der Anführer der Mörderrotte bereits ergriffen hatte. »Bei der Gebenedeiten des Himmels«, rief der Knabe, »Andrea, Ihr seid ein toter Mann, wenn Ihr einem der Herren ein Haar krümmt. Sie stehen unter seinem Schutz!« Er sprach dem Banditen den Namen ins Ohr.

Andrea fuhr zurück. »Diavolo«! fluchte er, »da hätte ich mir eine schöne Geschichte auf den Hals geladen! Geht zum Henker, Signor!« Damit stieß er Welland von sich und sprang in die Barke, die alsbald das Weite suchte und dem ersten Kahne nachfuhr. Einige Pistolenschüsse knallten hinter ihm drein von herbeieilenden Gefährten des Gefangenen, aber er war schon zu fern. Man hatte gesehen, wie der Ungar endlich in das große Boot gezogen worden, wie beide zu der Brigg ruderten und der Gefangene an Deck gebracht wurde; die Aufregung war entsetzlich. Wie ein Mordio ging der Ruf von der Gefangennehmung Costas durch die Straßen Smyrnas; von allen Seiten drängte man nach dem Quai. Italienische, ungarische, polnische und deutsche Flüche und Verwünschungen füllten die Luft; um Gregor und Welland, der mit aufregenden Worten den Hergang schilderte, drängte sich die Menge. Selbst Caraiskakis hatte über der empörenden Szene das eigene Leid für den Augenblick vergessen. Bassitsch, der Ungar, versammelte endlich die nächsten Bekannten um sich und wechselte fliegende Worte mit ihnen, die das Ärgste befürchten ließen, doch Welland drängte sich vor und ermahnte und bat, alle augenblicklichen Schritte zu unterlassen und von der Beratung abhängig zu machen, die für die Stunde vor Sonnenaufgang auf dem Kagus angesetzt war. Er selbst erbot sich, als am wenigsten bekannt, nach der Brigg zu fahren und zu versuchen, bis zu Costa zu dringen. Dies beruhigte die exaltierten Gemüter ein wenig; rasch verbreitete sich unter den Flüchtlingen die Kunde, daß die Versammlung trotz des Geschehenen stattfinden werde und während noch die Massen auf dem Quai auf- und abwogten, fuhr Welland, auf sein Bitten von dem Freunde und einem in Smyrna ansässigen deutschen Kaufmann begleitet, hinaus in den Golf, um sich der Brigg zu nähern. Seine Bemühung war jedoch vergeblich. Der Anruf der Schildwache befahl ihnen, sobald man sich auf Kabellänge genähert, beizulegen und als Welland sein Verlangen kund gab, den Gefangenen zu besuchen, erschien der Kommandant der Brigg, Major Schwarz, ein alter, fester Haudegen, auf dem Kastell und drohte ihnen, beim mindesten weiteren Versuch, sich zu nahen, Feuer auf den Kahn geben zu lassen. Doch war er menschenfreundlich genug, auf ihre Frage mitzuteilen, daß Costa zwar erschöpft und leicht verletzt, doch sonst ungefährdet an Bord gebracht worden und dort in strenger Haft sei.

Wie das Boot zum Quai zurückkam, war die Sonne bereits im Abwärtssteigen und die Stunde der Versammlung in den mächtigen Trümmern des genuesischen Forts auf dem Berggipfel nahe.

»Sie müssen mich auch dahin begleiten, Gregor,« bat Welland den Griechen, »denn das Ungewitter, das, wie ich glaube, sich dort oben zusammenbrauen wird, könnte leicht auch Ihnen behilflich sein zu Ihrem Zweck. Jedenfalls stehe ich Ihnen dann ganz zu Diensten.« So folgte Caraiskakis dem Freunde und diente ihm, da er hier bekannter war, zum Führer.


Über die türkischen und armenischen Begräbnisplätze, die sich an den Seiten des Berges emporstrecken, von Cypressen und Platanen beschattet, schritten die Freunde eilig hinauf. Zu jeder anderen Zeit würde sich Welland dem eigentümlichen Eindruck und Schauspiel hingegeben haben, das die Friedhöfe der Moslems machen. Sie sind das Ziel der Spaziergänge von Alt und Jung, Männern und Frauen während des Tages, der Aufenthaltsort, oft die Schlafstätte des Gesindels während der Nacht. Zwischen den schmalen und aufrechtstehenden Leichensteinen, welche die Form umgestülpter Obelisken oder Säulen haben, auf deren Spitze ein Turban oder Fez den Rang des Verstorbenen anzeigt, während blaue und rote Farben, Vergoldungen und Inschriften den Stein schmücken, spielen die Kinder, liegen die Müßiggänger und sitzen klatschend die Weiber. Hin und wieder ragen aus diesen Begräbnisplätzen noch Trümmer der alten hellenischen Mauern hervor, die sich nach dem Gipfel zu mehren.

Die Beiden eilten vorüber, den riesigen Trümmern des Schlosses zu. Die Mauern schließen einen beträchtlichen Raum ein, in ihrem Mittelpunkt finden sich die Reste einer alten Kirche, nach den Volksüberlieferungen der alten Kirche Smyrnas. Desgleichen viele Cisternen, Gewölbe und Gänge, die einen ganzen unterirdischen Bau unter den Trümmern bilden sollen. Eine weite, herrliche Aussicht bietet sich von diesen Ruinen über Stadt und Meer, über die vom Hermus durchzogenen Ebenen im Osten und die Flächen im Süden, die der Meles mit seiner Wasserleitung befruchtet. Etwas weiter zur Seite, unfern der in die Felsen gegrabenen Stadien, wo der heilige Polykarp den Märtyrertod erlitt, stehen noch einige Trümmer des Jupiter-Tempels, und hier hatten die Flüchtlinge aller Nationen sich zur Beratung versammelt. Man hatte mit der Eröffnung derselben auf Welland gewartet, und er wurde genötigt, von einem der riesigen Postamente herab nochmals die Erzählung der grausamen Art und Weise zu wiederholen, in der Costa verhaftet worden. Welland sah sogleich, daß die Exaltation der Menge durch die Einwirkungen Einzelner aufs Höchste gesteigert worden, und daß eine besonnene Vermittelung dringend Not tat. Er knüpfte daher an seine Erzählung sofort den Vorschlag, daß die in der Angelegenheit zu tuenden Schritte einem Komitee übertragen werden möchten, daß dieses von dem österreichischen Konsul die Freigebung Costas verlangen und durch Deputationen die Mitwirkung aller anderen Konsuls, namentlich der französischen und englischen, in Anspruch nehmen solle.

Doch war das nur ein Tropfen auf den heißen Stein der geweckten Leidenschaften. Fumagalli, mit all' dem lodernden Feuer seiner Landsleute, nahm den Platz des bedächtigen Deutschen ein und reizte mit flammenden Worten die Menge zu Taten der Rache. »Wie es Costa ergangen,« rief er, »wird es uns auch gehen; einen nach dem anderen werden die feilen Schergen der Tyrannei hinwegholen, um uns in Ketten in ihre tiefen Kerker auf dem Spielberg und Kufstein zu werfen, wo so viele edle Söhne der Freiheit lebendig vermodern. Zeigen müssen wir ihnen, daß wir Mann zu Mann stehen, Blut müssen wir haben zur Sühne, mit roten Flammenzeichen wollen wir unser Gericht halten! Brüder, Freunde, edle Männer der Magyaren! Söhne des freien Italien! – Laßt uns hinunterziehen und die steinerne Zwingburg unseres Feindes, des österreichischen Konsuls, mit bewaffneter Faust stürmen. Wenn die Lohe als Warnungszeichen unserer Rache über seiner Habe zusammenschlägt, wenn wir ihn und jedes lebende Wesen in seinem Hause gefangen halten und unsere Dolche ihre Brust bedrohen, wird man uns den Verratenen sicher ausliefern, und haben wir ihn erst zurück, dann wehe den Elenden!«

Mit wildem Jubel erwiderte die Menge die Rede. Wahnwitzige Vorschläge aller Art wurden laut, der Ungar Cricca wollte die am Kastell liegende türkische Fregatte mit Gewalt nehmen und mit ihr den Gefangenen befreien, ein anderer schlug einen Angriff bei Nacht mit Böten vor, ein dritter gar, die Stadt an allen Ecken anzuzünden. Je abenteuerlicher und entsetzlicher die vorgeschlagene Tat, desto stürmischer war der sinnlose Beifall. Vergebens suchte in diesem Tumult Welland zur Ruhe und Überlegung zu mahnen; verzweifelnd wollte er sich abwenden und den Platz verlassen, als er fühlte, wie ihm im Gedränge ein Zettel in die Hand gedrückt wurde. Rasch wandte er sich um, doch unbekannte, nur mit der aufregenden Versammlung beschäftigte Gesichter zeigten sich rings umher. Er flüchtete aus dem Gewühle und las den Zettel. Ein Kreuz, ähnlich dem, das Costa ihm gezeigt, war mit Bleistift auf das Papier gezeichnet. Darunter standen die Worte: »Keine Gewalt! Die Zeit ist noch nicht gekommen. Gehen Sie morgen zum amerikanischen Konsul und verlangen Sie seinen Schutz für Costa als amerikanischen Bürger. Die Hilfe wird zur rechten Zeit bereit sein. Gehorsam!« – Welland trafen die Zeilen wie ein Blitzstrahl, freudig, daß sich eine Aussicht zeigte, den Gefangenen zu retten, überraschend, daß auch hier in so weiter Ferne eine unsichtbare geheimnisvolle Macht seine Handlungen zu leiten, alles zu überwachen schien. Er drängte sich mit Gewalt zu Fumagalli durch und zog ihn bei Seite. »Wenn Sie nicht absichtlich alles verderben und Costas Blut über sich und uns alle bringen wollen, so stehen Sie von diesen wahnwitzigen Handlungen ab!« sagte er zu ihm. »Gehen Sie meinetwegen mit einer Deputation zu dem österreichischen Konsul und fordern Costas Freigebung, um die aufgeregte Menge zu beschwichtigen, aber keine Gewalttat heute! Sie wissen, daß Costa dem Bunde angehört, im Namen dieses Bundes und als Vorgesetzter befehle ich Ihnen den morgenden Tag abzuwarten. Bis dahin wird Hilfe zur Stelle sein, die den Ungar schützen kann, den wir heute nur verderben würden.« – Mit Widerstreben versprach der Italiener, die Menge zu beruhigen oder wenigstens so zu leiten, daß es bei den Drohungen bliebe und keine offenbare Gewalttat die Lage verschlimmere. Von ihm erfuhr Welland auf seine Nachfrage auch, daß in der Wohnung Costas sich nur wenige und unbedeutende Papiere vorgefunden und diese bereits in Sicherheit gebracht worden seien. Ein Paß war nicht darunter gewesen.

Während Fumagalli auf's Neue zu dem Kreis der Flüchtigen sprach, mit Hilfe seiner Vertrauten die Wahl eines Komitees zu Stande brachte und dann vorschlug, nach der Stadt zurückzukehren, suchte Welland den Freund auf und fand ihn unter den Trümmern des Schlosses am Rand einer Cisterne sitzen. Die Sonne verschwand eben am Horizont und in der beginnenden Dämmerung, die, wie es im Süden der Fall, rasch zunahm, hörten sie die wilden Revolutionsgesänge der abziehenden Haufen. Sie waren die einzigen, die noch zurückgeblieben, und Welland ermahnte trotz des erhabenen Eindrucks, den die Stille des Abends und der einbrechenden Nacht verbreitete, zum Aufbruch, da ihm die Erzählungen von der Unsicherheit der Umgebung einfielen. Aber es schien bereits zu spät. Als sie den Ausgang suchten, streckte sich ihnen plötzlich ein Gewehrlauf entgegen und eine barsche Stimme rief sie in griechischer Sprache an. Sie sprangen zurück und griffen nach den Terzerolen, die Beide verborgen trugen, doch ein leichtes Lachen ließ sie sich umwenden, und sie erblickten hinter sich, aber in griechischer Tracht und auf eine lange Flinte gestützt, den Unbekannten, der sich gestern auf der Marina bei Caraiskakis Namen so ergriffen gezeigt hatte.

»Ich danke Ihnen, Signori,« sagte der Fremde mit leichtem Spott, »daß Sie meiner Einladung dennoch Folge geleistet. Freilich etwas spät – doch in diesem Lande kommt alles Gute spät, oft zu spät, meist gar nicht. Wollen Sie mir folgen, Sie sehen, jeder Widerstand ist unnütz, und bei Sankt Procopio, meinem Schutzheiligen, ich wollte mir eher von diesen türkischen Hunden die Augen ausreißen lassen, ehe ich zugebe, daß Ihnen etwas Übles widerfährt.«

Welland und der Grieche sahen sich plötzlich von neun bis zehn dunklen Gestalten umgeben, deren Waffen im Sternenlicht funkelten, – Widerstand wäre töricht gewesen – nach wenigen deutsch gewechselten Worten erklärten sich Beide bereit, dem Fremden zu folgen.

Dieser – offenbar der Anführer der gefährlichen Schar – erteilte einige kurze Befehle und ging dann voran, von den beiden Freunden gefolgt, denen sorgsam zwei Banditen jede unebene und gefährliche Stelle zeigten. Der Weg führte sie mitten in die Ruinen der alten Akropolis und nach kurzem Gang sahen sie aus einem der verfallenen Bogen den Schein eines Feuers leuchten. Sie traten durch die Pforte in einen kleinen von Mauern umgebenen Raum, in dessen Mitte ein Feuer brannte, von dem Knaben angeschürt, der ein Hammelviertel am Spieß briet. In der Nähe lag auf riesigen Marmorquadern ein Schlauch voll des schwarzen, aromatischen Brussaweins und andere zur Mahlzeit gehörige Gegenstände.

Der Fremde schritt zuerst auf den Stein zu, nahm einen Maiskuchen, bestreute ihn mit Salz und brach ihn in drei Teile, von denen er einem jeden der Freunde gab. »Nehmt und eßt,« sprach er, »der Gast ist dem Wirte heilig.« Gregor und Welland aßen einige Bissen, und Beide, die schöne Sitte des Morgenlandes kennend, fühlten sich beruhigt.

»Jetzt, Mauro,« sagte freundlich der Unbekannte zu dem Knaben, »entferne Dich und halte Wache, daß uns Niemand stört, ich habe mit diesen Männern zu reden.« Das Kind gehorchte; auf einen Wink des Mannes setzten sich die Freunde auf die umherliegenden Trümmer und harrten gespannt auf die Entwickelung.

Lange saß ihr seltsamer Wirt auf dem Stein vor ihnen, die braunen, schwieligen Hände vor dem Gesicht, als zolle er mächtigen Erinnerungen seinen Tribut. Dann erhob er das Haupt, reichte dem jungen Griechen die Hand und sagte: »Sei mir willkommen, Sohn des Michael Caraiskakis, meines unvergeßlichen Herrn. Sage, ist einem Deines Geschlechts der Name und das Antlitz Johannes des Isparoten denn so ganz fremd geworden, daß er ihn nicht mehr wiedererkennt?«

» Janos!« rief der Grieche und sprang empor – »Janos, der Mutter und Kind in der Mordnacht aus den Flammen trug? Janos, unser Retter und Freund! Heilige des Himmels, wo hatte ich meine Augen!« Er umschlang den Hals des Mannes, in dessen Augen Freudentränen glänzten, der ihn aber freundlich von sich drängte.

»Janos! Ja wohl!« sagte er, »und damit Ihr alles wißt – Janos Katarchi, Jan, der Kameeltreiber, Jan, der Räuber und Mörder, vor dessen Name jene ungläubige Brut dort unten zittert. Jan Katarchi steht vor Dir und heißt Gregor, den Knaben, den er einst auf den Knien trug, willkommen, wenn dieser ihn noch kennen will.«

Gregor warf sich noch einmal an die Brust des treuen Dieners seiner Familie. »Sage, Jan der Palikare, Jan, der Rächer, wie Dich jedes wahre griechische Herz dort unten nennt. Was geht mich Dein Name an, Dein Tun, oder daß Du vogelfrei im Kampf mit den Unterdrückern unseres Volkes bist, und an Deinen Händen Blut klebt! Ist es nicht auch das Blut, daß Du vor einunddreißig Jahren zu unserer Verteidigung vergossen, bist Du nicht auch der Waffendiener meines Vaters, der mit ihm das Schiff des blutigen Wüterichs gegen die Wolken sprengte, als diese ihre Blitze vergessen hatten gegen die tausendfachen Gräuel! Es ist wahrlich eine Segnung der Heiligen in meinem Kummer, daß ich in diesem Augenblick einen Mann finde, der der Freund meiner Kindheit war, wie ich den Freund meiner Jünglingsjahre wiedergefunden!« Er reichte Beiden die Hand, die der Bandit trotz der Abwehr Gregors leidenschaftlich küßte. Dann zog der Mann des Bluts und der Verbrechen den Wiedergefundenen zu sich nieder ans Feuer und begann mit einer Hast und Unermüdlichkeit der Zunge, die dem Griechen, namentlich der unteren Klassen, eigen ist, ihm hundert Fragen über das Schicksal der Familie vorzulegen, während der Deutsche ein stummer, aber aufmerksamer Beobachter der unerwarteten Szene blieb.

»Aber sage mir, Janos,« unterbrach endlich Caraiskakis den Strom der Fragen, – »wie kommst Du hierher? Wir glaubten Dich tot nach der letzten Nachricht, die wir von Dir erhalten, und betrauerten Dein Andenken.«

»Du weißt, Herr,« erzählte der Räuber, »daß ich an der Seite Deines tapferen Vaters am Piräus fiel, als wir fünf Jahre nach dem Blutbad von Chios unter Richard Church den Entsatz der Akropolis versuchten. Mein Leib deckte den teuren Leichnam und zeigt noch die Spuren der drei tiefen Wunden, die ich erhielt. Wie ich gehört habe, ziert ein Denkmal die Stelle, wo mein Herr für die Freiheit und das Kreuz am 4. Mai blutete. Mögen die Heiligen ihm im Paradiese gnädig sein! Als ich erwachte, lag ich nackt und blos auf dem Schlachtfeld. Ein fränkischer Arzt erbarmte sich meiner, – schon damals im heiligen Kampf des Kreuzes gegen den Halbmond hatten sich ja Christen unseren Feinden verkauft! – und verband meine Wunden. Wider das eigene Hoffen genas ich, und mit hundert anderen Unglücklichen schickte mich Ibrahim-Pascha als Siegesbeute seinem Vater nach Egypten. Dort litt ich fünf Jahre, was ein Sklave leiden kann, bis ich im Krieg des Vicekönigs gegen den Sultan mit nach Syrien geschleppt wurde. In dem Gewühl des Sieges von Konieh gegen Reschid-Pascha gelang es mir, zu entkommen, – ich bettelte und schlug mich durch, bis ich die blauen Ufer unseres schönen Meeres mit seinen Inselsternen wiedersah, und kam nach Chios. Zehn lange Jahre hatten nicht gereicht, die Spuren jener schrecklichen Verwüstung zu verwischen. Die herrliche Insel, des großen Homer Geburtsstätte, hatte man in den Händen der Ungläubigen gelassen; die Inglesi tragen die Schuld daran, wie ich mir sagen ließ, jenes Volk von Kaufleuten, das jetzt wieder auf der Seite unserer Unterdrücker steht, jetzt, wo der große Zar im Norden das ganze Griechenland frei machen will von der Herrschaft der Ungläubigen. Deshalb hasse ich die Nation, ich speie auf die Gräber ihrer Väter, denn nichts sind sie besser, als die Moslems selber.«

»Hier hören Sie eine Stimme des Volks,« winkte Caraiskakis dem Freunde. »Wie aus dem Munde dieses Verbannten und Geächteten, so tönt es überall, wo Hellenen wohnen und jeder träumt von einer neuen Aera des byzantinischen Reiches.«

»Auf Chios«, fuhr der Räuber fort, »war meines Bleibens nicht mehr. Vergeblich forschte ich nach der Familie meines Herrn. Der neue Name Deiner Mutter verbarg mir die Spur. So ging ich aufs Festland zurück und gewann mein Brot in Smyrna als Kameeltreiber bei den Karawanen, die aus dem Innern von Syrien und Turkomanien die Früchte und Teppiche bringen. Ich hatte Weib und Kind, – eine Tochter von sechszehn Jahren, es war ein schönes und gutes Kind. Ich wohnte damals mit meiner Familie in Tschardak am Tschernek-Su, nährte mich redlich und friedlich und zahlte mein Kopfgeld. Ein junger Mann unseres Glaubens sah mein Kind und begehrte es zur Ehe. Der Tag der Hochzeit war bestimmt, da reitet der Musselim (Türkischer Gouverneur einer Stadt) an unserem Hause vorbei und sieht Nausika, die ihm Milch reichen muß. Am andern Tage läßt er mein Weib rufen, – ich war gerade mit den Karawanen nach Smyrna, – und fragte sie, ob sie ihm die Tochter verkaufen wolle. Mein Weib erschrickt und bittet ihn, abzustehen, da das Mädchen verlobt sei und man nur meine Rückkehr erwarte, um sie in das Haus ihres Gatten zu führen. Der Musselim aber streicht sich den Bart, spricht, er brauche ein schönes Weib als Geschenk für seinen Gönner, den Mehemed-Pascha in Stambul, und wenn sie das Kaufgeld nicht nehmen wolle, werde er das Mädchen umsonst holen. Darauf schickt er nach Vaso, meinem Eidam, steckt ihn trotz seines Glaubens unter den Nizam (Landwehr) und sendet ihn noch am selben Tage mit einer Schar fort. Am Abend aber holen seine Khawassen das Mädchen, und als mein Weib flehend folgt bis an die Schwelle seines Hauses, mißhandeln sie die Ärmste mit Stockschlägen, daß sie krank von den Nachbarn nach Hause getragen wird. Als ich fünf Tage später von Smyrna heimkehrte, fand ich mein Weib am Tode, mein Kind geraubt und den Musselim verreist. Ich raufte das Haar und begrub mein Weib. Dann tat ich einen Eid bei der heiligen Jungfrau, zündete mein Haus an, die Stätte meines Glücks, und ging davon.«

»Aber warum klagtet Ihr nicht, unglücklicher Mann«, sagte der Deutsche, »warum wandtet Ihr Euch nicht an die europäischen Konsuln oder selbst nach Konstantinopel?«

»An die Konsuln?« hohnlachte der Räuber. »War ich ein ionischer Dieb oder ein maltesischer Mörder, daß ich auf ihren Schutz Anspruch gehabt hätte? Ich war ja nur ein Ipsarote, einer der Millionen Christen, die diesen Henkern überlassen blieben mit Leib und Seele! – Gerechtigkeit in Smyrna oder Stambul gegen den Musselim, meinen Herrn! – Nein Signor, ich tat Besseres, das Einzige, was dem Manne bleibt. Ich lauerte am Wege in den Felsen neun Tage lang, bis der Musselim von seiner Fahrt zurückkehrte, und als er mir nahe war, schoß ich ihm die Kugel inmitten seiner Khawassen durch das gierige Herz. – Seitdem, Gregor Caraiskakis, seitdem bin ich ein Räuber! Was liegt an meiner Tochter! Sie wird wie hundert andere, sich längst an das träge Leben im Harem eines unserer Herren im üppigen Stambul gewöhnt haben! Die Heiligen wissen, ob und wo sie atmet – für den Vater ist sie gestorben. Ich nahm den Sohn der Schwester meines Weibes mit mir, Ihr habt den Knaben gesehen, und bald waren einige Gefährten um mich versammelt, mit denen ich mein Rachewerk begann. Ihrer Verfolgung kann ich spotten, denn tausend Freunde haben Augen und Ohren für mich in jener Stadt und im ganzen Paschalik.«

»Du schmähst auf den Türken, Mann, auf den Erbfeind Deines Glaubens«, sagte Gregor mit finsterem Ausdruck: »Gehe hin zu Deinen christlichen Brüdern, den prahlenden Beschützern unserer Freiheit und unserer Religion, den Männern, die von den Rechten des Volkes in ihren Parlamenten reden und das Glück der Völker im Munde führen! Der Moslem nimmt offen seinen Raub und sagt: Ich bin Dein Herr! Der Brite aber stiehlt Dir Dein Gut und Dein Land, wenn es ihm gefällt und macht Dir noch weiß, es geschehe zu Deinem eigenen Besten. Dir ist die Tochter genommen, mir die Schwester. Ist die Odaliske des Türken, nach seinen Sitten und nach seinem Glauben sein Weib, nicht besser als die Metze des reichen Briten?«

Er sprang empor; die Faust des Räubers preßte seinen Arm. »Was sprichst Du da?«

Gregor wiederholte das, was er am Mittag dem Freunde erzählt hatte. Der Bandit jauchzte hell auf: »Ei! Steht es so! – Du würdest das Vöglein ausgeflogen finden, mein Sohn, wenn Jan, der Kameeltreiber nicht zufällig dafür gesorgt hätte. Unten im Golf liegt eine Felucke vor Anker, die der Inglese gemietet hat, um mit seinem Täubchen morgen in der Frühe auf und davon zu fahren. Ich habe gute Spione in Bournabat und hatte dem Franken ohnedies heute Nacht einen Besuch zugedacht, um ihn etwas leichter zu machen. Jetzt wird die Sache ernster. Wenn wir ihm nicht heute Deine Schwester abnehmen, ist sie verloren für Dich. Die Felucke fährt nach Tenedos, wo in der Troja-Bai (Besika-Bai) die Flotten ankern. – He, Mauro!« Er pfiff gellend, der Knabe sprang wie ein Pfeil herbei; Jan befahl ihm, die Gefährten zu rufen bis an die äußerste Wache gegen die Stadt. »Wir dürfen erst um Mitternacht aufbrechen und wollen unterdeß unsere Mahlzeit halten. Ehe der Morgen graut, Gregor Caraiskakis, sollst Du Deine Schwester hier sehen.«

»Das ist mein eigen Geschäft,« erklärte Gregor, »ich nehme dankbar Deine Hilfe an, aber ich werde Dich begleiten. Und Du, Freund,« er reichte Welland die Hand, »wirst uns gewiß nicht verlassen?«

»Gewiß nicht in einer gerechten Sache,« entgegnete dieser; »aber Eines beding' ich mir aus, um Ihrer eigenen Ehre willen, Gregor; kein unnützes Blut, keinen Mord! Sie versprechen mir das Leben des Briten – – hören Sie erst Ihre Schwester, dann entscheiden Sie und fordern Rechenschaft, wenn es notwendig ist. Im Licht des Tages werde ich Ihnen als Freund zur Seite stehen, und so allein können Sie vielleicht die Ehre des Mädchens wiederherstellen. Ich liebe selbst die Nation des Verführers nicht, aber den Mut, dem Gegner sich zu stellen, wird ihr der ärgste Feind selbst nicht absprechen.« Gregor gab das geforderte Versprechen, nach einigen Einwänden auch der Räuber. Während die wilden Gestalten seiner Gefährten von verschiedenen Seiten herbeikamen und Alle um das Feuer zur Mahlzeit lagerten, besprach man das Unternehmen und Mauro brachte für die beiden Freunde Waffen aus den in weiten unterirdischen Gewölben und Gängen der Ruinen befindlichen Verstecken der Bande.


Die dunkle Nacht lag über dem prächtigen Golf, und Ruhe und Stille über der großen Stadt, als in der Nähe der Mühlen am diesseitigen Strande zwei Barken abschoben, in denen sich acht wohlbewaffnete Männer und ein Knabe befanden, und ihre Richtung nach Bournabat nahmen. Es waren der Räuber Jan Katarchi und seine Gefährten, Gregor Caraiskakis und Doktor Welland. Jan saß mit diesem in einem der Nachen zusammen, den zwei Mann ruderten, die anderen drei mit dem Knaben fuhren voraus. Alle waren mit Pistolen und Handjar bewaffnet. Gregor und der Doktor hatten ihre Kopfbedeckung mit einem Fez vertauscht, an dem vorn ein Stück grünen Schleiers zur Verhüllung der Gesichtszüge befestigt war. Jan hatte auf dieser Vorsicht bestanden, um späteren Folgen durch ein Wiedererkennen vorzubeugen. In den Kähnen lagen Stricke und Haken und eine schwere Eisenstange, um nötigenfalls die Tür zu erbrechen.

Auf der Mitte des Wassers sahen sie die Felucke ankern, die am Morgen Sir Maubridge und die schöne Griechin nach Tenedos tragen sollte. Jan gab ein leises Zeichen, in aller Stille vorbeizufahren, die Ruderer hoben die Riemen, um sich nicht durch die phosphorleuchtenden Striche einer etwaigen Wache zu verraten, und die Boote trieben in einiger Entfernung am Schiff vorüber, bis sie weit genug waren, um durch den Ruderschlag nicht mehr gehört zu werden; dann griff man wieder zur Arbeit, und nach einer Viertelstunde war man an der Gartenmauer des Landhauses, das Gregor im Dunkel als dasjenige erkannte, an dem er am Morgen vorher nach der Schwester geforscht. Der Räuber hatte rasch seine Dispositionen getroffen. Welland und zwei der Banditen wurden im Wasserhof zurückgelassen, in dem die Kähne angeschlossen lagen, mit dem Auftrag, hier den Bewohnern den Rückzug abzuschneiden. Einen andern postierte Jan auf den Weg nach Bournabat, da das Landhaus des Vicekonsuls fast das Ende des Dorfes bildete; er selbst mit Gregor, dem Knaben und zwei seiner Leute übernahm es, durch den Haupteingang einzudringen.

An dem Tor angekommen, hob der Räuber den Jungen, der seine Befähigung zu der ihm gewährten Rolle durch fast affenartige Behendigkeit und Geschicklichkeit zu erkennen gab, auf seine Schultern und ließ ihn einen der am Strick befestigten Haken über die Mauer werfen und an jener vollends emporklimmen. Oben auf derselben änderte Mauro nur die Lage des Hakens und ließ sich an dem Seil in den Hof hinab, um von innen das Tor zu öffnen. Währenddem hatte Jan seinen beiden Begleitern Fackeln gegeben, um sie zum Anzünden bereit zu halten. Gregor faßte den Schaft der Pistole in seinem Gürtel und spannte den Hahn.

»Capitano,« flüsterte der Knabe durch die Spalte, »die Tür ist verschlossen, ich kann sie nicht öffnen und höre das Schnarchen der Khawassen.«

»Pesta!« fluchte der Sciote, »das ändert unser Spiel und wird blutige Arbeit geben. Sieh', daß Du in's Haus gelangst, Mauro, durch eine der Jalousieen. Du hast zwei Minuten Zeit; beim heiligen Procopio, sei flink, mein Junge!«

Wenige Minuten darauf setzte er das Brecheisen zwischen die Fugen des Tores und warf sich mit seiner riesigen Kraft darauf. Zugleich flammten die Pechfackeln der beiden Räuber empor.

Ein türkischer Anruf ertönte von Innen.

»Bismillah! Wer ist dort? Was wollt Ihr?«

» Jan Katarchi!« heulte der Ruf des Räubers durch die Luft und alle Vier warfen sich mit aller Manneskraft gegen das brechende Tor. Zwei Schüsse krachten ihnen entgegen, von denen der eine den Mann neben Katarchi in die Schulter traf, daß er zu Boden taumelte.

»Nach der Barke!« herrschte ihm der Führer zu, und die Fackel dem Verwundeten entreißend, schleuderte er sie mit gewaltigem Schwunge hinauf auf das platte Dach des Hauses und war mit einem kühnen Satze über die Trümmer des Tores mitten im Hof. Im nächsten Augenblick parierte sein großes Pistol den scharfen Handjarhieb eines Khawassen, und er drückte die Waffe nach dem Türken ab. Aber eingebogen von dem kräftigen Hieb sprang das Rohr bei dem Schuß, und die eisernen Splitter stoben umher.

» Diona! Diona!« schrie Caraiskakis, und ohne des zweiten, mutig den Zugang des Hofes verteidigenden Khawassen zu achten, sprang er wie ein Panther über den Hof und versuchte die Tür des Hauses einzustoßen. Eine Kugel, die im nächsten Augenblicke durch seinen hohen Fez fuhr, belehrte ihn, daß die Bewohner bereits wach und zur Verteidigung bereit seien. Emporblickend gewahrte er ein männlich schönes, nur etwas starres Gesicht, das von hochblondem, lockigen Haar umgeben, sich mit furchtlosem Ausdruck aus dem Fenster des ersten Stockwerkes gerade über der Türe herausbog, um die Wirkung des Schusses und die weiteren Vorgänge im Hofe zu erspähen. Ein weißer voller Arm schlang sich um den Hals des Engländers und zog ihn mit Gewalt in das Haus zurück.

Im Hofe schlug sich Katarchi mit den beiden Khawassen, sein Untergebener war Caraiskakis zu Hilfe geeilt und suchte mit diesem die Tür einzudrücken. Ein Ruf des Bandenführers, der die Augen überall hatte, mahnte Gregor, zur Seite zu blicken. Aus einem Nebenfenster des Erdgeschosses nahe der bestürmten Tür, lehnte sich ein vierschrötiger Engländer in Seemannstracht bequem heraus und suchte für seine Flinte im Anschlag den Kopf des Griechen zu fassen. Die Gefahr war dringend und fast unabwendbar. Aber im Augenblick, wo der Finger des Briten den Drücker berührte, schwankte das Gewehr und der Schuß fuhr zur Seite vorbei, der Engländer aber verlor das Gleichgewicht und an den Beinen in die Höhe gehoben, stürzte er schwerfällig aus dem Fenster auf das Marmorpflaster des Hofes. Mauro, der gewandte Schelm, war durch eines der Fenster ins Haus geklettert und zum glücklichen Augenblick erschienen. Im nächsten hatte er die Tür entriegelt und Caraiskakis, sein Gefährte und der Räuberchef, der sich des einen Khawassen durch einen schweren Hieb in die Schulter entledigt hatte, stürzten in das Haus. Zugleich eilte aus dem Querstock Sir Maubridge, von zwei anderen Dienern und dem Hausaufseher gefolgt, die Stiege herab, denn oben auf dem flachen Dache leckten und schlugen bereits die Flammen empor, die Jans geschleuderte Fackel an dem trocknen Holzwerk entzündet.

In dem linken Arm des Briten, halb getragen von ihm, hing ein griechisches Weib in wallenden Nachtgewändern, das bleiche Gesicht umflattert von den fessellosen, wallenden Locken. »Diona!« wiederholte Gregor und das bleiche Frauenbild zuckte bei den bekannten Tönen zusammen und streckte die Hände nach ihm aus, – aber wie von unwiderstehlicher Macht hingerissen, klammerte sie sich von Neuem an den Geliebten und der flammende Stahl trennte die Geschwister, denn kühn und gewandt schwang Maubridge den Säbel in seiner Rechten gegen die Herandrängenden, und die drei Diener wehrten mit allen Waffen, die in der Eile zur Hand waren, den Angriff ab und sicherten seinen Rückzug. Zwei Mal hob Gregor das Pistol und visierte nach dem Verführer, zwei Mal ließ er es sinken, denn des Mädchens Brust deckte opfernd den Geliebten.

So tobte der Kampf von Zimmer zu Zimmer, bis der hintere Ausgang des Hauses erreicht war und unter der Hand der Diener aufflog. »Hundert Pfund, wenn Ihr fünf Minuten die Tür haltet!« bot der Brite und warf sich mit seiner schönen Beute ins Freie, während die drei Engländer wie grimmige Bulldoggen sich vor den Ausgang stellten und den Gegnern das Weiße im Auge boten. Ein Schuß durch den Kopf aus Gregors Pistol streckte den einen der Diener zu Boden, den Hauswart traf ein Messerstich des Buben Mauro in die Weichen, und während der dritte Gegner dem Räuberchef einen gewaltigen Boxerstreich versetzte, der diesen fast zu Boden warf, tönte draußen bereits der Ruf des Triumphes; Welland trug das ohnmächtige Mädchen auf seinen Armen hinab zum Ufer, indes seine beiden Gefährten den zu Boden geworfenen Baronet mit Stricken zusammenschnürten. Hoch auf schlug die Flamme aus dem Landhause in den blauen Nachthimmel und beleuchtete die blutige Szene. Da eilte vollen Laufes der Bandit herbei, den Jan auf Posten gegen das Dorf gestellt hatte und verkündete das Nahen von Leuten. Im Nu waren alle an den Booten versammelt, – drei der Männer schwer verwundet, auch Jan blutete aus einem Schulterhieb, – die Boote flott gemacht und besetzt, – in der nächsten Minute stießen sie vom Ufer ab und flogen in das bergende Dunkel, während hinter ihnen drein noch ein Schuß der entflohenen Khawassen knallte und die jeden Moment sich mehrenden Gestalten am Ufer hin und her eilten.

Welland hatte das noch immer von Ohnmacht umfangene Mädchen dem Freunde auf den Schoß gelegt und arbeitete rüstig mit zwei Rudern. In der Spitze des Kahnes stand Jan, um die Bewegungen zu lenken, damit sie nicht zu nahe der Felucke kommen mochten. In der Tat war hier alles wach geworden von dem wiederholten Schießen und dem Brande, der mächtige Rauchwolken in die Morgenluft emporqualmte. Man rief sie an, aber der Räuber antwortete gewandt, daß sie vor dem Angriff flüchteten, und bald waren sie außer Schußweite. Im Hauch der frischen Seeluft kam Diona wieder zur Besinnung. Zuerst fuhr sie empor und blickte wild um sich, wie den schützenden Freund suchend, – dann, indem sie den Bruder erkannte, warf sie sich in seinen Schoß und weinte heftig. In der Nähe des Ufers trennten sich die Kähne, und während der Banditenchef das Geschwisterpaar weiter hinauf nach seinen Verstecken führte, landete der Knabe den Arzt in der Nähe der Frankenstadt und geleitete ihn dann in die noch einsamen Straßen bis zum Eingange seines Hauses. Am nächsten Abend versprach er, ihn zum Freunde zurückzuführen.


In Smyrna selbst war der Abend und ein Teil der Nacht zwar unruhig und stürmisch, aber doch ohne Gewalttat der Flüchtlinge vergangen. Der Tiger hatte noch nicht Blut geleckt. Eine Deputation an Herrn von Wexbecker, den österreichischen Konsul, war von diesem, der – nachdem die Sache einmal verfehlt angegriffen war – sich männlich und konsequent benahm, abgewiesen worden.

Die Flüchtlinge und der zahllose Janhagel von Smyrna, der sich ihnen angeschlossen, tobten durch die Frankenstadt, drohten das österreichische Konsulat zu stürmen, warfen einige Fenster ein und ließen es bei den Drohungen. Noch bis tief in die Nacht wogte die Bevölkerung auf und ab durch die Straßen. Bei der Alltäglichkeit von Feuersbrünsten in den großen türkischen Städten, wo die Regierung selbst oft ganze Quartiere abbrennen läßt, um die Bewohner zum zweckmäßigen Neubau zu zwingen, war der Brand jenseits des Golfs zwar bemerkt worden, aber niemand achtete darauf, noch weniger fiel es jemand ein, Hilfe dahin zu bringen.

Am nächsten Morgen – Welland hatte nach der Erregung der Nacht bis in den Vormittag hinein geschlafen – begab er sich sofort zum amerikanischen Konsul und reklamierte der erhaltenen Weisung gemäß, Costa als amerikanischen Schutzangehörigen auf Grund eines Passes, den der Ungar von den Vereinigten Staaten erhalten haben sollte. Zu seiner Verwunderung fand der Arzt den Konsul sofort bereit, auf das Verlangen einzugehen. Es schien, als ob er bereits darauf vorbereitet gewesen, und er teilte ihm mit, daß am Morgen eine amerikanische Korvette von Konstantinopel angekommen sei und im Hafen Anker geworfen habe, ein glücklicher Zufall, der ihrer Forderung den nötigen Nachdruck geben mußte. Eine Stunde darauf trat, durch einen Boten herbeigerufen, der Kapitän der Korvette, in Begleitung eines seiner Offiziere, bei dem Konsul ein und begab sich mit demselben zu Herrn von Wexbecker, um die Reklamation einzulegen.

Der österreichische General-Konsul empfing sie zuvorkommend, und obgleich er die Begründung der Ansprüche bezweifelte, erklärte er sich bereit, die Amerikaner an Bord des »Hussar« zu begleiten, um durch eine eigene Unterredung mit Costa ihnen genauere Informationen zu verschaffen. Welland erwartete in aufregender Spannung im Konsulatsgebäude ihre Rückkehr, und als er endlich das Boot von der Brigg wieder abstoßen, zur Korvette rudern und dann zum Lande zurückkehren sah, eilte er ihm auf die Marina entgegen. Der amerikanische Konsul brachte jedoch schlechte Nachrichten. Costa hatte trotzig sich als Ungar erklärt und zwar ausgeführt, daß er sich einige Zeit in Amerika aufgehalten und von dort nach Smyrna gekommen sei, aber über seine Schutzangehörigkeit oder das Vorhandensein eines Passes keine einigermaßen zum weiteren Einschreiten berechtigende Angaben machen können. Unter diesen Umständen hatten die Amerikaner von der Reklamation Abstand nehmen und den Ungar seinem Schicksal überlassen müssen, das er übrigens mit ungebeugtem Sinne trug. – Welland war sehr bestürzt über die Nachricht; der Konsul jedoch führte ihn bei Seite und versicherte ihm, daß in der Angelegenheit noch nichts verloren sei, da Herr von Wexbecker sich weiter bereit erklärt hatte, vor der Abführung Costas mit dem nächsten Lloyddampfer nach Triest erst die weiteren Entscheidungen der beiden Gesandtschaften in Konstantinopel abwarten zu wollen, an die sofort die nötigen Berichte gesendet werden sollten. Der amerikanische Kapitän war bereits angewiesen, sich jeder früheren Wegführung des Gefangenen nötigenfalls mit Gewalt zu widersetzen. Für das Weitere, meinte mit schlauem Lächeln der Amerikaner, werde man schon in Konstantinopel sorgen. Beruhigt schied Welland von ihm und wandte sich wieder zur Marina, um den Freunden Costas diese tröstliche Nachricht mitzuteilen, denn rasch hatte sich die Kunde von der verweigerten Auslieferung in der Stadt verbreitet.

Eine Zeitung zur Hand nehmend, setzte er sich am Eingang des englischen Cafés (Café Paulo) nieder.

Es war der Abend des 23. Juni. Das Belvedere des Kaffeehauses begann sich nach und nach mit Fremden und Einheimischen zu füllen. Bald darauf traten Arm in Arm zwei junge Offiziere von der österreichischen Brigg auf den offenen Raum, ließen sich an dem zweiten Tisch von Welland nieder und forderten Eis und Limonade. Es waren der Schiffs-Leutnant von Auerhammer und der Marine-Aspirant Baron von Hackelberg, der einzige Sohn des Feldmarschalls dieses Namens. In dem Zweiten erkannte Welland den Offizier, der am Morgen seiner Ankunft zum Egytto gekommen und das Boot der Italiener zurückgewiesen hatte. – Die beiden jungen Leute, keck die allgemeine Mißstimmung herausfordernd, lachten und scherzten ziemlich laut und hatten, wie man später erfuhr, schon während des ganzen Morgens sich auffallend in den Straßen Smyrnas umhergetrieben.

Viele Blicke ruhten mißbilligend oder ängstlich auf ihnen, dennoch ahnte niemand die schreckliche Katastrophe, die folgen sollte.

Auch Welland hatte mit einer gewissen Unbehaglichkeit und Besorgnis die kecke Haltung der beiden hübschen jungen Männer bemerkt, und dies um so mehr, als kurz nach ihrem Erscheinen sein Wiener Reisegefährte sich für einige Augenblicke einfand, heimlich mit den beiden Offizieren sprach, und einzelne auf ihn fallende Blicke zeigten, daß von ihm die Rede sei. Er wollte, um dem widrigen Eindruck zu entgehen, sich eben entfernen, als mit Lärmen und Geräusch, offenbar sehr erregt, eine neue Gesellschaft den Platz betrat und am Tische neben Welland, gegenüber dem der Offiziere, Platz nahm. Es waren Fumagalli, der Ungar Bassitsch, dessen Hand fortwährend in der Brusttasche spielte, Lepicq, ein französischer Fechtmeister, zwei andere lombardische Flüchtlinge, Budoli und Cugini, und der Pole Sczukowski. Aller Blicke hafteten sogleich auf den beiden Oesterreichern, und Fumagalli lachte wild auf, indem er Bassitsch auf die Schultern schlug und offen auf den Baron wies. » Per bacco amico, da haben wir unsere Vöglein von vorgestern! Jetzt kann ich Revanche nehmen!«

Die Offiziere hatten Besonnenheit genug, die offenbare Beleidigung nicht zu bemerken und unterhielten sich leise, während die Angekommenen ringsumher die Stühle besetzten, so daß kein Ausgang blieb, und Welland rasch zu dem in der Nähe befindlichen Wirt des Cafes, Signor Paulo, trat und ihm einige Worte zuflüsterte.

»Bassa manelka!« fluchte Bassitsch. »Grogk hierher! Rasch!«

Der Arzt aber nahte sich der Gesellschaft und suchte durch ein geschicktes Manöver die Mitte zwischen den beiden Tischen zu decken.

»Zum Teufel, Doktor,« schnob der ersichtlich schon angetrunkene Ungar, »gehen Sie mir da aus dem Wege, Sie genieren mich im Anblick der verfluchten Röcke, die wir an der Theiß und Donau manch' liebes Mal geklopft haben. Eljen Kossuth! Und der Teufel hole die deutschen Tyrannenknechte!«

Der Wirt, der das Verlangte gebracht, war am Tische der beiden Marine-Offiziere vorübergegangen, und sich dort ein Geschäft machend, flüsterte er ihnen zu:

»Meine Herren, ich rate Ihnen dringend, sich zu entfernen, es ist hier nicht geheuer für Sie, und ich stehe für Nichts.«

Eine kurze und leise Beratung zwischen den jungen Leuten folgte, dann standen Beide rasch auf und versuchten fortzugehen. Welland hatte in diesem Augenblick ihnen den Rücken zugekehrt und war bemüht, Bassitsch, der ihm der gefährlichste schien, zu beschäftigen. Er gewahrte deshalb nicht, wie das schwarze Auge des Italieners Fumagalli jeder Bewegung des Aspiranten folgte, gleich dem Blick der Schlange, mit dem sie die ängstlichen Windungen ihres Opfers belauert. Fumagalli hielt den Fuß weit vorgestreckt, sodaß er damit den Ausgang zwischen den Stühlen versperrte. Der Baron von Hackelberg war voran; obschon er die offenbare Herausforderung des Lombarden erkannte, hatte er Geistesgegenwart genug, seine Ruhe zu bewahren, faßte mit der linken Hand an die Mütze und sagte höflich:

»Signor, erlauben Sie, daß wir passieren!«

»Zur Hölle!« gellte die Stimme des Lombarden, der wie ein Raubtier hervorsprang und sich auf sein Opfer warf.

Einen Blitz sahen die Umsitzenden zucken und sich zwei Mal in die linke Brust des jungen Mannes vergraben. Der Baron taumelte, wie von dem Stoß außer Haltung gebracht, zurück an das Geländer, dann faßte er es mit beiden Händen, stieß einen einzigen lauten, kreischenden Schrei aus und schwang sich mit krampfhaftem Sprung hinüber ins Wasser, das ihn spurlos verschlang.

Zugleich waren die umsitzenden Flüchtlinge, als hätten sie auf das Mordsignal gewartet, aufgesprungen und stürzten sich mit ihren schweren Stöcken und Dolchen auf den Leutnant von Auerhammer, ehe dieser noch im Stande war, sein Seitengewehr zu ziehen. Mehrere Hiebe über den Kopf warfen ihn zu Boden, drei Dolchstöße verwundeten ihn, zum Glück nur leicht. Wie ein Rasender rang Bassitsch mit dem deutschen Arzt, der, im Innersten empört, um Hülfe gegen die Mörder rief. Zweimal rang der Ungar die Rechte los und schoß jedes Mal ein Pistol gegen den schon am Boden liegenden Offizier ab, zu dessen Beistand jetzt einige Cafégäste herbeigeeilt waren, die mit erhobenen Stühlen die wütenden Mörder zurücktrieben. Aber die Bemühungen Welland's machten den Schuß unsicher, und nur die zweite Kugel streifte leicht den Verwundeten.

»Zum Teufel mit Euch!« tobte Bassitsch; »Ihr seid auch ein deutscher Verräter, der unsere Feinde schützt!«

»Seid Ihr toll, Signor Dottore?« knirschte Fumagalli und riß den Arzt zurück. »Wer ein Freund der Freiheit ist, steht zu uns, nicht zu jenen!«

Welland stieß ihn von sich.

»Meuchelmörder! Wenn das Euer Kampf für die Freiheit ist, wünschte ich, Euch nie gesehen zu haben. Fliehet, da es noch Zeit ist!«

In der Tat drängte eine immer größere Menge herbei; die blutige Tat hatte das bessere Gefühl des Publikums wachgerufen, und Drohungen gegen die Mörder ließen sich hören. Vor der Überzahl zogen sich diese zurück und, die blutigen Waffen schwingend, jubelnd über die gräßliche Tat, zerstreuten sie sich auf der Marina, während Welland und zwei Smyrnaer Kaufleute den Verwundeten rasch in eine Barke trugen und hinaus ins Meer rudern ließen, um ihn so vor einem neuen Angriff zu retten. Hier auf der See verband der Arzt die Wunden des Offiziers und brachte ihn aus der Ohnmacht zum Leben zurück. Dankbar drückte der junge Mann ihm die Hand und wurde dann von den Kaufleuten zugleich mit der Kunde des Mordes nach dem Schiffe gebracht, indeß Welland in einem anderen Nachen nach dem Ufer zurückkehrte. Dort hatten unterdeß die Nachsuchungen nach der Leiche des jungen Barons von Hackelberg begonnen. Der österreichische General-Konsul mit den Khawassen des Konsulats und der gesamten bewaffneten Dienerschaft war herbeigeeilt; bald darauf trat ein Boot mit Marinesoldaten vom »Hussar« ein und die Nachforschungen nach dem Unglücklichen dauerten bis spät in die Nacht, aber erfolglos.

Erst am andern Mittag gelang es, seine Leiche zu finden. Sie lag genau auf demselben Fleck auf dem Meeresgrunde, an dem er sich im Todeskampfe ins Wasser geworfen, mit den Händen fest an die Steine des Grundes geklammert. Der zweite Stich des Mörders hatte das Herz durchschnitten.

Zwei Tage darauf wurde die Leiche beerdigt; die Mannschaft der Brigg und das Personal des österreichischen General-Konsulats folgten. Von den anderen Konsuln, denen allen Anzeige und Einladung zugegangen war, hatten nur der sardinische und der preußische, letzterer aus einer jüdischen Familie stammend und in den Jahren 1849 und 50 ein gewandter Agent des Minister-Präsidenten, Mut und Ehre genug, zu folgen.

Am Abend des Mordes und während der nächsten Tage durchzogen die Banden der Flüchtlinge triumphierend und herausfordernd die Straßen in der Nähe des österreichischen Konsulats und drohten dies zu bestürmen, so daß ein Kommando der Marinemannschaft darin Posten nehmen mußte.

Als Welland, ans Ufer zurückgekehrt, nach der nahen Behausung eilte, fand er dort bereits den Knaben Mauro seiner harren, und eilig trat er mit ihm den Weg zu dem Freunde nach dem Versteck des Räubers an. Er begann zu begreifen, daß auf diesem Boden und in diesem Kampf der entfesselten Leidenschaften das Leben des Einzelnen ein wertloses, kaum beachtetes Ding sei, daß nicht das Gesetz, sondern die eigene Kraft schützen müsse. Unter banger Besorgnis, auch dort, wohin er ging, Schlimmes zu finden, nahete er durch die Zypressen der Friedhöfe den mächtigen, aus den Schatten des Abends sich erhebenden Ruinen.


Der Doppelgänger.

In den glänzenden Salons der Fürstin Lieven, dieses weiblichen Tayllerands der letzten Jahre, in der Straße Saint Florentin 2, bewegte sich die glänzende Versammlung in jener ungenierten Weise der höchsten Circles von Paris. Es war allgemeiner Empfangsabend, und was die Weltstadt an Notabilitäten der Administration und Diplomatie, der Kunst der Wissenschaft und der Börse bot, begegnete sich auf diesem Parkett mit den Helden der Mode. Die Salons der Fürstin hatten in dieser Zeit ihre wichtigste politische Bedeutung; denn alle Parteien fühlten sich hier gewissermaßen auf neutralem Felde, und bei der immer ernster sich gestaltenden Spannung zwischen den Höfen von Frankreich, England und Rußland bot sich hier eine Gelegenheit zu Besprechungen und Verhandlungen, die weniger für den offiziellen diplomatischen Verkehr geeignet, doch oft von tief einschneidender und weithin tragender Wichtigkeit waren. Die Fürstin, ganz geschaffen für die politische Intrigue, wußte mit dem ihr eigenen Takt die feindlichen Parteien zu beschäftigen und aus all' dem bunten und wechselnden Verkehr ihre Vorteile zu ziehen.

In einem mit grünem Damast ausgeschlagenen, nur durch die erhobene Portiere von diesem getrennten Nebenkabinett des großen Salons, in dem getanzt wurde, saßen auf einer üppigen Causseuse zwei Männer.

Der um einige Jahre Ältere von den beiden, der etwa sechs- bis achtundzwanzig Jahre alt war, trug die prächtig-phantastische Uniform eines Kapitäns der Garde-Zuaven, jenes Elitekorps aus den gewandtesten und verwegensten Kriegern Algeriens.

Sein Gesicht war das männlich-schöne, mutige eines echten französischen Soldaten, mit aristokratischen Zügen. Auf der breiten Brust mit der silbergestickten blauen Jacke prangte das Ritterkreuz der Ehrenlegion.

Neben ihm, mit dem Lorgnon im Auge, saß einer jener hocharistokratischen Flaneurs, denen ihr vornehmer Name und ihre elegante Toilette, trotz ihrer ruinierten Verhältnisse überall Eintritt verschafft, ja, die mit einer scharfen und witzigen Zunge begabt, als Chronik des Tages überall willkommen oder gefürchtet sind. Am Spieltisch ebenso zu Hause wie im Boudoir der Damen, an der Tafel des Ministers wie in den galanten Soireen der Demimonde, leben diese Männer ein Leben des Genusses, das entweder an einem Degenstich im Gehölz von Boulogne oder an einer Pistolenkugel endet, die falsche Wechsel und den Arrestbrief des Gläubigers quittiert. Zuweilen auch, denn mit dem alten Namen voll legitimistischer Bedeutung verbindet sich oft Talent, Geist und Herz, reißt ein unerwarteter Schlag sie aus diesem Leben luxuriösen Müßigganges und wirft sie in eine Bahn, wo alle Eigenschaften des glänzenden französischen Geistes sich ehrenvoll entwickeln.

Alfred de Sazé, einer der Modekönige des Tages gehörte zu den Leuten, denen es nicht an diesen höheren und besseren Eigenschaften fehlte, die aber nur wie Lichtblicke auftauchten aus dem tötenden Firniß seiner modernen Erziehung.

Am anderen Ende der Causseuse, auf einen Sessel gestützt, lehnte ein noch sehr junger Mann in russischer Uniform, dessen eigentümlicher, wunderschön geformter Kopf sofort auffiel. Sein Auge streifte unruhig und zerstreut umher und er schien nur hin und wieder auf die pikanten Plaudereien seines Nachbars zu hören. Braunes Haar in wirren Locken umgab sein Gesicht, das eine schöne, leichte Beugung der Nase zeigte, während dunkle, hochgezogene Brauen das glänzende Auge einrahmten. Die eigentümlichste Schönheit dieses Gesichts bildeten jedoch Mund und Kinn. Das Gesicht, von jenem durchsichtig roten Teint gefärbt, den man Blutteint zu nennen pflegt und der zum Beispiel in jüngeren Jahren das ähnliche Antlitz der Königin Viktoria auszeichnete, war zu auffallend, um je wieder vergessen zu werden und erinnerte bei dem Mangel jeden Bartes zugleich an das Aussehen stolzer Frauenschönheiten.

»Sie sind aber auch der aufmerksamste Zuhörer, den man sich denken kann, Fürst,« sagte lachend der Lion zu dem eben beschriebenen jungen Mann. »Seit einer halben Stunde bin ich bemüht, mit einem Pinsel, der dreist mit Hogart oder Cruickshank wetteifern kann, Ihnen die Silhouetten der werten Gäste Ihrer noch wertern Frau Tante zu geben. Was ich Ihnen da erzähle, würde das Glück eines Memoirenschreibers machen und von unseren Feuilletonisten verschlungen werden, aber Sie sind und bleiben zerstreut und scheinen selbst den Vicomte angesteckt zu haben. Er betrachtet Sie mit Blicken, als wären Sie die Fürstin, Ihre schöne Schwester, der er bekanntlich stark den Hof macht, und die sich eben, wie ich sehe vom Oberst Wassilkowitsch zum Contredanz führen läßt.«

Er unterbrach sich lachend und sah die beiden Nachbarn neckend an.

»Ah, meine Herren, hab' ich endlich den rechten Punkt getroffen? – Sie sind ja beide ganz rot und erregt. Wäre es wahr, Fürst, daß Sie eifersüchtig sind auf Ihre Schwester wie ein Türke? und Sie, Méricourt, kann dies starre, lauernde Gesicht, das ich, valga me Dios! wahrhaftig auch nicht liebe, einen berühmten Krieger, wie Sie, so leicht in Harnisch bringen?«

Der Kapitän legte ihm die Hand auf den Arm. »Keine Scherze, de Sazé,« sagte er ernst, »der Gegenstand ist zu hoch dazu.«

»Bon! So wende ich mich zu einem geeigneteren Bilde. Sehen Sie, Fürst, dort jene lange, hagere Gestalt mit der hohen, fabelhaft weißen Krawatte? Daß es einer unserer neuen Herzensalliierten ist, ein Exemplar, das uns Azincourt und Waterloo, Malplaquet und St. Helena vergessen machen soll, brauche ich nicht erst zu sagen. Man wittert den reisenden Briten auf hundert Schritt. Der Mann – Lord Sherkliffe, Parlamentsmitglied und Besitzer einiger solider Grafschaften – macht jetzt Aufsehen in unserer guten Stadt Paris, und wenn er das glattrasierte Kinn in die Loge der italienischen Oper steckt, wenden alle Damen die Gläser nach ihm. Wissen Sie, warum? Er ist ein Othello ganz neuer Art. Lord Sherkliffe ist einer der ersten Gemäldekenner unserer Zeit und beschäftigte vor etwa fünf Jahren einen jungen Maler in Rom, einen Italiener, der bereits durch seine Bilder auf allen Ausstellungen einen bedeutenden Namen erworben hatte. Der gute Lord besaß neben seinen Millionen eine blonde Lady, der aber der römische Künstler besser gefiel als der langweilige Bildernarr, ihr Gemahl. Erst nach mehreren Monaten überzeugte sich dieser, daß er auch hier den Narren gespielt, empfahl sich höflich seinem Protegé, dem Maler, und reiste mit der verliebten Dame nach Hause, wo er sie manierlich ihren Eltern ablieferte, nachdem er ihr die in Rom gemachte Entdeckung mitgeteilt. Dann ging er auf Reisen und besuchte Deutschland, Rußland, Italien, und sammelte überall zu enormen Preisen Gemälde. Mit einem ganzen Wagen voll kam er nach Rom, besuchte seinen alten Freund und kaufte ihm die neuesten Werke seines Pinsels ab. Kaum war er im Besitz derselben, so verlangte er Genugtuung für seine Hahnreischaft und forderte den Erstaunten auf Pistolen. Man schlug sich, und mit dem ersten Schuß lähmte der Engländer dem Künstler den linken Arm. Nach einem halben Jahre kam er wieder und bestand auf einem zweiten Duell. Der Künstler mußte sich fügen und die Kugel des beleidigten Eheherrn traf sein rechtes Handgelenk, so daß die Hand amputiert werden mußte. Als die Kur glücklich vorüber war, erschien der Lord am Krankenlager seines Feindes und sagte ihm gelassen: »Ich habe jetzt meine Rache befriedigt. Sie sind als Künstler zu einem lebendigen Tode verdammt.« – »Sie irren sich,« entgegnete der Unglückliche; »meine Werke werden Ihre Bosheit überleben. Den Ruhm meiner Madonna in Paris, meiner Auferstehung in der Gallerie von Petersburg und zahlreicher anderer Werke vermögen Sie nicht zu vernichten. Ich kann nicht mehr malen, aber meine Bilder werden meinen Namen lebendig erhalten.« – Der Lord zeigte ihm ein Papier. »Ist diese Liste Ihrer Bilder vollständig?« – Mit Staunen bejahte der Künstler. – »So bin ich im Besitz aller Ihrer Werke, selbst die Skizzen habe ich nicht vergessen. Es hat mir viel Mühe gemacht und viel Geld gekostet, aber ich habe meinen Zweck erreicht. Wollen Sie mich nach Hause begleiten, um sich zu überzeugen? Mein Wagen wartet.« – Der Unglückliche begriff und bat um Gnade. – »Sie haben meinen ehelichen Frieden gestört, ich vernichte den Ihren,« sagte der Sherkliffe eisig. »Sie sollen das Gefühl mit sich herumschleppen, daß keine Spur Ihres Namens und Ihres Talentes auf der Welt zurückbleibt.« – Nach einer Stunde brachte ein Diener dem Verstümmelten eine große Urne voll Asche, sie enthielt alles, was von seinen Werken auf der Welt übrig war.«

»Das ist teuflisch!« rief der Kapitän.

»Ein Mann, der zu hassen und zu lieben versteht!« versetzte der junge Russe.

»Halt, mein Fürst,« plauderte Sazé weiter, »das verstehen wir wahrhaftig auch, nur auf andere Weise. Sehen Sie dort Marschall St. Arnaud? Die Fama bezeichnet ihn bereits als Kommandeur en chef, wenn Ihre Majestät unsern kleinen Neffen des großen Onkels im Invalidendom zum Äußersten zwingt. Der liebe Marschall scheint eine neue Intrigue des Prinzen zu wittern, der gern für seine Reputation einige notwendige erste Lorbeeren pflücken möchte, und hofft ihr hier auf die Spur zu kommen. Wissen Sie, daß dieser unser lieber General vor kaum Jahresfrist seinem Busenfreund den Säbel durch den Leib gestoßen hat, bloß weil dieser ihn bei seiner Frau in zarter Situation getroffen und aus dem Hause geworfen hatte?«

Méricourt lachte.

»Sie sind die boshafteste Zunge, die mir noch vorgekommen, Sazé,« sagte er. »Ich darf die Ehre der Armee durch Sie nicht so gefährden lassen.«

»Eh bien! mein lieber Vicomte, ich bin nicht schwierig. Gehen wir von der Armee zur Diplomatie über. Unser getreuer Verehrer der Rachel ist freilich nicht hier und intriguiert jenseits des Kanals, aber ich kann Ihnen Ersatz geben. Sehen Sie da den Herrn, der eben mit Persigny spricht, Oberst Fleury geht gerade an ihm vorüber. Nun wohl! Der liebe Graf hat kürzlich sein diplomatisches Probestück abgelegt und wird sicher Carriére machen. Sie kennen Madame Fontaille, unsre allerliebste Soubrette? Nicht? Auch gut; sie ist die Schönheit des Tages und unsere Börsenkönige ruinieren sich um sie. Der Graf ließ sich ihr im Zwischenakt vorstellen und bat um Erlaubnis, am nächsten Abend eine Tasse Thee bei ihr tête à tête trinken zu dürfen. Madame antwortete ungeniert: »Ich nehme zu einer Tasse Thee ein Pfund Zucker, aber von dem, der zehntausend Francs das Pfund kostet. So teuren Zucker möchte ich Ihnen freilich nicht umsonst geben und mir doch auch nicht von Ihnen bezahlen lassen. Mir fällt ein Ausweg bei! Bringen Sie zehntausend Francs in Banknoten mit und wir werden mit diesen die Flamme unter dem Teekessel heizen. Dann beweisen wir beide gleiche Uneigennützigkeit.« – Der angehende Diplomat findet im Augenblicke keinen passenden Rückzug und sagt zu, erzählt aber die Sache einigen Freunden, die diesen Thee allzu gezuckert finden. Ich selbst sagte ihm: Madame die zehntausend Francs geben – es ist teuer, aber es passiert! – sie verbrennen, das wäre Tollheit! Sie richten damit Ihre Carriere zu Grunde, denn kein Minister des Äußern wird einen Narren zum Ambassadeur machen! – Am andern Abend begab sich der liebe Graf mit dem Päckchen wohlgezählter Banknoten richtig zu der Schauspielerin. Man plaudert und erwartet den Thee. »Sie bestehen also auf dem Autodafé?« – »Gewiß, und hier sind die Bankbillets.« – Der Graf übergibt ihr zehn echte Billets zu tausend Francs. Madame griff fieberhaft darnach. »Nicht wahr, es ist doch schade darum?« – »Ei, so verbrennen Sie sie nicht.« – »Nein, es ist ausgemacht, wir bleiben bei unserm Programm!« und sie legt das Päckchen auf einen Tisch, der mit hunderterlei Nippsachen bedeckt ist. Der künftige Vertreter des Kaiserreiches spielt plaudernd mit diesen Kleinigkeiten, nimmt Eins und das Andere in die Hand, und im Augenblick, als man den Thee bringt, ist die Escamotage, oder Prestidigitation, wie Houdin sagt, geschickt ausgeführt. Die Flamme des Weingeistes leckt mit ihrer blauen Zunge nach dem versprochenen Opfer; Madame ist äußerst erregt und lebendig, tanzt von einem Orte zum andern, erfaßt endlich das Päckchen, schwingt sich im Kreise umher, vertauscht es, und im Hui wirft sie das andere in die Flamme, die sogleich die leichten Blätter verzehrt; das Pseudopäckchen aber ist geschickt in einer vorsichtig zwischen Blumen zurecht gestellten Vase verschwunden. – Kaum hörte sie nach Mitternacht den Wagen des Glücklichen fortrollen, so eilt sie zu dem Versteck, das die geretteten zehntausende Francs bergen soll, und zieht hervor – ein Päckchen jener den Banknoten so zierlich nachgeahmten Adreßkarten! – Es heißt, die Dame habe bittere Rache geschworen, Monsieur le Comte aber ist, wie Sie sehen, auf dem besten Wege.«

Méricourt und Fürst Iwan lachten.

»Der Graf ist kein Gentleman,« sagte der Letztere. »Man täuscht ein Weib nicht um solche Bagatelle.«

»Pah! Bagatelle!« entgegnete lustig Sazé. »Das mag Fürst Oczakoff sagen, der seine Silber- und Goldminen im Ural besitzt und auf seinen Steppenländern die Bauern nach Tausenden zählt, aber nicht wir Franzosen, die höchstens im Börsenspiel noch Millionäre werden können. Doch da ist die Quadrille zu Ende, lassen Sie uns näher treten.«

Die drei jungen Männer erhoben sich und traten an den Eingangsbogen zum Salon, durch den eben eine Dame am Arm ihres Tänzers hereinrauschte. Es war die Fürstin Iwanowna Oczakoff, die Zwillingsschwester des vorhin Beschriebenen. Das Spiel der Natur hatte eine wahrhaft fabelhafte Ähnlichkeit zwischen beiden Geschwistern erzeugt. Nicht nur Wuchs und Gesicht, selbst Stimme und Mienenspiel waren an den beiden zusammen erzogenen schönen Erscheinungen ganz dasselbe, ja, man versicherte, daß diese Ähnlichkeit sich auf die kleinsten Details des Lebens, bis auf die Handschrift ausdehnte. Nur ein zarter Alt-Accord unterschied die Stimme, das lange üppige Lockenhaar, auf dem ein goldgestickter smyrniotischer Fez schwebte, den Kopf der jungen Fürstin von dem ihres Bruders. In den Augen der Dame lag der ganze tatkräftige und dennoch hingebende Charakter ihres Bruders. Eine köstliche Robe von grünem Moirée hob die volle Gestalt der nordischen Schönheit, die seit vier Monaten die junge Aristokratie von Paris zu ihren Füßen sah.

Es war in der Tat wohltuend, in dieser kalten, pikanten Modewelt, in diesen Wogen herzloser Berechnung, politischer Intrigue und ehrgeiziger Gedanken, die aufrichtige Liebe und Herzlichkeit zu sehen, mit welcher das junge Mädchen, den Arm ihres Begleiters verlassend, auf den vielgeliebten Bruder zueilte.

»Warum nicht beim Tanz, Iwan?« fragte sie zärtlich. »Sie machen sich eines Vergehens schuldig, meine Herren, indem Sie meinen Bruder von einem Vergnügen abhalten, das er sonst leidenschaftlich liebte. Aber freilich, seit einiger Zeit scheint er für alles Vergnügen ganz verloren, und ich weiß wirklich nicht, ob die hohe Politik oder welcher Dämon sonst ihn mir ganz verwandelt hat.«

»Apoll und Diana müssen doch durch etwas unterschieden sein, gnädigste Fürstin,« sagte Sazé galant; »aber Sie haben Recht, auch mir ist heute seine Zerstreutheit aufgefallen. Wenn man die Königin der Schönheit als Schwester besitzt, so hat man nicht das Recht, sich selbst und seinen Launen anzugehören.«

»Marquis, Sie sind und bleiben der unnütze Schwätzer. Aber meine schwesterliche Liebe scheint Sie alle in einer interessanten Unterhaltung gestört zu haben, denn auch der Herr Kapitän spielt den Ernsten und ist noch nicht einmal so galant, mich an das Versprechen zu erinnern, das ich ihm gegeben.«

Der Offizier blickte sie an; ein rascher verstohlener Wink des Auges bedeutete ihn und er entgegnete mit einer Verbeugung:

» Ma princesse tun mir Unrecht. Sie wissen, daß Sie keinen aufmerksameren Sklaven als mich haben.«

Iwanowna, den Arm in den ihres Bruders geschlungen, der mit ihrem Begleiter sprach, lächelte schelmisch.

»Ich will es für diesmal glauben, obschon der tapfere Zuavenführer und Löwentöter sich den Rang von einem nordischen Barbaren, wie Ihr Frankreich uns zu nennen beliebt hat ablaufen lassen. Aber ich übe Großmut und habe den nächsten Tanz für Sie aufbewahrt, wenn nicht Iwan etwa sein Vorrecht geltend machen will.«

»Ich tanze heute nicht, Iwanuschka,« sagte der Bruder zärtlich, »Du mußt mich dispensieren.«

»Da sehen Sie, tut der leidige jüngste Attaché nicht wirklich, als hätte er das Gleichgewicht Europas auf seinen zwanzigjährigen Schultern zu tragen? – Doch à propos, meine Herren, kann mir einer von Ihnen Auskunft geben, wer der würdige Palikare ist, der heute im Salon meiner werten Tante Aufsehn macht?«

»Wenn Sie als Belohnung Ihrem untertänigsten Verehrer die Quadrille nach meinem Freunde Méricourt versprechen wollen, Fürstin,« meinte Sazé, »so verrate ich Ihnen das diplomatische Geheimnis seiner Vergangenheit.«

»Geschwind, geschwind! Sie sehen ja, ich sterbe vor Neugier.«

»Bemerken Sie wohl, gnädigste Fürstin,« plauderte der junge Mann, »daß Kommandant Kalergis den Fez sorgfältig über das linke Ohr gezogen und deshalb trotz seiner französischen Sympathien das griechische Kostüm trägt. Seine jetzigen Alliierten, die Türken, schnitten ihm das Ohr ab, als er den Toten spielte nach der Schlacht am Pyräus, und das übrig gebliebene kostete ihn 20 000 Piaster Lösegeld, die er durch verschiedene Münzsorten wieder einbrachte. Denn schon im Jahre 1843, als Herr Kalergis von der Emeute des 15. September nach Hause zurückkehrte, hatte sich die russische Gesinnung, mit der er das Haus Ihres Gesandten Katakasi verließ, in eine englische verwandelt. Er hatte wohl begriffen, daß er seine Rolle schlecht gespielt; der Zweck der Emeute gegen König Otto war verfehlt; die Rubel waren eingesteckt, es handelte sich jetzt darum, sich für englische Pfunde zu verkaufen. Großbritannien machte ihn zum Militär-Ober-Kommandanten von Athen, aber der 4. August jagte ihn schmachvoll davon. Als der Lord-Ober-Kommissar ihm später den kleinen Vorschuß von 10 000 Talern nicht bewilligen wollte, um Coletti's Regierung zu stürzen, warf er sich Frankreich in die Arme. Man sagt, daß der Kaiser große Pläne mit ihm vorhat. Gegenwärtig hat er seinen Sohn hierher gebracht, den der Kaiser auf seine Kosten erziehen läßt.«

»Ein echter Grieche, feil jedem Gebot!« sagte Méricourt.

»Entschuldigen Sie, Kapitän,« bemerkte Wassilkowitsch, »Herr Kalergis ist ein Landsmann unserer schönen Freundin. Er ist Russe von Geburt, aus Taganrog, wo seine Mutter noch lebt. Seine erste Erziehung erhielt er in Petersburg, wo ihm noch reiche Verwandte, teils als Kaufleute, teils im kaiserlichen Dienste, wohnen. Erst im Jahre 1821, beim Ausbruch der Erhebung, kam er nach Griechenland.«

»Also politischer Marodeur; jedenfalls verspricht der Charakter noch viel für die Zukunft.«

»Und der Herr im Fez mit dem großen Stern des Christusordens auf der Brust, mit dem Herr Kalergis eben spricht, wer ist das?«

»O, Sie irren, mein Lieber,« sagte Sazé; »das ist nicht der Christusorden, sondern ein unbekanntes Gestirn aus dem Firmament von Tausend und einer Nacht. Haben Sie denn aus unserm Konstitutionnel noch nicht von Leo, dem Prinzen von Armenien, dem von Rußland schnöde beraubten Thronerben des halben Vorder-Asiens, gehört? – Da sehen Sie die mysteriöse Person in natura vor sich. Der Prinz von Korikos, défenseur de l'Eglise d'Orient, wie er sich in den Journalen nennen läßt, hat kürzlich in London eine skandalöse Affaire gehabt, und die Rücksichtslosigkeit der Queens-Bench hat ihn bewogen, London mit seiner Abreise zu strafen. Ich weiß wirklich nicht, – wenn es nicht Herr Kalergis sein sollte, – wer die Unverschämtheit gehabt haben kann, diesen Herrn hier im Salon Ihrer Fürstin Tante vorzustellen, nachdem er so offenkundig etwas starke Proklamationen gegen Ihren Zaren und Ihre Regierung durch alle Welt verbreitet hat.«

Die ersten Streiche des Orchesters erklangen und machten dem Gespräch ein Ende; Méricourt bot der schönen Fürstin den Arm, sie in den Salon zu führen, während Sazé forteilte, noch eine Tänzerin in dem Kreis der Damen zu finden. Fürst Iwan und der Oberst blieben zurück.

Der Letztere war eine jener hageren Gestalten, die eben durch ihre Magerkeit groß erscheinen. Er zählte einige vierzig Jahre, sah aber wie ein Fünfziger aus; spärlicher, gefärbter Haarwuchs über der hoch-kahlen Stirn, ein graues, oft ins Grünliche spielendes Auge und ein aufgeworfener Mund über massivem, glänzendem Gebiß, machten den Eindruck lauernder Ruhe bei einem brutal-sinnlichen Charakter. Die Uniform war mit Orden beladen, da Graf Wassilkowitsch, zugleich durch Reichtum ausgezeichnet, zu verschiedenen politischen Missionen gebraucht worden. Er war einer der Begleiter des Fürsten Woronzoff, der in dieser Zeit – im letzten Stadium vor dem Ausbruch des Zwiespalts – nach Paris gekommen war.

Die beiden Russen standen am Eingang des Salons und schauten der Quadrille zu, beide dasselbe Paar, wiewohl mit sehr verschiedenen Blicken und Gefühlen verfolgend. Während Iwan träumerisch an der graziösen Schönheit der Schwester sich weidete, hing das Auge des Obersten verzehrend an der üppig-schönen Gestalt und wurde zum kalten Giftstrahl, wenn es sich auf ihren Tänzer wandte und die lebhafte Unterhaltung beobachtete, die beide pflogen. Endlich kehrte er sich zu seinem Gefährten und sagte mit jener Höflichkeit, unter welcher oft der Hohn schlecht verborgen ist:

»Auf mein Wort, Fürst, ein herrliches Paar! Es wird den Kaiser, unsern Herrn, freuen, zu hören, daß die Fürstin Oczakoff dazu beiträgt, die Bande wieder fester zu knüpfen, deren Zerreißen uns in diesem Augenblick eben nicht ganz angenehm wäre.«

»Wie meinen Sie das, mein Herr?« fragte, sich rasch nach ihm wendend, der junge Mann.

»Ei, mein Lieber, ich meine, was die ganze Welt spricht, daß unser französischer Freund auf dem besten Wege ist, Ihren Landsleuten in der Gunst Ihrer schönen Schwester den Rang abzugewinnen, ja, man behauptet, man dürfe der französischen Kaiserstadt bereits zur Gewinnung einer unserer ersten Erbinnen gratulieren. Der Vicomte soll ein Liebling des Kaisers sein.«

»Die Hand meiner Schwester ist kein Gegenstand der Politik,« sagte kurz und rauh der Fürst. »Die Fürstin Iwanowna Oczakoff wird nie ihre Hand einem Franzosen schenken.«

Wassilkowitsch lachte.

»Da scheint sie nicht den Geschmack ihres Bruders zu teilen. Herr von Méricourt erzählt wenigstens viel von der Vergötterung, die Fürst Iwan einer interessanten Grisette des Marais zu Teil werden läßt.«

Eine dunkle Röte überflog das Gesicht des jungen Mannes, als er so plötzlich, so unerwartet sein innerstes, sorgfältig bewahrtes Geheimnis dem Spott Fremder preisgegeben sah. »Das ist erl – –« Der Fürst rekollierte sich im eisigen Blick seines Gegners. »Das ist nicht möglich! Der Vicomte ist ein Ehrenmann!«

»Das kann er immerhin sein und doch den künftigen Schwager gern vor einer Mesalliance bewahren oder wenigstens der schönen Schwester sich dienstbar zeigen wollen, die, wie man sagt, eine gewisse Herrschaft über den Zwillingsbruder ausübt, bloß weil sie die Erstgeborene ist. Doch ohne Scherz, Fürst, lassen Sie uns offen reden, ich bin Ihr Landsmann und uns verbinden gleiche Interessen gegen diese Fremden. Sie werden auf Ihren Wegen belauert.«

Der junge Mann faßte krampfhaft seinen Arm. »Beweise, Graf, Beweise!«

»Ei, die sollen sie haben! Sie erinnern sich der letzten Soiree, die Herr von Kisseleff am Dienstag dem Fürsten Woronzoff und Herrn von Persigny gab. Ich war zufällig und ungesehen Zeuge des Auftrages, den Ihre schöne Schwester an Herrn von Méricourt erteilte, Sie zu beobachten, und zu erforschen, woher seit kurzem Ihre seltsame Gemütsstimmung komme und was Ihre häufigen heimlichen Abwesenheiten zu bedeuten haben, deren Zweck Sie so sorgfältig zu verbergen suchen. Sie können denken, Fürst Iwan, daß ein so galanter Verehrer wie dieser Franzose mit Vergnügen alles versprach und Wort gehalten hat.«

»Pest!«

»Erinnern Sie sich vorgestern nicht eines Ganges durch die Rue Montmartre bis zur Ecke der Straße Saint Joseph?«

»Sie haben Recht, ich begegnete dem Vicomte und vermochte mich kaum von seiner verwünschten Höflichkeit loszumachen.«

»Nun wohl, Fürst, Herr von Méricourt kennt die elegante Einrichtung des zweiten Stockes im Hause Nr. 10 der Rue Joseph sehr wohl und weiß, wer der vornehme Fremde ist, der die hübsche, nur – wie der Vicomte sagt – allzu leichtfertige Bewohnerin unterhält und Tag und Nacht bei ihr ist. Ich hörte ihn vorhin gegen Sazé darüber spötteln, ehe Sie erschienen. Blicken Sie hin und sehen Sie, wie angelegentlich und eifrig der Franzose sich mit Ihrer schönen Schwester unterhält. Ich wette tausend Imperials, daß er eben seinen Bericht abstattet.«

Der junge Mann errötete und erbleichte abwechselnd vor innerer Aufregung. Der schöne und üppig geformte Mund zuckte. »Der Spion soll mir büßen!«

»Wissen Sie, was man sogar behauptet, Fürst? Sie sollen mit Ihrer kleinen Grisette verkleidet den bal mabille, ja sogar die grande chaumiere frequentieren und ein flotter Tänzer dort sein.«

Diesmal war der Schlag zu arg; ein dunkler Purpur überzog das schöne Gesicht des jungen Mannes und der Zorn wich der Scham; er schlug die Augen zu Boden.

»Ei was,« lachte der Oberst, »wäre es wirklich wahr, Jugend muß austoben und es wäre ein Geniestreich, in den sich kein Unberufener zu mengen hat. Kommen Sie, Iwan, die Quadrille geht zu Ende und wir würden nur mit unserer Migraine die Konversation stören.«

Er nahm ihn am Arm und führte ihn durch einen Seitenausgang in die Nebenzimmer. An einem Büffet nahmen sie Champagner und traten dann auf des Grafen Vorschlag zum Spieltisch im benachbarten Salon.

Die schöne Fürstin hatte keine Ahnung von dem Gift, das eben in des geliebten Bruders Ohr ausgegossen wurde. Dennoch bezog sich auch ihre Unterhaltung während der wechselnden Touren des Tanzes auf denselben Gegenstand. Das Verhältnis zwischen der Fürstin und dem tapferen Kapitän war ein ganz anderes, als es die giftigen Worte des Russen angedeutet. Der Vicomte gehörte allerdings zu den eifrigsten Anbetern der nordischen Schönheit und wurde durch ihre Achtung und ihr Vertrauen ausgezeichnet vor der zahlreichen Schar der Bewerber. Darauf hatte sich jedoch die Gunst der Fürstin bis jetzt beschränkt, und wenn sein dunkles auf ihr ruhendes Auge oder ein unbeachtetes, aber tiefgefühltes Wort ihr auch längst verraten hatten, daß seiner Huldigung eine wahre Liebe zugrunde liege, daß er um sie werbe als den schönsten Preis des Lebens, so hatte doch das fragende Wort noch nicht seine Lippen überschritten, kein ernsteres Zeichen ihm die ihr wohl selbst noch unklaren Gefühle ihres Herzens kund getan. Doch verstanden sich beide, wie sich kräftige und hohe Seelen immer verstehen.

»Haben Sie Gelegenheit gehabt, meine Bitte zu erfüllen, Herr von Méricourt?« fragte die Fürstin. »Sie verzeihen meiner Besorgnis, aber sie ist in den letzten Tagen nur noch vermehrt worden. Sie selbst haben gesehen, wie verändert der Fürst sich zeigt, und nur mit großer Mühe konnte ich ihn bestimmen, mich heute zu begleiten.«

»Vergeben Sie, Fürstin,« erwiderte der Offizier, »wenn ich leider noch wenig Fortschritte in Ihrem Auftrag gemacht habe. Daß es an meinem Eifer nicht gelegen, werden Sie ohne meine Versicherung wissen. Aber Ihr Bruder, sonst so offen und zugänglich, ist nicht bloß für seine liebenswürdige Schwester, sondern auch für seine aufrichtigen Freunde jetzt ein verschlossenes Buch. Vergebens machte ich ihm meinen Besuch, er war nicht zu Hause, und als ich ihm vor einigen Tagen in der Straße Montmartre zu Fuß begegnete und ihn zu einer vertraulichen Unterredung zu bewegen suchte, ließ er mich fast merken, daß ich ihm lästig sei und entfernte sich so bald als möglich von mir.«

»Und wissen Sie, wohin er ging? So viel ich gehört habe, ist der Stadtteil kein solcher, wo mein Bruder Geschäfte oder Freunde hat?«

»Das ist allerdings möglich, doch kann ich der schönen Besorgten auch darüber keine Auskunft geben, da ich natürlich mit meinen Fragen nicht indiskret sein wollte und sogleich meinen Weg fortsetzte.«

»Hegen Sie denn gar keine Vermutung, Vicomte, was diese häufige Abwesenheit, diese stets allein unternommenen Gänge zu bedeuten haben? Selbst dem treuen Wassili, der ihn von Jugend auf nie verlassen, hat er streng verboten, ihm zu folgen und ihm befohlen, mir sein Ausbleiben so viel als möglich zu verschweigen.«

Der Kapitän lächelte.

»Ich glaube, Fürstin Iwanowna hat allzu große Besorgnisse. Paris ist der Ort so mancherlei Zerstreuungen und es wäre leicht möglich, daß irgend eine Liaison das lebenswarme und empfängliche Herz des Fürsten gefesselt hätte.«

»Aber warum dann dies geheimnisvolle, ihn aufreibende Treiben? Ich bin natürlich nicht seine Gouvernante und maße mir nicht an, in das Tun Ihrer Männerwelt zu dringen. Doch wenn er der Schwester gegenüber auch schweigt, warum gegen seine Freunde? Ich habe mir sagen lassen, daß in solchen Herzensangelegenheiten die Herren nur allzu offenherzig gegen einander sind.«

»Das mag bei jenen Torheiten der Fall sein, Fürstin, welche die Modewelt galante Verbindungen nennt, aber nie bei einer ernsten und wahren Neigung des Herzens. Es sollte mir leid tun, wenn eine solche sich schon seines jungen Gemüts bemächtigt hätte, denn bei seinem energischen und feurigen Charakter würde er sich ihr mit ganzer Seele hingeben. Und wie schwer eine solche selbst das erprobte Männerherz verwunden, welche Schmerzen sie auf starke Seelen legen kann, das empfinde ich selbst zu tief, um meinen jungen Freund nicht davor bewahrt zu wünschen.«

Ein rascher und fragender Blick ihres schönen Auges traf jenes des Kapitäns, das mit Innigkeit auf dem schönen Mädchen haftete. Eine leichte Röte überflog Wangen und Stirn – – die Wogen des Tanzes unterbrachen das Gespräch.

Als der Vicomte sie zur Gruppe zurückführte, die sich um die Dame des Hauses gebildet, und de Sazé nahte, die Fürstin an ihr Versprechen zu mahnen, neigte sie sich vertraulich zu ihm und bat:

»Versuchen Sie noch einmal heute Ihr Heil bei Iwan und sorgen Sie wenigstens für seine Zerstreuung. Die Gesellschaft, in der wir ihn vorhin verlassen, – und ich sehe beide nicht mehr an dem vorigen Platz, – ist keine, die ich für ihn liebe. Gehen Sie, Vicomte, und denken Sie, daß ein Ritter der Ruhe seiner Dame alle Dienste leisten muß.«

Ein anmutiger Wink des Fächers verabschiedete ihn; er ging, den Fürsten aufzusuchen, während Iwanowna sich dem Damenkreise anschloß. – – –

Der nächste Contretanz war vorüber, am Arm ihres Tänzers, de Sazé, durchging die Fürstin den zum blühenden Garten umgewandelten Korridor, der die vorderen Salons mit dem hinteren Flügel verband. Plötzlich stockte der zierliche Fuß, kaum vermochte sie, die Hand erhebend, ihrem sie mit Galanterien überschüttenden Kavalier zuzuflüstern: »Marquis, sehen Sie – um Gottes willen, was ist vorgefallen?«

Auf sie Beide zu, durch den Eingang, welcher zum Spielzimmer führte, kam der Zuaven-Kapitän. Sein männlich schönes Antlitz war dunkel gerötet, das Auge blitzte, doch zeigte die ganze Gestalt eine ernste, ruhige Fassung. Wenige Schritte hinter ihm, aus einer Gruppe von Herren, die sich um die Tür versammelten, folgte Fürst Iwan am Arme des Obersten, der ihn fest zurückhielt. Das Gesicht des jungen Russen zeigte jene Wachsblässe, die leidenschaftliche Charaktere im Augenblicke der höchsten Erregung zu befallen pflegt. Sein Auge blickte scheu umher, offenbar war er mit sich selbst unzufrieden, wenn auch der fest gekniffene Mund seine Entschlossenheit bekundete. Nur der Oberst bewahrte seine gemessene Haltung und ein boshafter Blick leuchtete aus seinen Augen, als er die Begegnung mit der Dame bemerkte, bei der die Herren an der Tür sich sofort ins Zimmer zurückzogen.

Sazé begriff im Augenblick, daß etwas von Wichtigkeit vorgefallen und führte die Fürstin zu einem der Sitze, die unter Rosen- und Kamelienbüschen versteckt zu Lauben gestaltet waren. Der Kapitän trat auf ihn zu, und während er mit einer Verbeugung die Dame begrüßte und sein Auge sichtlich das ihre mied, das fragend und ängstlich auf ihm ruhte, sagte er mit fester Beherrschung der Stimme:

»Gestatten Sie, Durchlaucht, daß ich Ihnen für einen Augenblick Ihren Kavalier entführe, ich habe ihm nur eine kurze Bitte vorzutragen, und er ist sogleich wieder zu Ihren Befehlen.«

Der Fürst war herangekommen und trat zu seiner Schwester.

»Genieren Sie sich nicht, Herr von Sazé,« sagte er hochmütig, »ich werde Sie bei meiner Schwester ersetzen.«

Er bot ihr den Arm, die junge Fürstin jedoch beachtete die Geberde nicht, sondern wandte sich zu den beiden Franzosen.

»Da der Zweck unseres Ganges erfüllt ist und ich meinen Bruder gefunden habe,« sprach sie verbindlich zu de Sazé, »so wären Sie allerdings Ihrer Ritterschaft ledig, Herr Marquis. Ich habe dagegen noch die Verpflichtung, Ihrem Freunde zu danken, der zuerst meinen Auftrag übernommen hat, und bitte ihn, mich zu meiner Tante zurückzuführen. Sie müssen mit seinem Vertrauen sich schon bis dahin gedulden.«

Damit legte sie die feine Hand auf den Arm des Vicomte und ging mit ihm voran. Sazé folgte und begriff rasch die Aufgabe, die ihm geworden, indem er das Paar von den beiden nachfolgenden Herren trennte. Dennoch waren sie zu nah, als daß die Fürstin eine Frage an ihren Begleiter hätte tun können. Aber das nervöse Zittern ihres Armes fühlte er in dem seinen und den leisen Druck, mit dem sie sich auf ihn stützte. Als sie aber durch den Eingang des Salons schritten und das Gedränge der Anwesenden sie für einige Augenblicke von den Folgenden schied, schlug Iwanowna rasch das Auge empor und flüsterte hastig:

»Was ist geschehen, Vicomte? ich muß Alles wissen, ich bin zu jeder Stunde für Sie morgen zu sprechen!«

Méricourt aber neigte sich wie dankend zu ihr nieder und entgegnete mit tiefbewegter Stimme:

»Leben Sie wohl, Fürstin, mein Traum ist vorüber.«

Einen Moment lang preßte er ihren Arm an seine Brust, dann zog er sich mit einer Verbeugung zurück und grüßte im Vorübergehen höflich und gemessen die beiden Russen. Die Fürstin sah, wie er auf dem Wege durch den Saal Sazés Arm nahm und mit ihm am Ausgang verschwand. Als sie sich beklommenen Herzens umwandte, bemerkte sie den höhnisch lauernden Blick des Grafen Wassilkowitsch auf sich ruhen.

Kaum eine Viertelstunde später ertönte am Portal der Ruf nach der Equipage der Fürstin Oczakoff. Fürst Iwan war schon vorher aus der Soiree verschwunden und allein nach Hause zurückgekehrt, um den Fragen der Schwester auszuweichen.


Es war in einer frühen Stunde des nächsten Morgens, als in dem von dem Fürsten bewohnten Hotel der Allee des Veuves vor der jungen, im weißen Morgenkleide auf der Bergére ihres eleganten Toilettezimmers ruhenden Fürstin der Diener ihres Bruders, der Leibeigene Wassili, stand, herbeigerufen von seiner Schwester Annuschka, dem russischen Kammermädchen der Fürstin. Beide Geschwister, der Bruder um fünf, die Schwester um drei Jahre älter als das Zwillingspaar, das mit ihnen die Milch derselben Mutter getrunken, ein in Rußland noch heilig gehaltenes Band, hatten demselben von Jugend auf gedient und dadurch eine entsprechende Erziehung genossen. Mit der aufopferndsten Treue hingen die Beiden an den fürstlichen Geschwistern.

Wassili, der Leibeigene, war ein hochgewachsener kräftiger Mann. In seinem markigen, festen Gesicht spiegelte sich Zuverlässigkeit und entschlossene Hingebung. Hinter der Fürstin, ihm gegenüber, stand seine Schwester, hübsch und blauäugig, die langen blonden Zöpfe um den Kopf gewickelt, indem sie ihn mit lebhaften Geberden zur Rede antrieb, die er nur unwillig zu geben schien.

»Also Dein Herr ist die ganze Nacht nicht zu Bett gewesen?«

»Nein, Mütterchen.«

»Und was hat er getan während der Zeit?«

»Ich weiß es nicht, Mütterchen.«

»Glaube ihm nicht, dem schlechten Menschen, Durchlaucht,« mengte sich Annuschka in das Gespräch. »Es wäre ein schlechter Diener, und das ist Wassili nicht, wenn er sähe, daß sein Herr unruhig, und seine Augen hätten ihn nicht auf jedem Schritt verfolgt. Er will nicht sprechen, Durchlaucht, er hat mich schon früher gescholten, wenn ich ihn in Deinem Auftrage fragte, und meint, das hieße seinen Herrn verraten.«

Wassili schoß einen ärgerlichen Blick auf seine Schwester, schwieg aber verstockt. Die Fürstin richtete sich auf.

»Höre, Wassili,« sagte sie ernst, »ich würde nicht in meines Bruders Geheimnisse zu dringen suchen, wenn es nicht sein eigenes Wohl gälte. Es ist Wichtiges vorgefallen. Du mußt mir Rede stehen und darfst bei allen Heiligen nicht das Geringste verheimlichen. Ich befehle Dir also, mir zu sagen, was Iwan bis heute Morgen getan hat.«

»Er hat mich zu Bett geschickt.«

»Aber Du hast gelauscht?«

Wassili kratzte sich verlegen in den dichten Haaren.

»Er schrieb, Mütterchen,« sagte er endlich, »der Herr hat viel geschrieben.«

»Und dann?«

»Dann ist er unruhig umhergegangen und …« Er zögerte.

»Wirst Du reden, Wassili!« fuhr ihn die Schwester an; »siehst Du nicht, daß Du die Herrin bekümmerst?«

»Ja, Annuschka,« sagte ausweichend der Russe, »ich kann doch bei meinem Schutzheiligen nicht dafür, daß der Fürst seine Pistolen aus dem Schrank genommen hat. Ich versichere Dich, er schloß sie richtig in seinen Schreibtisch ein, nachdem er sie lange betrachtet hatte.«

Die Fürstin winkte mit der Hand.

»Genug, genug! – ist der Fürst jetzt allein?«

»Er war es, Mütterchen, – aber – –«

»Was?«

»Ich sollte sagen, er schlafe noch, wenn Du nach ihm fragst, und dann, er sei ausgegangen.«

»Hat er Dir sonst einen Befehl gegeben?«

»Ja, Mütterchen. Der Herr erwartet Besuch, und ich soll ihn sogleich in das Zimmer führen, wo die vielen Bücher stehen.«

Die Fürstin erhob sich.

»Geh' auf Deinen Posten, Wassili, und achte sorgfältig auf alles, was geschieht und wer aus- und eingeht bei meinem Bruder. Ich lade die Schuld auf Dein Haupt, wenn das Geringste vorgeht, das ich nicht sofort erfahre.«

Sie warf einen leichten Mantel um ihre Schultern, während Wassili, von der Schwester zur Tür gewinkt, mit dem demütigen, aber in seiner Einfachheit schönen Gruß der niederen Russen verschwand. Dann verließ sie durch eine andere Tür das Zimmer.

Die Fürstin nahm ihren Weg zu den Gemächern ihres Bruders, die, durch den gemeinschaftlichen Salon und die Nebenzimmer von den ihren getrennt, nach dem Garten hinaus lagen. Eine kleine Tapetentür, welche direkt in das Toillettezimmer des Fürsten führte, und zur Unterhaltung des unbelästigten Verkehrs zwischen Bruder und Schwester bisher gedient hatte, fand Iwanowna jetzt von Innen verschlossen. Im Begriff, auf einem anderen Wege durch das eben von Wassili bezeichnete Zimmer zu gehen, hörte sie fremde Stimmen von außen und sprang rasch hinter die Portiere eines angrenzenden Kabinetts, deren Schnüre sie löste.

Die Falten bewegten sich noch, als Wassili mit einem Herrn eintrat. Die Fürstin erkannte durch die Öffnung des Vorhanges den Marquis de Sazé, was ihre Befürchtungen bestätigte und sie ihren Platz behaupten ließ.

Wassili ging, den Besuch zu melden, und augenblicklich erschien der Fürst und nötigte seinen Gast, Platz zu nehmen. Er sah überwacht und blaß aus, beherrschte sich aber vollkommen.

»Sie werden erraten, Durchlaucht,« eröffnete der Marquis die Unterhaltung, sobald der Diener sich entfernt hatte, »in welcher unangenehmen Angelegenheit ich Ihnen so zeitig meinen Besuch aufdränge. Diese Zeilen des Herrn Kapitän de Méricourt erteilen mir unbeschränkte Vollmacht.«

Der Fürst lehnte mit einer Handbewegung höflich die Durchsicht ab und verbeugte sich zustimmend.

»Ich muß Ihnen gestehen, Fürst,« fuhr de Sazé fort, »ich begreife eigentlich das Vorgefallene nicht, und mein Freund, der Vicomte, eben so wenig. Wollen Sie sich herablassen, uns einige Erörterungen zu geben, so wird sich das Mißverständnis gewiß aufklären, und Sie werden als Mann von Ehre nicht anstehen, meinem Freunde in Gegenwart eines der Zeugen der Beleidigung Ihre Entschuldigung zu machen.«

»Ich bedauere, Herr von Sazé,« sagte der Fürst.

Doch der Andere unterbrach ihn:

»Einen Augenblick noch, Durchlaucht, ehe Sie Ihre unwiderrufliche Meinung aussprechen. Sie wissen, daß es nicht Sitte der Franzosen ist, in einem Ehrenstreit die Hand zu bieten, und namentlich eine solche Beleidigung, wie sie dem Kapitän widerfahren, anders als durch Blut zu sühnen. Ich bitte, würdigen Sie also das wackere Benehmen Ihres Gegners, der in Berücksichtigung der bisherigen Verhältnisse mit jeder billigen Erklärung zufrieden sein will.«

Der Fürst entgegnete steif und frostig:

»Obschon noch sehr jung, mein Herr, bin ich doch vollständig mit den Gesetzen eines Edelmannes vertraut und würde, gerade in Berücksichtigung der Verhältnisse, dem Herrn Vicomte nicht zumuten, mit einer Erklärung zufrieden zu sein, die ich ohnehin nicht zu machen gesonnen bin. Darf ich Sie um Ihre weiteren Aufträge bemühen?«

»Ich habe die Ehre, Ihnen die Forderung des Kapitäns de Méricourt zu überbringen.«

»Ich bin zum ersten Male in Paris und mit Ihren Gewohnheiten daher noch einigermaßen unbekannt. So viel ich weiß, pflegt man dergleichen Angelegenheiten rasch abzumachen?«

»Gewöhnlich, ehe die nächste Sonne untergeht; sollten Sie jedoch Zeit wünschen …«

Der junge Mann richtete sich steif empor.

»Ich bitte, Herr Marquis!«

»Also heute, eine Stunde vor Sonnenuntergang.«

»Ihre Waffen?«

»Natürlich Pistolen, ich verstehe mich nur wenig auf Ihre Degen.«

»Ich werde die Ehre haben, mit Ihrem Sekundanten das weitere zu ordnen. Wollen Sie mir Ihre Befehle deshalb erteilen?«

»Sie sind sehr freundlich, Herr Marquis. Graf Wassilkowitsch hat, in Erwartung eines solchen Besuches, meine Vertretung bereits übernommen und wird die Ehre haben, Sie in seiner Wohnung zu empfangen.«

»So bleibt mir nur noch, mich Ihnen zu empfehlen, Durchlaucht. Leben Sie wohl; ich bedauere, diesmal sagen zu müssen, au revoir!«

Der Fürst zwang sich zum Lachen.

»Unter Freunden, Marquis, sollte man sich dergleichen Bedauern eigentlich übel nehmen. Wollen Sie nicht eine Zigarre? – Sie wissen, ich führe echte Manilla.«

Der Marquis nahm die gebotene Zigarre und steckte sie in Brand, Fürst Iwan folgte seinem Beispiele und geleitete ihn nach einigen gleichgiltig geplauderten Worten bis ins Vorzimmer. Als er hierauf rasch in sein Kabinett zurückgekehrt war und Wassili ihm wenige Augenblicke nachher folgen wollte, fand er in der Mitte des Zimmers die Fürstin, bleich, die Hand auf das klopfende Herz gedrückt. Sie hob den Finger drohend in die Höhe.

»Bei Deinem Leben, Wassili, keinen Laut, daß Du mich hier gesehen.«

Dann verschwand sie.


Kapitän Méricourt bewohnte den Garten-Pavillon hinter dem Hofe seines Schwagers in der Rue Avenue de Bordonnaye, wenn er sich in Paris aufhielt. Ein Vorzimmer, ein kleiner Salon mit Waffen aller Art, mit Jagdtrophäen geschmückt, und zwei Kabinetts nebst einem Gemach für den arabischen und französischen Diener des Vicomte, bildeten das Gelaß dieses Hauses, in dessen unmittelbarer Nähe eine Gartenpforte durch die Mauer nach einer kleinen Seitenstraße führte und so den Bewohnern des Pavillons den ungenierten Ein- und Ausgang gewährte.

Es war kaum eine Stunde nach dem obigen Renkontre, als ein Fiaker in der Seitenstraße vor dem Zugang des Gartens hielt und zwei tiefverschleierte Frauen ausstiegen. Die eine von ihnen läutete auf das Zeichen der anderen die Glocke und nach kurzem Harren öffnete Mulei, der junge arabische Diener des Kapitäns, die Pforte. Als er zwei Frauen vor sich sah, verneigte er sich nach maurischer Sitte und nötigte sie, einzutreten.

»Ist Kapitän de Méricourt zu sprechen?« fragte die Zweite der Verschleierten, anscheinend die Gebieterin.

»Der Bey befindet sich in seinem Zimmer, Herrin. Wen befiehlst Du, daß ich ihm verkünden soll?«

»Sage Deinem Herrn,« erwiderte die Verschleierte, »daß eine Dame ihn in einer dringenden Angelegenheit, die keinen Aufschub gestattet, zu sprechen wünschte. Ich würde ihm nur wenige Minuten rauben.«

Der Maure verbeugte sich nochmals mit über die Brust gekreuzten Händen und bat die Frauen, ihm in das Vorzimmer zu folgen. Dann verschwand er hinter dem schweren persischen Teppich, kehrte aber schon nach wenigen Augenblicken zurück und nötigte die Fremden in den Salon. Beide traten ein.

Das Gemach bildete ein mittelgroßes Achteck und empfing sein Licht von der Kuppel, von der ein schöner Bronzeleuchter herabhing. Löwen- und Pantherfelle bildeten die Teppiche vor den orientalischen Divans, welche die vier Seitenwände einnahmen, die nicht durch Türen unterbrochen waren. Prächtige orientalische Waffen, Antilopenhörner und Büsche von Straußfedern, die Schädelketten der Bewohner von Bornu mit mächtigen Elephantenzähnen, dazwischen Gruppen prachtvoller moderner und antiker europäischer Waffen, türkische Sättel und Zaumzeug, mit prächtigen Teppichen und zahllosen fremdländischen Gerätschaften bildeten in einzelnen Gruppen-Dekorationen an den Wänden den eigentümlichen Schmuck des Gemaches. Auf den Tischen zur Seite standen und lagen zwischen Schalen und tunesischen Kunsterzeugnissen, türkische Schibuks und Nargilehs in buntem Gemisch.

Nach wenigen Augenblicken trat der Kapitän aus dem Nebengemach ein. Ein weites orientalisches Gewand von weißer Wolle diente ihm zum Morgenrock. Das weite, faltige Kostüm kleidete die Heldengestalt des Offiziers und den kräftigen, männlich schönen Kopf bewundernswert.

»Entschuldigen Sie, meine Damen,« sagte der Vicomte höflich, indem er sie einlud, Platz zu nehmen, »daß ich Sie noch in Morgen-Toilette empfange, ich wollte Sie jedoch nicht warten lassen und stehe deshalb zu Befehl.«

Die eine der beiden Frauen hob den dichten Schleier, der ihr Gesicht verhüllte.

»Die Fürstin! – Mein Gott – Sie hier?«

»Verlaß uns auf einige Augenblicke, Annuschka, ich stehe unter dem Schutz der Ehre des Herrn Vicomte.«

Die Milchschwester der Fürstin verschwand in das Vorgemach.

Méricourt ergriff die Hand der Dame und führte sie zum Divan. Die seine zitterte lebhaft, die Röte hoher Erregung lag auf seinem schönen Gesicht.

»So viel Glück und so viel Schmerz in einem Moment, Fürstin, es ist zu viel, selbst für eine Männerbrust.«

Das Antlitz des jungen Mädchens war bleich, aber eine aufopfernde feste Entschlossenheit lag in jeder Miene; selbst ihre Stimme zitterte nicht.

»Sie wissen, Vicomte, warum ich komme.«

Der Franzose beugte sich mit schmerzlichem Lächeln auf ihre Hand, die er gefaßt hielt.

»Sie werden sich noch heute mit Iwan, meinem Bruder schlagen?«

Eine leichte Neigung des gesenkten Hauptes gab ihr die Antwort.

»Méricourt, Sie werden es nicht tun, – um meinetwillen.«

»Es ist unmöglich, Fürstin, mein Leben steht zu Ihren Diensten, nicht meine Ehre als Edelmann. Ihr Bruder verweigert jede Erklärung.«

»Ich weiß es! Ich war ungesehen Zeuge seiner Unterredung mit Herrn de Sazé. Sagen Sie mir – wie kam es dahin?«

»Bei meiner Ehre, Fürstin,« sagte der Offizier aufatmend und seinen Blick auf das Mädchen richtend, »ich bin schuldlos daran, ich weiß es selbst nicht, und daß mir noch auf Erden das Glück zuteil geworden. Ihnen das mündlich sagen zu dürfen, was Sie morgen durch den kalten Buchstaben meiner Abschiedsworte an Sie erfahren hätten, – das erfüllt den geheimsten Wunsch meines Herzens. Ein böser Dämon muß Ihren Bruder regiert haben. Seine Worte, seine Beleidigungen sind mir unerklärlich. Ich fand ihn mit dem Obersten beim Spieltisch und gesellte mich zu ihm. Der Fürst war offenbar sehr aufgeregt, und als ich ihn fragte, ob ich ihn am Morgen zu einem Spazierritt abholen dürfe, wie wir früher verabredet, entgegnete er heftig: er werde allein reiten, er brauche weder einen Vormund noch – –«

»– noch einen Spion!«

»Mein Gott!«

»Ich war im ersten Augenblick so bestürzt, daß mir fast die Fassung fehlte. Einige Gesichter wandten sich gegen uns – man weiß, Fürstin, daß ich keine Memme bin und bei Beleidigungen ruhig bleiben darf. Ihr Bild, Iwanowna, stand vor mir, – »Sie reden irre, Fürst,« sagte ich und faßte seinen Arm, »Sie haben mich wahrscheinlich nicht verstanden. Kommen Sie, lassen Sie uns plaudern.‹ – Ihr Bruder riß sich los. ›Ich habe Sie sehr wohl verstanden, mein Herr,‹ sagte er barsch, ›und wenn Sie meine Worte nicht verstehen wollen, so werden Sie vielleicht Das verstehen!‹ – Fürstin, er – –«

»Zu Ende, zu Ende!«

»Er hob die Hand gegen mich, einen Moment zwar nur, aber – er hob die Hand!«

Der Kapitän war bleich geworden bei der Erzählung.

»Der Unglückliche!«

Diesmal war es die Dame, welche das Haupt vor dem Manne in unsäglichem Schmerze beugte.

Der Kapitän schwieg; das Gefühl der schweren Beleidigung machte dem innigen Mitleiden Platz bei dem Blick auf das erschütterte Mädchen.

»Ich wiederhole Ihnen, Fürstin,« sagte er endlich, »ich weiß noch immer nicht, was dieses Benehmen Ihres Bruders hervorgerufen hat, nur ein Mißverständnis oder eine Verleumdung kann die Veranlassung sein; doch leider ist die Sache nicht mehr zu ändern. Sie kennen selbst das Weitere.«

»Das ist Wassilkowitschs Werk!« rief die Fürstin; »jetzt ist mir alles klar und mein Widerwille vor diesem Manne hat mich nicht betrogen! Ich weiß, Vicomte, daß nach den Gesetzen der Ehre unter Militärs eine solche Beleidigung nur durch den Tod des Beleidigers gesühnt werden kann, und dennoch haben Sie dem Unglücklichen die Hand zur Sühne geboten und nur seine Entschuldigung verlangt. Sie, der tapfere Offizier, der Spiegel stolzen Rufs für alle Soldaten.«

»Ich bin es nicht mehr, Fürstin,« unterbrach sie Méricourt. »Heute Morgen habe ich Herrn von Saint-Arnaud meine Entlassung eingereicht.«

»Wie, Sie haben – –«

»Es war nötig, Fürstin, der Offizier konnte jene Sühne unmöglich bieten. – Es war Ihr Bruder, Iwanowna!«

»Und dennoch alles vergeblich, – ich kenne seinen eisernen Sinn von Kindheit auf, er würde sich eher zerreißen lassen, als durch eine Entschuldigung selbst das erkannte Unrecht gut zu machen.«

Sie hatte sich erhoben und ging leidenschaftlich im Salon umher.

Der Vicomte schwieg und folgte ihr mit trauerndem Blick.

Plötzlich blieb die Fürstin vor ihm stehen, ihre großen Augen voll und klar auf ihn gerichtet.

»Das Duell darf nicht vor sich gehen, es darf nicht! – Er ist mein einziger Bruder, der Letzte aus dem Hause der Oczakoff, einer der neun Familien, die von Ruriks Stamme sind, edler selbst als die Romanoffs. Ich darf ihn nicht sterben lassen! – Eugen,« es war das erste Mal, daß sie ihn bei diesem Namen nannte, und es durchzuckte den jungen Mann wie ein elektrischer Strahl, – »Eugen, werden Sie zum Engel des Erbarmens an uns, wie Sie bereits zum Helden geworden sind. Fliehen Sie das Duell – weigern Sie dem Toren, ihn zu strafen, kommen Sie, fliehen Sie mit mir. – Eugen, ich liebe Sie, und jeder Atemzug meines Lebens soll Ihrem Glück gewidmet sein!«

Der junge Offizier sank vor ihr nieder; er preßte stöhnend im bittern Kampf ihre zarten Hände auf sein brennendes Gesicht.

»Sie verlassen Ihr Frankreich,« fuhr Iwanowna fort, »Sie ziehen mit mir in das herrliche Land, wo mildere, süßere Lüfte wehen als hier; wo der Oleander blüht und die Orange sich in den blauen Fluten des Meeres spiegelt. Nach Taurien folgen Sie mir – nicht nur der Kaiser hat dort seine erhabene Phantasie, das Paradies Orianda, – an den Felsenvorsprüngen der Yaila-Alpen prangen noch viele Stätten eben so herrlich, eben so schön, von deren Klippenhöhe vielleicht Iphigenia einst hinüberschaute zum fernen Vaterlande, wo Orestes die Schwester von der grausamen Pflicht befreite. O, mein Freund, werfen Sie es von sich, das Vorurteil dieser sogenannten Zivilisation, die von Ihnen verlangt, das Blut Ihres Bruders zu vergießen, des einzigen Wesens, das gleich Ihnen mir teuer ist – –«

Der Vicomte hatte sich aufgerichtet, auf der ehernen Stirn stand der eherne Männerentschluß.

»Seien Sie ruhig, Iwanowna, diese Hand wird nicht gerötet sein von dem Blut Ihres Bruders!«

»Sie gehen mit mir, Sie opfern mir alles, alles, Eugen?«

»Ich gebe Ihnen alles was ich habe, Iwanowna, nur Eins bewahren Sie mir, das ist, den unbefleckten Namen der Méricourt, den Namen meines Vaters. Es gibt noch ein anderes Mittel, – bei meiner Liebe zu Ihnen, Ihr Bruder wird unverletzt von dannen gehen!«

Die Fürstin stürzte auf ihn zu.

»Was sinnen Sie? – Das ist Mord an sich selbst! Meinen Sie denn, daß der törichte Knabe Ihren Edelmut würdigen wird? Sein Leben wäre Ihr Tod – geht das Duell vor sich, so oder so – sind wir auf ewig getrennt.«

Der Kapitän wandte sich ab.

»Es ist kein anderer Weg – Sie haben einen Namen zu verteidigen, Iwanowna, auch der meiner Väter ist mir heilig und darf nicht entehrt werden, selbst um den himmlischen Preis nicht, den Sie mir gezeigt haben.«

Sie warf sich schluchzend auf den Divan; er setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand in die seine.

»Warum trauern, Iwanowna,« sagte er freundlich, »nachdem Sie mich so unaussprechlich glücklich gemacht? Warum trauern, daß uns ein persönliches Mißgeschick trennt, wo uns das Geschick der Völker in jedem Augenblick unwiderruflich zu trennen drohte. – Denken Sie, wie unendlich leichter es mir sein wird, jetzt der Kugel des erbitterten Bruders die Brust zu bieten für Sie, als wenn das eherne Geschick der Schlachten uns gegenüber gestellt und die kalte Berechnung der Politik Ihres Kaisers und seiner Nesselrodes und Kisseleffs den Freund dem Freunde, den Bruder dem Bruder den Stahl ins Herz stoßen hieße!«

Die Worte, die Namen schienen die Fürstin berührt zu haben, – einen Augenblick schwieg sie wie nachdenkend, dann raffte sie sich rasch empor. Sie schien ihre volle, eine kurze Zeit von der doppelten Aufregung gestörte Energie wieder zu gewinnen.

»Wann soll das unglückliche Duell vor sich gehen?«

»So viel ich weiß, gegen Abend – um sechs Uhr.«

»Eugen, wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?« Sie hob die Hände gegen ihn.

»Jede, die sich mit meiner Ehre verträgt.«

»Sie ist auch die meine und wird unverletzt aus allem hervorgehen.« – Sie drängte ihn freundlich zum Seitentisch, auf dem das Schreib-Necessaire stand. »Schreiben Sie an Herrn de Sazé, nur einige Zeilen, daß das Duell erst morgen früh um dieselbe Stunde stattfinden könne, – nehmen Sie irgend einen Vorwand – die Ordnung Ihrer Angelegenheiten –«

»Aber ich darf nicht – ich kann nicht – Sie sinnen eine List …«

»Bei dem Grabe meiner Mutter, ich sinne nichts gegen Ihre Ehre! Ist das Leben zweier Menschen nicht einen kurzen Aufschub von zwölf Stunden wert? – Galt Ihnen das Geständnis meiner Liebe so wenig?«

Er reichte ihr die Hand.

»Es ist unnötig, daß ich schreibe, – der Marquis hat versprochen in einer halben Stunde hier zu sein, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Ihr Wille erfüllt werden soll, das Arrangement wird sich leicht treffen oder ändern lassen, ohne aufzufallen. – Fürstin, ich ahne Ihren Grund – Sie wollen Ihren Bruder bewegen – möge Gott seinem Engel zu dem Werke des Friedens helfen. Ich werde glücklich sein, die Lösung von Ihrer Hand annehmen zu können.«

Sie sah ihm trübe lächelnd in die heiterer gewordenen Augen.

»Meinen Dank, mein Freund, meinen innigen, ewigen Dank! Und jetzt – mein Lebewohl!«

Sie wandte sich rasch nach der Tür, er eilte ihr nach, aber sie selbst kehrte sich noch einmal zu ihm. Ihre Hände faßten die seinen – ihre Augen hafteten auf den seinen, Minuten lang, innig und zärtlich, und doch wie unter dem Flor einer tiefen Traurigkeit. Er zog sie näher, – unwillkürlich – im stummen Glück – ruhten ihre Lippen einen Moment auf den seinen voll und heiß – dann rauschte die Portiere hinter ihr zusammen – sie war verschwunden!

Der Vicomte trat ins Seitenzimmer, die teure Gestalt noch einmal zu sehen; eben eilte sie mit Annuschka, von dem Araber begleitet, durch die Pforte – im nächsten Augenblicke rollte der Wagen davon.

Als der Fiacre in die Rue de Grenelle gebogen war, befahl Annuschka dem Kutscher:

»Nach der Faubourg de St. Honoré 33, Hotel des russischen Gesandten.«


Fürst Iwan, – durch ein Billet des Grafen Wassilkowitsch von der veränderten Bestimmung des Rendezvous in Kenntnis gesetzt, – hatte eben seinen gewöhnlichen Besuch im Palais und Bureau der Gesandtschaft gemacht und wollte sich entfernen, als Herr von Kisseleff, der damalige Vertreter Rußlands in Paris, ihn in sein Kabinett rufen ließ. Etwas beunruhigt folgte er dem Boten, sah sich aber in seiner Besorgnis getäuscht, da der Gesandte ihn aufs Freundlichste empfing, mit keiner Silbe eine Kenntnis des vorgefallenen Zwistes an den Tag legte und ihn einlud, mit ihm en deux zu speisen, da mehrere geheime Depeschen zu erledigen wären, wegen deren er für die nächsten Stunden seine Hilfe in Anspruch nehmen müsse.

Im ganzen war es dem jungen Manne nicht unlieb, einen Vorwand zu finden, der ihm erlaubte, nicht in sein Hotel zurückzukehren und so den Fragen der Schwester auszuweichen. Vor Abend hatte er ohnehin keine Bestimmung für seine Zeit getroffen, und die Stunden vor einem Duell allein zu verbringen, ist eben für keinen angenehm. So fügte er sich also gern und die Arbeit zerstreute ihn. Aber Stunde auf Stunde verrann, der Gesandte, der von Zeit zu Zeit das Kabinett verließ und ihn bei der Arbeit einschloß, häufte immer neue Manuskripte vor ihm auf, und die Zeit nahte, zu der er versprochen hatte, an einer anderen Stelle zu sein.

Abgespannt und ärgerlich warf er endlich die Papiere zur Seite. Die Depeschen waren vollendet und er nahm seinen Hut, um sich zu entfernen. Die Uhr im Kabinett zeigte halb Zehn, als Herr von Kisseleff wieder eintrat und die letzten Unterschriften vollzog.

»Ich muß Sie noch einen Augenblick bemühen, Fürst,« sagte er artig; »die Sekretäre haben bereits das Hotel verlassen und ich bitte Sie, diese Papiere zu kuvertieren.«

Der Fürst gehorchte. Der Gesandte legte noch eine eigenhändige Depesche dazu und das Briefpaket wurde fertig gemacht. Herr von Kisseleff schellte.

»Ist der Wagen bereit?« fragte er den eintretenden Jäger.

»Zu Befehl, Exzellenz!«

Der Diener trat ab.

»Jetzt, Fürst, muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß diese Depeschen, wie Sie sich selbst überzeugt haben, von der höchsten Wichtigkeit sind. Den Telegraphen können wir in dieser Angelegenheit nicht benutzen, die Gründe liegen auf der Hand. Sie werden daher auf Ihr Ehrenwort dieses Paket nicht von Ihrer Seite lassen, bis Sie es dem Herrn Staatskanzler selbst übergeben haben.«

»Wie? Ich – –?«

»Allerdings, Sie selbst. Ich bin gewilligt, Sie damit als Kurier nach Petersburg zu schicken, da ich augenblicklich niemand weiter zur Disposition habe, dem ich so wichtige Interessen anvertrauen könnte. Sie werden mit dem Zug um elf Uhr nach Brüssel abreisen.«

»Aber Exzellenz – das ist unmöglich! Ich bin nicht im geringsten vorbereitet.«

»Das ist unnötig, – es ist alles getan; die Fürstin, Ihre Schwester, hat für alles gesorgt und wird Sie begleiten.«

Er öffnete die Seitentür, Iwanowna trat ein im Reisekleide.

Dem jungen Mann schwirrte und dunkelte es vor den Augen. Das Blut schoß in Strömen ihm zu Kopf; er fühlte, daß er überlistet worden.

»Ich werde Paris nicht verlassen, mein Herr! Ich habe morgen früh eine Ehrenverpflichtung und will nicht das Spielwerk einer Intrigue sein, die ich durchschaue.«

Iwanowna eilte auf den Bruder zu, sie hing sich an seinen Hals.

»Iwan, bedenke was Du tust!«

Der Gesandte trat dicht an ihn heran.

»Fürst Oczakoff, ich befehle Ihnen im Namen des Kaisers, ohne Widerrede zu gehorchen. Sie werden auf der Stelle abreisen. Denken Sie an Sibirien!«

Der junge Mann knirschte. Er wand sich in den umschlingenden Armen der Schwester.

Herr von Kisseleff legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte in freundlichem Tone:

»Es ist unbedingt nötig, daß Sie reisen, Fürst, um Ihrer selbst willen. Ich weiß alles; Sie haben eine große Übereilung begangen und wollen dieselbe durch ein Verbrechen wieder gut machen. Der Kaiser würde Ihnen nie verzeihen, wenn in diesem kritischen Augenblick, wo alles auf dem Spiele steht, Ihre törichte Heftigkeit einen Eklat mit dem französischen Kabinett herbeiführte. Ihre Ehre muß gewahrt werden, und deshalb zwinge ich Sie im Namen des Kaisers, abzureisen. Ihr Sekundant hat bereits Stubenarrest; ich selbst werde Ihre Entschuldigung und Rechtfertigung bei Ihrem ehrenwerten Gegner übernehmen.«

Der Fürst beugte das Haupt. Er sah, daß ihm jeder Ausweg abgeschnitten war und er sich fügen müsse.

»Ich werde reisen, hätte aber von Euer Exzellenz mehr Rücksicht erwartet.«

»Sie sind ein törichter, junger Mensch!« sagte der Gesandte achselzuckend »Danken Sie der Aufopferung Ihrer schönen Schwester, die Sie mit so vieler Rücksicht behandelt, daß Sie aus jener Ihrer unwürdigen Stellung hier mit Ehren gezogen werden.« Er hob warnend den Finger. »Übrigens könnten Sie leider bald Gelegenheit erhalten, Ihre Rauflust vielleicht selbst an Ihrem heutigen Gegner, den ich achte und schätze, auf einem würdigeren Felde zu kühlen.«

»Haben Euer Exzellenz noch etwas zu befehlen oder bin ich entlassen?«

»Nichts weiter! Ich habe Ihr Ehrenwort, daß Fürst Oczakoff diese Depeschen richtig und ohne Zeitverlust in Petersburg abliefern wird?«

»Mein Ehrenwort!«

»Fürstin! Sie sind mir Zeuge und Bürge für Ihren Herrn Bruder. Ich wollte Sie erst selbst zum Bahnhof begleiten, verlasse mich aber ganz auf Sie.«

»Die Ehre meines Bruders ist die meine. Leben Sie wohl, mein Herr, und genehmigen Sie nochmals meinen innigen Dank.«

»Auf glückliche Reise also, Fürst, und ohne Groll. Ich muß Sie verlassen, denn ich habe Berichte zu empfangen. Es ist etwas wichtiges vorgegangen; man hat heute abend ein Attentat auf den Kaiser Napoleon entdeckt, und es sollen viele Verhaftungen in der komischen Oper vorgekommen sein. – Leben Sie wohl!«

Er reichte beiden die Hand, die Fürst Iwan schweigend und zögernd annahm, und geleitete sie bis zum Vorsaal. Diener des Fürsten standen hier bereit, im Hofe des Palais harrte eine Chaise.

»Wir finden unsern Reisewagen bereits auf dem Bahnhofe, Iwan,« sagte die Fürstin freundlich; »Wassili und Annuschka werden uns allein begleiten, die anderen folgen.«

Der Fürst verharrte noch immer in mürrischem Schweigen, während der Wagen durch die Straßen rollte. Plötzlich, als er auf den Place de la Madeleine bog, faßte er die Hand seiner Schwester.

»Iwanowna,« sagte er zärtlich, »ich habe mich in den Willen des Gesandten und in Deinen Wunsch gefügt und ich schwöre Dir, willig abzureisen, ohne einen Versuch in Betreff des Ehrenhandels zu machen, den Dein Scharfsinn und Deine Liebe entdeckt und verhindert hat. Aber ich habe eine Bitte an Dich, von deren Erfüllung mein Leben abhängt.«

»So habe Vertrauen zu mir, wie ich zu Dir!«

Der Fürst zeigte seine Uhr.

»Es ist zehn Uhr,« sagte er; »um Elf geht der Zug. Wir haben noch eine volle Stunde Frist. Gib sie mir – ich kann nicht scheiden von Paris, ohne eine andere Verpflichtung gelöst, ohne jemand, wenn auch nur für einen einzigen Augenblick gesprochen zu haben, der mich zu dieser Stunde bereits erwartet.«

»Iwan, Du hintergehst mich!«

»Bei dem Grabe unserer Mutter – nein! Aber ich schwöre Dir ebenso, daß keine Macht der Welt mich lebendig aus Paris bringt, wenn Du mir diese Bitte verweigerst. Schwester – ich will – ich muß sie noch einmal sehen!«

Die Fürstin schaute ihn an – ihr Herz gedachte der eigenen Liebe, die sie vielleicht auf Nimmerwiedersehen verlassen.

»Wann wirst Du am Bahnhof sein?«

»Eine Viertelstunde vor der Abfahrt. Bei der Unbeflecktheit unseres Namens! Ich vertraue Dir diese Papiere an. Du kennst ihre Wichtigkeit und was sie mich kosten. Und jetzt – jede Minute ist verloren. – Dank, Iwanowna, tausendfachen Dank, Du rettest mich vor Verzweiflung.«

Er rief den Kutscher, der Wagen hielt, Iwan öffnete den Schlag.

Die Fürstin hielt ihn zurück.

»Noch einen Augenblick! Iwan, Du gehst nur zu einer Dame?«

»Bei meiner Seligkeit! Meine Ehre ist Dir und dem Gesandten verpfändet.«

Er verschwand im Gedränge an der Kreuzung der Straßen.


Auf dem Nordbahnhof wogte das Leben und Treiben der Reisenden, der Kommissionäre, Beamten und Packträger.

Die große Uhr am Hauptgebäude hatte drei Viertel auf Elf geschlagen. Die Fürstin saß im Coupé mit Annuschka, Wassili stand am Schlage, alle Drei schauten aufmerksam nach den Eingängen, mit jedem anrollenden Wagen den Fürsten erwartend.

Die Glocke läutete zum ersten Male. Es war zehn Minuten vor Elf.

Das schöne Gesicht der Fürstin begann sich zu verfinstern, zwischen den Brauen, im Strahl des Auges lag der Unwille und nahm den Ausdruck ängstlicher Besorgnis an.

Wassili und Annuschka bemühten sich, diese durch allerlei Vermutungen zu zerstreuen.

Wagen auf Wagen rollte heran – keiner brachte den Fürsten. Die Minuten schienen mit Windeseile zu entfliehen.

Es litt die Fürstin nicht länger im Waggon, sie trat auf den Perron; die Uhr in ihrer Hand zitterte vor innerer Aufregung.

Drei Minuten vor Elf!

Eine eisige Entschlossenheit, jener Zug unendlicher Willenskraft, der um den herrlichen Mund lag, verbreitete sich über das ganze Gesicht. Sie winkte Wassili heran und legte die Hand auf seine Schulter.

»Höre wohl an, was ich Dir sage. Es handelt sich um Tod und Leben, – um die Ehre der Oczakoff; ich kann nicht glauben, daß Fürst Iwan sein Wort gebrochen – ich kenne ihn, sein Wort ist ihm heiliger als das Leben. Kommt er nicht, so muß ein unvorhergesehener Zufall, ein Unglück geschehen sein. Der Zug geht ab, ich mit ihm. Das Wort und die Ehre der Oczakoff müssen rein bleiben im Vaterlande!«

Ihr Busen hob sich keuchend, sie rang mit der Erregung – Wassili horchte schweigend den Worten.

»Hier ist meine Börse, Wassili – fürs Erste genug. Du bleibst hier und weichst nicht aus Paris, bis Du Iwan ermittelt und gefunden. Ich kenne Dich, Wassili, und weiß, daß sein Leben das Deine ist. Sage ihm, er solle rasch und heimlich folgen, ich hätte unterdes seine Ehre gewahrt. Kein Wort im Hotel, Wassili, von dem Verschwinden des Fürsten – bei Deinem Leben! bei dem Leben Deiner Schwester: Iwan ist abgereist mit mir!«

Die Glocke erklang zum dritten Male – kein Iwan zu sehen! Sie sprang in den Waggon, mit gekreuzten Armen stand der Diener vor der Tür, die der Kondukteur eben schloß.

»Lebe wohl! Treu und verschwiegen!«

Dahin brauste der Zug! – – –



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