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Ein Kampf ums Dasein.

Der Richter befand sich in einer höchst kritischen Situation. An Händen und Füßen gebunden, einen Knebel im Munde und den Kopf in einen Sack gesteckt, lag Simone Moretto hilf- und wehrlos auf dem Boden, während ihn die beiden Banditen überwachten, denen, wie er gehört hatte, die Order erteilt worden war, ihn bei der geringsten Bewegung sofort niederzumachen. Mit wenig Phantasie läßt sich die leibliche und seelische Folterqual des Gefangenen in ihrer ganzen Grausamkeit erfassen. Die Stricke, die seine Arme und Beine fesselten, hemmten durch ihren scharfen Druck die Zirkulation des Blutes; der Knebel in seinem Munde und die ihm über den Kopf gestülpte Blendkappe raubten ihm fast den Atem. Und bei all dieser Höllenmarter durfte er es nicht wagen, sich durch die kleinste Wendung oder Drehung eine momentane Erleichterung zu verschaffen, denn er mußte gewärtigen, daß seine Wächter es bemerkten und dann von ihrer Vollmacht erbarmungslos Gebrauch machten.

Zu dieser leiblichen Pein gesellte sich aber noch die in ihrer Ungewißheit doppelt unheimliche Frage, welches Los ihm eigentlich zugedacht sei. Konnte er ja die vorläufige Schonung seines Lebens gerade dahin deuten, daß ihn, den energischen Widersacher der pfäffisch-bourbonischen Reaktion, vielleicht eine besonders kannibalische Todesart erwartete! Simone Moretto war ein Mann, der keine Gefahr so leicht fürchtete; dennoch konnte all sein Mut es nicht verhindern, daß ihn jetzt ein Gefühl von dumpfer Angst beschlich …

Die beiden Briganten, denen die Bewachung der Gefangenen oblag, hatten, wie bereits erzählt, sich an einen Tisch gesetzt, der von ihnen neben die offenstehende Stubentüre gerückt worden war und von wo aus sie die ganze Räumlichkeit bequem überblicken konnten. Rauchend, hin und wieder eine kurze Bemerkung austauschend, vertrieben sich die zwei Schnapphähne die Zeit.

Mit einem Mal unterbrach der eine der beiden wieder das Schweigen. Unter der Hülle, in welcher sein Kopf stak, konnte der Richter die nur so hingebrummten Worte nicht recht verstehen – auch die Entgegnung des andern erreichte nur undeutlich sein horchendes Ohr. Gleich darauf schlug der erstere mit der Faust grimmig auf den Tisch und stieß einen greulichen Fluch aus. »Auf den Capo Häuptling, Kommandeur. und sein Verbot pfeife ich!« knurrte er im Tone eines brutalen Trotzes. »Ich habe Durst und der Teufel mitsamt seiner Großmutter soll es mir nicht wehren, wenn ich mit einem Schluck meine trockene Gurgel anfeuchte. Die andern können unmöglich alles weggesoffen haben, denn dieser verfluchte Bauer hat sich einen hübschen Vorrat von Wein und Schnaps angelegt. Also vorwärts, Rotkopf! Bringe, was du findest, aber komm' nicht mit leeren Händen zurück, sonst zerschlag' ich dir alle Knochen an deinem dürren Leibe!«

Wir entnehmen diesen Worten, daß der ältere der beiden Banditen sie gesprochen hatte. Zwischen das Verbot des Capos und das Gebot seines herkulischen Spießgesellen eingeklemmt, mochte es der Rote für seine Knochen gedeihlicher halten, wenn er dem Ansinnen des letztern zunächst willfahre; vielleicht gelüstete es ihn auch selber nach einem Trunk. Der Richter hörte, wie der Strolch sich bereitwillig von seinem Sitze erhob und die Stube verließ. Schon in kürzester Zeit kam er wieder zurück und zwar nicht mit leeren Händen, denn Simone Moretto vernahm, wie der Bursche mehrere Flaschen und Gläser auf den Tisch pflanzte. Mit dem behaglichen Brummen eines Honig witternden Bären begrüßte der durstgeplagte Riese das von dem Rotkopf aufgestöberte Naß. Gierig riß er eine der Flaschen an sich und ließ deren halben Inhalt in seine Gurgel hinabrinnen, dann reichte er die Bottiglia seinem Genossen hin. »Trink, Füchschen!« sagte er: »es ist das helle Feuer.«

Um es kurz zu bemerken: es war ein altes, ungemein starkes Acquavite, das der Rote erbeutet hatte. Bald konnte der Richter merken, daß das tückische »Feuerwasser« seine Wirkung auf die beiden Banditen auszuüben begann. Ihre Unterhaltung, die sich bisher auf vereinzelte Fragen und Antworten beschränkt hatte, erwärmte sich mehr und mehr zu einem lebhaften Geplauder und in immer rascherm Tempo reihte sich dabei Schluck an Schluck.

Der Wachtkamerad des Rotkopfes führte bei der Bande kurzweg den Namen » Il Facchino«, weil er vormals in den adriatischen Hafenplätzen Lastträger gewesen war. Der Riesenkerl konnte am Zechtische allerdings ganz andere Kraftleistungen entwickeln, als sein schwächlicherer Kumpan; dafür setzte er jetzt aber auch die Flasche desto maßloser an den Hals und so glich sich bei beiden das Resultat zuletzt aus. Schon begann der Facchino in dröhnendem Baß ein Zotenlied zu singen, das der Rotkopf mit seiner kreischenden Fistelstimme sekundierte. Für den Richter, der mit nervös gespitztem Ohr das Tun und Treiben der beiden Unholde verfolgte, war es klar, daß sich im selben Grade ihre bisherige Wachsamkeit vermindern müsse und mit einem dankbaren Gefühl begrüßte er die Symptome ihrer zunehmenden Berauschtheit. Auf die Gefahr hin erdolcht zu werden, wollte er nämlich den Versuch wagen, ob er seine Fesseln irgendwie lockern könne, denn der Knebel in seinem Munde und die Tasche von Ziegenfell, die ihm als Blendkappe über den Kopf gestülpt worden war, begannen ihn geradezu mit dem Erstickungstode zu bedrohen. Ein unerwarteter Zwischenfall sollte ihm zur Hilfe kommen. Mit einemmal hörte er einen Klang, als ob ein paar Würfel auf den Tisch hinkollerten; offenbar wollten die beiden Banditen um ihr blutig erworbenes Beutegeld spielen. Schon nach wenigen Minuten klapperten die Würfel und klimperten die Münzen, die den Einsatz bildeten.

Man muß den Italiener und ganz besonders den Süd-Italiener schon bei seinen Glücksspielen beobachtet haben, um die wilde Leidenschaftlichkeit erfassen zu können, die ihn in solchen Momenten beherrscht und für seine ganze Umgebung blind und taub macht.

So spielten auch der Facchino und der Rotkopf. Die ganze Welt lag für sie in den rollenden Würfeln: wilde Flüche, rohe Jubellaute begleiteten den Verlust oder Gewinn. Der Branntwein, der die Adern der beiden Banditen durchglühte, gab ihrem Ringkampf um Mein oder Dein einen nur noch bestialischern Ausdruck. Jetzt war wohl der Moment gekommen, wo Simone Moretto sein gewagtes Vorhaben ausführen konnte! Einen lärmenden Wortwechsel der beiden habgierigen Schufte, die sich gegenseitig zu betrügen suchten, benützend, wälzte er sich vom Rücken, auf dem er bisher lag, rasch auf die Seite. Ein scharfer Stich, der ihn im gleichen Augenblick durchzuckte, hätte ihm beinahe einen verräterischen Schmerzenslaut entlockt: ein Nagelstift, der sich durch die Senkung der Bodendiele allmählich hervorgeschafft hatte, war ihm nämlich in die Hüfte eingedrungen. Im selben Moment blitzte aber auch schon im Gehirn des Gefangenen ein Gedanke auf. Konnte der Nagel nicht das Werkzeug seiner Befreiung werden?

Schnell besonnen ließ er sich in seine vorige Lage zurückfallen, während die beiden Wächter immer noch ihren hitzigen Wortstreit ausfochten und dabei mit den Fäusten auf den Tisch schlugen, daß die Flaschen und Gläser umhertanzten.

Bei seiner Gefangennahme waren dem Richter die Hände auf den Rücken geschnürt worden, aber gerade diese Fesselungsweise begünstigte wesentlich den Plan Simone Morettos, denn sie gestattete ihm, unter dem Deckmantel seines eigenen Körpers zu operieren. Ruckweise sich zu dem Nagel heranschiebend, suchte er mit seinen Fingern zunächst dessen Beschaffenheit zu prüfen. Fast einen Zoll hoch ragte der Stift aus der Bodendiele empor und der ganze grenzenlose Schlendrian, der in dem neapolitanischen Bauernnaturell steckt, hatte dazu gehört, mitten in einer Stube eine solche gefährliche Fußangel zu lassen.

Mit all der Spannung seiner Gehörnerven die Bewegungen und Stimmrichtungen der beiden würfelnden Banditen verfolgend, begann der Richter die Hanfschnur, die seine Hände umschlang, an dem Eisenstift langsam hin- und herzureiben. Es war ein mühseliges Stück Arbeit, denn er durfte ja bei dieser Manipulation seine Lage nicht verrücken und außerdem mußte er nach wenigen Feilenstrichen immer wieder eine Pause machen, um seine für ihn unsichtbaren Wächter zu kontrollieren. Es war eine furchtbare Nervenprobe! Das Herz klopfte ihm in der Brust wie ein Hammer und von Kopf bis zu Fuß rieselte der Schweiß an ihm herab.

Vielleicht eine halbe Stunde mochte über dieser ruckweisen Arbeit hingegangen sein – – da fühlte Simone Moretto mit einemmal, wie sich an seinen Handgelenken die Schlinge zu lockern begann: noch ein paar zerrende Bewegungen und die zur Hälfte durchgewetzte Schnur platzte vollends.

Seine Hände waren frei!

Nun löste er den erstickenden Knebel in seinem Munde und die ihm über den Kopf gestülpte Blendkappe so weit, daß er ungehindert Atem schöpfen und – was noch viel wichtiger war – endlich seine Hüter nicht bloß mehr hören, sondern jetzt auch sehen konnte.

Noch ließen die beiden Buschklepper die Würfel zwischen sich hin und herrollen, aber ihre Bewegungen verrieten, daß das Spiel dem Ende zuneigte. Die betäubende Wirkung des genossenen Acquavite und die Abspannung nach einem jedenfalls angestrengten Tagesmarsch begannen mehr und mehr ihr Recht zu behaupten.

Ein über das anderemal riß der Facchino gähnend sein Maul auf, das mit seiner Doppelreihe von starken weißen Zähnen an einen Tigerrachen erinnerte.

Auch der Rotkopf kämpfte sichtlich mit dem Schlafe, aber ebenso unverkennbar war es auch, daß der Bursche alle Anstrengungen machte, wachzubleiben, während der Facchino, plötzlich die Würfel zurückschiebend, seinen Kopf an die Wand lehnte und fast im gleichen Moment seine Augen widerstandslos zuschnappen ließ. Den ermunternden Zuruf seines Kameraden beantwortete er mit einem unartikulierten Grunzen, das schon nach wenigen Minuten in ein lautes Schnarchen überging.

Der Richter hatte sich der Hoffnung hingegeben, auch den Rotkopf werde der Schlaf übermannen, aber er irrte sich. Statt dem Beispiel des Facchinos zu folgen, erhob sich der Unhold von seinem Stuhle und begann in der Stube auf und niederzugehen – und zwar mit ungleich festern Schritten, als es sich erwarten ließ.

Mit einemmal blieb er stehen, wie wenn ihm ein Gedanken durch sein umflortes Hirn geschossen sei. Er warf einen prüfenden Blick um sich, der ihn zu beruhigen schien, denn gleich darauf wandte er sich der Stubentüre entgegen und verschwand.

Simone Moretto hörte ihn den Hausflur entlang tappen. Diesen glücklichen Zufall galt es auszunützen! Dort bei dem schnarchenden Zyklopen war ein jähes Erwachen nicht zu befürchten und ungescheut hob der Richter seinen Kopf in die Höhe, um zunächst die Lokalität zu überschauen. Eine am Deckbalken hängende Laterne erhellte, wie wir uns erinnern, die Stube. Der flackernde Lichtschein zeigte eine Reihe von menschlichen Körpern, die, gleichfalls gebunden und geknebelt, auf dem Boden lagen und – wie dies ihr unterdrücktes Seufzen und Ächzen bezeugte – nicht minder nach Erlösung schmachteten. Abseits in einer Ecke entdeckte das suchende Auge Simone Morettos die nebeneinander hingestreckten Gestalten der Hofbäuerin, der Signora Giuliana und ihrer Tochter Ginevra. Die regungslose Haltung der drei Frauen ließ vermuten, daß dem Übermaß ihrer leiblichen und seelischen Qual eine apathische Betäubung gefolgt war.

Der Gedanke, daß Ginevras jungfräulicher Leib von rohen Banditenfäusten angetastet worden war, wühlte in dem Richter eine Sturmflut von Wut und Weh zugleich auf; es war aber jetzt keine Zeit, sich derartigen Gefühlsregungen länger hinzugeben: es hieß gehandelt – und zwar rasch gehandelt, denn jede Sekunde konnte Leben oder Tod bedeuten.

Begreiflicherweise hatten die Briganten es nicht versäumt, ihren Gefangenen zu entwaffnen; mit dem Hirschfänger, den sie ihm abschnallten, war übrigens auch die Uhr und die Geldbörse des »Ketzers« an den frommen Diebsfingern hängen geblieben. Aber ein für den Richter jetzt ungleich kostbarerer Gegenstand hatte sich trotzdem den eilfertigen Händen des Gaunergesindels entzogen: ein kleines, scharfes Federmesser. Schon im nächsten Moment schickte sich Simone Moretto an, den Strick zu durchschneiden, der noch seine Beine fesselte; ebenso rasch wollte er dann zwei oder drei seiner Mitgefangenen gleichfalls von ihren Banden befreien, sich der Waffen des wein- und schlaftrunkenen Facchinos bemächtigen und dann den zurückkehrenden Rotkopf erwarten. Eben setzte er das Messer an, um den Strick, der seine Füße umschlang, zu lösen – – horch! da näherten sich draußen vom Hausflur her schlurfende Schritte … Der ganze Plan Simone Morettos war jählings vereitelt, denn in kürzerer Zeit, als er sich von seiner Fußfessel losmachen und sich der Flinte des Facchinos bemächtigen konnte, mußte der Rotkopf die Stube betreten und wehe, wenn dann irgendein Anzeichen den Argwohn des Strolches erregte, in dessen Hand Leben und Tod der wehrlosen Gefangenen gegeben war! – – Dem Richter blieb gerade noch die Zeit übrig, seine Blendkappe wieder über das Gesicht zu ziehen und sich in seine vorige Körperlage zurückzuschnellen. Schon tauchte auf der Türschwelle die schmächtige Figur des Rotkopfes aus dem Dunkel hervor.

Simone Moretto hatte sich seine Blendkappe so über das Gesicht gestreift, daß seine Augen unter der Hülle hervorschielen konnten. Der Bandit war offenbar draußen am Brunnen gewesen, um sich den Schlaf aus den Augen zu waschen; zur Fortsetzung seines Ernüchterungsprozesses hatte er einen Topf mit Wasser gefüllt, den er jetzt auf den Tisch niederstellte. Zweifelsohne war dem Burschen seine ganze Pflichtvergessenheit klar geworden und er mochte alle Ursache haben, wenigstens seine Person aus dem Spiel zu bringen. Eilfertig öffnete er eines der Fenster und warf die verräterischen Branntweinflaschen hinaus; dann wandte er sich seinem Kameraden zu, der inzwischen ruckweise gegen den Tisch hin umgesunken war. Mit gewaltsamem Rütteln und Schütteln suchte er den Koloß wach zu bringen, was ihm zuletzt soweit gelang, daß dieser die gläsernen Augen aufschlug. Eifrig drängte ihm der Rote den Wassertopf an die lallenden Lippen – dann mit beiden Armen den Goliath umschlingend, hob er ihn auf die Beine. Taumelnd schwankte der Facchino hin und her. Eben griff der Rotkopf wieder nach dem Wassertopfe, um seine Belebungskur zu erneuern: da drehte sich, das momentane Gleichgewicht verlierend, der ungeschlachte Geselle um seine eigene Achse und schmetterte wie ein geknickter Stier auf den Boden. Mit einem wilden Fluch bog sich der Rote nieder, um nochmals seine Hebungsversuche anzustellen – aber umsonst. Selbst die Fußtritte, womit er den erstarrten Säufer bearbeitete, vermochten nicht mehr der regungslosen Fleischmasse einen Lebensfunken zu entlocken …

Den Facchino seinem Schicksal überlassend, hatte sich der Rotkopf kaum auf einen Stuhl hingeworfen, als ihn ein Geräusch seinem finstern Brüten entriß. Eine der drei weiblichen Gefangenen, die abgesondert in der Stubenecke lagen, mochte wohl die Qual ihrer Fesseln nicht länger mehr ertragen können, denn wimmernd wand sie sich auf der harten Bodendiele hin und her. Dem Richter war's, als bohre sich ein Messer in sein Herz, denn in den von scheuer Furcht halbunterdrückten Schmerzenslauten erkannte er die Stimme Ginevras – jene süßmelodische Stimme, die sonst in echt neapolitanischer Lebenslust nur zu lachen und zu singen wußte. Der erste Impuls Simone Morettos war, in stürmischem Allvergessen die ihn noch hemmende Fessel zu durchschneiden und sich mit einem Löwensprung auf den Banditen loszustürzen.

Aber die kühle Logik des Richteramtes hatte seinen Kopf geschult und mit dem heroischen Aufwallen des Herzens kreuzte sich ebenso rasch die vernunftgemäße Erwägung, daß jetzt, unmittelbar vor den Augen des Briganten, ein jeder Befreiungsversuch der hellste Wahnsinn sei, denn mit einem Schuß oder Dolchstoß konnte ja der Rotkopf den Rebellen viel rascher niederstrecken, als dieser mit dem Durchschneiden seiner Fußfessel fertig geworden wäre. Und was durfte das unglückliche Mädchen wohl dann erwarten, wenn der Tiger erst einmal Blut gerochen hatte?

Der Bandit war mittlerweile grimmig von seinem Sitz emporgefahren.

» Zitto là, canaglia!« rief er im brutalsten Ton der Ruhestörerin zu und stieß drohend den Kolben seines Gewehres auf den Stubenboden. Dem rohen Befehl gehorsamend, verstummte das leidende Mädchen. In namenloser Wut biß Simone Moretto die Zähne übereinander und dennoch durfte er mit keinem Gliede zucken, denn nur wenige Schritte von ihm stand der Rote, der ihm mit einem einzigen Fingerdruck den Schädel zerschmettern konnte.

Auch bei Ginevra erfüllte sich das biblische Wort: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Die Pein, die den zarten Mädchenleib folterte, überwog den momentanen Gehorsam, denn gleich darauf zitterten von neuem ihre Klagelaute durch die unheimliche Stille. Mit einem schmutzigen Schimpfwort fuhr der gereizte Bandit auf das qualvoll sich krümmende Opfer einer bestialischen Grausamkeit los. Die Haltung seiner Flinte verriet, daß er mit einem derben Kolbenstoß Ruhe schaffen wollte. Plötzlich ließ er das Gewehr sinken. Bei den krampfhaften Windungen auf dem Boden hatten sich die Kleider verschoben und dadurch die Beine bis zum Knie entblößt. Mit geilen Augen weidete sich der Elende an diesem Bilde – eine viehische Fleischeslust schien ihn zu durchlodern … Mit der Gier eines Wolfes wollte er sich eben über den jungfräulichen Leib hinwerfen – – – im selben Moment aber fuhr das Scheusal auch schon erbleichend herum, denn hinter ihm ertönte ein brüllender Laut wie aus keuchender Löwenbrust …

Wie soll die Feder das blitzartige Begebnis der nächsten Sekunde schildern?

Schon maßen sich Rotkopf und Simone Moretto in wildem Ringen auf Leben und Tod. Die Flinte des Banditen war der Siegespreis: der eine mußte ihn zu retten – der andere mußte ihn zu gewinnen suchen. Der Richter gebot über eine nicht gewöhnliche Muskelkraft, die sich jetzt unter dem Stachel der Wut noch verdoppelte: aber auch in den Armen des Rotkopfes spannten sich Sehnen, die sein schmächtiger Gliederbau nun und nimmer hätte vermuten lassen und die mit ebenso zähem Griff die Waffe umklammert hielten, an der die Entscheidung hing.

Wohl trug der Strolch noch außerdem an seiner Seite einen Hirschfänger, doch konnte er keinen Gebrauch davon machen, denn um die Klinge aus der Scheide zu ziehen, hätte er dabei ja den Flintenlauf mit der einen Hand loslassen müssen und das durfte er – wie ihn das gewaltige Zerren des Gegners belehrte – unter keinen Umständen wagen. Das ganz gleiche Risiko fiel andererseits auf Simone Moretto zurück, wenn etwa er es unternehmen wollte, dem Banditen die Stichwaffe zu entreißen. So war der Hirschfänger ein rein neutrales Gut und, wie schon bemerkt, die Flinte allein konnte den Ausschlag geben.

Taub für den gellenden Hilferuf seines Kameraden, lag der riesige Facchino wie ein lebloser Klotz auf dem Boden – aber auch der Richter durfte keinerlei Beistand erhoffen. Die an der Stubendecke hängende Laterne beleuchtete ein grausiges Bild. Der rufende Mund des Rotkopfes war verstummt; man hörte jetzt nichts mehr als das Keuchen und Zähneknirschen der beiden Streiter, die sich gegenseitig das Gewehr zu entreißen suchten, während Haß und Wut aus ihren stieren Augen glühten. Wehe dem Unterliegenden!

Trotzdem bis jetzt keiner der beiden wankte und wich, hätte dennoch für einen unbeteiligten Zuschauer der Ausgang des wilden Ringkampfes kaum einen Zweifel bieten können: die stärkere Kraft war auf seiten Simone Morettos und das fühlte der Rotkopf am besten. Nur irgend ein Griff oder Kniff, wie ihn der routinierte Raufbold anzuwenden weiß, konnte dem Banditen noch zum Sieg verhelfen. Und zu diesem Mittel nahm der arglistige Rotkopf seine Zuflucht. Sein rechtes Bein wie zu einem Haken krümmend, fuhr er dem Gegner blitzschnell zwischen die Füße; die Volte, die auf eine Verschiebung des natürlichen Schwerpunktes abzielte, gelang auch so vollkommen, daß Simone Moretto rücklings umkippte. Dennoch aber sollte es für den Rotkopf anders kommen. Er hatte erwartet, der gewissermaßen in die Luft geschnellte Gegner werde unwillkürlich die Flinte loslassen; statt dessen hielten die Hände des Richters ihren Rettungsanker fest und die Folge war, daß er in seinem Falle den Banditen mit sich zu Boden riß. Damit begann ein neuer, noch erbitterterer Ringkampf, bei welchem der Rote insofern den Vorteil hatte, daß er oben auf zu liegen kam. Ein und derselbe Gedanke leitete die beiden Gegner: jeder suchte mit der einen Hand sich des Flintenhahnes zu bemächtigen und gleichzeitig mit der anderen Hand den Gewehrlauf eine solche Richtung zu geben, daß der sich entladende Schuß den Feind traf. Schnaubend und stöhnend, zu einem Klumpen verschlungen, wanden sich die beiden Ringer auf dem Boden hin und her … Mit einemmal stieß Simone Moretto einen Schrei aus, den keine Feder beschreiben könnte: der rasende Bandit hatte seine scharfen Zähne seitwärts in den Hals eingegraben – unter dem zerfleischenden Biß quoll das helle Blut hervor. Halb erwürgt bäumte sich der Richter empor, um das mörderische Scheusal abzuschütteln: er fühlte, wie die bisherige Spannkraft seiner Muskeln einer tödlichen Erschlaffung zu weichen, wie ihm unter dem erstickenden Druck Atem und Bewußtsein zu schwinden begann – nur noch dumpf und verworren hörte er ein rasselndes Geräusch und spürte er, wie plötzlich die auf ihm liegende Körperlast in jähem Ruck beiseite geschleudert wurde. Starke Arme richteten den betäubten Mann vom Boden auf und geleiteten ihn sorgsam nach einem rasch herbeigeschafften Sessel; hilfreiche Hände verbanden zunächst die Bißwunde an seinem Halse und suchten ihn zur Besinnung zu bringen. Wie aus einem schweren Traume erwachend, blickte Simone Moretto um sich: vor ihm standen einige Carabinieri, während andere damit beschäftigt waren, die Fesseln der übrigen Gefangenen zu lösen. Die Hände auf den Rücken geschnürt, von einem Gendarmen mit gespannter Pistole bewacht, stand in einer Ecke der finstere Rotkopf: zu seinen Füßen lag, gleichfalls gebunden, der immer noch steifberauschte Facchino …

Soeben trat der das Pikett kommandierende Brigadier heran und reichte mit einer Mischung von Herzlichkeit und dienstlichem Respekt dem gerade noch rechtzeitig befreiten Richter die Hand. Wie die meisten der im Tavoliere stationierten Carabinieri, war auch der Brigadier ein Piemontese. Hoch gewachsen, stramm und straff, war er mit seiner Brust voll Medaillen und Kampagnezeichen und seinem verwetterten Bärenbeißergesicht, das ein riesiger Schnurrbart à la Viktor Emanuel markierte, das Musterbild des schneidigen Gendarmen; jeder Zoll an dieser energischen Mannesgestalt rechtfertigte den Beinamen »Eisenzange«, den die Steppenbauern dem tapfern Brigadier gegeben hatten. Er deutete nach dem Rotkopf hin, der in frechem Trotz um sich blickte. »Vielleicht noch eine Minute, Herr Richter, und dort die Teufelsbestie hätte Euch die Gurgel durchgebissen! Ihr dürft Euch bei Eurem Schutzpatron bestens bedanken, denn beinahe wäre ich mit meinen Leuten vorbeigeritten, ohne Halt zu machen. Nur das weit offenstehende Hoftor ließ mich irgendwelchen Unrat wittern und bewog mich abzusteigen, um nach der Ursache dieser ausfälligen Erscheinung zu forschen. Auf diese Weise konnten wir Euch gerade noch den Zähnen jenes Lumpenhundes entreißen, den ich am liebsten ohne jeden Prozeß draußen an einem Baumast anknüpfen möchte, denn für solch ein bourbonisches Ungeziefer ist die Standrechtskugel viel zu kostbar.«

Erstaunt blickte Simone Moretto den Brigadier an. »Ihr habt also meine Order gar nicht erhalten?« fragte er, seine wirren Gedanken sammelnd.

Die Reihe des Verwunderns war jetzt an dem wackern Piemontesen.

»Eure Order? Ma niente affatto, Signore! Der Feuerschein eines Brandes, der weithin den Himmel rötet, war mein einziger Bot- und Wegweiser.«

Von seinem Sessel emporschnellend, stürzte der Richter nach einem der Fenster und riß es auf. Nordwärts erhellte eine flammende Glut den Horizont. Kein Zweifel – die Mordbrenner hatten die Einsiedelei Signore Lorenzos angezündet. Im selben Moment vernahm Simone Moretto hinter sich die Stimmen der Signora Giuliana und ihrer Tochter Ginevra. Im Vergessen jeder jungfräulichen Scheu warf sich das Mädchen laut weinend in die Arme des geliebten Mannes. Eine dritte Stimme machte sich im Durcheinander hörbar – die Taddeo Martinis, des Hofpächters, der gleichfalls durch die Carabinieri von Strick und Knebel befreit worden war und sich jetzt in seinem ersten Grimm wie eine kleine Bulldogge auf den Rotkopf losstürzen wollte …

Wie aus der Erklärung des Brigadiers erhellte, waren also die von dem Richter nach den Gendarmeriestationen entsandten Boten entweder von den lauernden Briganten abgefangen worden – – oder aber hatten sie sich freiwillig den Weg abschneiden lassen. Sympathisierte ja, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, mehr oder minder das ganze Arbeitervolk des Tavoliere mit den Schnapphähnen, die – getreu dem alten Spruch, daß aus fremdem Leder gut Riemen schneiden ist – jeden Spion und Helfershelfer gut bezahlten! Nur durch diese geheime Bundesgenossenschaft war es ja auch den da und dort auftauchenden Räuberbanden möglich, der Justiz so oft und so erfolgreich ein Schnippchen zu schlagen.

Wir wissen, daß die dienstliche Pflichttreue für Simone Moretto ein Appell war, dem er jedes persönliche Interesse opferte. Sein Herz zog ihn an die Seite Ginevras, des so heiß geliebten Mädchens: sein Amt rief ihn nach der Stätte, von wo der lodernde Feuerschein als grausiges Alarmzeichen durch die Nacht glühte. Mit der ihm eigenen Energie und Besonnenheit entwarf er seine Dispositionen. Taddeo Martini und die anwesenden Hofknechte sollten sich mit Äxten, Gabeln und sonstigen ländlichen Werkzeugen nach Möglichkeit bewaffnen und die Stube gegen einen etwaigen neuen Überfall verrammeln; außerdem sollte einer der Carabinieri zurückbleiben und das Oberkommando führen. Mit den übrigen Gendarmen aber wollte der Richter nach der Brandstätte jagen. Sein eigenes Pferd und Gewaffe waren, wie es sich zeigte, von den abziehenden Briganten als gute Prise erklärt worden; so mußten jetzt der Gaul des zurückbleibenden Carabiniere und die Armatur des Rotkopfes als Ersatz dienen.

Nochmals – vielleicht zum letzten Mal – zog Simone Moretto in wortlosem Schmerz Signora Giuliana und Ginevra an seine Brust: die Träne, die in das Auge des starken Mannes schoß, war ein Gebet zu Gott …

Schon in der nächsten Minute galoppierte das heroische Reiterhäuflein mit verhängten Zügeln in die öde Steppe hinein, über die der Feuerschein hinflammte wie ein gespenstiges Nordlicht.


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