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Der Überfall.

(Fortsetzung von »Für Altar und Thron«.)

Westlich über den Bergen, welche die weite Grasfläche des Tavoliere di Puglia umrahmen, verglühte das Tagesgestirn und die grauen Schatten der einbrechenden Dämmerung begannen sich auf die öde, melancholische Steppe auszuspinnen. Il Prugnolo, der Meierhof Taddeo Martinis, zerfloß mit seinen verwitterten Baulichkeiten mehr und mehr im Dunkel der Nacht.

In Erwartung des Glockenzeichens, das sie zum Abendbrot rufen sollte, saßen und standen die Knechte und Arbeiter plaudernd vor den Ställen und Scheunen. Drinnen in der Staatsstube der Hofbäuerin war gleichfalls der Tisch gedeckt und die Padrona, die zu Ehren der eingetroffenen Gäste sich in ihre Feiertagskleidung gesteckt hatte, suchte so gut wie möglich den beiden Damen Gesellschaft zu leisten. Der Leser erinnert sich noch des brutalen Auftrittes, den Signore Lorenzo, von seiner Haushälterin Petronilla aufgestachelt, herbeigeführt und wodurch er in weiterer Folge den jähen Aufbruch des schwerbeleidigten Trios veranlaßt hatte. In ihrer schmerzlichen Gemütsstimmung wäre jetzt Signora Giuliana am liebsten mit ihrer Tochter Ginevra ungestört geblieben; sie konnte aber die wohlgemeinten Aufmerksamkeiten der Hofbäuerin nicht zurückweisen und so hielten Mutter und Tochter mit erzwungener Teilnahme das Gespräch im Gange.

Draußen vor dem Tore des Gehöftes pflog zur gleichen Zeit der Richter mit Taddeo Martini eine höchst ernste Beratung. Längst schon hätten ja die drei nach den nächsten Gendarmeriestationen entsandten Boten wieder zurückgekehrt sein können und trotzdem ließ sich immer noch kein Hufschlag in der grabesstillen Steppe hören. Wo blieben die drei ausgeschickten Reiter? Hatten sie überhaupt die Stationen erreicht, oder war ihnen schon gleich unterwegs irgendein Hindernis zugestoßen?

Auf keine dieser peinigenden Fragen gab es eine bestimmte Antwort und die nervöse Unruhe des Richters mußte sich von Minute zu Minute steigern. Was sollte er tun? Den drei in unerklärlicher Weise ausbleibenden Boten drei andere nachschicken, hieß die Mannschaft des Hofes abermals um ebensoviele Köpfe verringern, ohne dafür die absolute Gewißheit eines bessern und raschern Erfolges zu haben. Waren aber, vielleicht durch streifende Briganten aufgegriffen und festgehalten, die ersten drei Boten nicht an Ort und Stelle gelangt, so stand auch zugleich von den Gendarmeriestationen her keine Hilfe in Aussicht. Nach beiden Seiten hin war also die Lage Simone Morettos eine wahrhaft qualvolle. Seine Gedanken richteten sich nach der Einsiedelei Signore Lorenzos hin. Jankal, der Madagasse, war ein Kämpe, auf dessen unerschütterlichen Mut sich unter allen Umständen bauen ließ; mit dem Succurs der fünf Knechte, die ihm der Richter zugeschickt hatte, konnte der treue Afrikaner einem etwaigen Angriff schon die Stirne bieten. Aber Simone Moretto wußte auch zugleich, daß in diesem Fall die Briganten – wie es ihr steter Brauch war – in solcher Überzahl anrücken würden, daß dann die heroischste Gegenwehr nichts half. In seiner Erregung wollte Simone Moretto die noch übrigen Hofleute zusammenraffen, sich aufs Pferd werfen und den störrigen Greis, der durch seinen Eigensinn das ganze Dilemma hervorgerufen hatte, fortschleppen. Dann blieben aber in der Zwischenzeit Signora Giuliana und Ginevra schutzlos und allen Eventualitäten preisgegeben. Der Richter mochte also seine Situation drehen und wenden wie er wollte – immer stieß er auf einen Knoten, der sich nicht kurzweg zerhauen ließ. In wildem Grimm ballte er seine Fäuste. Taddeo meinte, wie die Sache nun einmal liege, sei es am besten, die Rückkunft der nach den Stationen abgeschickten Boten noch eine Weile zu erharren. Simone Moretto stimmte schließlich dieser Ansicht bei und während der Hofbauer zurückblieb, um mit einem scharfen Ohr in die Steppe hinauszuhorchen, lenkte der Richter seine Schritte dem Innern des Hauses zu, um sich wieder den seinem Schutze anheimgestellten Damen beizugesellen und sie ihrem Trübsinn möglichst zu entreißen. – – Im Tavoliere geboren und aufgewachsen, kannte Simone Moretto den Sinn und Charakter der dortigen Bevölkerung durch und durch und seine Stellung als Richter war dazu angetan, ihm nur noch weiteres psychologisches Material darzubieten.

Das unselige Regiment der Bourbonen und Pfaffen, hatte im Laufe der Zeit eine moralische Korruption geschaffen, welche die natürlichsten Rechtsbegriffe auf den Kopf stellte. Dem blutarmen neapolitanischen Landvolk galt das Räuberhandwerk durchaus nicht als ein verwerfliches – im Gegenteil, ein romantischer Hauch umwehte den Banditen und selbst der besser situierte Bauer und Pächter, wie z. B. Taddeo Martini, gestand, wenn nicht in Worten, so doch in Gedanken, dem Brigantentum eine gewisse Berechtigung zu, so lange der Freibeuter an ihm selber gnädig vorüberging. Es hieß auch hier: Lieber, heiliger Florian, verschon' mein Haus, zünd' andre an!

Für Simone Moretto unterlag es also keinem Zweifel, daß unter den Knechten und Arbeitern des Gehöftes sich verschiedene befanden, die ihm über die in der Umgegend aufgetauchte Räuberbande sehr genaue Auskunft hätten erteilen können und selber bereit waren, im gegebenen Moment mit den Briganten gemeinsame Sache zu machen. Keineswegs durfte daher der Richter im Fall der Not auf den vollen und unbedingten Beistand des Hofgesindes rechnen: nur die noch rechtzeitige Ankunft der zuverlässigen und schneidigen Carabinieri konnte ihn aus seiner mehr als unerquicklichen Position erlösen.

Gewaltsam seine innere Unruhe bemeisternd, setzte er sich zu den Damen, um in einer Art von Galgenhumor sich und seine Zuhörerinnen über den Ernst des Momentes hinwegzuheben. Eigenhändig trug die Hofbäuerin für die außergewöhnlichen Gäste das mit besonderer Sorgfalt zubereitete Abendmahl auf und als galanter Ritter geleitete Simone Moretto Tante und Bäschen zu ihren Plätzen, die sie allerdings nur pro forma einnahmen, denn weder Mutter noch Tochter fühlten ein Verlangen nach Speis' und Trank. Mit einemmal schlugen draußen im Hofe die Hunde an; horchend ließ der Richter Messer und Gabel sinken – – schon im selben Moment krachten ein paar Schüsse, denen ein dumpfes Durcheinander von Hundegebell und Menschenstimmen folgte!!

Wie von einer Schlagfeder emporgeschnellt, war Simone Moretto von seinem Stuhl aufgesprungen – sein erster Blick suchte die beiden teuren Wesen, an deren eines ihn noch mehr kettete als die bloße Familienverwandtschaft. Zitternd wie ein aufgescheuchtes Reh hatte sich Ginevra an die Brust der Mutter geflüchtet, die selber mit einer Ohnmacht rang … » Misericordia de' cieli!« kreischte draußen eine Frauenstimme und todesbleich stürzte die Hofbäuerin in die Stube herein.

» Gli briganti!« stöhnte sie aus keuchender Brust und taumelte gegen den Richter hin, der sie in seinen Armen auffing. Schon hatte sich der Vorflur mit wilden, abenteuerlichen Gestalten gefüllt – an ihrer Spitze ein hochgewachsener, schlanker Mann in braunem Mantel und breitkrempigem, federgeschmücktem Filzhut. Offenbar war er der Führer der Teufelsbande, denn einen Schritt vortretend, rief er mit herrischer Stimme dem Richter entgegen: »Ergebt Euch!«

Die Pächterin von sich stoßend, hatte Simone Moretto blitzschnell nach seinem Karabiner gegriffen, der in der Ecke lehnte. Der Mann im Mantel war der Bewegung gefolgt und ebenso rasch knackte in seiner Hand der Hahn einer Pistole. »Ergebt Euch, verfluchter Ketzer!« gebot er zum zweitenmal und hob drohend seine Waffe. Wie eine jähe Tollwut erfaßte es den Richter – ein elektrischer Ruck riß den Karabiner an seine Schulter hin und in einem Feuerstrahl krachte dem Banditenhäuptling die Antwort entgegen. Zum Zielen war keine Zeit gewesen: klatschend, nur wenige Zoll an dem Hut des Feindes vorbei, schlug die Kugel in die Wand. Ein Geheul wie von einem Rudel Wölfe kündete dem verwegenen Schützen blutige Vergeltung. Wogender Pulverdampf füllte die Stube.

»Tötet ihn nicht! Sein Leben kann uns zunächst nützlicher sein!« hallte hinter dem Dunstschleier die mächtige Stimme des Bandenführers. Schattenhaft sah Simone Moretto einige Gestalten in wildem Sprung heranstürzen; er hatte seinen Karabiner beim Laufe gefaßt, um mit dem Kolben dreinzuschlagen – da flog ihm, von einem der Briganten geworfen, in flinkem Schwung ein Mantel über den Kopf – – schon packten ihn auch ein Dutzend nervige Fäuste und rissen ihn nieder. Binnen weniger Minuten lag er mit festgeschnürten Händen und Füßen als wehrloses Bündel auf dem Boden; ein Knebel wurde ihm gewaltsam in den Mund geschoben. » Insaccate la sua faccia!« befahl in finsterer Ruhe der Führer. Dem Gebote Folge leistend, nestelte einer der Gesellen seine aus einem Ziegenfell zusammengenähte Provianttasche los und stülpte sie dem Gefangenen wie eine Blendkappe über den Kopf. Der Richter konnte jetzt also nur noch mit dem Gehör die weitere Entwickelung der Dinge verfolgen. Schon in der nächsten Minute zerriß der verzweiflungsvolle Aufschrei Ginevras sein Herz. » Ajuto, Simone, ajuto!« Mit dem markerschütternden Hilferuf des Mädchens vermischten sich die Stimmen der Mutter und der Hofbäuerin zu einem grausigen Dreiklang. Wie ein Rasender wand sich der Richter auf dem Boden; der Knebel, der seine Zunge lähmte, ermöglichte ihm nur den Ausstoß einiger unartikulierter Laute und die Stricke, an denen er knirschend rüttelte und schüttelte, spotteten all seiner Anstrengungen. Derbe Fäuste packten ihn mit einemmal bei den Schultern und Beinen und schleppten ihn schwebend aus der Stube. Der Transport ging übrigens nicht weit, denn gleich darauf machten die Träger schon Halt und warfen mit einem brutalen Ruck ihre Last ab – unbekümmert darum, ob der Fall einen Rippenbruch koste oder nicht. Simone Moretto war mit den innern Räumlichkeiten des Hauses genau bekannt; trotz des Sackes, in welchem sein Kopf stak, hatte er daher den Gang seiner Träger leicht kontrollieren und aus ihrer Richtung den Schluß ziehen können, daß er sich jetzt in der großen Gesindestube befand. Offenbar teilten verschiedene Leidensgenossen seine unerfreuliche Lage, denn rings um sich her vernahm er unterdrücktes Seufzen und Ächzen. Und wiederum näherten sich vom Flur her ebenmäßige Tritte. Gerade weil ihn nur noch sein Ohr mit seiner Umgebung verband, so hatte sich, wie bei einem Blinden, das ganze Erfassungsvermögen des Richters in dem Gehörsinn konzentriert und diesen Nothelfer bis zum äußersten Maße angespannt.

Trotz des mannigfachen Geräusches, das den Vorplatz und die Stube erfüllte, vernahm Simone Moretto unter seiner Sackmaske hervor, wie unweit von ihm drei neue Traglasten niedergelegt wurden und zwar unverkennbar mit größerer Rücksichtnahme, als man sie zuvor seiner eigenen Person gezollt hatte. Er schloß daraus, daß Signora Giuliana, Ginevra und die Hofbäuerin gleichfalls hierher geschafft worden seien und bei all seiner leiblichen Pein – das Ziegenfell, das seinen Kopf umhüllte, raubte ihm fast den Atem – durchzuckte ihn ein tröstliches Gefühl, daß er wenigstens die beiden geliebten Mitdulderinnen in seiner Nähe wissen dürfe …

Die Briganten befürchteten jedenfalls keine baldige Störung, denn aus Küch' und Keller tönten ihre Stimmen her, dann durchstreiften sie die übrigen Räume und das Krachen von Schlössern und Brettern kündete dem horchenden Ohr des Richters, daß die Unholde in voller Arbeit waren, Kisten und Kasten auszuplündern.

Unwillkürlich regte sich bei diesem frechen Tun und Treiben in Simone Moretto der Kriminalbeamte und im Geiste leitete er eine Untersuchungs-Prozedur ein, wie und unter welchen Umständen die Räuberbande ihren jähen Überfall so erfolgreich hatte zur Ausführung bringen können. Auch das Schicksal Martinis beschäftigte ihn: lag der Hofbauer gleichfalls gebunden und geknebelt hier in der Stube, oder hatten ihm die Briganten ein anderes Los bestimmt? … Und wie mochte es droben in dem alten Waldschloß aussehen? War Jankal, die treue Schildwache, vielleicht schon auf seinem verlorenen Posten in heroischer Gegenwehr gefallen, oder stand ihm der blutige Strauß erst noch bevor? …

Die Gedanken Simone Morettos wandten sich seiner eigenen Person zu. Was beabsichtigten die Briganten mit ihm anzufangen? Er war bekannt als religiöser Freidenker und als begeisterter Anhänger und Verfechter der von Cavour inaugurierten Politik; die durch die Bourbonisten und Jesuiten von Rom aus angezettelte Kontrerevolution hatte in ihm einen ebenso wachsamen als energischen Gegner.

»Verfluchter Ketzer.« So hatte ihn der Führer der Schnapphähne tituliert und dadurch kurzweg kundgegeben, daß er von der Parteirichtung seines Gefangenen ganz genau unterrichtet war. »Tötet ihn nicht!« hatte dann der für Thron und Altar schwärmende Buschklepper seinen Spießgesellen zugerufen: »Tötet ihn nicht, sein Leben kann uns zunächst nützlicher sein.« Also nur zunächst! Und dann?!? – – –

All diese Fragen und Zweifel durchkreuzten das Gehirn Simone Morettos. Ein scharfer Pfiff, der durch das ganze Haus gellte, zerriß den Faden seiner trüben Gedanken und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder der momentanen Sachlage zu. Der Pfiff, wie sich sogleich zeigte, war ein Appellsignal gewesen, denn das Ohr des Richters hörte, wie aus allen Teilen des Hauses die plündernden Briganten eilfertig herbeistürzten und sich draußen im Hofe sammelten. Waffen klirrten, Stimmen redeten durcheinander – dann verstummte plötzlich der wilde Lärm. Noch fragte sich Simone Moretto, was dies wohl zu bedeuten habe: da näherten sich vom Vorplatze her Schritte und sie mußten von Reitern herrühren, denn Sporen rasselten und Säbelscheiden streiften auf dem Backsteinpflaster hin. Wie ein Blitz zuckte es durch die gefesselten Glieder des Richters! Waren am Ende doch noch die braven Carabinieri rechtzeitig als Erlöser eingetroffen und hatten – – –

Er konnte den Gedanken nicht zum Abschluß bringen, denn soeben machten an der Türschwelle die Schritte Halt und eine Stimme, welche nicht die des Häuptlings war, auf den er seinen Karabiner abgedrückt hatte, sprach in hartem, kaltem Klang: »An die Gefangenen, die sich hier befinden, richte ich die wohlgemeinte Warnung, daß keiner versuchen möge, sich eigenmächtig zu befreien, denn die anwesenden Wachen werden jeden, der sich rühren sollte, sofort niedermachen, im Notfall auch das Haus an den vier Ecken anzünden und euch alle bei lebendigem Leibe verbrennen lassen … Andererseits« – fuhr er nach einer Pause weiter – »haben die Wachen von mir den strengen Befehl, keinen der Gefangenen unnützerweise zu mißhandeln.« Die Briganten, welche die Hut übernehmen sollten, hatten, wie Simone Moretto merkte, ihren Posten bereits angetreten, denn mit leiserer Stimme erteilte der Sprecher in veränderter Schallrichtung einige kurze Instruktionen, denen das Aufstoßen mehrerer Gewehrkolben folgte. Die Sporenstiefel setzten sich wieder in Bewegung; wenige Minuten darauf drang vom Hofe her ein dumpfes Geräusch an das lauschende Ohr des Richters, er hörte Pferde wiehern und das Hoftor knarren – dann war alles wieder still. Mit Zurücklassung einer Wache für die Gefangenen hatte die Brigantenschar offenbar den Abmarsch angetreten.

Wohin? fragte sich Simone Moretto in wilder Verzweiflung.

* * *

An einem Tisch, neben der offenstehenden Stubentüre, saßen die zurückgebliebenen Wächter. Es waren der Zahl nach nur zwei, aber der Hauptmann hatte sie, den gefesselten, wehrlosen Gefangenen gegenüber, als ausreichend erachtet; leicht konnten ja die beiden, ihrer Order gemäß, einen jeden niederstoßen, der seine Bande zu lockern suchte. Um die ihrer Obhut übergebenen Häftlinge besser überblicken und jede etwaige Bewegung derselben kontrollieren zu können, hatten die Briganten den Tisch an die geeignetste Stelle geschoben. Eine von dem Deckbalken der Stube herabhängende Öllampe erleuchtete flackernd den improvisierten Kerker.

Offenbar war die Wahl des Häuptlings auf zwei Gesellen gefallen, von denen er die prompteste Ausführung seiner Befehle erwarten durfte. Der eine der beiden war, schon in den reiferen Jahren stehend, ein Mann von kolossalem Gliederbau – das Urbild des Abruzzenbanditen. Auf einem Büffelnacken, den die letzten Fetzen eines indischen Foulards strickartig umschlangen, saß, von Wind und Sonne bronziert, ein Kopf, der in einer jeden seiner wilden, unheimlichen Linien eine offene Kriegserklärung gegen Leben und Eigentum trug. Ein mit bunten Bändern verzierter Spitzhut von grobem Filz, eine von Wind und Wetter hart mitgenommene Jacke von schwarzem Samt mit versilberten Knöpfen, eine rote Weste und eine Kniehose von Hirschleder gaben diesem Landsknecht des Verbrechens ein Kolorit, das mit seinem verwegenen Handwerk harmonierte. Derbe Schuhe und Gamaschen von zottigem Ziegenfell vervollständigten das Kostüm des Freibeuters. Im breiten Leibgurt steckten Messer und Pistolen – um den nackten Hals des Riesen aber wand sich ein dünnes Stahlkettchen, an dem ein wahres Magazin von allerlei Krimskram funkelte: geweihte Medaillen, Schaumünzen und Amulette, die ihren Träger nicht nur wider Schuß, Hieb und Stich, sondern auch gegen die Wirkung des von dem Italiener so gefürchteten »bösen Blickes« schirmen sollten. Neben dem Bildnis der Madonna schaukelte sich auf einer dieser Münzen auch das Konterfei des Exkönigs von Neapel. Zu Rom waren diese Medaillen von Priesterhand eingesegnet und dem Mordbrenner feierlichst als absolvierendes Vademecum an den Hals gehängt worden. Arbeitete ja jetzt der blutige Schnapphahn im Gott wohlgefälligen Dienste der heiligen Kirche und eines gesalbten Königsmärtyrers, dem die piemontesischen Ketzer Land und Krone gestohlen und dem sie nichts übrig gelassen hatten, als die Augen zum Weinen!

Die Flinte zwischen den Beinen, den Kopf auf den Ellbogen gestützt, rauchte der wunderliche Apostel eine Zigarre, während er seinen Geierblick wachsam über die am Boden liegenden, gebundenen und geknebelten Menschengestalten hinschweifen und zeitweise einen Drohruf ertönen ließ, wenn, durch die gestörte Blutzirkulation gepeinigt, einer oder der andere nur seine unerträgliche Lage verändern und momentan den Kopf in die Höhe richten wollte.

Auch der Kamerad des erbarmungslosen Hüters hatte sich eine Zigarre angezündet und ebenso unbekümmert um die Qualen der vor ihm hingestreckten Gefangenen, unterhielt sich der Strolch damit, den Rauch in allerlei Schnörkeln und Ringeln gegen die Stubendecke zu blasen. Anscheinend vier- oder fünfundzwanzig Jahre alt, nahm er sich neben seinem riesigen Zunftgenossen wie ein Knabe aus; klein und mager, trug er offenbar die Keime der Schwindsucht in sich. Ein besonderes Kennzeichen hob den Kontrast zwischen ihm und seinem Gefährten nur noch schärfer hervor: sein Haar war nämlich von dunkelroter Farbe. Bei den Briganten führte er deshalb den Beinamen: » Volpicino«. Füchschen. Und wirklich lag auch in dem schmalen, fleischlosen Gesichte und in den kleinen, stechenden Augen jener Ausdruck von List und Schlauheit, der in Fabel und Naturgeschichte dem schleichenden Hühnerdieb als dominierender Grundzug beigemessen wird. Lachte er aber und zeigte sich dann unter den dünnen, blutlosen Lippen ein Gebiß von spitzen, gelben Zähnen, so schwand wie auf einen Schlag in seinen Gesichtszügen das jesuitische Blinzen des Fuchses und machte dem gespenstigen Grinsen eines Totenkopfes Platz … Auch »Zerbinotto« Stutzer, Zierbengel. ward er von den Briganten genannt, die seine maßlose Eitelkeit und sein geckenhaftes Wesen bespöttelten. Konnte ja eine Kokette nicht putzsüchtiger sein als dieser Galgenkandidat es war! Sein rotes, bis auf die Schultern herabfallendes Haar war stets auf das Sorgfältigste gescheitelt und pomadisiert; an dem Schnurrbart, der in kümmerlichem Wuchse seinen Mund umsäumte, strich und zwirbelte er in jeder müßigen Minute und Narcissus mythologischen Angedenkens mochte weiland im Reflexe des Wassers seine Figur kaum wohlgefälliger mustern, als der Rotkopf bei jeder Gelegenheit sich in seinem Taschenspiegel beäugelte und entzückt anlächelte. Seinem eiteln Naturell entsprechend, trug er ein phantastisch zugestutztes, grünes Jagdhabit, zu dem er schwerlich die quittierte Schneiderrechnung hätte aufweisen können. Ein graues Hütchen, überreich mit Federn und Goldtroddeln ausstaffiert, war keck aufs Ohr gedrückt und machte, von seinem Träger freilich unbeabsichtigt, mit den hohlen, farblosen Wangen des schwindsüchtigen Burschen einen geradezu komischen Effekt. An den magern Fingern funkelten, bunt durcheinander, Ringe von den verschiedensten Formen und Qualitäten, wie sie eben der Zufall dem Banditen in den Weg geworfen hatte. Mit seinem theatralischen Waidmannskostüm harmonierend, steckten seine Beine in hohen Jagdstiefeln; ein Hirschfänger mit silberbeschlagenem Griff und eine wertvolle Doppelbüchse bildeten die Armatur des Zerbinottos.

Rom, die heilige Tiberstadt, durfte sich der problematischen Ehre rühmen, der Geburtsort des Zerbinottos zu sein. Seine Mutter war von den Albaner Bergen hergekommen, um als Lavandara Wäscherin. in der ewigen Stadt ihr Brot zu suchen. Wie meistens die Albaneserinnen, mag auch sie eine schmucke Dirne gewesen sein, und so fand sich nur allzubald ein Liebhaber für diese appetitliche Unschuld vom Lande.

Die arme Kreatur genas eines Knäbleins und starb kurz darauf im Spital; das Büblein kam in das Ospicio apostolico, den Nothafen für die Waisen- und Findlingskinder. Wer und was war der Vater der in die Welt geworfenen Sündenfrucht gewesen? Der spätere Zerbinotto hat es niemals genau erfahren können – nur so viel ist zu seiner Kenntnis gelangt, daß es ein Engländer gewesen sei, der die dralle Lavandara einem flüchtigen Sinnenkitzel opferte und sie dann wie eine ausgesogene Orange dem Kehrbesen des städtischen Magistrats überließ.

»Meine roten Haare sind die einzige Erbschaft, die mir der ketzerische Beefsteakfresser vermacht hat«, pflegte der Zerbinotto zu sagen, wenn die Rede auf seinen Rabenvater kam. Aber das perfide Albion sollte für den einen büßen und so mußten späterhin ohne Gnad' und Barmherzigkeit all die Engländer verbluten, die dem Briganten in den Weg kamen. – –

Im Ospicio wuchs der Knabe auf; zur rechten Zeit sollte er das Waisenhaus mit dem Seminar vertauschen und dann Priester werden. In wildem Trotz erklärte aber der Junge, er wolle kein Pfaffe werden. Nun hätte es allerdings im Seminar verschiedene Korrektionsmittelchen gegeben, um den Rebellen zu brechen, wenn er sich nicht biegen wollte. Zu Rom sind wahrlich zum größern Ruhme Gottes schon härtere Nüsse geknackt worden, als solch ein störriger Bubenschädel! Doch man legte, wie es scheint, auf seine Fortbildung überhaupt keinen besonderen Wert und so erledigte sich die Sache in kurzem Prozeß: man machte die Türe des Ospicio auf und setzte den Meuterer an die Luft, mit dem Bedeuten, er sei jetzt groß genug, um für sich selber sorgen zu können. Als der Junge mit seinem Bündelchen die Schwelle des Waisenhauses überschritt, ahnte er sicherlich nicht, daß in diesem Moment die Würfel fielen, die über seine ganze Zukunft und den blutigen Abschluß seines Lebens entschieden …

Es würde zu weit führen, wenn wir die Frage beantworten wollten, wie sich der jugendliche Vagabund zunächst durchschlug. Man kann dabei unwillkürlich an einen herrenlosen Hund denken, der schnuppernd die Fleischer- und Bäckerläden umkreist. Auch unter die »Modelle« mischte er sich, die Tag aus, Tag ein auf den Stufen der spanischen Treppe umherlungerten und sich konkurrenzneidig den musternden Malern und Bildhauern feilboten, um für wenige Carlini sitzend oder stehend, drapiert oder splitternackt allen Kaprizen der Künstlerphantasie zu gehorsamen. Was wollte aber der von der Natur so stiefmütterlich bedachte Bursche auf diesem Markte suchen, wo die interessantesten und formenprächtigsten Gestalten dutzendweise zur Auswahl standen! Mit einem flüchtigen Blick auf seine »undankbare« Figur schüttelten die Künstler kurzweg den Kopf, selbst wenn er sich ihnen zum niedrigsten Lohnsatze anbot. Unter dem Spott seiner zugkräftigeren Konkurrenten räumte er seinen Platz auf der spanischen Treppe, die ihm den Hungertod prophezeite. Es gibt aber zu Rom noch einen andern Markt, wo ein Bursche, der nicht arbeiten und doch sich sattessen will, seine Dienste an den Mann bringen kann.

Aus Sittenschilderungen und Büchern, die die sexuelle Sphäre des Menschen behandeln, kennt wohl auch der nordische Leser jenen unseligen, widernatürlichen Hang, der den Südländer und Orientalen mit oft dämonischer Gewalt zu Wesen seines eigenen Geschlechtes hinzieht und ihn darob das Weib verschmähen läßt. Jedes Laster schafft sich seine dienstwilligen Handlanger und so findet denn auch zu Rom wie zu Konstantinopel, zu Neapel wie zu Kairo die hier in Rede stehende Verirrung der Vernunft und Moral mehr als genügend Vorschub.

Auch der Rotkopf bot seine »Reize« feil.

Als Schlüsselsoldat – so bezeichnete der Volksmund die aus allen Nationalitäten zusammengewürfelten Söldner der päpstlichen Landsknechtregimenter – begegnet uns der Zerbinotto auf seiner nächsten Lebensetappe. Nicht ein besonderer Geschmack für kriegerische Lorbeeren hatte ihn nach dem Werbebureau getrieben, sondern einzig und allein die geckenhafte Eitelkeit, die, wie schon erwähnt, ihn nach allem haschen ließ, was recht grell flimmerte und schimmerte. Seiner Farbenlehre getreu, suchte er sich die blauen Husaren heraus, die mit ihren buntverschnörkelten Uniformen und zirkusartig aufgezäumten Pferdchen das helle Entzücken aller Köchinnen, Ammen und Stubenmädchen bildeten, während die Herren Offiziere mit gleichem Glück in den höhern Gesellschaftsetagen den Lilienknicker spielten. –

Bald nachdem der Rotkopf dem heiligen Vater seine Knochen verkauft hatte, knüpfte er mit einem Mädchen aus dem Handwerkerstande ein Liebesverhältnis an. Aber auch ein Dragonerkorporal – ein Deutscher – fand an der muntern Fanciulla sein Wohlgefallen und – zwischen den »Grünen« und den »Blauen« bestand eine traditionelle Rivalität – dem Husaren zum Tort, bewarb er sich um ihre Minne. Der Vergleich, den die Schöne zwischen den beiden anstellte, fiel zugunsten des robusten, blondhaarigen Tedesco aus und kurz resolviert ließ sie den trotz seiner brillanten Uniform unansehnlichern Rotkopf ablaufen.

Noch am gleichen Abend ging die junge Schlange mit ihrem neuen Galan zum Tanz. Sie ahnten wohl nicht, daß es ihr Todesreigen sein sollte!

Während einer Pause verließ das Pärchen lachend und schäkernd den Saal und kam nicht wieder zurück. Man schenkte diesem Verschwinden keine weitere Beachtung. Am folgenden Morgen fand man im Gartengebüsch die beiden tot; jede der Leichen zeigte zwischen den Schulterblättern einen Messerstich, der, offenbar blitzschnell geführt, das gemeuchelte Schlachtopfer lautlos niedergestreckt hatte. Der Verdacht der Täterschaft richtete sich sofort auf den Zerbinotto – schon von seinen Regimentskameraden war ihm dieser ironische Beinamen verliehen worden – und die ganze Sachlage sprach dafür, obwohl ihn niemand in oder vor dem Tanzsaal gesehen hatte. Ruhig und gelassen war er, wie die Stubenmannschaft aussagte, an jenem verhängnisvollen Abend in seine Kaserne heimgekehrt und in scheinbar ebenso normaler Gemütsverfassung hatte er am nächsten Morgen seinen Dienst erledigt; auch seine Uniform zeigte bei der Untersuchung nicht die geringste Blutspur. Er selber bestritt in Ton und Haltung tief gekränkter Würde jede Schuld an dem Doppelmord und erklärte auf Befragen des Auditors, er habe sich zu der kritischen Zeit harmlos in den Straßen umhergetrieben. Die weitern Verhöre und Recherchen ergaben gleichfalls kein bestimmtes Resultat; der Rittmeister – den die Chronique scandaleuse der Eskadron mit dem Rotkopf in eine unsaubere Verbindung brachte – ging für die Unschuld seines Untergebenen energisch ins Zeug und – kurz und gut: über den dunkeln Casus wurden die Akten geschlossen. Was lag auch dem Militärgericht besonders viel an dem Heimgang eines Mädchens von jedenfalls leichtfertigen Conduiten und eines fremdländischen Soldknechtes, für den sich in jedem Werbebureau ein Ersatzmann finden ließ!

Man wußte ja sehr wohl, daß kaum einer unter die Schlüsselsoldaten ging, bei dem es nicht hieß: ultima spes miles Soldat ist die letzte Hoffnung., und daraus entsprang die brutale Mißachtung, die man, von der leitenden Spitze abwärts, dem erkauften Troß zollte.

Gerade damals, wo der Zerbinotto die Husarenjacke des heiligen Vaters trug, war das päpstliche Heerwesen so zu sagen auf den Gefrierpunkt der Moral und der Manneszucht herabgesunken. Noch unter dem vorigen Pontifex (Gregor XVI.) hatten die in den katholischen Urkantonen der Schweiz angeworbenen Kriegsknechte den Kern der Armee gebildet; seit dem Regierungsantritt Pius des Neunten war aber die Sache anders geworden: der Bundesrat zu Bern wollte nämlich nicht länger mehr das Schauspiel dulden, daß der helvetische Freistaat der Markt par excellence sei, der die fremdländischen Potentaten mit Kanonenfutter versorge, und demzufolge ward ein Gesetz promulgiert, das dem bisherigen Werbemodus die möglichsten Schwierigkeiten in den Weg legte. Die päpstlichen (auch die neapolitanischen und holländischen) Fleischlieferanten suchten zwar mit allen erdenkbaren Kniffen und Pfiffen das Hindernis zu umgehen, aber zu Bern hielt man Aug' und Ohr offen und so kam es, daß der schweizerische Truppenbestand der Schlüsselarmee immer mehr und mehr zusammenschmolz. Notgedrungen mußte sich die Kurie nach einer andern und ausgiebigeren Rekrutierungsdomäne umsehen und so richtete sich ihr Blick zunächst auf Österreich. Um sich einen Stuhl im Himmel zu verdienen, gab die kaiserliche Regierung ihre Zustimmung und der Feldzeugmeister Baron Nugent übernahm, wenn auch gerade nicht in direkt offizieller Eigenschaft, das Patronat dieses frommen Menschenhandels. Wohlgemut hing der heilige Vater in allen größern Städten des Kaiserreichs, von Lemberg und Agram bis Innsbruck, seine Werbefahne aus und bald meldeten sich allerlei problematische Naturen – abgedankte Soldaten, Handwerksburschen und sonstige Landstreicher – die nichts besseres zu tun wußten, als für eine Hand voll Silberlinge ihre Haut zu verkaufen. Wenn der Aspirant die körperlichen Qualifikationen besaß, so engagierten ihn die päpstlichen Werber, ohne seine Vergangenheit weiter zu kontrollieren und die österreichische Polizei benützte selber die Gelegenheit, um verschiedene, ihrer Obhut unterstellte Edelknaben auf gute Manier loszuwerden. Die Rekrutierung beschränkte sich übrigens keineswegs nur aus österreichische Landeskinder – - ebensowenig spielte die Konfession eine Rolle dabei. Protestanten und Juden waren nicht minder willkommen; man konnte ja die Ketzer, wenn man sie erst einmal unter der Fuchtel hatte, con amore taufen. Ganze Schiffsladungen von zukünftigen Himmelsstreitern gingen von Triest nach Civita Vecchia, wo die Ankömmlinge den verschiedenen Regimentern und Garnisonen zugeteilt wurden. Auch nach Irland, der bigott katholischen »Smaragd-Insel«, warf das päpstliche Kriegsministerium sein Fangnetz aus; John Bull brauchte aber selber Rekruten, um sie in Indien und Afrika die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen und so erklärte er dem konkurrierenden Statthalter Christi kurz und bündig: Non possumus. Trotzdem brachte die irische Klerisei unter der Hand zirka tausend Galgenschwengel zusammen, die bei Nacht und Nebel eingeschifft und zu Rom in ein besonderes Bataillon formiert wurden, das den pompösen Titel erhielt: »Die Heerschar des heiligen Patrik«. Der Apostel und Schutzpatron Irlands.

Die Römer und Römerinnen wissen von diesen heiligen Patrikstrabanten und ihrer Aufführung heute noch blaue Wunder zu erzählen!!

Als gut katholische Länder wurden bei der Soldatenjagd auch Frankreich und Belgien nicht vergessen. Hier spekulierte aber die päpstliche Kurie weniger auf den gemeinen Haufen, als vielmehr auf die hohen, begüterten und dabei strenggläubigen Gesellschaftskreise; diesen beiden Ländern war die besondere Ehre zugedacht, ein nur auf zwei Schwadronen fixiertes Elitekorps als Weihegabe darbringen zu dürfen. In brillantester Uniformierung und Equipierung sollten die jungen Herren als Leibguiden Seiner Heiligkeit fungieren und ein halb militärisches, halb höfisches Gefolge bilden. Die Kosten ihrer Ausstattung und ihres Unterhaltes blieben großmütig ihrem eigenen Beutel überlassen. Selbstverständlich verlangte die Formation einer solchen Noblegarde auch ihren aparten Werbemodus; der Beichtstuhl – dieser wirksamste und diskreteste Helfershelfer der katholischen Priesterschaft – vermittelte die romantische Transaktion. Die reizendsten Damen der Pariser und Brüsseler Haute volée übernahmen die gnadenvolle Mission, in Salon und Boudoir ihren Zauber spielen zu lassen und für den » Pauvre Saint-Père« eine Kavalkade von moschusduftenden, geschniegelten und gebügelten Kreuzrittern ins Feld zu stellen.

Wie schon oben angedeutet, hatte die eigentliche Kriegsmacht des Papstes von diesem Zuwachs wenig oder nichts zu erwarten. Doch darum handelte es sich auch gar nicht. Der Gedanke, der die Kurie leitete, war, sich in diesen jungen Lebemännern gewissermaßen ebensoviele Geißeln zu verschaffen, durch die sich dann eine bequeme Pression auf die betreffenden, mit Moneten gesegneten Familien ausüben ließ. Wenn der Sohn im Ehrendienste des heiligen Vaters stand, so mußte für diese Auszeichnung auch der Herr Papa die gebührenden Peterspfennige springen lassen; abgesehen davon, daß die jungen Noblegardisten ihr Taschengeld, statt anderswo, zu Rom plattklopften – indirekt also gleichfalls zu Nutz und Frommen der päpstlichen Finanzen. Die holden Werberinnen brachten auch wirklich die zwei Schwadronen – zirka dreihundert Mann – in kürzester Zeit zusammen und der Segen des heiligen Vaters lohnte ihre fromme Arbeit. In pompösester Ausrüstung, unter dem Kommando eines bourbonischen Prinzen trat die vornehme Reiterschar ihren Dienst an – wenn man ihr Schlaraffenleben zu Rom überhaupt mit diesem Worte bezeichnen will. Persönliche Bravoure mangelte keinem dieser frankobelgischen Kavaliere und für jede Bagatelle setzten sie im Duell ihr Leben aufs Spiel; militärische Kenntnisse und soldatische Disziplin dagegen betrachteten sie als den reinsten Überfluß. Sie wollten Parade machen, auch bei Gelegenheit auf ihren feurigen Rossen eine brillante Attacke ausführen – weiter nichts. Auf dem Korso, in den Kirchen und Theatern kokettierten sie mit den römischen Damen und jede Nacht mußte ihr pikantes Abenteuer bringen. Wenden wir uns von diesem parfümierten Donjuan-Korps den übrigen prunkloseren Streitkräften des Papstes zu.

Dem Solde nach, den er bezahlte, gebot Pius IX. über zweiundzwanzigtausend Mann – in Wirklichkeit aber reduzierten sie sich auf nur achtzehntausend. Die Handgelder und Unterhaltungskosten für die nur auf dem Papier existierenden Viertausend flossen in den Beutel eines Konsortiums von Spitzbuben; auch in all den übrigen Verwaltungszweigen des Heerwesens feierte der Unterschleif wahre Orgien. Nur selten packte eine energische Untersuchung die Schuldigen und schuf für eine kurze Weile Besserung. Dann ging wieder die alte Halunkenwirtschaft frisch los.

Inbegriffen in die Effektivziffer von achtzehntausend Mann war das viertausend Köpfe starke Gendarmeriekorps, das, zu Fuß und zu Pferde, stationsweise – von sechs bis hundert Mann – im ganzen Lande verteilt lag und unter den eingeborenen Truppenteilen weitaus den Vorrang behauptete. Dreihundert dieser Gendarmen garnisonierten zu Rom und hüteten gemeinsam mit den verschiedenen Trabantenkompagnien den Vatikan – dieses riesige Labyrinth, das mit seinen nahezu elftausend Sälen und Gemächern, mit seinen zweiundzwanzig Höfen und weitläufigen Gärten ein Areal umfaßt, auf welchem, wie berechnet worden ist, eine Stadt mit hunderttausend Einwohnern Platz finden würde.

Außer den Gendarmen und (etwa zwölfhundert) Doganieri Zoll- und Grenzjäger. dienten dem Papste noch ungefähr dreitausend Mann eingeborener Truppen und just bei diesen Regimentern sah es am trostlosesten aus. Die Offizierstellen waren fast durchgängig durch die Gunst der Kardinäle resp. die Fürsprache ihrer »guten Freundinnen«, selbst auch ihrer Kammerdiener, Kutscher und Köche an Individuen vergeben, die weder in militärischer noch in moralischer Beziehung ihr Anrecht auf die Epauletten nachzuweisen vermochten. Die Mannschaft entsprach vollkommen ihren Führern. Wenn Bürger einen dieser Vaterlandsverteidiger hänselten, so erhielten sie die unverblümte Antwort: »Cospetto, seid froh, daß wir eine Flinte tragen, denn wenn der Garibaldi kommt, so findet er sie doch gleich blank geputzt. Haltet ihr uns für Narren? Wir lassen uns von den Pfaffen füttern, aber wir lassen uns nicht für sie totschießen« … Die Österreicher – um mit diesem Kollektivtitel überhaupt all die Söldner deutscher Zunge zu bezeichnen – die Schweizer, einige Hundert Bretagner und die famose »Heerschar des heiligen Patrik« ergänzten das Mixtum compositum der päpstlichen Armata. Uniformierung und Reglement waren nach französischem Zuschnitt, doch setzten es die Österreicher – man hatte die ausgedienten kaiserlichen Soldaten größtenteils zu Jägerbataillons formiert – schließlich durch, daß man ihnen ihr eigenes Exerzitium ließ. Man ließ ihnen auch den traditionellen Haselstock, mit welchem wacker auf sie losgeprügelt wurde. Deshalb liefen viele Österreicher zu den Schweizern über, wo es keine Schläge gab. Die schweizerischen Hauptleute nahmen die Flüchtlinge willig auf, um mit ihnen ihre eigenen Lücken zu ergänzen; reklamierte das österreichische Kommando die Ausreißer, so wußte das schweizerische alle möglichen Rabulistereien zu ersinnen: das Kriegsministerium, um es weder mit den einen noch mit den andern zu verderben, hielt sich dabei neutral. Begreiflicherweise war das Verhältnis zwischen den beiderseitigen Offizieren ein höchst gespanntes. Die tollste Wirtschaft florierte übrigens doch bei der Heerschar des heiligen Patrik. Man muß die Roheit kennen, die dem irischen Volkscharakter schon an und für sich eigen ist; nun kam noch dazu, daß die geistlichen Werber, von der englischen Polizei scharf überwacht, keine Zeit und Gelegenheit gefunden hatten, unter dem sich ihnen darbietenden Kanonenfutter eine besondere Blumenlese vorzunehmen. Der erste war zugleich auch der beste und der heilige Vater mußte eben zusehen, wie er mit den Edelknaben fertig wurde. Über Hals und Kopf in ein Schiff gepackt, schwammen die Tausend wie eine Herde Schlachtvieh nach Civita Vecchia. Offiziere hatte man in Irland für den Haufen nicht auftreiben können und so mußte auch hier die willfährige österreichische Regierung aushelfen.

In der kaiserlichen Armee dienten verschiedene Irländer und (katholische) Engländer als Offiziere; unter günstigen Bedingungen auf unbestimmte Zeitdauer »beurlaubt«, übernahmen sie die Führung des ungeschlachten Rudels.

Es ist bereits erwähnt worden, daß die franko-belgischen Kavaliere in einer brillant gerittenen Sturmattacke den ganzen Witz der Kriegsführung erblickten. Genau die gleiche Anschauung leitete auch die Heerschärler des heiligen Patrik. Sie erklärten ihren Offizieren, Exerzieren sei ein Unsinn, in Kolben und Bajonett liege allein das richtige Salz und Schmalz; wie man aber einen Schädel einschlage oder einen Bauch aufschlitze, das hätten sie schon daheim »bei Vatern« gelernt! Nichtsdestoweniger steckt, um es kurz zu bemerken, im Irishman eine tüchtige Soldatennatur, aber sie will aus ihrer rohen Hülse herausgeschält und zur regelrechten Brauchbarkeit entwickelt werden; das wilde keltische Blut muß nach Trommel und Trompete zu einem tempomäßigen Pulsschlag gebracht werden. Als geborener Raufbold sieht der Irländer im Kriege zunächst nichts als eine Wirtshauskeilerei en gros und hier steht der stierköpfige Sohn der »grünen Insel« allerdings seinen Mann wie kaum ein anderer.

Zuerst war der Patriksschar Rom als Garnison angewiesen worden; der heilige Vater hatte also sattsam Gelegenheit, diese Glaubensstreiter sich in unmittelbarster Nähe zu besehen. Kein ergötzliches Bild!

» Cotto come un Irlandese« Besoffen wie ein Irländer. wurde bald zu einer stehenden Redensart.

Johlend und krakehlend taumelten sie zu jeder Tages- und Nachtzeit in den Kneipen, Lupanaren und Gassen herum und wenn sich niemand anders zum Balgen finden lassen wollte, so ging unter den Unholden selber die blutige Boxerei los. Versuchte einer ihrer Offiziere zu intervenieren, so antwortete ihm ein einstimmiges Halloh; Offiziere anderer Truppenteile, die den zuchtlosen Inselkindern Ruhe gebieten wollten, wurden kurzweg gepackt und jämmerlich durchgebleut, oder auch, wie es mehrfach vorkam, Hals über Kopf in die Tiber geworfen. Es zeigte sich übrigens bald, daß die unbotmäßige Haltung der Irländer noch einem besonderen Motive entsprang: bei ihrem Engagement waren nämlich den Kerlen goldene Berge versprochen worden, von denen sie jetzt nichts zu sehen bekamen. In allen Tonarten schimpften und wetterten sie über die irischen und römischen Pfaffen, von denen ihnen in trügerischer Weise alle möglichen Genüsse und Herrlichkeiten vorgemalt worden seien. Aus diesem Schuldbewußsein erklärt sich wohl auch, warum das päpstliche Generalkommando dem tumultuierenden Haufen gegenüber eine so grenzenlose Nachsicht übte. Der Kurie aber bereitete das meuterische Korps noch eine spezielle Demütigung. Auf Unkosten der übrigen Söldnerregimenter hatte man anfänglich mit dieser heiligen Heerschar förmlich kokettiert und jetzt mußte man gerade durch sie den gröbsten Skandal erleben! Um keinen Preis konnte man die Schreihälse länger zu Rom garnisonieren lassen – schon des Beispiels wegen, das sie der übrigen Besatzung gaben. So schaffte man sie mit Ach und Krach, mit Schmeicheln und Heucheln nach Spoleto; um ihnen aber dort möglichst die Hände zu binden, so gab man den tausend Krakehlern nur zweihundertfünfzig Musketen mit, die andern siebenhundertfünfzig Flinten blieben in den Zeugkammern der Engelsburg zurück. Welch ein Bild kläglichster Ohnmacht!!

Auch in diesem Bilde einer zerrütteten Wehrkraft malt sich der prädestinierte Gang der italienischen Zeitgeschichte: über den rostig gewordenen Himmelsschlüsseln – dem Wappenzeichen des Papstes – erhebt sich flammend das blanke Kreuz von Savoyen!

* * *

Wir kehren zu dem Zerbinotto zurück.

Die wider ihn eingeleitete Untersuchung war zwar resultatlos verlaufen, unbeirrt aber bezeichnete ihn die Fama nach wie vor als den Mörder des deutschen Soldaten und der »Cazolarina« – wie das unglückliche Mädchen, die Tochter eines Schusters (Calzolajo), allgemein genannt wurde.

Den Regimentskameraden des Rotkopfes ließ sich kaum nachsagen, daß ein Meuchelmord an und für sich ihre sittliche Entrüstung in besonderem Maße erregt hätte. Einen Feind durch einen wohlgezielten Messerstich aus der Welt schaffen – das hatten sie schon in ihrer Kindheit als den kürzesten und besten Prozeß rühmen hören und von diesem Standpunkte aus konnte der blutbefleckte Zerbinotto in ihren Augen eigentlich nicht viel verlieren. Aber vom ersten Tage seines Engagements an war er bei den »Blauen« keine beliebte Persönlichkeit gewesen und sein eitles, hochmütiges Wesen – das in der auffälligen Gunst des Eskadronschefs nur noch weitere Nahrung fand – hatte seitdem die gegen ihn herrschende Antipathie mehr und mehr gesteigert. Jetzt bot sich mit einemmal die Gelegenheit, dem hoffärtigen Rotkopfe eines auszuwischen und der auf ihm lastende Verdacht mußte zu einem moralischen Scherbengericht herhalten. In demonstrativer Weise wich ihm jeder aus; hinter seinem Rücken, doch für ihn hörbar, fielen allerlei boshafte Sticheleien auf sein kurzes Liebesglück. Mit düsterm Trotz sich wappnend, nahm der Geächtete die brutalen Sarkasmen hin …

Seitdem zu Rom ein anderes Regiment waltet, haben sich die dortigen Sicherheitszustände bedeutend gebessert; zur Zeit der päpstlichen Polizei war die ewige Stadt – und in weiterm Sinne der ganze Kirchenstaat – ungleich häufiger das Theater verbrecherischer Angriffe auf Leben und Eigentum. Ein Menschenkind, das ohne besondere dramatische Verwickelungen »einfach« durch Schuß, Hieb oder Stich seinen Tod fand – die Leiche einer obskuren Persönlichkeit, die irgendwo blutig und verstümmelt aufgerafft wurde: solche Vorkommnisse machten damals zu Rom nicht viel von sich reden und gerieten bald wieder in Vergessenheit. Die Zeitungen berichteten allzuoft derartige Tagesneuigkeiten, als daß nicht das Publikum zuletzt abgestumpft worden wäre; nur ausnahmsweise sensationelle Kriminalfälle konnten noch ein weiteres Interesse wachrufen.

Der Alarm war kein allzu großer, als man – einige Wochen nach dem Doppelmord, der dem Zerbinotto zugeschrieben ward – hörte, in einem öden Gäßchen unweit der Kapuzinerkirche sei, durch einen Messerstich getötet, die Leiche einer jungen in der Nähe dienenden Fantesca Magd. gefunden worden – seltsamerweise mit einem abgeschnittenen Ohr.

Da das Mädchen weder ausgeraubt, noch auch sonst körperlich verunglimpft worden war, so ließ sich in der Untat zunächst nur ein Racheakt erblicken, der wohl das Schlußkapitel irgendeines ordinären Romans über das Thema »küß' mich und drück' mich« bildete. Demzufolge interessierte man sich eigentlich mehr für das fehlende, abgeschnittene Ohr und erörterte die Frage, aus welchem Grund und zu welchem Zweck der Verbrecher sich das Gehörorgan angeeignet habe.

Um es kurz zu sagen: trotz aller polizeilichen Recherchen blieb der Täter unentdeckt. Einen Moment hatte sich der suchende Blick der Kriminalbehörde auch auf den Zerbinotto gerichtet, aber die nach dieser Seite hin diskret gepflogene Umfrage ergab als Schlußsumme, daß aus äußern und innern Gründen irgendwelche Beziehung des Husaren zu dem Mädchen gar nicht stattgefunden haben konnte.

Politisch-nationale Wirren aller Art bewegten damals die Epoche und die Gemüter; jeder Tag brachte für Italien seine Zeichen und Wunder. Publikum und Zeitungsschreiber zu Rom fanden wichtigern Unterhaltungsstoff, als die zur Genüge besprochene Mordtat im Kapuzinergäßchen … Wiederum waren einige Wochen seit diesem blutigen Ereignis verflossen und bei der Polizei hatte man sich dahin beschieden, daß jetzt nur noch der Zufall das geheimnisvolle Dunkel lichten könne – – da erwacht eines Morgens die Bevölkerung der ewigen Stadt, um abermals zu hören, daß nächtlicherweise ein neuer, rätselhafter Mord begangen worden sei.

» Il segatore degli orecchi!« Der Ohrabschneider. So fliegt's von Mund zu Mund und diesmal findet die grausige Kunde schon ein ungleich aufmerksameres Echo. An einer einsamen Stelle bei den Farnesischen Gärten – so lautete der Bericht – war in der Morgenfrühe von vorüberkommenden Arbeitern der Leichnam einer Sorella della carità Barmherzige Schwester. entdeckt worden. Ganz wie bei der »Calzolarina« und ihrer Schicksalsgenossin im Kapuzinergäßchen, war es auch diesmal ein hinterrücks geführter Messerstich gewesen, der, zwischen die Schulterblätter sich einbohrend, wie ein Wetterstrahl das Opfer hingestreckt hatte. Aus den gerichtspolizeilichen Feststellungen ging zur Evidenz hervor, daß an den drei gemeuchelten Frauenspersonen die gleiche Hand und die gleiche Klinge ihre schauerliche Meisterschaft erprobt hatten. Das von dem Mörder auch diesmal als bestialische Trophäe abgeschnittene Ohr bot ein weiteres Wahrzeichen, daß man es mit einem und demselben Scheusal zu tun hatte. Man gewann aber auch noch eine andere Überzeugung – nämlich die, daß den unbekannten Täter (mindestens in den beiden letzten Fällen) kein bestimmter Racheplan, sondern lediglich der blinde Blutdurst des Tigers geleitet habe.

Der Beruf, welchem das zuletzt auserkorene Schlachtopfer angehört hatte, gab dem Morde noch ein besonders tragisches Kolorit. Wie man erfuhr, war die Ordensschwester gerade auf dem Wege gewesen, einem armen kranken Weibe Nachtwache zu leisten: sie hatte also mitten in der Ausführung ihres der siechen Menschheit geweihten Dienstes einen wahren Märtyrertod erlitten.

Die ruchlose Freveltat kam zur Kenntnis des Papstes, der sofort den Polizeidirektor zu sich entbieten ließ, um ihm die Entdeckung und Ergreifung des Mörders zur nackten Ehrenpflicht zu machen. Von solch hoher Stelle aus angespornt, entwickelten denn auch der Direktor und seine Untergebenen eine sonst ungewöhnliche Rührigkeit. Dutzendweise wurden verdächtige Individuen gepackt – aber der wirklich Schuldige wollte sich nicht unter ihnen finden lassen. Bei den Beratungen, die der bedrängte Direktor mit seinen Kommissaren pflog, trat auch wiederum eine gewisse Persönlichkeit in den Vordergrund: der Zerbinotto.

Die Polizei teilte vollkommen die allgemeine Anschauung, daß der Rotkopf den Doppelmord des deutschen Dragoners und der »Calzolarina« auf dem Gewissen habe. Wegen Beweismangels hatten die Akten geschlossen werden müssen; auch bei der nächstfolgenden Bluttat im Kapuzinergäßchen war es nicht möglich gewesen, dem neuerdings angeregten Verdachte wider den Zerbinotto einen bestimmten Anhaltspunkt zu geben. Ebensowenig jetzt bei der Leiche der barmherzigen Schwester. Und dennoch stand eines fest: die Art und Weise, wie der tödliche Stich gegen die Magd und gegen die Nonne geführt worden war, harmonierte ganz und gar mit dem gerichtlichen Befund, der über den Dragoner und sein Mädchen zu Protokoll genommen worden war. Aber auch die Todeswunde bei jeder dieser vier Personen rührte, wie die Messungen ergeben hatten, zweifellos von einer und derselben Klinge her. Wenn man also den Rotkopf für den Mörder des Soldaten und seiner Geliebten hielt, so reihte sich die weitere Konsequenz von selber an. Der Polizeidirektor, für den Amt und Reputation auf dem Spiele standen, rapportierte in diesem Sinne an die päpstliche Kämmerei und auf persönliche Anordnung des heiligen Vaters ward noch zur selben Stunde der Zerbinotto verhaftet und in Untersuchung genommen. Momentan war er erbleicht; ebenso rasch aber hatte er auch wieder seine Fassung gewonnen und mit kalter Ruhe parierte er die Kreuz- und Querfragen der Verhörkommission. War er wirklich der Schuldige, so hatte man es hier jedenfalls mit einem äußerst gewiegten Burschen zu tun – man könnte sagen: mit einem schauspielerischen Genie. Seine Uniformstücke und übrigen Effekten waren der genauesten Besichtigung unterzogen worden, nirgends aber ließ sich eine Blutspur oder sonst ein verräterisches Anzeichen konstatieren. An dem betreffenden Abend war er zur vorschriftsmäßigen Zeit pünktlich in seine Kaserne zurückgekehrt und auch diesmal von der Stubenmannschaft keinerlei auffälliges Benehmen an ihm bemerkt worden.

Auf die Frage des Auditors, wo und wie er jenen kritischen Abend zugebracht habe, gab er – ganz wie damals bei dem ersten Verhör, das er wegen des Doppelmordes zu bestehen hatte – die Erklärung ab, er sei zwecklos in verschiedenen (von ihm namentlich bezeichneten) Straßen umhergestrichen und zwar einsam und allein, weil er zu vielen Stolz besitze, um die Gesellschaft seiner ihn meidenden Kameraden zu erbetteln. Es ließ sich kein Gegenbeweis führen, daß der Zerbinotto seine freie Abendzeit in anderer Weise benützt habe.

Und doch waren damit noch keineswegs alle Bedenken beseitigt.

Zunächst hatten die vier Mordtaten immer zu einer Zeit stattgefunden, wo den Rotkopf kein militärischer Dienst an einen bestimmten Ort fesselte; zum weitern resultierte aus den polizeilichen Erhebungen, daß die Ermordung der vier Personen in eine Stunde fiel, die vor dem Zeitpunkte des Zapfenstreiches lag und trotzdem – es war im Spätherbst – dem Verbrecher den zu seiner blutigen Arbeit nötigen Schutz der Dunkelheit bot. Die richtige Heimkehr in die Kaserne konnte also (wenn und solange man die übrigen Verdachtsmomente gelten ließ) ebensowenig die positive Schuldlosigkeit des Inquisiten dartun … Hier war wirklich eine Nuß zu knacken, an welcher selbst die Zähne des weisen Richters Salomo sich hätten stumpf beißen können. Der Rotkopf, der mit scharfem Auge die Situation überblickte, begann an den ratlosen Themisdienern seinen gelinden Spott zu üben. Ohne irgendwie von der Stelle zu rücken, drehte sich, so zu sagen, der Prozeß immer nur im Kreise herum und schon wurden in Presse und Publikum Stimmen laut, welche mehr oder minder verblümt davor warnten, zur Ehrenrettung der kompromittierten Polizei den Husaren als Sündenbock ad hoc preisgeben zu wollen. Auch unter den Juristen, die den Verlauf der Sache mit Interesse verfolgten, bildete sich eine Partei, die in ähnlicher Weise ihrer Rechtsmeinung Ausdruck gab und – einem Beweismaterial gegenüber, das sich faktisch doch nur auf den schwanken Untergrund einer psychologischen Hypothese stützte – sogar die ungesäumte Freilassung des Inquisiten befürwortete.

Eine derartige Intervention zugunsten des Untersuchungsgefangenen konnte nicht ohne Rückwirkung bleiben: selbst in der Umgebung des Papstes fand der Zerbinotto Sachwalter, die seinem Schicksal ihre Teilnahme zuwandten und kraft ihrer Stellung wiederum auf die Gerichtskommission influierten. Unter diesem vereinten Druck öffnete sich eines Tages die Haftzelle des Rotkopfes und frank und frei kehrte er wieder zu seinem Regimente zurück …

In der geheimen Polizeibrigade diente damals als Sottocaporale Gefreiter. ein gewisser Giacomo Marinelli, ein geborener Bolognese, ebenso berühmt durch seine Riesenstärke wie durch seinen Mut. In dem ganzen Mann stak das Naturell eines englischen Detektiv und er besaß dabei einen Rechtssinn, der im allgemeinen kaum zu den Eigenschaften eines römischen Polizisten gehörte. Noch am gleichen Tage, wo der Zerbinotto siegreich aus der Untersuchung hervortrat, meldete sich Marinelli bei dem Polizeidirektor zum Rapport. Auch letzterer war ein Bolognese und durch diese Landsmannschaft hatte Marinelli bei ihm einen besonderen Stein im Brett. »Eccellenza,« redete der Agent seinen Vorgesetzten an: »Wir alle bei der Polizei sind heute fester denn jemals davon überzeugt, daß trotzdem niemand anders als der Bricconcello Schelm, Taugenichts von den blauen Husaren die vier armen Seelen ins Jenseits befördert hat. Wo wir uns zeigen, müssen wir uns als Esel hänseln lassen und das ärgert mich. Ich glaube aber bestimmt, daß der rote Fuchs über kurz oder lang von neuem auf die Hühnerjagd gehen wird und diesmal möcht' ich ihm eine Falle stellen, in welcher er hängen bleiben soll.«

» In qual modo?« wollte die Exzellenz wissen.

Der Sottocaporale entwickelte seinen Plan und der Chef, der alle Veranlassung hatte, sich und das von ihm geleitete Institut in den Augen des Publikums möglichst bald zu rehabilitieren, gab dem Vorhaben Marinellis gern seine Zustimmung. Noch am gleichen Abend machte sich der wackere Sottocaporale an seine Aufgabe, die dem in Mißkredit gebrachten Polizeikorps eine brillante Genugtuung verschaffen sollte. Für Marinelli, wie wir soeben hörten, war es eine unumstößliche Gewißheit, daß der Rotkopf nicht nur die vier Personen gemeuchelt hatte, sondern daß auch, nach längerer oder kürzerer Pause, die Blutgier den Mordbuben jedenfalls zu einer neuen Teufelei hinreißen werde. Diesmal aber – so hatte sich der Bolognese gelobt – sollte der Galgenkandidat dem Henker nicht zum drittenmal hohnlachend entschlüpfen! … Fortan stand der Zerbinotto unter der geheimen Überwachung des Sottocaporale. An jedem Abend, wo der Rotkopf dienstfrei die Kaserne verließ, erwartete ihn bereits, irgendwo seitwärts postiert und in wechselnder Verkleidung, der unerbetene Schutzengel, der ihn nun in diskretem Abstand auf Schritt und Tritt begleitete und sich erst wieder am Tor der Kaserne ebenso unbemerkt verabschiedete. Für den fachkundigen Polizeimann war es gleich von vornherein kein Zweifel gewesen, daß er sich bei dieser Kontrolle mit einer erklecklichen Portion Geduld und Zähigkeit wappnen müsse. Und er sollte sich in dieser Voraussetzung nicht getäuscht haben. Ohne unter den wechselnden Masken seines Begleiters den direkten Verfolger zu erkennen, hatte der Rote offenbar das instinktive Gefühl, daß er sagen dürfe: »Einsam bin ich – nicht alleine.«

Woche um Woche ging hin – immer noch machte aber der bedächtige Fuchs keinerlei Anstalten, sich der Justiz zu Gefallen in flagranti ertappen zu lassen. Dem gelangweilt hinterdreinstelzenden Vigilanten ward es manchmal zumute, als solle er mit einem derben Fluch die ganze monotone Jagd aufgeben.

Dank seiner Erziehung im Waisenhause hatte der Zerbinotto lesen gelernt – eine Kunst, deren sich heute noch keineswegs jeder Romulusenkel rühmen kann – und in einer Kneipe, in welcher er öfters Einkehr hielt, griff er stets mit sichtlicher Spannung nach einem dort aufliegenden Blatte der kleinen Tagespresse. Dem ihn beobachtenden Sottocaporale war es klar, daß der ebenso schlaue als eitle Bösewicht erfahren wollte, ob und was man noch von seiner Person und den mit ihm in Zusammenhang gebrachten Mordtaten rede.

Den grübelnden, in der dunkelsten Stubenecke seinen Piccolo schlürfenden Polizeimann durchblitzte an einem dieser Leseabende des Zerbinottos ein Gedanken …

Als bei seinem nächsten Besuch der Rotkopf wiederum nach dem Winkelblättchen langte und sich in die Tagesneuigkeiten vertiefte, zuckte er mit einem Male unwillkürlich zusammen: gleich darauf spielte um seine dünnen, blutlosen Lippen ein flüchtiges Lächeln, in welchem sich innere Zufriedenheit und spöttischer Humor zu mischen schienen. Als woll' er sich davon überzeugen, daß er richtig gelesen habe, so griff er nochmals nach dem Blatte und heftete seine Augen auf die für ihn so bedeutsame Stelle. Dann versank er in ein brütendes Sinnen.

Dem spähenden Blick des Vigilanten – er wahrte an diesem Abend sein Inkognito unter der dem Lokal und seinem Publikum entsprechenden Maske eines Fuhrmanns – war natürlich keine dieser verräterischen Bewegungen entgangen; dem wackern Sottocaporale lachte ob seiner so wohlgelungenen Kriegslist das Herz im Leibe. Wußte er ja, was dort bei dem unheimlichen Rotkopf die Ursache seiner spöttischen Heiterkeit und jetzt seines unheilschwangern Nachdenkens war! Hatte ja der listige Polizeimann selber die für den Zerbinotto so inhaltsschwere Notiz in die Spalten des Blättchens eingeschmuggelt und augenscheinlich war der geschickt hingeworfene Brocken für den schnüffelnden Fuchs zum verführerischen Köder geworden. »Aus bester Quelle« – so etwa lautete der betreffende Artikel, der den Rotkopf allerdings im höchsten Grade interessieren durfte – geht uns soeben die Mitteilung zu, daß die Schuldlosigkeit des als Mörder verdächtigt gewesenen Husaren jetzt außer allem Zweifel steht. Der Himmel hat es also gnädig verhütet, daß der arme, schwergeprüfte Soldat um der Ruchlosigkeit eines andern willen den Leidenskelch bis zur Neige zu leeren brauchte. Wie wir hören, ist es den unausgesetzten Anstrengungen unserer Polizei endlich gelungen, den wahren Täter und zwei seiner Helfershelfer zu ermitteln. Ihre Festnahme konnte leider noch nicht bewirkt werden, dürfte aber nach den vorliegenden Anhaltspunkten kaum lange auf sich warten lassen. An sämtliche Grenzstationen der Gendarmerie ist die Order ergangen, auf die genau signalisierten Verbrecher zu fahnden. Man glaubt, daß sie auf das neapolitanische Gebiet zu entkommen suchen, um sich vielleicht zu Brindisi oder Otranto nach Griechenland einzuschiffen. Aus naheliegenden Gründen der Diskretion müssen wir es uns versagen, weitere Details zu veröffentlichen.« – –

In ungewöhnlich gehobener Stimmung, Gassenhauer und Kavalleriesignale vor sich hinpfeifend, kehrte der Rotkopf an diesem Abend in seine Kaserne heim. Der Polizeischatten hinter ihm aber reckte und streckte seine Muskeln und Sehnen und sagte sich nicht minder vergnügt: » Eccolo! Der Tanz wird bald losgehen.«

Wie immer, so gab der Bolognese auch diesmal seinem so zärtlich gehüteten Pflegling das Geleite bis ans Kasernentor; dann wandte er sich wieder, in Gedanken verloren, nach der innern Stadt zurück. Wir sagten: »in Gedanken verloren.« Mit den Gedanken hatten aber die Augen des Sottocaporale nichts zu schaffen; während also sein Gehirn arbeitete, war sein Blick nicht minder tätig. Den Corso entlang schlendernd, bog er in die Via Carrozza ein, die auf den Spanischen Platz ausmündet. Von eben dieser Richtung herkommend, bewegte sich auf dem jenseitigen Trottoir eine Dame dem Korso entgegen. Sie war höchst elegant gekleidet und dabei tief verschleiert. Der Polizeimann stutzte. Wir wissen, daß er, um in dem Rotkopf keinen Verdacht zu erwecken, beständig seine äußere Erscheinung wechselte. An diesem Abend, wie wir uns erinnern, hatte Marinelli einen Carretiere »gemimt«. Für die feine Dame da drüben bot natürlich der Proletarier in seinem zerknitterten Filzhut und seinem grobwollenen braunen Kamisol keinerlei Interesse und so hatte sie auch sein momentanes Stutzen gar nicht beachtet. Prüfend blickte ihr der Pseudo-Fuhrmann nach – dann durchschnitt er mit einem Mal rasch die Straßenbreite und folgte hinter der Dame drein. Offenbar wollte er sich über ihre Person noch weitere Gewißheit verschaffen. An der Ecke der Via Belsiana holte er die verschleierte Donnetta ein.

» Spitzfinger

Halblaut hatte der Bolognese diesen barocken Zuruf an die vor ihm hinrauschende Dame gerichtet: verblüfft fuhr sie herum. Einen Moment musterte sie mit einer Kopfhaltung von zermalmender Grandezza den armseligen Plebejer – – in der nächsten Sekunde machte sie einen flinken Seitensprung, um zwischen zwei Droschken, die sich soeben an der Straßenecke kreuzten, hindurchzuschlüpfen.

» Ferma!« lachte der Sottocaporale und packte die ausreißende Schöne beim Arm. »Du siehst, Spitzfinger«, sagte er mit einer Art von gutmütigem Humor: »das Auge des Gesetzes durchdringt den dicksten Schleier … Aber komm, ich hab' ein Wort mit dir zu plaudern.« Er ließ den Arm des Flüchtlings los und resigniert folgte die mit einem so unästhetischen Namen bezeichnete Dame ihrem ungebetenen Kavalier, der seine Schritte nach dem dunkeln Torbogen eines Hauses lenkte.

Über die Qualität der auf ihrem Eroberungszug so jählings gehemmten Nachtwandlerin braucht dem Leser wohl kaum noch ein besonderes Licht aufgesteckt zu werden. Wir wollen also nur hinzufügen, daß der Zufall hier dem Sottocaporale einen Fang in die Hände gespielt hatte, der schon seit länger als eine Woche der Gegenstand eifrigster, aber fruchtloser Nachstellung gewesen war.

Auch hier sei kurz bemerkt, daß diese Persönlichkeit – ganz wie die des Zerbinottos – wirklich gelebt und gewebt und sich in der römischen Polizeichronik ein Andenken gesichert hat, das sobald nicht erlöschen wird …

Neben dem Tempeldienst der Venus vulgivaga betrieb der »Spitzfinger« – wie dieser Beinamen es ja schon andeutet – den Taschendiebstahl und zwar mit einer Virtuosität, die der gewandteste Londoner Pick-Pocket schwerlich hätte übertreffen können. Von Geburt aus war dieses damals vielleicht vier- oder fünfundzwanzig Jahre alte Mädchen besserer Leute Kind, aber der Leichtsinn hatte sie frühzeitig aus dem Elternhause gestoßen und dann von Stufe zu Stufe sinken lassen. Mit ihrer fabelhaften Fingerfertigkeit harmonierte ihre ebenso ungewöhnliche Schlauheit, die zugleich das höchste Behagen daran fand, in allen möglichen Variationen die Polizei zu foppen und zu hänseln. Selbstverständlich verbrannte sich, trotz aller List und Verschlagenheit, die kecke Dirne von Zeit zu Zeit die Finger recht empfindlich: immer wieder begann sie aber von neuem ihre Taschenspielerkünste und mancher ihrer Streiche wäre vielleicht für immer unentdeckt geblieben, wenn sie nicht nachträglich selber aus der Schule geplaudert hätte … Auch in dem Moment, wo sie dem Sottocaporale direkt in die Hände gelaufen war, schwebte einmal wieder ein Konto, das die Polizei mit ihr zu regeln – dem sie sich aber bisher in sicherm Versteck zu entziehen gewußt hatte. Etwa zehn oder zwölf Abende zuvor war nämlich die Sirene wie gewöhnlich ihrem Doppelgewerbe nachgegangen. Je nach Umständen wußte sie sich einen äußerst sittsamen Anstrich zu geben, so daß der Gimpel, den sie auf die Leimrute lockte, oft des guten Glaubens war, eine Unschuld geknickt zu haben – – bis ihm der meistens allzu spät entdeckte Verlust von Uhr, Portemonnaie usw. aus seinem eiteln Traume half. An jenem betreffenden Abend nun war es ihr gelungen, im Apollo-Theater die Aufmerksamkeit eines französischen Champagnerreisenden auf sich zu ziehen. Es liegt wohl in der Natur des Schaumweines, daß er seine Handelsapostel fast durch die Bank zu Mordsschwerenötern stempelt, die fest davon überzeugt sind, daß es für sie nur eine Bagatelle ist, gleich auf den ersten Wurf alle Neun zu schieben.

Der Sitznachbar Spitzfingers machte von dieser Regel keine Ausnahme und das naive Kind an seiner Seite sollte, wie sich der Grausame geschworen hatte, die Zahl der Skalpe, die bluttriefend an seinem Gürtel hingen, ohne Gnad' und Pardon um eine Nummer vermehren! Mit gewohnter Meisterschaft spielte die Gaunerin – eine zierliche Figur und allerlei Toilettenkünste ließen sie um einige Jahre jünger erscheinen – ihre Rolle als züchtige Jungfrau. Eine Komödie in der Komödie! Beim Verlassen des Theaters bot sich der unheilbrütende Musterreiter als Tugendwächter an. Kühl ward seine Eskorte abgelehnt – dann schmolz unter dem Hauch seiner flammenden Beredsamkeit ruckweise die Eisrinde jungfräulicher Sprödigkeit und – um hier das burleske Bild nicht weiter auszumalen – in einer Art von wonnigem Taumel ließ sich das arme Gretchen von dem tückischen Champagner-Faust zu einem Souper – Cabinet à part – verlocken.

Die Engelein im Himmel verhüllten weinend ihr Antlitz – – –

Wo Amor, der lose Schelm, seinen Reichstag hält, da verfliegt bekanntermaßen die Zeit schnell; nur allzu bald dröhnten vom Turm des benachbarten Karmeliterklosters die zwölf Schläge der Mitternachtsstunde.

Mit einem Schrei entwand sich die pflichtvergessene Vestalin den Armen ihres Verderbers. »Meine ahnungslose Mutter, die in Ängsten auf mich harrt!« schluchzte sie und zerraufte sich das Haar: » Guai a me! Ich bin eine Verworfene, eine Elende!« In Ton und Haltung der reuigen Magdalene lag das ganze Miserere eines moralischen Katers. So virtuos wußte die abgefeimte Komödiantin ihren Seelenjammer in Szene zu setzen, daß den frevelhaften Don Juan schier selber eine Zerknirschung packte. Nach Hut und Mantel greifend, wollte die Unglückliche auf und davon stürzen; ihr Sündengenosse aber hielt sie zurück mit der Erklärung, er werde sofort die Zeche berichtigen und dann gleichfalls das Lokal verlassen. So geschah es denn auch. Unten auf der Straße angelangt, sah sich der Franzmann nach einer Droschke um, denn er wollte die wilderregte Jungfrau bis vor ihre Haustüre bringen. Aber sie widersetzte sich diesem Vorhaben.

»Nein! nein!« wimmerte sie: »Du sollst niemals erfahren, wie ich heiße und wo ich wohne! Addio, mia alma – addio in eterno!« In stürmischer Leidenschaftlichkeit warf sie sich an die Brust des jetzt ernstlich gerührten Wüstlings – dann riß sie sich mit einem letzten glühenden Kuß von ihm los und eilte davon. Halb betäubt von dieser ganzen wild dramatischen Abschiedsszene, blickte der Urheber so vielen Jammers der flüchtigen Mädchengestalt nach: schon hatte sie fast die Straßenecke erreicht, als er mechanisch, von gar keinem bestimmten Gedanken geleitet, nach seiner Uhr griff. » Mais mon dieu!« entfuhr es seinen Lippen.

Jawohl mais mon dieu! Der schwergoldene Chronometer mit seiner gleichmassiven Kette war verschwunden. Und doch besaß der Franzmann die beiden Objekte noch vor wenigen Minuten, denn als vom Klosterturme her die Mitternachtsstunde erschollen war, hatte er den Zeitpunkt seiner eigenen Uhr mit den Glockenschlägen verglichen. Uhr und Kette konnten also nur – – er vollendete den Gedanken nicht. Kontrollierend fuhr seine Hand in die Hosentasche – von da wie ein Blitz in die Rocktasche – – er taumelte rückwärts, als hab' ihn ein Hirnschlag gerührt!! Im nächsten Moment aber stürmte er schon in wahren Tigersprüngen die Straße entlang. Er verlor bei dem tollen Galopp seinen Hut, aber er spürte es gar nicht. » Arrêtez la voleuse! Arrêtez la canaille!« brüllte er in die stille Nacht hinaus … Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte der korpulente Jäger das leichtfüßige Wild nun und nimmer eingeholt, wenn nicht von anderer Seite her der Diebin das Verhängnis in den Weg getreten wäre. Schon hatte sie in eine Seitenstraße eingeschwenkt – noch eine Minute und der Flüchtling verlor sich in ein für den Verfolger unentwirrbares Gassenlabyrinth. Bereits aber wachte das majestätische Auge des Gesetzes in der Gestalt eines biedern Guardiano di notte. Nachtwächter. Beim Anblick des so eilfertigen Frauenzimmers hatte er gleich Unrat gewittert; das sich nähernde Gebrüll einer Mannesstimme ließ den Repräsentanten einer hochwohlweisen Polizei irgendwelchen Zusammenhang kombinieren und mit nerviger Faust packte er die Läuferin fest.

Schon nach wenigen Minuten kam der Franzmann wie eine Dampfwalze herangekeucht.

Wie eine scheue Taube drückte sich Spitzfinger an den sie festhaltenden Nachtwächter. »Guardinand,« flehte sie mit zitternder Stimme: »Beschützt mich! Der Mensch, der dort kommt, ist geisteskrank und einer Irrenanstalt entsprungen!«

Zwischen den drei Personen spielte sich nun eine Episode ab, die durch die unfreiwillige Komik des dicken Champagner-Missionärs zum Ergötzen eines jeden unbeteiligten Beobachters sein mußte.

Schon im normalen Zustand war der Ankläger der italienischen Sprache nicht besonders mächtig; es läßt sich also denken, wie er erst jetzt in seiner kochenden Wut die Mutterlaute Dantes und Tassos traktierte und zu den abenteuerlichsten Wort- und Satzgebilden fassonierte. Dazu noch die äußere Erscheinung des kleinen, kugelrunden Commis Voyageur – ohne Hut, mit grimmig funkelnden Augen und nervös in der Luft herumfuchtelnden Armen. Wahrlich, dem ehrsamen Nachtwächter konnte es glaublich erscheinen, daß er es mit einem der Zwangsjacke entronnenen Tollhäusler zu tun habe und für alle Fälle lockerte er seinen Säbel in der Scheide. Er hatte die größte Mühe, seine Arrestantin vor den Mißhandlungen des rabiaten Franzmannes zu schirmen, denn mitten in seinem Sprudeln und Schnauben fuhr der kleine Gallier mit geballten Fäusten wie ein wütender Hahn auf die perfide Sirene los …

Endlich hatte der Miniatur-Vesuv seine Lava verpufft und in ruhigerer Tonart trug der Beraubte sein Mißgeschick vor. Mit der Miene des hochseligen Großinquisitors Torquemada blickte der Guardiano seine Gefangene an. Ihre lakonische Rechtfertigung bestand in einem mitleidigen Seitenblick auf den »Geisteskranken« und einer bezeichnenden Fingerbewegung nach ihrer Stirne. Schon wieder wollte der gereizte Kleine aufbrausen – doch er beherrschte sich gewaltsam und setzte nochmals auseinander, wie nur hier diese falsche Schlange ihn ausgebeutelt haben könne. Die annektierten Wertsachen waren seiner Angabe zufolge: die bewußte Uhr mit Kette, dann ein Portemonnaie mit zirka zweihundert Franks Inhalt und schließlich ein Zigarrenetui, das aber trotz seines anscheinend geringfügigen Wertes gerade den schwersten Verlust involvierte, denn in diesem Etui staken zusammengefaltet sechs Tausendfranksbilletts. Nach beendigtem Souper hatte der allzu vertrauensselige Leichtfuß das Etui geöffnet, um einen Glimmstengel in Brand zu setzen und bei dieser Gelegenheit war jedenfalls der weitere Inhalt der Zigarrentasche von dem scharfen Geierblick der Diebin erspäht worden. Schlau wie immer hatte sie sich aber ihren kühnen Griff bis zum Zeitpunkt der Trennung aufgespart und demzufolge auch die ganze Abschiedsposse in Szene gesetzt, um, wie bereits bemerkt, ihr Opfer in eine momentane Sinnenbetäubung hineinzuspektakeln.

Hätte durch reinen Zufall der Franzose nicht noch rechtzeitig seine Ausplünderung bemerkt, so wäre die Räuberin mit ihrer Beute unbehelligt entkommen. – –

Der Wächter hatte inzwischen denn doch die Überzeugung gewonnen, daß es sich hier keineswegs um das sinnlose Delirium eines Narren handle und so unterzog er, der Aufforderung des bestohlenen Mannes Folge leistend, die Taschen der Diebin einer vorläufigen Visitation. Ohne Resultat. Ein Taschentuch, ein Riechfläschchen und einige Pfandscheine waren alles, was sich zunächst vorfinden ließ.

» Niente affatto!« brummte der Guardiano vor sich hin. Die Gefangene zuckte kaltblütig die Achsel. » Dio mio!« lächelte sie erbarmungsvoll: »Ich sagte Euch ja, der Unglückliche ist im Kopfe nicht sauber.«

Der kleine Franzmann glaubte, die Gallenblase müsse ihm bersten, doch er würgte seine Replik hinunter, denn es galt näherliegende Interessen zu verfolgen.

Auf dem Polizeibureau sollte natürlich eine gründlichere Personalvisitation vorgenommen werden, aber es blieb auch noch eine andere Möglichkeit übrig: vielleicht hatte ja, angesichts des ihr den Weg versperrenden Wächters, die Spitzbübin ihren Raub weggeworfen. In diesem Fall war zu befürchten, der kostbare Fund könne in den Besitz eines nicht minder unredlichen Dritten übergehen und so bestand der Franzose darauf, daß vor Abführung der Gaunerin der nächste Umkreis abgesucht werde. Die Dirne in die Mitte nehmend, begannen die beiden Männer beim Schein der Laternen die Gasse schrittweise zu durchforschen. Da und dort bückte sich der eine und andere, in der Meinung, einen glücklichen Griff zu tun – – aber es war nur das neckische Spiel einer flimmernden Scherbe oder eines glitzernden Kiesels und ermüdet gaben zuletzt die zwei Schatzgräber ihre fruchtlose Arbeit auf …

Ruhig war während dieser Suche Spitzfinger an der Seite des Nachtwächters geblieben; sie schien an irgendeinen Fluchtversuch gar nicht zu denken.

»Jetzt aufs Polizeibureau mit der diebischen Elster!« schnaubte rachelechzend der kleine Franzose und wischte sich den perlenden Schweiß von der Stirne.

Das Trio setzte sich in Bewegung. Auf dem Bureau zog die Schwindlerin andere Saiten auf. Der Kriminalkommissar hatte sie sofort erkannt und demzufolge nahm er sie auch gleich ins richtige Gebet. Willig räumte sie ein, daß sie mit dem Franzmann ihren Ulk getrieben und dem lüsternen Einfaltspinsel gegenüber die Rolle eines naiven Gänschens gespielt habe; ihn zu bestehlen, sei ihr aber gar nicht in den Sinn gekommen und der galante Gastgeber müsse die von ihm bezeichneten Wertgegenstände auf irgend eine andere, ihr absolut unerklärliche Weise verloren haben. Man möge ihre ganze Person untersuchen wie man wolle – sie erkläre nochmals, daß sie den Franzosen nicht um einen Pfifferling bestohlen habe. Ungerührt von diesem feierlichen Protest, ließ der Kommissar die Inquisition nach dem Visitationszimmer abführen und das mit diesem Geschäft betraute Weib des Bureaudieners unterzog die Kleidung und Person Spitzfingers der genauesten Musterung. Kein Fältchen entging dem kritischen Blick der kundigen Alten. In der schamhaften Attitüde der mediceischen Venus stand die Examinandin daneben. Aber die ganze Prozedur war umsonst und auch hier lautete der Rapport: » Niente affatto«. Ganz und gar nichts. Verzweifelnd schlug sich der gerupfte Musterreiter mit der Faust vor den Schädel und rannte in dem Bureau auf und nieder wie ein toller Menageriewolf.

Mit der kühlen Ruhe, die in solchen Fällen den Polizeibeamten eigen ist, erklärte der Kommissar, hier sei für jetzt nichts weiteres zu tun und der Signore möge sich also ruhig ins Bett legen und einstweilen in den Armen des Schlummergottes sein Pech zu vergessen suchen; gleich mit Tagesanbruch werde übrigens die ganze fragliche Straßenstrecke nochmals polizeilich recherchiert werden. Möglich, daß sich dann die wahrscheinlich von der Diebin weggeworfene Beute finden lasse. Was die Dirne selber anbetreffe, so bleibe sie vorläufig unter Schloß und Riegel, bis sie sich entweder zu einem Geständnisse bequeme, oder bis sich sonstwie eine nähere Aufklärung ergebe. Mit diesem magern Kanzleitrost wankte der so brutal aus Mahomeds siebentem Himmel herabgeschleuderte Seladon nach seinem Hotel zurück. Schon in aller Frühe erschien er wieder im Polizeibureau, um zu erfragen, ob inzwischen irgendein Resultat erzielt worden sei. » Niente affatto«, hieß es. Die ganze Wegstrecke, die das Frauenzimmer durchlaufen habe, sei gründlichst abgesucht, aber nichts dabei gefunden worden.

Ein zweites Verhör, das der Kommissar mit der verhafteten Dirne anstellte, zeitigte ebensowenig eine greifbare Frucht. Sie wiederholte ihre vorigen Angaben und erklärte nochmals, sie sei darum davongelaufen, weil der Franzose auf einmal »so die Augen im Kopfe herumgeworfen und ganz wie ein Narr getan habe«.

Was ließ sich unter solchen Umständen anfangen? Persönlich bezweifelte der Kommissar keinen Moment, daß die Sache sich ganz so verhielt, wie der Franzose sie zu Protokoll gegeben hatte. Bei Kriminaluntersuchungen entscheidet aber nicht die moralische Überzeugung, sondern das positive Fazit von Beweis und Gegenbeweis. Und der Märtyrer der Liebe war ehrlich genug gewesen, zu erklären, daß er allerdings nicht unmittelbar gemerkt oder gefühlt hätte, wie die Hand der Diebin in seine Taschen getaucht sei. Daß aber Spitzfinger freiwillig eine Beichte ablegen werde – daran war gar nicht zu denken und jeder Tag längerer Untersuchungshaft belastete also höchstens das Polizeibudget mit den Futterkosten des liederlichen Weibsbildes. Der Geldpunkt spielte aber bei der ganzen römischen Justiz die erste Geige! Demzufolge ward der Inquisitin breni manu bedeutet, sie solle sich zum Teufel scheren; der kleine Franzose erhielt als Balsam für seine Wunden den Trost, die diebische Elster werd' ein andermal schon besser ins Polizeigarn laufen und dann würden ihr die Flügel ganz gehörig gestutzt werden.

»Und wer, Vossignoria Illustrissima, bezahlt mir all die verlorene Zeit?« wollte Spitzfinger wissen, indem sie den Kommissar mit der ernsthaftesten Miene anblickte: »während ich hier diesem kleinen Herrn zu Gefallen schuldlos im Gefängnis schmachten und mich mit den Flöhen und Wanzen herumbeißen mußte, hätte ich als ehrliches Mädchen mir verschiedene Taler verdienen können. Also bin wohl ich die Betrogene und dürfte mit dem besten Recht auf Entschädigung klagen – aber ich war von jeher eine gutmütige Seele und so will ich durch meine Schuldforderung einen Strich machen.« Mit einer graziösen Verneigung schnitt sie dem Polizei-Cerberus die Antwort ab. Sie wandte sich nach dem kleinen, dicken Champagnerpilz hin, der sie mit dem giftigen Blick eines Basilisken durchstach. Im Verkehr mit den Repräsentanten aller möglichen Nationen hatte Spitzfinger auch ein paar französische Brocken aufgeschnappt. » Bon voyage, Monsieur!« lächelte sie mit einem schelmischen Knix dem Helden eines so kostspieligen Liebesabenteuers zu: dann rauschte sie majestätisch aus der dumpfigen Polizeistube. – –

Einige Tage darauf betrat in der Abenddämmerung ein elegant gekleideter junger Herr ein Wechsler-Comptoir unweit der Engelsbrücke. Mit aristokratischer Nonchalance warf er ein Tausendfranksbillett der französischen Staatsbank auf den Zahltisch. Der Cambiatore langte nach der Note, um sie zunächst zu prüfen; die Brille, die er trug, maskierte den raschen Seitenblick, den er nach einem am Drahtgitter hängenden Zettel warf. Das Wertpapier gegen das Licht der Gasflamme haltend, als woll' er das Wasserzeichen durchschimmern lassen, konsultierte er nochmals unter dem Schutze seiner Brillengläser das Ziffernschema, das in deutlicher Übersicht den Zettel ausfüllte. Draußen am Schalter lehnte, die Spitzen seines Schnurrbarts drehend, der Kunde in vornehm-nachlässiger Positur.

»Wünschen Sie Gold, Silber oder Papier, Illustrissimo Signore?« fragte der Wechsler und streckte den Kopf vor, um den Bescheid entgegenzunehmen.

»Gold«, antwortete der junge Herr lakonisch.

» Subito!« gab der Wechsler mit geschäftsmäßiger Höflichkeit zurück und erhob sich von seinem Stuhl, um der Kasse das verlangte Metall zu entnehmen. Beim Aufstehen setzte er, für den Kunden unbemerkbar, seinen Fuß auf eine Art von Klavierpedal, das neben seinem Pulte auf dem Boden angebracht war; dann begann er in der Kasse herumzukramen. Nach einigen Minuten wandte er sich um.

»Vossignoria werden verzeihen, daß ich für einen Moment Ihre Geduld in Anspruch nehmen muß,« entschuldigte er sich im Ton lebhaftesten Bedauerns: »durch eine vorhin geleistete Zahlung ist mir aber mein Goldbestand so zusammengeschmolzen, daß – – » S'accomodi, Vossignoria!« unterbrach er seinen Redefluß und deutete mit einer ehrerbietig einladenden Handbewegung nach einem Sofa hin. Ohne eine Entgegnung abzuwarten, klingelte er und eilfertig erschien ein Comptoirist. »Bringen Sie Gold!« herrschte ihn der Padrone an und wie ein Theatergeist verschwand wieder der Kommis. »Im Augenblick, Eccellenza, werde ich Sie bedienen können,« lächelte der Wechsler mit einer devoten Rückenkrümmung und erging sich von neuem in einem Schwall von Entschuldigungen, daß er den »Herrn Grafen« warten lassen müsse.

Ein sichtliches Gefühl von Mißmut unterdrückend, schritt der junge Elegant in der Stube auf und ab, den trivialen Wind- und Wetterphrasen des Wechslers kaum ein Ohr leihend. Nach einigen Minuten unterbrach er mit einemmal seine Promenade und trat rasch an den Schalter heran. » Cospetto!« murrte er und in Stimme und Haltung verriet sich eine nervöse Unruhe: »Ich kann unmöglich länger warten, denn ich habe ein dringendes Geschäft zu erledigen, das keine Verspätung duldet! Wie es scheint, Signore, wird Ihr Gold erst in Kalifornien gegraben! Geben Sie mir also in Teufels Namen Silber, oder geben Sie mir meine Banknote zurück, denn ich kann mich nicht länger hinhalten lassen.«

» Ma, Vossignoria,« suchte der Wechsler den zürnenden Kunden zu beschwichtigen: »der Kommis muß jede Sekunde mit dem Golde erscheinen!« Und nochmals wollte er, um die Füße des Säumigen zu beflügeln, nach der Klingel greifen.

Mit unheimlich funkelnden Augen verfolgte der Fremde die Bewegung des Cambiatore. »Lassen Sie Ihr Geklingel sein, Signore!« sagte er barsch: »wechseln Sie mir in Silber, oder geben Sie mir meine Banknote, damit ich weiter komme und Ihre kulante Firma meinen Freunden und Bekannten bestens empfehlen kann.« Er griff nach seinem Hute. Auch die bisherige kalte Ruhe des Wechslers hatte unbewußt einer merklichen Erregung Platz gemacht: mit einem Ausdruck von qualvollem Harren flog sein Blick nach der Türe hin, die von der Straße in die Stube führte. Dem andern war dieser spähende Blick nicht entgangen und in aufkochender Wut färbte sich sein Gesicht dunkelrot. Seine Hände machten unwillkürlich eine Bewegung, als wollten sie die Schranke niederreißen, die ihn von dem Wechsler trennte – – im selben Moment aber ward hinter ihm die Türe hastig aufgestoßen – rasch drehte er sich um: zwei Polizeikonstabler versperrten den Ausweg. Jählings fuhr die Hand des überrumpelten Industrieritters nach der Brusttasche seines Rockes – doch schon warfen sich die Polizisten über ihn her, noch andere Personen leisteten Beihilfe und der rasende Mensch ward bewältigt und fortgeschleppt.

Die Sache wird kaum einer weitern Erklärung bedürfen.

Wie von einer dunkeln Vorahnung des Kommenden getrieben, hatte der Franzose in seinem Journal Nummer und Littera der sechs Banknoten vermerkt, und dadurch war es möglich gewesen, sämtlichen Banken und Wechselstuben ein genaues Avis zu geben. Ein vergleichender Blick ließ also den Cambiatore sofort in der präsentierten Note eines der angemeldeten Wertpapiere erkennen und die ganze Art und Weise des Kunden – der mit seiner eleganten Toilette den routinierten Geschäftsmann nicht blenden konnte – sprach dafür, daß er kaum auf rechtlichem Wege in den Besitz des Bankbilletts gelangt sei. Der Wechsler hatte in seiner Praxis schon verschiedene derartige Fälle erlebt und seitdem seine Maßregeln dagegen getroffen. Das Pedal, auf das er, wie wir uns erinnern, seinen Fuß setzte, war ein Signalapparat, der in das anstoßende Gemach führte und dort, dem jeweiligen Vorkommnis entsprechend, das Personal alarmierte. Auf das Signal »Holt Polizei« hatte sich sofort einer der Kommis auf die Beine gemacht.

Auf der Revierwache erkannte man in dem desperaten Gesellen, der zum Heil des Wechslers gerade noch rechtzeitig dingfest gemacht worden war, einen » Damerino, Zuhälter oder nach Berliner Terminologie: »Louis«. der wegen seiner Kraft und Raufboldscourage bei den Nachtfaltern der ewigen Stadt einen besondern Vorzug genoß und zeitweise auch als Schutzgeist Spitzfingers fungierte. Um seine schlechte Haut möglichst zu saldieren, beichtete der Strolch gleich beim ersten Verhör den ganzen Kasus.

Auf ihrer Flucht vor dem sie verfolgenden Franzosen hatte Spitzfingers Falkenauge sehr wohl den ihr den Paß abschneidenden Guardiano bemerkt, und kurz besonnen warf die abgefeimte Damuzza die Uhr und das Portemonnaie über Bord. Auch das Zigarrenetui ließ sie dem tückischen Verhängnis als Weiheopfer zufallen – aber erst, nachdem sie demselben mit flinkem Griff die sechs Bankbilletts entnommen und in einem Nu das kleine Papierröllchen zwischen ihre Haarfrisur praktiziert hatte. Die Durchsuchung ihrer Taschen mußte also eine erfolglose sein. Noch sann sie darüber nach, ob und wie sich der gründlicheren Visitation auf dem Polizeibureau ein Schnippchen schlagen lasse – da verlangte der Franzose, vor Abführung der Diebin müsse zunächst der engere Umkreis durchsucht werden. Der Wächter, wie wir uns erinnern, leistete diesem Ansinnen Folge. Während Spitzfinger scheinbar in vollkommenster Gemütsruhe zwischen ihren beiden Hütern die passive Rolle einer Zuschauerin spielte, arbeitete ihr Gehirn mit Hochdruck. Wie ließ sich die in ihrem Haarwulst einstweilen geborgene Beute noch vor Torschluß ins Trockene bringen? Das war die Frage.

Ein Blick auf die eifrig umhersuchenden Männer erleuchtete plötzlich den Kopf der Dirne. Es war ein toller Gedanke und zugleich das frechste Wagnis. Aber warum sollte die in der Klemme steckende Diebin es nicht riskieren? Warf sie die Banknoten unbemerkt von sich, so ging der kostbare Fund in eine andere Tasche über; ließ sie es aber auf die hochnotpeinliche Visitation im Polizeibureau ankommen, so ward sie gleichfalls um die Beute geprellt, denn das strenge Examen – sie wußte es aus praktischer Erfahrung – erstreckte sich in diesem Fall auch auf ihre Haarfrisur. Dem positiven Verlust des Raubes stand also nur noch ein einziger, ebenso origineller als verzweifelter Einsatz in die Lotterie des Glückzufalles gegenüber, und mit kalter Entschlossenheit griff Spitzfinger nach dem schwanken Rettungsseil: riß es, dann riß es! – –

Die städtischen Nachtwächter trugen damals graue Kapotröcke, an denen sich hinten, den langen Schößen entsprechend, zwei tiefe Taschen befanden.

Wohl hatten die beiden Männer die Gefangene vorsorglicher Weise in ihre Mitte genommen, aber bei ihrem eifrigen Suchen und gelegentlichen Niederbücken mußte sich naturgemäß ihre Aufmerksamkeit teilen. Für Spitzfinger, die Hochmeisterin des Taschendiebstahls, war es ein Kinderspiel, einen derartigen unbewachten Moment zu benützen und ihre geschmeidige Hand sondierend in die Rocksäcke des Wächters zu versenken. Beide zeigten sich leer; offenbar dünkte es dem Guardiano bequemer, die Gegenstände, mit denen er sich die Zeit seines nächtlichen Hüterdienstes verkürzte – Tabakspfeife, Schnapspulle und dergleichen – in der Ledertasche unterzubringen, die er an seiner Seite trug. Spitzfinger zog daraus den Schluß, daß der Mann wahrscheinlich seine Rocktaschen gar nicht benütze, und dieser Gedanke ließ einen neuen Hoffnungsstrahl in ihr aufleuchten.

Die beschreibende Feder kann nur schwerfällig dem blitzschnellen Fingermanöver folgen, das die Diebin in der nächsten Minute ausführte. Erstes Tempo: Griff in die Haarfrisur, die dem Banknotenröllchen als provisorisches Depot gedient hatte. Zweites Tempo: aalglatter Ruck in eine der Rocktaschen des Wächters, der sich soeben wieder niedergebogen hatte, um einen vermeintlichen Fund aufzuraffen. Ebenso flink schlüpften die schlanken Diebsfinger wieder aus dem Schlunde zurück.

Ahnungslos war der biedere Nachtwächter zum Sparhafen geworden …

Erklärlicherweise konnte die Visitation auf dem Polizeibureau keinen greifbaren Beweis für die Schuld der Dirne erbringen, und demzufolge hatte sie auch ihre sofortige Freilassung erwartet. Wie ein Donnerschlag traf sie daher der Bescheid, sie habe bis auf weiteres im Gewahrsam der Kriminalbehörde zu bleiben. Die nervöse Erregung, in welcher Spitzfinger die Nacht und die nächsten Tage zubrachte, bedarf keiner besondern Detailmalerei. Nicht ängstete sie der Gedanken, der Guardiano werde, wenn ihm etwa ein Griff in seine Rocktasche die Banknoten kundgebe, im Feuereifer des redlichen Finders den entdeckten Schatz an das Polizeiamt oder den Franzosen ausliefern. Dafür kannte Spitzfinger die Weltanschauung eines römischen Nachtwächters viel zu gut, und so drehte sich denn auch ihr ganzes Sinnen und Brüten um die einzige Frage: Wird dem Ehrenmann ohne jede Mühe und Anstrengung der fette Bissen in die Klauen fallen, oder wird er unbewußt das Depositum so lange in seiner Rocktasche herumtragen, bis sich Zeit und Gelegenheit bietet, das vergrabene Pfund mit einem gleich kühnen Handstreich zurückzueskamotieren?

… Nach einer Haft von wenigen Tagen wurde die Gaunerin, wie wir bereits wissen, als überflüssige Kostgängerin aus ihrer Zelle hinausgeworfen. Noch am gleichen Abend traf sie mit dem »Damerino« zusammen und schloß mit diesem nicht minder abgefeimten Edelknaben einen Handelsvertrag ab, der zur selben Stunde in Kraft treten sollte.

In dem Duseltempo, das die Nachtwächter von Stadt und Dorf charakterisiert, sein Revier durchschlendernd, hörte der Guardiano – wir brauchen wohl nicht zu sagen welcher – mit einemmal in einer Gasse ein Durcheinanderreden von Stimmen und dazwischen ein schmerzliches Stöhnen und Röcheln. Auf die Stelle loseilend, sah er in einem Winkel einen Menschen liegen, den mehr neugierig als hilfreich ein Gafferhaufen umstand. Auf die Frage, was los sei, erhielt der Wächter die Antwort, der Mensch sei plötzlich umgefallen, wahrscheinlich leide er an Epilepsie. Der Guardiano bog sich über den Unglücklichen hin, um aus seinem eigenen Munde irgendeinen Aufschluß zu erhalten – doch der Fremdling stieß nur unartikulierte Laute hervor und wälzte sich dabei zähneknirschend auf dem Boden hin und her. Während aber der Wächter sein Examen anstellte, drängte sich unwillkürlich der Gafferschwarm noch näher heran und dadurch entstand in weiterer Folge ein gegenseitiges Schieben und Stoßen, weil ja jeder das meiste sehen wollte.

Mitten in diesem Hin und Her verlor sich unbeachtet ein eigentümlicher Schnalzlaut. Noch besann sich der Guardiano, was er mit dem leidenden Menschen beginnen solle – – da reckte sich dieser mit einemmal in seiner vollen Länge aus: gleich darauf öffnete er die Augen und stierte, wie aus einem schweren Traum erwachend, rings im Kreise umher. Noch eine kleine Weile und er setzte sich ruckweise aufrecht. »Hebt mich in die Höhe!« keuchte er mit matter Stimme. Ein halbes Dutzend Samariterhände führte das Manöver aus. Sein Taschentuch hervorziehend, wischte sich der Fremde – ein noch junger Mann – Mund und Stirne ab.

» Piacendo a Dio, jetzt wird's schon gehen,« lächelte er dankbar den Wächter an, der ihn vorsorglich unter die Arme stützte. Mehr und mehr sich erholend, erklärte er in abgebrochenen Sätzen dem gerührten Auditorium, er laboriere seit seiner Kindheit an einer leichtgradigen Fallsucht; jetzt aber, nachdem die Attacke ausgetobt habe, besitze er wieder die volle Herrschaft über seine Beine und könne ohne weitern Beistand seinen Weg nach Hause finden. Er machte wie zum Beweise einige Gehversuche, die auch bestens gelangen. » Tante grazie, amico!« Dankbar drückte er dem menschenfreundlichen Guardiano die Hand und dann, nach beiden Seiten hin höflich grüßend, trippelte er seines Weges weiter, während der angesammelte Gafferschwarm sich nach allen Richtungen hin zerstreute …

Der eigentümliche Schnalzlaut, dem mitten in dem Durcheinander niemand eine besondere Beachtung geschenkt hatte, war ein verabredetes Signal Spitzfingers gewesen, und darauf hin hatte denn auch der Damerino in raschem Tempo den Schlußakt seiner Nervenkrisis abgespielt. An sicherm Ort fanden sich bald darauf die beiden Verbündeten lachend wieder zusammen.

Die Dirne – deren erfindungsreichem Kopfe die ganze Epilepsiekomödie entsprungen war – hatte das momentane Gedränge benützt, um auf die bequemste Weise in die Rocktasche des Wächters hineinzulangen, und wie ein elektrischer Funken mochte es sie wohl von der Fußsohle bis zum Scheitel durchzucken, als ihre tastenden Finger das kostbare Papierröllchen berührten, das noch ganz so in dem äußersten Taschenzipfel stak, wie die Gaunerin es einige Nächte zuvor hineinpraktiziert hatte! Ihr erster Gedanke war ein frommes Gelübde: das Weiheopfer einer schönen Pfundkerze auf den Altar der heiligen Balbina, ihrer Schutzpatronin.

Spitzfinger war übrigens keineswegs gewillt, mit ihrem Sozius die ganze Beute zu teilen, und demzufolge hatte sie ihm auch wohlweislich die eigentliche Summe verschwiegen. Triumphierend hielt sie ihm also nur eine der sechs Banknoten entgegen. Die schlaue Dirne hatte jedoch noch einen zweiten Hintergedanken. Der Damerino sollte ihr nämlich gleichzeitig die Gewißheit verschaffen, ob die Luft sauber sei, d. h. ob es keine Gefahr habe, den Raub in klingende Münze umzusetzen. Ohne Besinnen übernahm der blindgierige Geselle die ihm zugewiesene heikle Mission, die er denn auch, wie wir gesehen haben, gleich am folgenden Abend in Ausführung brachte. Die tausend Franks sollten redlich, wie zwischen Brüderchen und Schwesterchen halbiert werden. Spitzfinger begleitete den Geschäftskompagnon bis vor die Türe der Wechselstube und beobachtete dann durch das Fenster die weitere Entwicklung der Dinge. Schon der Umstand, daß der Cambiatore die präsentierte Note nicht sofort auswechselte, wollte der lauernden Dirne nicht recht gefallen, und die heftigen Gebärden des Damerino ließen sie vollends einen schlimmen Ausgang ahnen. Behutsam zog sie sich weiter zurück. Kurz darauf sah sie den geleimten Gimpel als Gefangenen abführen, und sie tröstete sich mit dem Gedanken: ihm ist wohl und mir ist besser … Auf der Polizeiwache, wie wir bereits wissen, legte der Bursche, um sein Los möglichst zu mildern, ein offenes Geständnis ab, und noch zur selben Stunde ward nach seiner Genossin gefahndet. Das hatte aber Spitzfinger erwartet und demnächst einen Schlupfwinkel aufgesucht, von wo aus sie jeder Nachstellung spotten konnte. Eine Woche hielt sie es in ihrem Asyl aus, dann aber trieben Langeweile und Abenteuerlust sie in der nächsten Nacht wie eine Ratte aus ihrem Loche hervor – – direkt in die Krallen der Katze.

* * *

»Komm, ich habe ein Wort mit dir zu plaudern.«

Mit dieser lakonischen Aufforderung hatte der Sottocaporale der ihm so unerwartet in den Weg gelaufenen Sünderin gewinkt, ihn nach einer geeigneten Konversationsecke zu begleiten. Resigniert, wie wir uns erinnern, leistete Spitzfinger der wenig schmeichelhaften Einladung Folge. Der Polizeimann überzeugte sich zunächst davon, ob kein unberufener Dritter sich in Hörweite befinde, dann wandte er sich seiner unfreiwilligen Gesellschafterin zu.

» Spitzfinger,,« brach er das bisherige Schweigen: »du weißt am besten, was du bei uns auf dem Kerbholz hast, und so wirst du es wohl in der Ordnung finden, wenn ich dich geraden Weges auf das Polizeibureau bringe, nicht wahr?«

Mit einem stummen Achselzucken beantwortete sie diese Gewissensfrage.

» Ebbene,« sagte er nach einer kleinen Pause: »ich habe gute Lust, dich wieder springen zu lassen.« Verblüfft sah ihn die Dirne an.

»In diesem Falle würde ich dafür sorgen, daß auch meine Kollegen, wenn sie dir begegnen, die beiden Augen zudrücken,« setzte er hinzu.

Unwillkürlich zuckte ein Freudenstrahl über das Gesicht Spitzfingers.

» Lento, mia figlia!« dämpfte der Bolognese mit einem kühlenden Wasserstrahl das Freudenfeuer: »an mein Gerede knüpfen sich ein paar Bedingungen.«

Halb ängstlich, halb erwartungsvoll fixierten die großen glänzenden Augen Spitzfingers den in so rätselhaften Ausdrücken irgendein Ziel verfolgenden Polizeimann. Was verlangte er von ihr?

Der Ton seiner Stimme rief sie aus ihrem Sinnen zurück.

»Du mußt mich recht verstehen, Carina,« sagte er in einer gewissen väterlichen Art. »Wenn ich dich jetzt laufen lassen und wenn ich es zuwege bringen würde, daß auch meine Kameraden dir freien Paß gäben, so soll dies nicht heißen, daß dir der Griff in die Taschen des Champagneresels ganz und gar geschenkt ist. Soweit reicht meine Macht nicht und für deinen Schelmenstreich mußt du büßen – schon deshalb, weil uns der französische Gesandte, an den sich der gerupfte Pechvogel gewandt hat, im Nacken sitzt. Trotzdem aber ist es mir möglich, zu erwirken, daß du gnädig genug von der Parade wegkommst; ich kann unter Umständen deine Verhaftung bis auf weiteres hinausschieben, unterdessen wird die Hitze des Gesandten schon ein wenig verrauchen und« – – er unterbrach sich mit einer kurzen Handbewegung: » Abbastanza, es wird sich etwas für dich tun lassen – jedenfalls mehr, als du zu erwarten das Recht hättest.«

Die Eröffnung, daß von einer vollen Absolution keine Rede sein könne, war allerdings dazu angetan, die Jubelhymne Spitzfingers um eine ganze Oktave herunterzustimmen, aber man muß die Feste feiern, wie sie just fallen und wenn der Sottocaporale es mit seiner Zusage überhaupt ernst meinte, so war dabei immer noch ein erklecklicher Profit zu erzielen. Aber gerade der lockende Köder, der ihr unter die Nase gehalten wurde, ließ die mißtrauische, mit der polizeilichen Arglist wohlbekannte Dirne vor der verborgenen Fußangel stutzen und so fragte sie mit einem spöttischen Grinsen: »Mit was müßte ich denn diese edelmütige Behandlung erkaufen – vielleicht mit einem zärtlichen Kuß?«

»Prrrr!« schüttelte sich der launige Bolognese wie in höchstem Entsetzen.

»Pah!« gab Spitzfinger in nicht minder neckischem Schmollton zurück: »Euer struppiger Schnauzbart mag schon von schlechtern Lippen abgeleckt worden sein! Wenn es aber mit der Liebe nichts ist – mit was soll ich armes Waisenkind denn Eure Gunst wohl bezahlen?«

»Galgenstrick, nicht mit den fünf Tausendfranksbilletts, die du dir für deine alten Tage beiseite getan hast!« lachte der Polizeimann, der die Gedankensprünge der Diebin erriet. Im nächsten Moment nahmen sein Ton und Gesicht wieder den Ausdruck vollsten Ernstes an. »Höre, Spitzfinger, es gibt Gelegenheiten, wo eine Hand die andere waschen muß und das ist hier bei uns beiden der Fall. Du kannst mir einen Dienst erweisen und ich werde ihn dir zurückerstatten. Du magst Ursache haben, dem Worte eines Polizisten zu mißtrauen: vielleicht schenkst du mir mehr Glauben, wenn ich dir heute noch den Beweis liefere, daß du unter meinem persönlichen Schutze stehst.« Aus Stimme und Haltung des Sottocaporale sprach eine solch unverkennbare Aufrichtigkeit, daß Spitzfinger unwillkürlich einen Schritt weit aus ihrer bisherigen Reserve hervortrat. » Cospetto!« sagte sie halb ärgerlich: »So laßt mich doch zunächst einmal wissen, womit ich Euch dienen kann oder soll.« Der Polizeimann machte eine beschwichtigende Handbewegung. » Pazienza! Darüber reden wir das nächste Mal. Merke wohl auf, was ich dir jetzt in allem Ernste sage. Heute haben wir Mittwoch. Am Freitag abend auf den Glockenschlag elf erwarte ich dich bei dem Obelisken auf dem Petersplatze.« Er hob drohend den Finger. »Wehe dir, wenn du unpünktlich bist, oder gar auf den Gedanken verfällst, ganz wegzubleiben! Dann betrachte unsere Verhandlungen als abgebrochen. – Ich aber werde von dieser Stunde an der Polizeimann sein, der dich über kurz oder lang zu finden und dir dann eine Suppe einzubrocken weiß, die dich nicht freuen soll. Du hast also die Wahl.« Er fixierte mit seinem scharfen Blick die Dirne. »Willst du meiner Anweisung Folge leisten?« fragte er kurz und bündig.

Spitzfinger nickte schweigend. Er griff nach ihrer Hand und schüttelte sie wie zum bestätigenden Zeichen eines abgeschlossenen Vertrages. »Noch eines!« setzte er warnend hinzu: »Ich weiß, du kannst, wenn es gilt, deine Zunge im Zaum halten, wie selten ein Weibsbild. Tu' es auch hier, es wird zu deinem Besten sein. Jetzt geh' – du bist bis auf weiteres los und ledig.«

Trotz der Aufforderung stutzte die Dirne unwillkürlich einen Moment.

»So reiß' doch aus!« lachte er und gab ihr einen leichten Stoß vor die Brust.

Noch einen prüfenden Blick warf sie auf den von der ganzen römischen Verbrecherwelt gefürchteten Polizeimann, dann nickte sie ihm ein dankendes » La ringrazio« zu und huschte wie ein scheues Wiesel um die nächste Straßenecke.

Gedankenvoll schlenderte der Bolognese seines Weges weiter.

Wir erinnern uns, daß am gleichen Abend der Rotkopf in der von ihm frequentierten Kneipe die Zeitungsnotiz gelesen hatte, die ihm durch seinen geheimen Kontrolleur (den Sottocaporale) als reizende Lockspeise hingeworfen worden und die dazu bestimmt war, den verschmitzten Mörder in eine trügerische Sicherheit zu wiegen, indem bei ihm der beruhigende Glauben erweckt werden sollte, die Polizei suche nach einer ganz andern Richtung hin den oder die Urheber der rätselhaften Bluttaten. Ebenso erinnern wir uns, daß, allem Anschein nach, dem Sottocaporale seine Kriegslist über Erwarten gelungen war, denn in bester Laune, singend und preisend, hatte an diesem Abend der Zerbinetto den Heimweg nach seiner Kaserne angetreten. Hinter ihm aber reckte und streckte der Bolognese seine Muskeln und Sehnen und sagte sich mit einem grimmigen Lächeln: »Der Tanz wird bald losgehen.«

Am Kasernentor, wie immer, hatte der Sottocaporale auch diesmal seinen ahnungslosen Pflegling verlassen und sich nach der innern Stadt zurückgewendet. Noch stritten sich in seinem sinnenden Kopfe allerlei Pläne und Projekte, als ihm durch das Walten eines Zufalls Spitzfinger, die seit Tagen vergeblich gesuchte Sünderin, gerade in den Weg lief. Bei ihrem Anblick durchzuckte es den Sottocaporale wie ein erhellender Blitzstrahl und das »Halt«, das er der verblüfften Dirne entgegenrief, bedeutete für den grübelnden Polizeimann zugleich auch ein plötzliches: »Ich hab's gefunden« …

Unter den verschiedenen Arten, auf welche in Indien dem Tiger nachgestellt wird, gibt es auch eine, die der loyale Jäger vielleicht verschmähen mag, die aber nichtsdestoweniger in den meisten Fällen Ihren Zweck erreicht. In der Gegend nämlich, wo das Raubtier haust, wird mit einbrechender Abenddämmerung eine weiße Ziege an einen Pflock festgebunden, während unweit davon der Schütze sich in einen geeigneten Hinterhalt postiert. Am liebsten wählt man dazu mondhelle Nächte. Die Bewegungen und das Gemecker der Ziege erregen bald die Aufmerksamkeit des umherstreifenden Tigers und ziehen ihn heran. Den Moment, wo die blutgierige Bestie zum mörderischen Sprunge ausholt, muß der Schütze benützen und wenn er eine feste Hand und ein scharfes Auge besitzt, so wird seine Kugel nicht leicht das Ziel – die Stelle zwischen den beiden Augen – verfehlen. Die Rolle, welche die Ziege dabei spielt, ist freilich immer eine recht ungemütliche, denn es kommt mitunter auch vor, daß der Tiger rascher auf den lebenden Köder losstürzt, als der Schütze es erwartet hatte: in diesem Fall aber zerfleischt er die arme Ziege, bevor der Jäger die Zeit findet, den Räuber gehörig aufs Korn zu nehmen. Der geneigte Leser wird zugeben, daß es also, selbst wenn die Geschichte glatt abläuft, stets eine ziemlich heikle Aufgabe bleibt, bei einem derartigen Lotteriespiel die Ziege sein zu müssen …

Wir wissen bereits, daß, auf verschiedene Indizien sich stützend, der Sottocaporale die unerschütterliche Überzeugung hatte, nur der Rotkopf könne der Mörder sein. Ebenso sicher erwartete aber auch der erfahrene Polizeimann, daß es den von einem krankhaft-dämonischen Blutdurst getriebenen Bösewicht über kurz oder lang gelüsten müsse, sich ein neues Opfer zu suchen. Und dazu wollte ihm der Sottocaporale jetzt selber die Gelegenheit bieten. List gegen List. Heiligte ja in den Augen des Bolognesen der Zweck das Mittel!

Der satanische Rotkopf war der Tiger. Spitzfinger sollte die Ziege spielen. Der Sottocaporale wollte der Schütze sein – nur mit dem Unterschied, daß er den Tiger bei seinem Sprung möglichst lebendig abzufangen gedachte. Daß unter Umständen die Dirne diesen Sport mit ihrer Haut bezahlen müsse, war für den ehrgeizigen Polizeimann mehr als Nebensache. Kam die Puttana glücklich davon, so war's gut; verblutete sie unter dem Messer des Rotkopfes, so war's auch gut. Hatte ja nach dem Tarif des Sottocaporale das Leben einer solchen Kreatur genau den Wert des Zigarrenstummels, den er soeben gleichgültig beiseite warf!

Der Polizeidirektor, auf eine möglichst baldige Ehrenrettung seiner schwer kompromittierten Autorität bedacht, bewilligte gleich beim nächsten Morgenrapport dem Sottocaporale die erbetene Lizenz und die gesamte Mannschaft erhielt die Anweisung, bis auf weitere Order Spitzfinger unbehelligt zu lassen. Die Vigilanti und Sbirri erfuhren natürlich nicht das Motiv zu dieser absonderlichen Instruktion; sie zerbrachen sich übrigens auch nicht länger den Kopf darüber, denn bei der damaligen päpstlichen Polizeiwirtschaft waren derartige Vorkommnisse durchaus nichts neues …

Ihrer Zusage gemäß fand sich an dem bezeichneten Abend, pünktlich auf den Glockenschlag, Spitzfinger bei dem Obelisken des Petersplatzes ein. Der Sottocaporale eröffnete ihr zunächst, sie dürfe, wenn sie ihre Sache recht gut mache, bezüglich des an dem Franzosen verübten Gaunerstreiches auf eine vollständige Amnestie hoffen. Schon am Abend zuvor hatte sie bemerken können, daß sie zweifelsohne unter einem wirksamen Patronate stand, denn scheinbar achtlos waren verschiedene Kriminalpolizisten an ihr vorübergestrichen. Selbstredend konnte es nicht in dem Interesse des Sottocaporale liegen, seine Verbündete offen in die Karten blicken zu lassen und so erhielt sie auch diesmal über die ihr zugedachte Mission nur soweit Aufklärung, als die Umstände es erforderten. Wir werden schon noch sehen, wie sich der kalt bedächtige Jäger seine »Ziege« für den erwarteten Tigerfang zurechtstutzte.

Vier oder fünf Abende waren verflossen, seitdem der Rotkopf jene Zeitungsnotiz gelesen hatte, die ihn arglistig in die Falle locken sollte. Aber noch immer wollte er keine Anstalten machen, den Wunsch seines ungeduldig lauernden Beobachters zu erfüllen. Wiederum gab eines Abends der Bolognese knurrend und murrend dem langweiligen Gesellen die gewohnte Ehreneskorte: da schien mit einemmal der bisherige monotone Schlendrian eine unheimliche – für den verdrossenen Polizeimann aber hocherfreuliche Wendung nehmen zu wollen!

Ohne ersichtlichen Plan oder Zweck hatte an diesem Abend der Zerbinotto eine Zeitlang den Korso und verschiedene Seitenstraßen durchschweift und schon war der Sottocaporale darauf gefaßt gewesen, daß ihm auch diesmal die Zwangspromenade nichts eintragen werde, als müde Beine und einen gesegneten Appetit.

Plötzlich machte an einer Ecke der Rotkopf Halt.

Trotz der noch frühen Abendstunde – es war um die Weihnachtszeit – brannten bereits auf den Straßen und in den Schaufenstern der Läden die Gasflammen und diese Helle gestattete dem Polizeiagenten – der an diesem Abend die Kleidung eines schlichten Bürgers trug – das Mienenspiel des Husaren genau zu beobachten.

Offenbar beschäftigte ihn ein Gedanke, der ihn noch unschlüssig hin und hertrieb, denn bald machte er einige Schritte vorwärts, dann blieb er wieder grübelnd stehen. Mit einemmal schien er aber zu einem festen Entschluß gelangt zu sein. Den Säbel einhakend und die Mütze in die Stirn schiebend, setzte er sich in Bewegung und jetzt merkte der Bolognese sofort, daß der Rotkopf eine zielbewußte Richtung einschlug. Mit leichten, elastischen Schritten wandelte der unheimliche Geselle den Korso hinab. Man hätte bei seinem Anblick wirklich an einen jungen Tiger denken können, der geschmeidig seines einsamen Pfades zieht, um irgendwo einen blutigen Leichenschmaus zu feiern. Gegen den antiken Triumphbogen des Septimius Severus hin abbiegend, wandte sich gleich darauf der Rotkopf dem gespenstig-grandiosen Trümmer- und Ruinenfeld des alten Forum Romanum zu.

Die Ausgrabungen und Planierungsarbeiten, welche die jetzige italienische Regierung seit dem Jahre 1871 vornehmen ließ und heute noch läßt, haben den Rundblick über das Forum wesentlich verändert und namentlich auch den grauenhaft-öden Eindruck gemildert, den zur Zeit, in welcher unsre Episode spielt, dieses gigantische Bild der menschlichen Vergänglichkeit noch auf den Beschauer ausübte … Der Rotkopf war seines Weges kundig, denn ohne Zögern vertiefte er sich in das todesstille Trümmerlabyrinth. Schwarzes Gewölk, das am Himmel hintrieb, ließ den Mond bald auftauchen, bald wieder verschwinden und in dieser wechselnden Reaktion von Licht und Schatten, noch dazu im Rahmen einer so wildmelancholischen Ruinenszenerie, gewann der fast lautlos dahinschleichende Bösewicht das Ansehen eines nächtlichen Phantomes.

Ungleich mehr als aller romantische Mond- und Geisterspuk beschäftigte aber den nüchternen Polizeimann die praktische Frage, ob er es hier überhaupt mit dem Rotkopf allein zu tun habe, oder ob dieser in dem öden Gemäuer – einem natürlichen Fuchsbau für allerlei lichtscheues Gesindel – vielleicht Kameraden und Helfershelfer finden werde. Der Polizeidirektor hatte gleich zu Anfang den Sottocaporale ermächtigt, sich ganz nach Bedarf unter der Mannschaft die tauglichsten Kräfte auszusuchen; der ehrgeizige Bolognese wollte aber den Siegeslorbeer für sich allein erringen und gerade an diesem Abend, der auf irgendeine bedeutsame Wendung schließen ließ, wäre er am allerwenigsten dazu geneigt gewesen, den Erfolg seiner wochenlangen, mühsamen Jagd mit einem seiner Kollegen zu teilen.

Wie schon früher erwähnt, gebot der Sottocaporale über eine herkulische Stärke, zu welcher sich ein ebenso unbeugsamer Mut gesellte. Dazu noch ein sechsläufiger Revolver und ein blankes Stilett – – und der reckenhafte Mann durfte sich mit dem Bewußtsein trösten, daß er auch zwei und drei nicht allzusehr zu fürchten brauche. Mit der schlangenglatten Biegsamkeit eines Indianers auf dem Kriegspfad, jede durch Schatten und Terrain sich bietende Deckung ausnützend, folgte er auf Sehweite dem Rotkopf, der sich jetzt so sicher fühlte, oder in seine Gedanken so vertieft war, daß er sich gar nicht mehr umblickte. Rechts nach den Farnesischen Gärten Wir erinnern uns, daß an dieser Stelle die barmherzige Schwester unter dem Messer des unbekannten Mörders ihren blutigen Tod gefunden hat. ablenkend, stieg der unheimliche Spaziergänger den Palatinischen Hügel hinan, der, ein Zeuge längst entschwundener Pracht, wie ein titanischer Grabstein aus den Talschluchten auftaucht. Unweit von der Stelle, wo einst der Marmortempel leuchtete, den die Kaiserliche Prätorianer-Garde dem Jupiter Stator (Fluchthemmer) gewissermaßen als antike Garnisonskirche geweiht hatte, bezeichnet ein efeu-umrankter Schutt- und Trümmerhaufen die vormalige Residenz des Römerkönigs Tarquinius Priscus. Hier machte der Rotkopf plötzlich Halt, so daß der Sottocaporale kaum die Zeit fand, sich hinter den umherliegenden Quadern einer eingestürzten Mauer niederzuducken. Einige Minuten lang spähte und horchte der Bursche mit scharfem Aug' und Ohr in der Runde umher: dann schlüpfte er wie auf Katzenpfoten zwischen das Trümmerwerk hinein und – verschwand. Die Reihe des Lauschens war jetzt an den Polizeimann gekommen. In der Nähe rührte und regte sich nichts; nur tief aus dem Trümmerhaufen scholl es zeitweise hohl hervor, als kollerten Steine durcheinander. Noch länger zögern, hieß vielleicht die Spur des Rotkopfes ganz und gar verlieren. Soeben verdunkelte wieder eine dicke Wolkenmasse den Mond. Kurz entschlossen warf sich der Bolognese auf den Boden hin und leise, sein Stilett für alle Fälle stoßfertig zwischen die Zähne geklemmt, kroch er wie eine Coopersche Rothaut nach dem Trümmerhaufen hin. Hinter dem Bruchstück einer geborstenen Säule hemmte er seine Rutschpartie, um von neuem zu lauschen. Eine Weile blieb alles still und schon befürchtete er, das so geduldig verfolgte Wild könne ihm entwischt sein – – da scholl abermals wie aus dem Schoß der Erde ein dumpfes Geräusch in sein nervös gespitztes Ohr. Kein Zweifel: es war der Rotkopf, der da unten wie ein Dachs arbeitete. Immerhin galt es, die größte Vorsicht zu beobachten, dennoch aber konnte sich jetzt der Sottocaporale bei seinem Heranschleichen ein rascheres Tempo gestatten. Noch einen Moment horchte er, um aus der Schallrichtung des von dem Rotkopf verursachten Geräusches einen orientierenden Anhaltspunkt zu gewinnen – dann kroch er in den Trümmerhaufen hinein. Schon nach kurzem Umhersuchen entdeckte er einen engen und niedrigen Schacht, in den sich der breitgeschulterte Mann nur mit einiger Mühe hineinzwängen konnte. Und dennoch war dies allem Anschein nach der Weg, den der Zerbinotto genommen hatte. Eine Strecke weit hatte sich der Sottocaporale in dem begreiflicher Weise stockfinstern Schlunde vorwärts geschraubt, als sich mit einemmal verschiedene Gänge auseinanderzweigten. Welcher dieser Kreuzwege war nun der richtige? Die Lage des Bolognesen war nicht nur eine äußerst unbehagliche, sondern zugleich auch lebensgefährliche. Wohl trug er, wie immer, seine Blendlaterne bei sich, aber er durfte es aus leicht erklärlichen Gründen nicht wagen, Gebrauch davon zu machen. Und dennoch konnte er, trotz allem behutsamen Tasten, von Sekunde zu Sekunde gewärtig sein, in einen tückischen Spalt hinabzustürzen, wo er, wenn er nicht sofort den Tod fand, aller Wahrscheinlichkeit nach elend verenden mußte, denn bei diabolischen Rotkopf durfte er in diesem Fall schwerlich auf Erbarmen rechnen.

Noch war der Sottocaporale unschlüssig, welche Richtung er auf gut Glück hin einschlagen solle, als mit einemmal, anscheinend ganz in der Nähe, ein kurzes, trockenes Hüsteln die gespenstige Stille belebte. Unwillkürlich zuckte der Bolognese freudig zusammen: kannte er ja diesen charakteristischen Ton, den er im fast täglichen Gefolge des Rotkopfes tausendmal gehört hatte, denn der Bursche, wie bereits an anderer Stelle bemerkt, trug damals schon die Keime der Schwindsucht in sich. Aber auch noch eine weitere Gewißheit gewann der horchende Polizeimann: der Kumpan befand sich allein, denn hätte er einen Gesellschafter gehabt, so wäre wohl auch von diesem das eine oder andere Lebenszeichen wahrzunehmen gewesen.

Mit verhaltenem Atem und erwartungsvoll pochendem Herzen kroch der Sottocaporale in jenen der sich kreuzenden Gänge hinein, aus welchem ihm das wegweisende Hüsteln entgegengetönt war. Der Schacht zog sich in mehrfachen Windungen hin, zugleich erweiterte er sich aber auch mehr und mehr. Eben bog der bedächtig Zoll um Zoll vorrückende Polizeimann um eine abermalige Krümmung, als jählings ein Lichtschimmer die schwarze Finsternis erhellte. Wo das Licht war, da mußte auch der Rotkopf sein und zwar konnte er nur noch wenige Schritte entfernt sein, denn sein Verfolger hörte ihn jetzt deutlich in irgendeiner Beschäftigung herumkramen. Die Muskeln und Sehnen des Sottocaporale spannten sich wie bei einer Katze, die hinter dem Getäfel das Nagen einer Ratte belauscht. In der nächsten Minute fesselte ein grauenvolles Bild seine Augen.

Etwa zwanzig Fuß tiefer als der Schacht, der hier sein Ende nahm, weitete sich eine kesselförmige Grube, die vor Jahrhunderten als Zisterne oder Kloake, vielleicht auch als unterirdisches Verließ gedient haben mochte. Eine Strickleiter führte in diesen Behälter hinab, den ein Talglicht, in den Hals einer Flasche gesteckt, mit seinem zuckenden Schein erhellte. Auf einem Quaderstein saß der Rotkopf.

Durch einen glücklichen Zufall hielt er dem Zugang zu dieser verborgenen Kammer den Rücken zugekehrt, so daß der Sottocaporale, flach auf dem Leibe liegend, von seinem erhöhten Lauerposten aus ebenso bequem als unbemerkt jede Bewegung des unheimlichen Gesellen beobachten konnte. Den Oberkörper nach vorn gebeugt und das Kinn in die Hand gestützt, schien derselbe den Gedanken, der ihn offenbar schon den ganzen Abend über beschäftigte, weiterzuspinnen. An der Wand, ihm gerade vor den Augen, hing an einigen Nägeln ein dunkelfarbiger bürgerlicher Anzug. Ein Lichtstrahl durchblitzte den Kopf des Polizeimannes! Das bisher unerklärliche Rätsel, wie der Husar seine Opfer habe ermorden können, ohne seine Uniform mit der kleinsten Blutspur zu beflecken, fand in den dort hängenden Kleidern seine einfache Lösung …

Von seinem Lauerposten aus hatte der Sottokaporale bisher nicht bemerken können, daß zu Füßen des Rotkopfes ein kleines Leinwandsäckchen lag. Erst als sich der Bösewicht mit einemmal niederbückte, um das Säckchen aufzuraffen, bot sich dem Polizeimann die Gelegenheit, diese Entdeckung zu machen. Gleichzeitig hatte dabei auch der Zerbinotto seinen bisherigen Sitz so weit verrückt, daß sich nunmehr sein nächstes Beginnen leichter überschauen ließ. Das Säckchen, das er sinnend in seinen Händen wog, war ganz mit Blut besudelt; langsam nestelte er die Schnur los, die den Beutel zusammenhielt und griff ein Messer heraus, dessen lange schmale Klinge er in den Lichtreflexen der Kerze spielen ließ. Das Falkenauge des Sottokaporale konnte ganz deutlich erkennen, daß stellenweise rostige Flecken die blanke Politur der Stahlklinge trübten: die Flecken waren die stummen und doch so schauerlich beredten Blutzeugen, die den Rotkopf an den letzten Todesseufzer seiner Schlachtopfer erinnerten. Doch der eiskalte Mörder war gegen solche Gewissensbisse gewappnet wie das Krokodil gegen einen Nadelstich und gleichmütig griff er in das Säckchen, um seine grauenhafte Inspektion fortzusetzen.

In der nächsten Sekunde schon hielt er grinsend zwei kleine, länglich runde Objekte gegen das Licht hin. An einem dieser muschelartig geformten Gebilde glänzte ein goldenes Ringlein mit einer daranhängenden Korallenzacke. Die rote Koralle konnte unwillkürlich an einen dicken, geronnenen Blutstropfen erinnern.

Es waren zwei eingetrocknete Menschenohren.

Es waren die kannibalischen Trophäen, die dem geheimnisvollen Mörder im Volksmunde den Namen » Il segatore degli orecchi« (Ohrabschneider) verschafft hatten. Dort das Ohr mit dem Korallenring – der Sottokaporale wußte es ja aus dem polizeilichen Leichenbefund – gehörte weiland der armen jungen Magd an, die im Kapuzinergäßchen meuchlings erstochen worden war.

Das zweite Ohr aber – das soeben der Mörder wie einen Fangball in die Luft warf und spielend wieder erhaschte – war vom Kopfe der mitten in ihrem heiligen Beruf getöteten Ordensschwester abgeschnitten worden …

Den sonst so derben, an alle möglichen Vorkommnisse seines Berufes gewohnten Sottokaporale wollte es, hier diesem Satan in Menschengestalt gegenüber, fast wie ein momentanes Gruseln beschleichen – – – eine Bewegung des Scheusals aber gab im gleichen Augenblick dem Gedankengang des Polizisten eine andere Richtung. Der Rotkopf hatte nämlich seine Uhr hervorgezogen, um zu sehen, was es an der Zeit sei; das Messer und die beiden Ohren in das Säckchen zurückschiebend, band er letzteres wieder zu und erhob sich dann von seinem Sitze. Ebenso schnell war aber auch schon der Sottocaporale soweit in den Schacht zurückgekrochen, daß unten der Rotkopf unmöglich seinen geheimen Verfolger entdecken konnte.

In seinem Gefühl absoluter Sicherheit dachte übrigens der Bursche auch gar nicht daran, einen Blick nach jener Richtung hinzuwerfen. Sorglos kehrte er sich der Wand zu, wo seine »Arbeitskleider« hingen und befestigte das Säckchen an einem der Nägel, die er zwischen die Fugen der Mauer eingeschlagen hatte. Dann blickte er nochmals auf seine Uhr. Die Arme über die Brust kreuzend, schritt er, zeitweise vor sich hinhüstelnd, in dem Kellerraum langsam auf und nieder: offenbar faßte er die Gedanken, die sich in seinem Kopfe umhertummelten, zu einem summarischen Schlußresultat zusammen … Auch der Sottocaporale hatte einen günstigen Moment benützt und mit einem raschen Blick seine eigene Uhr befragt. Für diesen Abend war auf keinen Fall mehr ein Handstreich des Mörders zu erwarten; er mußte sogar in aller Bälde aufbrechen, wenn er noch rechtzeitig seine Kaserne erreichen wollte.

Der Sottokaporale überlegte.

Durch die unverhoffte Entdeckung, die er hier gemacht hatte, war ja die von ihm projektierte Tigerjagd eigentlich jetzt überflüssig geworden. Dort an der Wand die Kleider und das blutige Säckchen mit seinem Inhalt genügten, um den Verbrecher zu überführen und ihm den Strick des Henkers um den Hals zu legen. Unter diesen Umständen erschien es dem Polizeimann als eine zwecklose Grausamkeit, jetzt noch die Haut Spitzfingers aufs Spiel zu setzen. Die Ehrenrettung der Polizei und der Ruhm, den der Sottocaporale für seine eigene Person erstrebte, ließen sich nun auf kürzerem Wege erzielen. In gleicher Weise, wie der Rotkopf in die Höhle hineingeschlüpft war, mußte er auch wieder seinen Rückzug bewerkstelligen. Der Sottocaporale hatte also nichts zu tun, als sich draußen am Ausgang so zu postieren, daß er beim Auftauchen des ahnungslosen Strolches sofort auf denselben dreinstürzen und ihn mit seinen herkulischen Armen umschlingen konnte. Den Rest betrachtete der bärenstarke Bolognese als ein Kinderspiel, denn in dem Schraubstock seiner Fäuste hatten schon ganz andere Kerle machtlos gezappelt, als die schmächtige Schneiderfigur des Zerbinottos …

Während oben der Polizeimann die so plötzlich veränderte Situation erwog, hatte unten der Rotkopf nicht minder gedankenvoll seine Promenade fortgesetzt. Mit einemmal blieb er stehen. Schon wollte der Sottocaporale, der ja jetzt den Weg kannte, eilfertig zurückschlüpfen, um rechtzeitig seinen Mann draußen in Empfang nehmen zu können – – da ließ sich der erbarmungslose Quälgeist von neuem auf den Stein nieder, der ihm als Sitz diente! In grimmiger, vorläufig aber ohnmächtiger Ungeduld biß der Bolognese die Zähne übereinander. Um besser zu sehen, was da unten der Teufelsbraten jetzt beginne, rutschte der Sottocaporale behutsam wieder gegen den Mauerrand vor, wo die Strickleiter hing. Wie er erwartet hatte, drehte ihm der Bursche neuerdings den Rücken zu. Eben suchte der lauernde Polizeimann für seine Arme einen bequemen Stützpunkt zu gewinnen – – da bröckelte sich, jedenfalls unter der Wucht seines Körperdruckes, mit einemmal einer der Einfassungssteine los und – um mit dem Vater Homer zu reden –

Hurtig, mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.

Für einen uninteressierten Zuschauer hätte in diesem Moment der Rotkopf zweifelsohne ein hochergötzliches Bild geboten! Kreidebleich vor Schrecken, wie von tausend Schlagfedern emporgeschnellt, war der in seinen philosophischen Betrachtungen so jählings gestörte Wicht von seinem Sitze aufgesprungen und zwar rascher, als der, durch das Intermezzo nicht minder verblüffte Sottocaporale Zeit finden konnte, sich unsichtbar zu machen. Aber gerade die Entdeckung, daß er es mit einem Wesen von Fleisch und Blut zu tun habe, gab dem überrumpelten Verbrecher seine ganze Besonnenheit zurück. Er konnte allerdings nicht wissen, ob dort der ungebetene Gast ein Polizeimann oder nur ein neugieriger Strolch sei – genug für den Mörder, daß sein so sorgsam gehütetes Geheimnis jetzt jenem unberufenen Eindringling preisgegeben war! In solchen Situationen drängen sich bei dem Menschen ein Gedanke und die Ausführung desselben in einen einzigen Moment zusammen. So geschah es hier bei dem Rotkopf. Den Eindringling erblicken, aus seiner Jacke ein Terzerol hervorreißen, ein Druck und ein Knall – – das alles war in rapidester Reihenfolge geschehen. Und der Messervirtuose erwies sich auch als guter Schütze, denn seine Kugel pfiff dicht über dem Kopfe des Sottocaporale hinweg. Mit dem zweiten Schuß, den er Verbrecher fast unmittelbar seinem ersten nachsandte, kreuzte sich der Krach aus dem Revolver des Bolognesen. Die Kerze, die dem Rotkopf zu seiner schauerlichen Revision geleuchtet hatte, war jählings erloschen; aus dem Pulverdampf, der das Gewölbe erfüllte, scholl ein gellendes Hohngelächter herauf – dann ein leises Rascheln – gleich darauf ein dumpfer Schlag, wie in der Tiefe des Mauerwerks – dann wieder gespenstige Stille!

In einer momentanen Betäubung kniete oben auf dem Mauerrand der Sottocaporale.

War der Rotkopf entwischt?

Wie eine jähe Tollwut erfaßte es bei diesem Gedanken den noch eine Minute zuvor seiner Beute so gewissen Jäger. Weib und Kind, Leben oder Tod – was konnte ihm das jetzt noch bedeuten? Das Hohngelächter des frechen Mörders übertönte jede andere Stimme in der Brust des von Ehrgeiz und Pflichttreue zugleich gestachelten Mannes. Schon im nächsten Moment erhellte seine Blendlaterne die schwarze Finsternis und ohne jedes längere Bedenken ließ er sich an der Strickleiter in das Gewölbe hinabgleiten. Den Revolver schußfertig in der Faust, durchsuchte er furchtlos den Raum. Ein grimmiger Fluch entrang sich plötzlich seinen Lippen. Wie in stummem Spott gähnte ihm dort in der Mauer ein Spalt entgegen, der bisher seinem Blick verborgen geblieben war, denn die von dem Rotkopf angezündete Talgkerze hatte mit ihrem trüben Schein das Gewölbe nur teilweise erhellen können. Wie ein aus der Luft herabsausender Hammerschlag traf jetzt den überlisteten Sottocaporale die Gewißheit, daß durch dieses Schlupfloch der Rotkopf entflohen war. Eine nähere Rekognoszierung vernichtete den allerletzten Zweifel.

In den Mauerspalt eindringend, entdeckte der Polizeimann einen Gang, der jedenfalls irgendwo ins Freie führte. Unbekümmert darum, ob ihm nicht der Flüchtling aus sicherm Versteck eine Kugel in den Leib jagen könne, verfolgte der so schmählich betrogene Bolognese die Richtung dieses unterirdischen Ganges, den, außer ihm und dem Rotkopfe wahrscheinlich schon seit Jahrhunderten kein menschlicher Fuß mehr betreten hatte. Eine unüberwindliche Schranke hemmte mit einem Mal die Schritte des Verfolgers: vor ihm lag eine ellenbreite Kluft, aus welcher es tief heraufrauschte wie das Rieseln eines Wassers. Jeder Versuch, mit einem Sprung über den klaffenden Abgrund hinwegzusetzen, wäre der helle Wahnsinn gewesen.

Für den Rotkopf hatte es allerdings eines solchen Salto mortale nicht bedurft; der dumpfe Schlag, den der Sottocaporale kurz zuvor gehört, ließ sich jetzt durch eine Planke erklären, die dem Flüchtling als Brücke gedient hatte und dann von ihm, zur Deckung seiner Rückzugslinie, in den Bodenspalt hinabgeschleudert worden war. Die ebenso mißtrauische als schlaue Fuchsnatur des Rotkopfes hatte also gleich von vornherein die Möglichkeit eines Überfalls in Erwägung gezogen und demzufolge die nötigen Vorkehrungen getroffen …

Wenn auch dem wackern Sottocaporale durch ein tückisches Verhängnis noch in der letzten Stunde der volle Siegerkranz mißgönnt worden war, so fiel ihm doch immer noch ein befriedigender Lohn für seine gehabten Mühen und Gefahren zu. Er avanzierte zum wohlbestallten Caporale und erhielt eine ansehnliche Geldprämie – außerdem aus der päpstlichen Ordenskanzlei eine Ehrenmedaille.

Was Spitzfinger betrifft, so kam – in Anbetracht, daß sie eventuell eine Rolle auf Leben und Tod hätte spielen müssen – die Diebin mit einer möglichst glimpflichen Strafe davon. Die fünf Banknoten des kleinen Champagner-Schwerenöters blieben ihr als gerettetes Schmerzensgeld.

Der Rotkopf aber war spurlos verschwunden und trotz aller Nachstellungen ließ sich nicht erkunden, wohin sich der Mordbube gewendet habe.

Noch in der gleichen Nacht war die Höhle in der alten Tarquinier-Burg unter polizeilicher Obhut genommen worden. Auf seiner eiligen Flucht hatte der Verbrecher die in seinem Schlupfwinkel verborgenen Effekten zurückgelassen; die blutbefleckten Kleidungsstücke und mehr noch das Säckchen mit dem Messer und den beiden abgeschnittenen Ohren stellten seine Schuld außer Zweifel.

Erst später erfuhr man, wohin er zunächst seine Haut in Sicherheit gebracht hatte.

Er war unter die Räuber gegangen.

Man erfuhr auch das Motiv, das ihn dazu bestimmt hatte, seine beiden letzten, ihm persönlich ganz und gar unbekannten Opfer zu ermorden. Der Treubruch der »Calzolarina« – jener launischen Schönen, die ihm um des schmuckern deutschen Dragoners willen so schnöd den Laufpaß ausgestellt hatte – war weniger für die Liebe, als für die krankhafte Eitelkeit des Rotkopfes eine Demütigung gewesen, wie sie ihn nicht schärfer treffen konnte. Nur durch Blut ließ sich in seinen Augen der erlittene Schimpf abwaschen und wir wissen, daß er noch am gleichen Abend seinen düstern Vorsatz ausführte. Der Tanz, mit welchem die Calzolarina und der Dragoner ihren neuen Herzensbund besiegelten, ward für das Paar zum Todesreigen. Sie fielen unter dem mörderischen Stahl des rachelechzenden Rotkopfes, der im zeitweiligen Dienste eines Abdeckers sich auf dem Schindanger eine grausige Meisterschaft im Gebrauch des Messers angeeignet hatte.

Sein maßloser Eigendünkel gab sich aber mit dieser Revanche keineswegs zufrieden; den Verrat, den die Calzolarina an ihm begangen hatte, sollte das Weibervolk der ganzen Stadt sühnen und in einer Art von Todeslotterie wollte der tolle Wüterich seine Schlachtopfer ausspielen. Die arme Magd im Kapuzinergäßchen eröffnete den blutigen Büßergang, dann folgte die Ordensschwester. Aus allen Ständen wollte ja der Mörder seine Hekatombe rekrutieren. Das Ohr, das er den Leichen abschnitt, sollte ein Wahrzeichen sein, daß hier immer die gleiche Hand walte; für den Mörder selber wurden diese Trophäen zu einem grausigen Kalender. Wer weiß, wie lange noch das kalt bedachtsame Scheusal unentdeckt seine Blutorgien gefeiert hätte, wenn nicht der Sottocaporale, allerdings nur mit halbem Erfolg, zum Pfadfinder der so frech verhöhnten Justiz geworden wäre!

Auf diese Vergangenheit schaute der Rotkopf zurück und wir können jetzt ermessen, was Simone Moretto und seine übrigen Mitgefangenen unter Umständen von diesem erbarmungslosen Bluthund zu gewärtigen hatten.


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