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Berlin unter der neuen Ära.

1. Im Tugendbund!

Es ist Sonnabend, der Tag, an dem sich der Tugendbund, eine ziemlich leichtfertige, aber geniale Gesellschaft, versammelt.

Im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater hatte Luise Mühlbach sich im »Tage von Roßbach« patriotisch versucht; kritisierend, lachend, Witze reißend, politisierend und klatschend zieht das lustige Völkchen die einsame Straße am Kupfergaben daher, um in seine Stammkneipe in den Kellern des ehrwürdigen Rathauses einzufallen. Es sind Herren und Damen, bunt durcheinander; die Presse hat ihr Kontingent gestellt, und der Gerichtshof, der kleine Wucher und die Diplomatie, das Theater und der Zunftzwang, die höhere Kleiderverfertigung und die französische Schweiz, selbst die Väter der Stadt haben es nicht verschmäht, ein pockennarbiges Individuum zu liefern, kurz, man ist sehr lustig, sehr gelehrt, sehr geistreich und sehr liebenswürdig – nur leider nicht sehr tugendhaft!

»Wastel,« sagte der Journalist, »geh' aus dem Wege, mein Sohn, und sperre mit Deiner unverschämten Peripherie nicht besseren Leuten, als Du bist, die Stiege zur Unterwelt, wo Margaux und Bowle fließen. Es ist nicht nötig, daß Du den Damen, die das Trottoir der Königstraße süß oder unsicher machen, auf die Enkel siehst. Weiche von hinnen, oder ich gebe der löblichen Gesellschaft Deine Abenteuer vom vorigen Sommer im Campanile oder dem San Marco der schönen Venetia zum Besten!«

Wastel der Dicke sieht den Redner mit dem Ausdruck niederschmetternder Verachtung an, schlägt den Carbonari, den er auch im Sommer zu tragen gewohnt ist, über die Schulter, daß die Spitze den Gamsbart auf dem Tiroler Hut streift und spricht: »Was ich mir davor koofe!« aber er macht in der That ehrerbietig Platz, denn der Präsident des Bundes schreitet eben den Eingang herab mit einer Dame am Arm und sagt nur: »Dicker, benimm Dich anständig, Du bist ja noch nicht betrunken!«

Die Gesellschaft ist jetzt in der zweiten Halle versammelt und rückt die Tische und Stühle und schimpft auf Deigmüller, daß er noch immer das Sofa nicht hatte polstern lassen, in dem man bis über die Hüften versinkt. Joly, ein abscheulicher Köter der würdigen Junggesellenwirtschaft, bellt alle Mitglieder an. Friedrich mit der gebissenen Wange, der Ober- und einzige Kellner, Buchhalter und naseweise Küfer, macht sich nützlich, indem er den Damen die Hüte und Mantillen abnimmt, woran keiner der Herren denkt, und wird dann zu Charlotten, der Antiquität der Küche, geschickt, um Nachricht zu holen über den Bestand der Küche, der sich gewöhnlich auf Ochsenschwanz und Kalbskotelettes beschränkt.

Deigmüller wird vor die Ratsversammlung citiert, um sich auszuweisen, ob Erdbeeren und Eis zur Bowle vorhanden sind, er hat diesmal glücklicherweise Wort gehalten und erhält die Erlaubnis, sich neben la beauté de la Suisse zu setzen. Der unglückliche Wastel wird beauftragt, die Bowle zu brauen, krempelt dazu seine Hemdärmel in die Höhe und streicht seine Lockenmähne zurück, bereit, jeden mit Grobheiten zu regalieren, der etwas an seinem Gebräu auszusetzen hat.

Jetzt sind die Gläser mit Estèphe gefüllt, der Präsident schlägt mit dem Rohrstock auf den Tisch und erklärt: »Das Gesprächsel ist eröffnet! Seid tugendhaft, meine Kinder in Wort und That!« Eine Flut von Stadtneuigkeiten und Politik, von Theaterklatsch und Anekdoten, von Wissen und Scherz, Liebe und Bosheit, Industrie und Personalien füllt alsbald die Atmosphäre und fällt über den unglücklichen Präsidenten her, der sich die Ohren zuhält.

»Seid Ihr des Teufels, tugendsame Brüder und Schwestern, könnt Ihr nicht der Reihe nach reden, statt einen Lärm zu machen wie in einer Judensynagoge oder einer Volksversammlung? Laßt uns ein vernünftiges Gesprächsel führen, wie es sich gebührt und der Zwiebelduft aus Charlottens Heiligtum es zur würdigen Vorbereitung auf die culinarischen Genüsse erfordert. Josephine, mein Kind, meinst Du nicht auch?«

»Ich verstehe nichts von Ihren Dummheiten, Monsieur!« lautet die Antwort der schönen Französin.

»Graf Goltz, der konstantinopolitanische Gesandte, tritt das Unterstaats-Sekretariat an!« lispelt die Stimme des angehenden Diplomaten hinter dem Glase Rotspohn herüber.

»Dann Gnade Dir, Spiegelthal! Fare well, Akropolis von Smyrna, und Butterhandel von Holland! Die Gräber von Sardes werden der Wissenschaft hinfüro verschlossen bleiben!«

»Leg' ein Wort ein für ihn, Strambo! Ihr waret ja wohl Schulkameraden?«

Der Zeitungsschreiber zuckte die Achseln. »Das ist das Schicksal der Welt, ich, die Bürger-Canaille, schlage mich im Staube meines Angesichts, er der Graf, wird einmal Minister des Auswärtigen! Achtundvierzig war er übrigens unter den Konservativen der, der arbeitete, während die Bethmanns und Pourtalés viel Redens machten. Manteuffel hat damals undankbar an ihm gehandelt und ihn zu den Schwerinern getrieben, gerade wie Harkort zur Demokratie. Niemand weiß das besser als ich, da ich mitten im Getriebe stand!«

»Bist Du vielleicht dafür Unterstaatssekretär geworden?«

Der Journalist lachte herzlich. »Wer bei uns in der konservativen Presse nicht nebenbei etwa einen Käsehandel oder derlei betreibt, wird ewig ein Hungerleider bleiben. Die Regierung versteht nicht, sich eine Presse zu erziehen, sie protegiert nur die Apostaten und Überläufer von Euch! Seht den Burschen da an, schlank, groß, geistreich! Er soll seine Kraft an der Begründung eines Kontreblatts der Volks-Zeitung abmühen, ohne andere Unterstützung zu haben, als hemmende Vorschriften – und ich wette zehn gegen eins, daß er, ehe zwei Jahre vergehen, ausgewandert ist!«

»Und glauben Sie, daß ich deswegen weniger ein Preuße bleiben werde?«

Der ältere Journalist reichte ihm die Hand über den Tisch. »Sie wissen, Kollege, welch große Stücke ich auf Sie halte. Es sind zwei Männer, von deren Grundsatz: Preußen vor allem vorwärts, ob mit Reaktion oder Demokratie! ich im Innersten überzeugt bin. Das sind Sie und …«

»Der andere!«

»Ist auch ein Gesandter, draußen in Petersburg, Bismarck. Ich denke oft daran, wie wir Achtundvierzig in der Dessauerstraße so manch liebes Mal an einem Tisch saßen!«

»Ich kann es nicht billigen,« sagte der jüngere Schriftsteller, »daß Herr von Manteuffel in dieser Weise das Feld geräumt hat.«

»Wie ein Hund, der den Schwanz zwischen die Beine klemmt. Er mußte sich selbst die Gerechtigkeit anthun, den vom Regenten angebotenen Grafentitel und den Sitz im Herrenhause als das Geringste, das man ihm schuldete, anzunehmen. Seine Empfindlichkeit war ein großer politischer Fehler, der sich an uns allen rächt!«

Die Justiz lachte spöttisch. »Arme Jungens, Eure Zeit ist vorüber, eine neue Ära hat begonnen!«

»So haltet sie hübsch warm und seht vor allem zu, daß sie die Gehälter der Justizbeamten erhöht, damit sie nicht nötig haben, schlechte Opposition zu treiben. Ich fürchte stark, die Sparsamkeit im Beamten-Etat wird sich rächen und eine Phalanx von Assessoren und Kreisrichtern erziehen, die jedem Ministerium sehr unbequem sein dürfte. Die Arena ist offen; jeder Referendar trägt das Portefeuille in seinem Maulwerk, wie einst der napoleonische Soldat seinen Marschallstab im Tornister.«

»O Himmel!« flüsterte eine süße Frauenstimme, »können diese Männer denn nicht wenigstens fünf Minuten zusammen sein ohne von Politik zu sprechen? Laßt den Wastel lieber eine Geschichte erzählen. Doktor, wie war es doch mit der italienischen Contessa?«

Der neue Ganymed drohte mit der Schöpfkelle herüber. »Ich schlage Dir das ungewaschene Maul ein, wenn Du ihnen Lügen erzählst! Ich will lieber einen Rebus aufgeben!«

»Um Himmelswillen nicht!« Die Damen hielten die Finger gespreizt vor die Augen.

In diesem Augenblick trat der Kommissionsrat Boltmann ein.

»Ich höre im Vorbeigehen so herzliches Lachen,« sagte er, »und das hat mich verlockt, gegen meine Gewohnheit noch abends ein Fläschchen zu trinken. Kellner! eine Flasche Jacqueson! es ist der solideste Wein, und wenn Sie erlauben, trinke ich ihn in Ihrer Gesellschaft.«

»Mephisto in Auerbachs Keller,« flüsterte der jüngere Journalist zu seiner Nachbarin.

»Wollen Sie mein Faust sein?« fragte der andere, der sehr scharfe Ohren hatte, lächelnd. »Ein Gretchen werden wir allenfalls finden.«

»Ich danke, Herr Kommissionsrat, ich lasse mich nicht gern beeinflussen!«

»O mein lieber junger Freund,« sagte der Rat mit Salbung, indem er den Damen Champagner einschenkte, »wer in aller Welt ist so selbständig, daß er nicht einem Einfluß unterläge?! Tausendfach sind seine Wege, und selbst der stärkste Charakter hat seine Achillesferse. Die Sache ist bloß, sie nicht zu fühlen oder fühlen zu lassen.«

»Ich werde gerade in meiner Stellung mir immer volle Selbständigkeit zu wahren wissen!«

Der Rat lächelte fein. »Ich zweifle nicht daran, und eben diese geistige Kraft hat bereits die Aufmerksamkeit in anderen Kreisen auf Sie gelenkt. Daß mit dieser sogenannten neuen Ära Sie hier nicht an Ihrer Stelle sind, wird Ihnen doch gewiß längst eingeleuchtet haben.«

Er hatte sich zu dem Journalisten gesetzt, während die anderen eben einer schlüpferigen Geschichte lauschten, die der Dicke mit unvergleichlicher Virtuosität vortrug.

»Gerade jetzt gilt es ernstem Kampf für die konservativen Grundsätze.«

»Eine Kraft wie Sie muß ihr eigenes Feld haben, nicht neben der Kreuzzeitung. Es freut mich, Sie hier getroffen zu haben; seit zwei Tagen habe ich einen Brief des Grafen Thun für Sie.« Er nahm ihn aus der Brieftasche. »A propos –« er wandte sich an den Schriftsteller, »werden Sie uns nicht bald wieder ein Buch zum besten geben, wie Ihr ›Sebastopol‹ oder ›Nena Sahib?‹ Der jetzige Feldzug in Italien wäre ein nicht übler Stoff.«

»Vielleicht; aber ich müßte so kosmopolitische Figuren haben, wie Sie, Rätchen!«

»O, was mich betrifft, ich gebe Ihnen plein pouvoir; bringen Sie unsere ganze hübsche kleine Gesellschaft hinein, versteht sich mit gehöriger Diskretion. Ich könnte Ihnen manche hübsche Geschichte an die Hand geben. Noch heute abend hörte ich eine höchst interessante Geschichte!«

»Darf man sie wissen?«

»O, Sie werden sich der Personen erinnern. Sie lebten einige Zeit hier, selbst in meinem Hause. Erinnern Sie sich der Gräfin Törkyönyi und ihres Freundes oder Liebhabers, eines Doktor Lazare?«

»Gewiß! ein verkappter Jesuit oder Agent der revolutionären Propaganda!«

Der Rat lächelte. »Ich weiß es nicht, aber er ist tot!«

»Tot?«

»Ja, er war ein Mann von großer Philosophie, der das Duell verachtete, und dennoch ist er im Duell erschossen worden.«

»Wo? wie ist das geschehen?«

»O – in der Schweiz! Es heißt: aus Eifersucht, und daß die Gräfin ihm dabei sekundiert hätte. Es hängt damit noch eine kleine Geschichte zusammen, die ich vielleicht nachher noch zum besten gebe.«

Er heftete das kleine graue Auge dabei mit einem eigentümlichen Ausdruck auf die junge Französin, die mit einem Mitglied der lockern Gesellschaft gekommen war und seit dem Eintritt des Kommissionsrats auffallend still und scheu sich zurückgezogen hatte.

»Nach allem, was ich höre,« fuhr der Rat fort, »wird es jetzt ernst mit dem Krieg.«

»So scheint es. Das 7. Korps nimmt Stellung bei Köln, das 8. und 4. bei Düsseldorf und Wesel, das 3. bei Frankfurt am Main, das 5. bei Mainz, die Garde als Reserve in Thüringen. Die Bundeskorps kommen an den Oberrhein!«

»Also acht Armeekorps, das kann allerdings Marschall Pelissier nicht paralysieren.«

»Lord Russel hat einen neuen Vermittelungsvorschlag gemacht!« sagte der Diplomat.

»Die Weltgeschichte geht über die Vermittelungsvorschläge zur Tagesordnung über. Ich bin neugierig, welche Mängel sich bei Ihrer neuen Mobilmachung herausstellen werden. Man sagt, der Regent gehe schon seit Jahren mit dem Plan einer Reorganisation der Armee um. Schade, daß sie noch nicht ausgeführt ist, sie würde Österreich zugute kommen.«

»Wenn nicht diesmal, so ein andermal,« sagte der Städtische trocken. »Verlassen Sie sich darauf, daß es geschehen wird. Was übrigens die Mängel der Armee betrifft, so lauten die Berichte aus dem österreichischen Hauptquartier ganz absonderlich. Ich habe mich nur gewundert, daß Sie nicht dort sind?«

Die Frage galt dem älteren Journalisten.

»Die Kammer hat mich so lange aufgehalten; ich hatte die Hand voll gewichtiger Empfehlungen, aber als ich in Wien die Erlaubnis verlangte, schrieb Graf Rechberg einen langen, sehr höflichen Entschuldigungsbrief, dessen Inhalt war, daß man sich nicht durch die preußischen Zeitungen in die Karte schauen lassen könne.«

»Das habt Ihr Reaktionäre für Eure österreichischen Sympathieen; es wird noch besser kommen!«

»Das sagt die Schule der Neuzeit, die Älteren können sich des Gedankens noch nicht entschlagen, daß Preußen und Österreich Hand in Hand Europa Gesetze vorschreiben könnten. Aber freilich gehört dazu aufrichtiges Wollen gegenseitig, keine Hinterlist von Olmütz und Dresden.«

Der Kommissionsrat war nachdenkend geworden – die Ursache, weshalb er die Gelegenheit benutzt hatte, um in die lustige Gesellschaft hineinzufallen, war ja großenteils mit, die verschiedenen Stimmungen in der Bevölkerung der Residenz kennen zu lernen. Dann nahm er neben Marianne, der kleinen Französin, Platz und redete zu ihr in französischer Sprache offenbar sehr eindringlich, während sie nur einzelne ablehnende Worte zur Antwort gab, bis der Widerspruch und der Ruf des Präsidierenden der lustigen Gesellschaft ihn veranlaßte, das Gespräch aufzuheben. »Sie schulden uns noch die Duellgeschichte,« rief dieser, »und wollten uns erzählen, wie es gekommen.«

Jetzt nahm der Kommissionsrat den vorigen Sitz neben dem Journalisten ein, dem er vorhin den Brief gegeben.

»Sie sollen die Geschichte hören,« wiederholte er. »Sie ist pikant genug, um in der Gerichtszeitung oder der Tribüne unter den auswärtigen Kriminalfällen eine amüsante Rolle zu spielen, namentlich da Personen in Berlin leben und wahrscheinlich Ihnen selbst bekannt sind, die nicht ohne Bezug zu den Vorgängen sind. Die Anekdote spielt in Genf!«

Die Gesellschaft sah, neugierig durch diese Einleitung, den Erzähler an, sonst hätte vielleicht einer oder der andere bemerkt, daß die kleine Französin erbleichte und auf den Erzähler einen flehenden, ängstlichen Blick warf.

»Doktor Lazare hielt sich in irgend einer seiner politischen oder sozialistischen Intriguen in Genf auf und logierte in der ›Krone‹,« erzählte der Rat weiter, ohne die Bitte zu beachten. »In dem Gasthof servierte ein junger Mann als Kellner, der zwei hübsche, noch sehr junge Schwestern hatte. Monsieur Henry, so wollen wir ihn nennen, ließ sich vom Teufel blenden und stahl dem Doktor einen Diamantring. Aber der Doktor Lazare, wie einige von Ihnen wissen, hatte Luchsaugen, er entdeckte bald den Dieb und wollte ihn der Polizeibehörde übergeben. Die Gräfin, die zufällig die Schwestern gesehen hatte oder kannte, legte sich ins Mittel, vielleicht, daß Monsieur Henry selbst einen Stein bei ihren kleinen Liebhabereien im Brett hatte. Sie schickte die beiden Mädchen zu ihrem Galan, um Gnade zu bitten, und Doktor Lazare war kein Mann, der die Gelegenheit vorbeigehen ließ. Kurz und gut, die beiden Mädchen zahlten für ihren Bruder, ziemlich schwer, denn die jüngste stürzte sich zehn Monate darauf mit ihrem Kinde von der Brücke an der Rousseau-Insel in den See! Der andern bekam der Gnadenpreis zwar nicht so unglücklich – sie ließ bloß den Orangenzweig zurück und ging ins Ausland. Aber sie hätte gewiß auch jenen Preis nicht gezahlt, wenn sie gewußt hätte, daß Lazare sehr vorsichtig nach seiner Gewohnheit alle Beweise jener kleinen Eskamotage aufbewahrt hatte, selbst ein handschriftliches Eingeständnis des jungen Burschen, zu dem er ihn gezwungen. Ich glaube die hinterlassenen Papiere des Doktors könnten eine halbe Provinz an den Pranger oder auf die Festung, wenn nicht auf das Schaffott bringen!«

»Und wer ist in ihren Besitz gekommen?«

»Nicht die Gräfin, dazu kannte er sie zu gut! Genug – der unbesonnene junge Mensch hat seine leichtsinnige Handlung von damals ehrlich gesühnt und sich auf einen besseren Weg gewandt. Er diente in der französischen Armee während des Krimfeldzuges, zeichnete sich bei dem Sturm auf den Malakoff aus und wurde zum Offizier ernannt und dekoriert!«

»Aber was hat das alles mit dem Duell des Doktor Lazare zu thun; er hat sich doch nicht mit seinem ehemaligen Diebe geschlagen?«

»Nein, aber ein eigentümliches Verhängnis wollte, daß der französische Offizier einer der Beistände des Russen sein mußte, mit dem sich Lazare, alle seine bisherigen Grundsätze diesmal einem blinden Haß und seiner Geschicklichkeit nachsetzend, schoß. Wahrscheinlich wollte er die Chancen des Zufalls im voraus korrigieren und scheint Herrn Henry in dieser Beziehung einen Vorschlag gemacht zu haben – was? hat man nicht erfahren. Der Offizier hat die Zumutung zurückgewiesen, und Lazare …«

Der Rat schwieg einen Augenblick und warf einen eigentümlichen Blick auf die Französin.

»Nun!«

»Lazare hat noch auf dem Totenbett die Niederträchtigkeit begangen, einen meiner Geschäftsfreunde, von dem ich eben die Geschichte weiß, zu verpflichten, jenes Papier das er ihm übergab, die Quittung über den Diebstahl, könnte man sagen, zu veröffentlichen oder an den Regimentskommandeur des Offiziers, der bei Magenta verwundet und Kapitän wurde, zu schicken.«

»Das ist eine Nichtswürdigkeit! Wie heißt der arme Mann?«

»So viel ich mich erinnere – ich glaube …«

Ein tiefer Seufzer unterbrach die Antwort, die Französin Marianne fiel ohnmächtig von ihrem Stuhl, zum Glück auf Joly den Hund, der aufmerksam daneben gesessen und jetzt heulend und hinkend in einen Winkel flüchtete.

»Zum Teufel mit Ihrer Geschichte,« rief gutmütig der Dicke, indem er sich eifrig mit dem Korsett der Ohnmächtigen zu schaffen machte, »solche Bosheit kann kein Pferd anhören, viel weniger das butterweiche Herz eines Frauenzimmers, noch dazu, wenn von einem Landsmann die Rede ist! Es ist ein Glück, daß der Kerl tot ist, ich glaube, ich hätte ihn selber auf – meinetwegen auf 500 Schritt Distance gefordert!«

Der unangenehme Zufall hatte die ganze Gemütlichkeit gestört, die Damen waren um die kleine Französin beschäftigt, die sich unter Eau de Cologne und Wasser erholte, der Präsident erklärte die Sitzung für heute geschlossen, und die Herren bezahlten an Friedrich ihre Zeche; dabei war der jüngere Journalist zu dem Kommissionsrat getreten.

»Ich weiß nicht, wie weit Sie mit dem Inhalt des Briefes bekannt sind, Herr Rat,« bemerkte er ernst. »Wenn aber dies der Fall ist, und Sie an den Herrn Grafen schreiben, so sagen Sie ihm, daß ich nicht abgeneigt bin – aber nur unter der Bedingung, daß ich nicht gegen meine Überzeugung und nicht gegen mein Vaterland zu schreiben brauche!«

Der Rat verbeugte sich leicht. »Ich glaube, Herr Doktor, Sie haben nur Ihre Bedingungen zu stellen. Man ist der feilen jüdischen Federn dort müde und wünscht eine frische selbständige Kraft.«

Er wandte sich zu den Damen und nahm dem Kellner den Hut und die Mantille für die junge Gouvernante ab, auf die seine Erzählung einen so merkwürdigen Eindruck gemacht hatte.

»Erlauben Sie, Mademoiselle?« fragte er, die Mantille öffnend, und indem er, sich umblickend, alle andern beschäftigt und einige Schritt entfernt sah, fügte er leise hinzu:

»Soll ich den Namen nennen?«

»Ich flehe Sie an – ich gehorche!«

Er ließ einen Schlüssel und ein Papier in ihre Hand gleiten.

»Noch diese Nacht also,« flüsterte er. »In dem Arbeitskabinett – der zweite Schrank von der Thür links. Von oben das dritte Fach, der Zettel enthält die Aufschrift des Aktenstücks. Wann pflegt Se. Excellenz schlafen zu gehen?«

»Um ein Uhr gewöhnlich!«

»Dann warten Sie eine Stunde, und es wird ohne Gefahr sein. Sie werden morgen Vormittag unter einem Vorwand das Hotel verlassen, ich erwarte Sie am Goldfischteich. Der Schlüssel paßt, Mut und ein bißchen Geschicklichkeit, so ist keine Gefahr!«

»Und mein Bruder …?«

»Auf mein Ehrenwort! Wenn Sie mir das Aktenstück bringen, erhalten Sie jenes Papier und damit jeden Beweis!«

»Heda, Kommissionsrat!« rief der Innungsälteste, von der ganzen Gesellschaft der Onkel genannt und gewöhnlich mit der Zusammentrommelung des Tugendbundes beauftragt oder mit der Rolle der Anstandsmutter für die weiblicher Mitglieder betraut, »Sie machen unserer kleinen Marie allzusehr die Cour!«

Der Agent trat zurück: »Ich bin fertig, ich habe dem Fräulein nur meine Entschuldigungen gemacht, daß meine Geschichte von vorhin sie so erregt hat.«

»Vorwärts! vorwärts! Sonst giebt es keine Droschken mehr!«


2. An dem Sterbelager eines Gerechten!

Tiefe Stille herrschte in dem Parterrezimmer eines Hauses in einer der Seitenstraßen der Linden, jene Stille, wie sie die Vorsicht der Liebe sorgsam beobachtet, um den Schlummer eines teuren Kranken nicht zu stören. Der gedämpfte Schein einer Lampe verbreitete ein Halbdunkel, das nur undeutlich die Gestalten erkennen ließ. Das Gemach war einfach bürgerlich möbliert, die ganze Einrichtung zeigte, wenn auch nicht Mangel, doch strenge Vermeidung jedes Überflusses. Und doch waren die Bewohner desselben noch vor wenigen Wochen der weiten aristokratischen Räume und aller Bequemlichkeit des Lebens gewohnt.

In der Mitte des Zimmers saß schlafend auf einem unbequemen Lehnstuhl ein alter Mann, die hohe, einst so straffe Gestalt weniger durch die Last der Jahre, als der Leiden gebeugt. Er war vollständig angekleidet und trug eine verbrauchte Armeeuniform von altmodischem Schnitt, im Knopfloch das Eiserne Kreuz. Die wenigen Haare waren weiß wie Schnee, die Wangen abgemagert, die geschlossenen Augen tief eingefallen.

Es war der alte Major von Röbel.

Neben ihm, auf niederem Stuhl, saß in Trauerkleidung seine stille Gemahlin, mit ängstlicher Sorge jede Bewegung des Kranken beobachtend, während Thräne auf Thräne über ihre blassen Wangen lief. Nur zuweilen wendete sie das kummervolle Auge von dem Gatten ab auf den jungen Mann, der, ihre Hand in der seinen haltend, vor dem Greise kniete und mit gleichem Schmerz zu ihm aufsah, und ein gewisser freudiger Trost, eine Empfindung des Glücks belebte dann ihr mildes Auge, denn es war ja ihr Sohn, ihr geliebtes Kind, das hier, gerettet und ihrer Liebe wiedergegeben, an ihrer Seite kniete.

Es war in der That Otto von Röbel, wiedergekehrt aus dem blutigen Kampf im fernen Land, wiedergekehrt mit schwellendem, hoffnungsbewegtem Herzen für die Zukunft – – zu dem Sterbelager des Vaters.

Rosamunde war an seiner Seite. Erst zwei Stunden war er hier, und die Geschwister hatten noch keine Gelegenheit gehabt, ihre Herzen einander auszuschütten. Die Sorge für das teure Haupt vor ihnen verdrängte alles andere und nur leise geflüstert erhielt der junge Mann von ihr jetzt einige Mitteilungen und Antworten auf seine Fragen.

Sie lauteten traurig genug.

Auch nach der Abreise der Söhne war der alte Edelmann verschlossen, aber thätig und ungerührt geblieben. Bereits fünf Tage nachher war es ihm gelungen, das Gut seiner Väter, auf dem die Familie Röbel seit Jahrhunderten gesessen, zu verkaufen. Der Käufer war einer jener Spekulanten, die in unserer spekulierenden Zeit den Grundbesitz durch Abholzung und Parzellierung zu Geld machen, oder durch Spiritus-Brennereien und Fabrikanlagen verwerten, einer jener Ritter der Neuzeit, deren Vasallen die Fabrikarbeiter, deren Adelsbrief der Courszettel und deren Lanze der Dampfschornstein ist. Er hatte wohl verstanden, sich im Kaufpreis den Druck der Zeitverhältnisse zu Nutze zu machen, aber er hatte sofort bezahlt, und das war alles, was der Major verlangte. Mit den Kapitalien waren sofort bis auf den letzten Pfennig die Hypotheken, sowie alle Schulden des leichtsinnigen Offiziers bezahlt worden, ja der Major hatte auch den Betrag jener unglücklichen Wechsel, nebst einem erheblichen Überschuß für den Wucherer bei einem Bankier deponiert, obschon der Familie dadurch nur das Leibgedinge der Frau übrig blieb, das kaum hinreichte zu ihrem beschränkten Lebensunterhalt. Die Familie hatte, den Bedingungen des Verkaufs und dem starren Willen des alten Edelmannes gemäß, sofort das Gut verlassen, wo bereits Schaufel und Kelle rüstig arbeiteten, um eine Spinnerei und andere Anstalten rasch entstehen zu lassen, und war nach Berlin gezogen, um hier einstweilen in der Stille zu leben, bis alle Geschäfte beseitigt wären.

»Und der Vater, o mein Gott, wie ertrug er alles dies?«

»Fest und ruhig, Du kennst seine Weise. Nur – damals –« das arme Mädchen brach aufs neue in Thränen aus.

»Sprich, Rosamunde, erzähle alles! Gott hat mir in seiner Gnade die Macht gegeben, wenn Gold es verrichten kann, alles wieder gut zu machen. Röbelsburg soll der Familie zurückgegeben werden, und müßte ich alles daran setzen. Mein Vater soll sein ehrwürdiges Haupt unter dem Dach seiner Ahnen zur Ruhe legen.«

Die Frauen weinten, indem sie ihr Schluchzen kaum zu unterdrücken vermochten. »Zu spät, Otto, zu spät! Er hätte alles ertragen, nur als jener Schändliche …«

»Jonas?«

»Er hat alle Anerbietungen verschmäht, obwohl wir das letzte opfern wollten, um seinem Haß und seiner Rache Genüge zu thun. Damals, Otto, war es – an dem Tage …«

»Sprich!«

»An dem Tage, wo der Steckbrief mit dem Namen Friedrichs, mit unserem Namen in den Zeitungen erschien, war es, wo des Vaters Herz und Kraft brach. Obschon wir gewarnt waren von einem Freunde, den das Unglück uns zugeführt, und der auch dem Vater den Käufer des Gutes vermittelt hatte, und versuchend, die unglückliche Anzeige ihm fern zu halten, schien er eine Ahnung zu haben und suchte die Zeitungen in einem öffentlichen Lokal auf. Es war eine schreckliche Stunde, Otto, als er nach Hause kam, das Herz gebrochen und das Auge so starr! Seitdem hat er das Zimmer nicht wieder verlassen!«

Der junge Mann hatte die Hand krampfhaft zusammengeballt, zwischen seinen Augenbrauen lag eine dunkle, tiefe Falte auf der Stirn, die eine breite, kaum verharschte Narbe zierte. Er hatte die Schwester leise zum Fenster geführt, damit der Kranke nicht von ihrem Flüstern erwache.

»Was sagt der Arzt, Rosamunde? Verschweige mir nichts!«

»Er ist am Nachmittag über eine Stunde bei uns gewesen. Du weißt, der Geheime Rat war stets ein Freund des Vaters. Er ist einer der wenigen, die unser Unglück nicht von uns gescheucht.«

»Er ist ein Ehrenmann!«

Das Mädchen schluchzte. »Er hat uns alle Hoffnung benommen und mich auf das Schlimmste vorbereitet, damit ich die Mutter unterstützen möge. Der Vater hat nach seinem Besuch das heilige Abendmahl empfangen, er selbst verlangte danach.«

Der junge Mann bedeckte sein Gesicht mit den Händen, schwere Thränen des Schmerzes perlten durch seine Finger. »Gott im Himmel, warum mußte ich zu spät kommen, warum hielt mich die Verwundung und die Liebe so lange zurück, statt hier, wenn auch nicht das verlorene Leben, doch Friede und Sicherung zu bringen. Du wenigstens, Schwester, sollst den Lohn Deines Duldens empfangen! Aber hat die Tante sich Eurer nicht angenommen?«

»Sie bot mir und der Mutter Wohnung bei sich an, aber wir wollten den Vater nicht verlassen. Das hat sie erzürnt. Überdies ist sie jetzt ganz fromm geworden, und wie es heißt, katholisch. Sie läßt eine Kapelle bauen und will in ein Stift gehen!«

»Ihre Nachsicht hat Fritz verderben helfen,« sagte er finster. »Fort mit ihr! Aber Du sprachst von jemand, der sich Euch gefällig und freundlich gezeigt in Eurem Unglück?«

»Es ist ein Mann aus niederem Stande, ein Kommissionär! Er kommt täglich mehrmal, um sich nach Papa zu erkundigen, und hat sich in jeder Weise nützlich und dienstfertig gezeigt.«

»Sein Name?«

»Günther, heißt er.«

»Der Schurke! er ist der Diener und Helfershelfer eines noch größeren als er! Ich kenne ihn wohl, er ist der Sache mit Fritz nicht fremd, ich traf ihn selbst bei dem Wucherer! Wehe ihm, wenn er es wagt, noch jetzt seine Bübereien mit Euch zu treiben!«

»Nein, Otto, sei nicht ungerecht,« sagte das Mädchen eifrig. »Es ist wahr, daß er ein Werkzeug jener gemeinen und schlechten Menschen gewesen ist, aber er bereut es aufrichtig und scheint wirklich eine gewisse Anhänglichkeit an unsere Familie zu haben, ich weiß nicht warum. Er hat jenem Manne den Dienst oder alle Verbindung aufgekündigt, weil er die unglückliche Sache gegen Friedrich bis zum Äußersten trieb, und hat sich geweigert, als Zeuge gegen diesen aufzutreten. Der Advokat sagte es dem Vater in meiner Gegenwart. Seitdem hat er uns hundert kleine Dienste erwiesen, ohne je eine Vergütung dafür anzunehmen. Er sagt, er habe den seligen Ferdinand noch gekannt! Aber Friedrich – sprich Otto – warum hast Du uns noch kein Wort von ihm gesagt? Ich muß das Schweigen brechen, da die arme Mutter es nicht wagt! Die kurze Nachricht von seinem Tode, die uns ein fremder Offizier schrieb, ist alles, was wir wissen!«

»Graf Montboisier – ich lag damals im Wundfieber! Aber still – der Vater regt sich – der Vater erwacht!«

Er eilte zu dem Greise und bedeckte seine welke Hand mit Küssen.

In der That bewegte sich der Kranke und war aus seinem Schlaf erwacht, ohne die Augen zu öffnen.

»Marie,« sagte er leise, ihre Hand suchend, »ich habe ihn gesehen, er war hier.«

Die Edelfrau hatte seine Hand gefaßt. »Er ist hier, mein Teurer, Gott hat ihn uns wiedergegeben!«

»Nein, Marie,« flüsterte der Greis, »nicht hier, dort oben, wo ich bald sein werde, bei ihm und Ferdinand. Dort, wo alles vergeben und nur die Liebe geblieben ist. Gewiß – ich habe ihn gesehen – wie ich Dich sehe, wie ich …«

Er öffnete die müden Augen, um sie auf Gattin und Tochter zu richten und heftete sie erstaunt auf seinen jüngsten Sohn.

»Otto – Otto, mein Sohn, Du hier!«

»Es ist mein Platz, Vater, und nicht meine Schuld, daß ich nicht eher an ihm sein konnte!«

Er sah seinem Jüngsten fest und innig in das schöne kräftige Gesicht.

»Du kommst zur rechten Zeit, Otto,« sagte er nach einer langen Pause der Rührung, »Du wenigstens bist ein echter Röbel und mit Ehren zurückgekehrt, wie Du gegangen, das zeigt mir diese da!«

Er legte den Finger in die rote Narbe auf seiner Stirn.

»Ich erhielt sie, Vater,« sagte der junge Mann fest, »als ich meinen Bruder, der mit seinem Leben die Fahne gerettet, aus dem Getümmel trug. Auch er ist als ein echter Röbel gestorben, und daß Du es wissen solltest, war sein letztes Wort!«

Der alte Mann nickte still. »Erzähle mir, wie der Fritz gestorben ist!«

Der junge Mann that, wie ihm geheißen, während Mutter und Schwester neben ihm standen und mit thränenfeuchtem Antlitz der einfachen Erzählung zuhörten.

»Die Nachricht von seinem Tode kam acht Tage zu spät für unsere Ehre,« murmelte der Greis. »Aber Gott, mein Herr, ich danke Dir, daß Du mich nicht zur Grube fahren läßt, ohne zu wissen, daß das Kind meiner Liebe seines Namens wert gestorben ist! Du aber sei gesegnet für das, was Du an Deinem Vater und Deinem Bruder gethan hast!«

Er hatte die Hand auf das Haupt seines Jüngstgeborenen gelegt, der eben antworten wollte, als es leise an die Thür klopfte.

Rosamunde ging zu öffnen.

»Vater,« sagte sie, »es ist Herr Günther, der heute zum drittenmal kommt, zu fragen, wie es Dir geht?«

»Laß ihn herein, mein Kind,« antwortete der Greis, »laß ihn herein! er ist ein Freund, erst im Unglück lernt man diese kennen, und das Unglück ist nötig, um uns die Lehren des Buches Gottes ganz verstehen zu lassen.« Er reichte dem zaudernd näher tretenden und bei dem unerwarteten Anblick des jungen Röbel tief errötenden und sich abwendenden Mann die Hand. »Es geht zu Ende, Herr Günther,« sagte er, »aber es ist sehr gut, daß Sie gekommen sind, damit ich Ihnen doch noch danken kann für Ihre viele Freundlichkeit!«

Es schnürte dem jungen Mann das Herz zusammen, als er seinen Vater, den festen, abgeschlossenen, den Unterschied der Stände durch sein ganzes Leben streng aufrecht haltenden Mann jetzt an der Schwelle des Grabes die Hand des Zuchthaussträflings, die Hand eines Menschen halten sah, dessen Berührung er früher mit Verachtung von sich gewiesen haben würde, und er mußte sich unwillkürlich abwenden, um seine Fassung wieder zu gewinnen.

»Jott bewahre, Herr Major,« stammelte das achtbare Individuum, »machen Sie sich man jetzt nich solche Jedanken! Sie werden noch lange nicht sterben, un jetzt, da der Herr Sohn wieder da sind, so frisch und gesund, erst jar nich. Ick freue mir aufrichtig, des zu sehen, un Amande wird sich ooch höllisch freuen, un – un –« er stockte und wußte nicht, wie er es anbringen sollte, bis er von einer kleinen Assiette, die er unter dem langen Rockschoß verborgen getragen hatte, eine sauber gefaltete Serviette abzog, »Sie müssen's ihr man nich übel nehmen, aber sie kocht janz vortreffliches Fliedermus, des für die Kranken so jut is, und da hat sie nich geruht, die jute Seele, bis ick mir die Erlaubnis nehmen dhäte, nanu, un nu will ick nich länger stören!«

Er manöverierte das Schüsselchen auf den nächsten Tisch und sich nach der Thüre, wurde aber dort von Otto aufgehalten, der ihm nachging.

»Herr Günther, auf ein Wort!«

So unverschämt und abgebrüht der Kommissionär auch im gewöhnlichen Leben war, überkam ihn bei der Ansprache des jungen Mannes doch ein sehr unbehagliches Gefühl, und er hätte wer weiß was darum gegeben, glücklich aus dem Wege zu sein. Um so erstaunter war er, als der junge Röbel, nachdem er ihn vor die Thür gewinkt, ihn freundlich ansprach.

»Ich habe Sie um einen Dienst zu bitten, Herr Günther. Haben Sie einen Augenblick Zeit zu einem Gang für mich?«

»Ob ick Zeit habe vor Sie, Herr Baron? Donnerwetter, schicken Sie mir meinetwejen in die Hölle, und Scabells seine janze Feuerwehr soll mir nich raus holen! Soll ick vielleicht den alten schäbigen Hund, den Jonas, noch heute Abend durchwamsen? Mit Verjnügen, Herr Baron, aus ufrichtigem Plaisierverjnügen, deß Sie heil wieder da sind und nich wie der Herr Leutnant …«

Der junge Mann unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Nichts davon! ich wünsche, daß Sie sogleich nach dem Hotel de Rome gehen, diese Karte abzugeben« – er schrieb mit Bleistift einige Worte darauf – »und die Personen, an die sie gerichtet ist, schleunig hierher führen. Aber halten Sie diese nicht auf, auch wenn Sie jemand darunter finden sollten, der Ihnen nicht unbekannt ist, denn die Minuten sind kostbar!«

Der Kommissionär legte beteuernd die Hand auf die Brust und schob nach einem militärischen Gruß eilig ab, der in jedem anderen Augenblick das Lächeln des jungen Mannes erregt haben würde.

Otto kehrte mit trüber Stirn in das Zimmer zurück, wo ihn Mutter und Schwester besorgt anschauten.

»Du hast ihm doch nicht wehe gethan?« fragte die Majorin. »Gewiß, er meint es ehrlich und freundlich, wenn auch seine Manieren nicht die besten sind.«

»Warum hätte ich das thun sollen, Mama? Wir haben Wichtigeres zu sprechen.« Er hatte sich wieder neben den Kranken gesetzt und seine Hand genommen. »Sie haben mich noch nicht gefragt, Vater, woher ich jetzt komme.«

Der alte Mann sah ihn fragend an.

»Ich komme von Röbelsburg!«

»Ich begreife,« murmelte der Kranke, »Du hast uns vergeblich dort gesucht.«

Die Edelfrau verhüllte ihr Gesicht.

»Nein, Vater, ich hörte bereits unterwegs von dem Unheil, dem Verkauf. Röbelsburg soll, ehe drei Tage vergehen, wieder in den Händen seiner alten Besitzer sein, und sollte ich den zehnfachen Kaufpreis dafür geben!«

Die von ihrem Unglück erdrückte Familie sah ihn mit Erstaunen an.

»Du, Otto? Du weißt nicht, was Du sprichst!«

»Ich weiß es wohl, Mama! Doch davon später. Vater, ich bin nicht allein nach Röbelsburg gekommen!«

Der alte Mann sah ihn an, ein Blitz des früheren Geistes loderte in seinen erloschenen Augen auf. »Ich will nicht hoffen, daß man mich belogen hat,« sagte er streng. »Der Leutnant von Röbel durfte lebendig nicht nach Preußen zurückkehren!«

»Aber dem Toten war es erlaubt!« sagte der junge Mann mit tiefer Stimme. »Ich habe die Leiche meines Bruders, des auf dem Felde der Ehre mit Ehren gefallenen Leutnant Friedrich v. Röbel in der Gruft seiner Väter in der Kirche, die seine Ahnen gebaut, seinem letzten Wunsche gemäß beigesetzt.«

Eine tiefe Stille herrschte in dem Krankenzimmer nach diesen Worten, nur unterbrochen von dem leisen Stöhnen des alten Mannes und dem Weinen der Frauen.

»Du hast wohlgethan, mein Sohn Otto,« sagte endlich der Greis, »und meine Urstätt wird bald neben ihm sein.«

»Vater,« fuhr der jüngere Röbel fort, »ich habe Dir noch mehr zu sagen. Du weißt, daß ich Dir nie ungehorsam gewesen bin, aber ich habe mir ein Vergehen gegen Deine Autorität zu Schulden kommen lassen, als gegen die des Hauptes der Familie.«

Der alte Mann sah ihn fragend an.

»Ich bin nicht allein zurückgekommen! meine Gattin bittet um Deinen Segen!«

»Du bist verheiratet? Wer ist sie, der ein Röbel seine Hand gereicht, ohne Vater und Mutter zu fragen?«

»Meine Gattin,« sagte der junge Mann stolz, »ist die einzige Tochter Ihres alten Waffenfeindes und Freundes, des verstorbenen Obersten Fourichon Marquis von Massaignac, also aus dem edelsten Blute Frankreichs!«

»Carmen?« riefen Mutter und Tochter wie aus einem Munde.

»Sie ist es, die Wiedergefundene, die mich auf meinem Wundlager pflegte. Sie wartet nur auf Eure Erlaubnis, Mutter, vor Euch zu erscheinen!«

»O dann führe sie her, Otto, in meine Arme, damit ich sie segnen kann und das Glück wieder einkehrt über diese Schwelle nach so vielen Leiden!«

»Sie wird sogleich hier sein, Mutter, und ich kann Dir nicht sagen, wie innig sie sich nach Deinem Mutterherzen sehnt, denn auch sie hat viel gelitten und getragen. Zuvor aber habe ich noch eine Pflicht zu üben! Vater, fühlen Sie sich stark genug, eine solche zu erfüllen?«

»Ein Röbel soll immer seine Pflicht thun, gegen Gott, die Ehre und den König!«

»Auch wenn es die Wiedergutmachung eines Unrechtes ist, wenn es Ihre Meinungen, ja Ihren wohlberechtigten Stolz verletzt?«

»Mein Fuß ist im Grabe! ich möchte niemand hinterlassen, dem ich Unrecht gethan.«

Otto von Röbel nahm aus der Brusttasche seines Rockes ein Papier und reichte es dem alten Mann, indem er den Schein der Lampe ihm näher rückte.

Der Kranke las das Papier, seine Hand zitterte, dann ließ er es sinken, eine hohe Aufregung sprach sich in seinem ganzen abgezehrten Wesen aus.

»O mein Gott, vergieb mir!« stammelte er, »sie sagte damals die Wahrheit, und ich habe sie und sein Kind ins Elend gestoßen! Otto, mein Sohn, das macht meine Sterbestunde sehr schwer!«

»Sie wird leicht sein, Vater, wenn Sie selbst den Fluch in Segen verkehren! Dieses Testament meines seligen Bruders Ferdinand, das eine verworfene Hand stahl, und das jesuitische Spekulation zum Mittel jahrelangen Druckes machte, bis die Opferung eines Reichtums der Mutter ihr Kind wiedergab, ist genügend, den Anspruch, wenn nicht auf Ihre Liebe, so doch auf Ihren Segen und Ihre Anerkennung zu beweisen, und hier, Vater –« er ging nach der Thür bei dem leisen Geräusch, das er vor derselben hörte, und öffnete sie, »hier bringe ich Ihnen die, welche ein früheres Recht auf Ihren Segen haben, als selbst Ihre lebenden Kinder!«

In der geöffneten Thür standen zwei Frauen und ein Kind, ein Mädchen von 11 Jahren. Die eine war jung und schön, mit Rosen des Glückes auf den Wangen und dem Feuerstrahl der Liebe in dem dunklen stolzen Auge, die andere eine imponierende Gestalt von etwa dreißig Jahren mit blassem angegriffenem Gesicht, das von schönem Blondhaar umrahmt war. Sie hielt das kleine, schüchtern sich an sie schmiegende Mädchen an der Hand. Hinter den Frauen erblickte man im Halbdunkel des Flurs die Gestalt des Kommissionärs und ehemaligen Zuchthäuslers, der sich in einer seltsamen Aufregung zu befinden schien.

Otto von Röbel winkte der ersten Dame freundlich, die sofort das Kind nahm und mit ihm sich dem Kranken nahte, vor dem sie niederkniete. »Mein Vater,« sagte sie in französischer Sprache, »segnen Sie Ihre Tochter und Ihre Enkelin!«

Der Greis sah von einer zur anderen, als wollte er das Bild ihrer Züge recht fest in sich aufnehmen. Dann legte er die abgezehrte Hand auf die blonden Locken des Kindes. »O meine Kinder,« sagte er, »ich habe nur wenig Zeit noch, Euch zu lieben, aber ich werde im Himmel für Euch beten! Und auch Sie, Madame,« fuhr er fort und streckte die Hand nach der blassen Frau an der Thür, »vergeben Sie einem Sterbenden seine Härte, und was er an Ihnen verschuldet hat, damit ich dem seligen Geist meines Ferdinand dort oben mit Ruhe begegnen kann!«

Die Witwe hatte sich auf seine Hand gebeugt und überströmte sie mit ihren Thränen, das starke, harte Herz in ihrer Brust schlug krampfhaft. »Sagen Sie ihm,« flüsterte sie, »daß sein Weib ihn gerächt, und daß sein Kind Ihren Segen erhalten hat!«

Der Kommissionär an der Thür hob wie im Veitstanz ein Bein um das andere und rieb sich die Hände. »Wenn das die Amande hören wird – Donnerwetter! Die Male hat auch versprochen, zu mir zu kommen, un der Deibel soll mir frikassieren, wenn ick nich jehe un dem Jonas, dem Halunken, ein Mißtrauensvotum jebe!« Damit drückte er leise die Thür zu und verschwand.

Die Glücklichen, Trauernden im Zimmer achteten nicht auf sein Fortgehen. Carmen von Massaignac, oder vielmehr jetzt Carmen von Röbel, lag in den Armen ihrer neuen Mutter und Schwester, die schon damals für die Fremde, die Kunstreiterin, so lebhafte Teilnahme gezeigt hatten, und Frau von Röbel zog mit dem zarten Gefühl, das sie auszeichnete, die Witwe des Selbstmörders Polenz freundlich zu ihrer Gruppe, indes der alte Mann das Kind noch immer zwischen seinen Knieen hielt und in seinen Locken spielte, während es ihn mit den großen Augen seines verstorbenen Sohnes so verständig und freundlich anlächelte, als hätte es ihn seit Jahren gekannt.

Otto von Röbel war zu den Frauen getreten. »Schwester Rosamunde,« sagte er, »Carmen hat auch etwas für Dich mitgebracht. Der wackere Mann in Mantua ist uns leider zuvorgekommen!«

Die junge Frau zog aus ihrem Busen einen Brief und reichte ihn dem Mädchen, auf deren zartem, der Mutter so ähnlichem Gesicht die Trauer der stillen Entsagung und durchgekämpfter Leiden lag. »Er ist von Ihrer aufrichtigen Freundin, der Fürstin Trubetzkoi,« sagte sie. »Sie bittet Sie darin um Ihre Hand für einen Mann, dem sie vieles verdankt, für Herrn Meißner, dem das Testament des kürzlich verstorbenen Bankiers Mortara in Mantua aus Dankbarkeit hunderttausend Lire ausgesetzt hat. Der wackere Freund Ihrer Brüder wird durch den Tod des Fürsten und die Verhältnisse in der Villa am Gardasee festgehalten, aber ich habe versprochen, seine Freiwerberin bei Ihrem Vater zu sein!«

»Nicht heute, meine Teure,« bat ihr Gatte, den Arm zärtlich um sie schlingend, »ich fürchte, alle diese Aufregungen könnten bei seiner Schwäche eine schlimme Wirkung auf ihn üben. Seht, er winkt uns!«

Der Major machte in der That ein Zeichen. Sohn und Schwiegertochter setzten sich an seine Seite und nahmen seine Hände.

»Sie müssen wissen, Papa,« sagte Carmen, »wie große Freude es mir jetzt macht, daß mein Mann reich ist. Morgen schon soll Otto alles ordnen und Ihren alten geliebten Landsitz zurückkaufen, obschon wir Ihnen weit schönere für Ihre alten Tage bieten können, wo wir Sie pflegen wollen!«

Der Greis schüttelte trübe den Kopf. »Der Name Röbel,« sagte er fest, »muß mit mir verlöschen, mein Sohn soll keinen befleckten Namen tragen; wenn Sie ihm Ihre Hand gegeben, so geben Sie ihm auch den Ihren! Er muß das Land seiner Väter verlassen und jenseits des Meeres eine neue Heimat gründen, in Preußen giebt es keine Röbel mehr, seit die Steckbriefe der Gerichte ihren Namen an den Pranger schlugen!«

Seine treue Hausfrau war zu ihm getreten. »Vater, es ist zu viel für Dich! Du mußt Dich schonen um unsertwillen!«

Ein sonniges Lächeln flog über seine eingefallenen Züge. »Du hast recht, Marie,« sagte er milde, »ich bin müde und muß ein wenig ruhen. Verlaßt mich auf kurze Zeit, Ihr werdet so vieles zu sprechen haben, und laßt das Kind bei mir!«

Sie winkte den anderen, sich in das Nebenzimmer zu entfernen, und rückte ihm die Kissen in dem alten Lehnstuhl zurecht. Als Otto das Zimmer verlassen wollte, rief ihn noch einmal der Greis.

»Du kamst von Potsdam. Wie geht es dem König

»Ich war auf Sanssouci, Vater, mich zu erkundigen. Die italienische Reise scheint den hohen Herrn wenigstens körperlich wieder gekräftigt zu haben, er macht weite Spaziergänge durch den Park! Die Königin pflegt ihn treu.«

»Gott segne sie beide und stehe ihnen bei in ihrem Leid! Jetzt, Otto, mein Sohn, verlaß mich! Gott segne auch Dich!«

Der junge Mann folgte der Familie, das Kind blieb mit dem Greis allein, der seine Hand hielt, während er mit geschlossenen Augen zu ruhen schien.

Nach einer Weile erst richtete er sie wieder auf die Kleine.

»Wie heißest Du?«

»Julie!«

Es war der Name seiner verstorbenen ersten Gattin.

»Kannst Du lesen?«

»Ja, Großvater,« sagte das Kind in seinem Schweizer Deutsch.

»Nimm die Bibel hier vom Tisch und lies mir ein Kapitel.«

Sie folgte gehorsam. »Wo soll ich lesen, Großvater?«

»Es ist gleich; in dem Buch, mein Kind, ist jedes Wort Trost und Weisheit, dort suche beides in Deinem künftigen Leben!«

Das Kind hatte die heilige Schrift geöffnet und las.

Es war der 146. Psalm, den es aufgeschlagen, und die erhabenen Worte klangen leise durch das Gemach.

 

Lobe den Herrn, meine Seele!

Ich will den Herrn loben, so lange ich lebe, und meinen Gott lobsingen, weil ich hier bin.

Verlasset euch nicht auf Fürsten, sie sind Menschen, die können nicht helfen.

Denn der Menschen Geist muß davon, und er muß wieder zur Erde werden.

Wohl dem, des Hoffnung auf den Herrn, seinen Gott steht, der Himmel, Erde, Meer und alles, was darinnen ist, gemacht hat; Der Glaube hält ewiglich.

 

Der Greis hatte die Hände gefaltet, seine Augen waren geschlossen, das Kind las noch einige Verse, immer leiser und leiser, dann schwieg es, um den Schlummer des Großvaters nicht zu stören.


Ein Wagen hielt vor dem Hause, ein jovialer alter Herr, mit weißem Haar, von dem aristokratischen Ansehen eines Lebemannes, mit einem freundlichen Zug um Mund und Augen trat in das Familienzimmer.

»Guten Abend, Frau Majorin! ach, es geht also meinem alten Freunde besser, da Sie so viel Besuch haben, aber was frage ich noch, wenn meine alten Augen oder der leidige Burgunder, den ich trinken mußte, mir nichts vorspiegeln, das ist ja unserer wackerer Otto, heimgekehrt zu den Penaten und wahrlich zur rechten Zeit! Solche Freude ist zehnmal besser als alle unsere Medizin!«

Er schüttelte dem jungen Mann herzlich die Hand.

»Ich war zum Diner bei dem Major von Wulcknitz, und da dauert es immer etwas lange, denn Gesellschaft und Wein sind beide gleich gut. Aber ich wollte doch nicht nach Hause zurückkehren, ohne noch einmal nach dem Major gesehen, und Sie beruhigt zu haben. Ich wäre auch schon eher gekommen, wenn nicht ein Auflauf Unter den Linden meinen Wagen aufgehalten hätte. Irgend ein Kerl hatte sich das Vergnügen gemacht, Monsieur Jonas die Fenster einzuschmeißen, und die Bummler, an denen es nie bei solcher Gelegenheit fehlt, wollten den Burschen den Schutzleuten wieder abnehmen, die ihn beim Kragen hatten. Aber nun lassen Sie mich einen Augenblick nach meinem Patienten sehen.«

Die Edelfrau führte den Geheimen Rat in das Krankenzimmer, die anderen folgten leise.

Vor dem Greise in seinem Lehnstuhl saß noch immer das Kind.

»Sst! – der Großpapa schläft!«

Der Geheime Rat trat langsam zu dem Sorgenstuhl des Freundes und beugte sich über ihn, die Hand mit der Vorsicht und Zartheit des Arztes an seinen Puls legend. Plötzlich fuhr er, wie erschrocken, zurück, die fröhliche Burgunderröte war von seinem jovialen Gesicht verschwunden.

»Er schläft fest,« flüsterte die Majorin, näher kommend.

Der Arzt schwieg einen Augenblick, dann sah er ihr mit Teilnahme ins Auge. »Gnädige Frau,« sagte er ernst, »Ihr Gatte schläft den Schlaf der Gerechten! Gott hat einem Ehrenmann eine bessere Welt geöffnet, als die hier unten!«

Der Major von Röbel war unter dem Gebet des Kindes still und schmerzlos verschieden.


3. Zur Diplomatie.

Zwei Männer, in leichte Sommerpaletots gekleidet, der eine hochgewachsen, der andere kleiner, schmächtiger, kamen in ziemlich leise geführtem Gespräch vom Pariser Platz her über die Linden und gingen nach der Behrenstraße.

Ihre Unterhaltung wurde französisch geführt.

»Ich weiß in der That nicht,« bemerkte der Größere, »was man sich in Sanssouci um meine Familien-Verhältnisse zu kümmern hat. Wenn Madame la Marquise es für gut findet, sich nach ihren Gütern in Belgien zurückzuziehen, so hat niemand danach zu fragen, als höchstens ich. Ich werde in diesem Winter keine Soiréen geben und – voilà tout!«

»Aber die Gräfin? Man sagt, daß sie selbst eifersüchtig auf die kleine Luzy ist und Ihrer Gemahlin gewisse Nachrichten hat zukommen lassen.«

»Die Gräfin mag meinetwegen nach Turin gehen und sich einen Mann suchen, der mit ihrer Marmor-Atmosphäre zufrieden ist. Aber sprechen wir von unseren Geschäften, denn Sie haben doch nicht umsonst meine Tête à Tête gestört. Also der Fürst ist bei dem Baron?«

»Seit einer halben Stunde! Ich sah ihn das Palais verlassen und folgte ihm nach dem Hotel und hierher.«

»Gut, dann ist es gerade der günstigste Moment. Es wird ein ziemlich komischer Empfang sein. Sind die Agenten aufgestellt?«

»Es kann niemand die Gesandtschaft verlassen, ohne daß ihm gefolgt wird.«

»Und Ricouart?«

»Er ist auf seinem Posten in der Wärterbude mit dem Apparat. Sobald er das Zeichen sieht, wird er die Drähte wechseln.«

»Ich hoffe, daß er den richtigen nicht verfehlt.«

»Sorgen Sie nicht, Monsieur, ich war selbst dabei, als wir gestern die Probe machten.«

»Nun gut; lassen Sie die Pferde bereit halten, damit Sie mir so bald wie möglich Nachricht bringen können. Ich soupiere bei Luzy. Diese Russen, lieber Beaumont, sind wirklich vortreffliche Burschen, wo es gilt, jemand einen Wink zu geben, der einem dritten Kopfschmerzen macht oder eine Provinz kostet. Ich könnte Budberg wirklich unsere kleine Erfindung der fliegenden Telegraphen-Apparate ablassen, wenn sie nicht gar so vorteilhaft wäre!«

»Haben Sie Neuigkeiten von Turin oder aus dem Hauptquartier gehört?«

» Mon Dieu! als ob Launay je etwas erführe! Man behandelt wirklich den Regenthilhuomo zu nachlässig. Graf Cavour ist in Desenzano angekommen, und man trifft Anstalten, Peschiera zu beschießen, da die Kanonenboote zusammengesetzt sind. Der Höflichkeitsaustausch zwischen Verona und Valeggio ist noch immer im besten Gang.«

»König Leopold, der Fürst von Chimay und Graf Esterhazy haben sich in der That Mühe gegeben.«

»Ja, aber werden Besseres thun, wie ich hoffe. Au revoir denn! und passen Sie auf! Wenn Herr von Schleinitz eine Ahnung von dem Besuch hätte, den ich zu machen im Begriff stehe, würde er gewiß diese Nacht keinen Schlaf finden.«

Der Größere verabschiedete lachend sich mit einem vertraulichen Kopfnicken bei seinem Begleiter und zog die Schelle an der Einfahrt eines der großen Häuser, die an der Nordseite der Behrenstraße liegen, nachdem er den Kragen seines Paletots etwas in die Höhe gestrichen hatte. Die Thür sprang auf, der Herr trat ein und schritt wie ein berechtigter Besucher ohne Frage an der Portierloge vorüber die Treppe hinauf. Ein Antichambre stand offen, ein Diener saß darin am Tisch.

Der Fremde nahm eine Karte, die in ein Couvert verschlossen war, aus der Tasche und gab sie dem Diener.

»Bringen Sie dies dem Herrn Baron!«

Der Diener sah erstaunt bald auf das Couvert, bald, auf den Fremden.

»Halten's zu Gnaden, aber – der Herr Baron ist nicht zu sprechen, er hat halter Besuch …«

»Eben deshalb, bringen Sie die Karte nur hinein!«

Der befehlende Ton imponierte dem Mann, er ging in der That in die Zimmerreihe.

Es dauerte einige Zeit, ehe er wieder kam, der Lauschende hörte mit einem spöttischen Lächeln um die Lippen Stühle rücken und anderes Geräusch, dann aber ward die Thür aufgerissen, und der Herr des Hauses selbst, ein großer hagerer Mann von einigen fünfzig Jahren kam auf den Fremden zu mit den Worten: »Wie, Herr Marquis, dieses unerwartete Vergnügen? haben Sie die Güte, näher zu treten!« und führte ihn in den anstoßenden Salon.

Aus einer Begère im Hintergrund erhob sich ein alter Mann von vornehmer Haltung und ruhigem, etwas leidendem Gesicht. Er trug einen einfachen Uniforms-Überrock, dessen Öffnung jedoch noch den Großkordon eines hohen Ordens zeigte.

Der Marquis, wie ihn der Wirt genannt, ging sogleich auf den alten Militär zu und reichte ihm mit dem Zeichen großer Achtung die Hand. »Lassen mich Euer Durchlaucht zunächst die Gelegenheit ergreifen,« sagte er, »Ihnen mein aufrichtiges Beileid über den Tod Ihres tapferen Neffen auszudrücken. Ich weiß, daß dieser unglückliche Fall auch Se. Majestät den Kaiser tief betrübt hat.«

»Er ist gefallen für den seinen auf dem Felde der Ehre,« sagte der alte Soldat mit Würde. »Das ist Soldatenlos, das dem Fürsten so gut gehört, wie dem ärmsten Rekruten!«

Mit der ganzen Sicherheit des Weltmannes nahm der Marquis den dargebotenen Sessel und die präsentierten Cigarren. »Sie sind berechtigt, meine Herren, einiges Erstaunen zu hegen,« sagte er leicht, »mich ganz ohne Ceremoniell und Erlaubnis hier zu sehen, aber Sie werden den Besuch entschuldigen, wenn ich Ihnen sage, daß ich soeben hörte, Se. Durchlaucht wollen uns morgen oder übermorgen wieder verlassen und befände sich bei Ihnen, Herr Baron, und es wäre mir in der That schmerzlich gewesen, Durchlaucht, Ihnen meine Verehrung nicht haben ausdrücken zu können. So entschloß ich mich denn privatim zu einem kleinen Überfall, überdies hoffe ich, ist ja auch die Diplomatie in dem Waffenstillstand mit einbegriffen!«

Die beiden wußten sehr gut, daß der Herr Marquis zu täuschen beliebte; indes in der Diplomatie ist fast alles Täuschung und Verstellung und es kommt nur darauf an, wer am geschicktesten trügt. Sie begnügten sich daher mit einer höflichen Verbeugung.

»Ich hoffe, lieber Baron,« fuhr der Franzose fort, »daß wir unsern offiziellen Verkehr recht bald wieder anknüpfen werden. Ich weiß ganz bestimmt, daß der Kaiser, trotz des Krieges, von den freundlichsten Gesinnungen für Ihren jungen Monarchen beseelt und keineswegs mit den auf die Suprematie gerichteten Plänen Preußens in Deutschland einverstanden ist. Es ist also wahr, Durchlaucht, daß Sie morgen Abend schon nach Wien zurückkehren wollen?«

Ein leichtes Lächeln spielte um die Lippen des alten Fürsten, als er ruhig erwiderte: »Sie sind falsch berichtet, Herr Marquis, ich habe meine Abschiedsbesuche noch nicht gemacht!«

»Desto besser! So haben wir das Vergnügen, Euer Durchlaucht noch länger hier zu sehen, ich wünschte nur bei einer günstigeren Veranlassung; denn Ihr Contre-Antrag von vorgestern am Bundestag dieses lieben etwas uneinigen Deutschlands wird Ihre Verhandlungen am hiesigen Hofe doppelt schwierig gemacht haben!«

»Sie sind beendet, verlassen Sie sich darauf, Herr Ambassadeur!« sagte der alte General steif und fest.

»O, ich bitte Sie, Durchlaucht, nicht diesen unangenehmen Namen, wo wir freundschaftlich plaudern!« Wer den Franzosen ganz genau kannte, hätte an dem leichten Zucken der Augenwinkel bemerkt, daß er sich eines gewonnenen Stichs in diesem Spiel erfreute. »Ich kann Ihnen im Vertrauen sagen, daß ich alle Aussicht habe, nach Beendigung des Krieges diesen unangenehmen Posten mit der angenehmeren Stellung in Wien zu vertauschen!«

»Aber soviel ich weiß,« bemerkte der Baron, »erfreuen Sie sich doch am hiesigen Hofe einer besonderen persönlichen Gunst.«

»Ach was! – vielleicht in Sanssouci, aber nicht im Palais. Man protegiert mich der Nachbarschaft wegen etwas in der Wilhelmsstraße.«

Alle drei, er selbst natürlich eingeschlossen, wußten, daß er auf das Unverschämteste log und gerade das Gegenteil der Fall war, denn der Marquis hatte bei jenem unglücklichen Gedanken, den rechtmäßigen Erben in der Regentschaft zu übergehen und sie etwa auf einen anderen Agnaten oder eine Frau zu übertragen, sehr entschieden und selbst mit geheimen Drohungen die Partie des ersteren genommen.

»Dann bitte ich um Verzeihung für meinen Irrtum,« meinte trocken der Baron.

»Ich spreche offen,« fuhr der Marquis fort, »da wir hier nicht auf offiziellem Boden sind. Ihre Politik in Frankfurt beweist, wie wenig Sie selbst auf die Intervention Preußens rechnen, oder daß Sie eine selbständige kaum wünschen, da sie Ihnen Verpflichtungen für die Zukunft auferlegen würde. Die Lombardei kann nicht in Betracht kommen gegen Ihre Suprematie in Deutschland. Auf der anderen Seite sind wir bereits für eine Aktion am Rhein vollkommen gerüstet und haben gewichtige Bundesgenossen.«

»Es wird Ihnen nicht unbekannt sein,« sagte der Fürst, »daß Se. Königl. Hoheit der Prinz-Regent seinen Truppen Marschordre für den 13. bereits gegeben hat.«

»Ich weiß das, aber die Dispositionen dürften eine Änderung erfahren, sowie die dänische Flotte von Kopenhagen ausläuft!«

»Eine solche Demonstration wird sicher Österreich und Preußen verbinden, um den Herzogtümern ihre Selbständigkeit wieder zu geben.«

»Wie, Durchlaucht? Sie halten ein solches Bündnis für möglich?«

»Warum nicht? ich glaube sogar …« er unterbrach sich, aber es war zu spät – der schlaue Franzose lächelte flüchtig bei diesem neuen Erfolg.

»Haben Sie die Güte, Se. Majestät, Ihren Allergnädigsten Herrn zu versichern,« sagte er, »daß der Kaiser Louis Napoleon von den freundlichsten Gesinnungen für seine Person beseelt ist. Ich weiß dies ganz positiv nicht allein aus früheren eigenen Wahrnehmungen, sondern aus den gestern erhaltenen Depeschen des Grafen Walewski. Aufrichtig gesprochen, Sie sind uns in Italien unbequem, aber ein Königreich Italien würde uns noch unbequemer sein. Sie sehen, wie offenherzig ich bin.«

Der greise Fürst lächelte über die durchsichtige Naivetät. »Sie rechnen ohne den dritten Faktor, Herr Marquis. Selbst, wenn wir Italien aufgeben, bleibt Seine Heiligkeit, der Papst!«

»O – Rom ist uns lieber als Avignon!«

Der Fürst verbeugte sich leicht. »Sie bezeichnen sehr richtig den Charakter der Italiener oder besser der ganzen katholischen Christenheit, Herr Marquis. Pius IX. würde zum Märtyrer werden, sobald er gezwungen wird, Rom zu verlassen.«

Diesmal fühlte sich der Franzose geschlagen und erhob sich. »Es geht uns Diplomaten wie den Schauspielern, wir können nicht zusammentreffen, ohne von der leidigen Politik zu reden. Und dennoch hatte ich es mir fest vorgenommen, Euer Durchlaucht nur meine persönliche Achtung zu beweisen. Ich nehme also Abschied und bitte Sie, mir ein freundliches Andenken zu bewahren!«

Der alte Fürst geleitete mit dem Wirt den so unerwarteten Besuch bis auf die ersten Stufen der Treppe.

Als er in das Zimmer zurückkehrte, ließ er sich herzlich lachend in den Lehnstuhl zurückfallen. »Bei Sankt Stefan!« sagte er heiter, »der Stoß ist pariert, aber die Finte war nicht schlecht. Jetzt, lieber Baron, lassen Sie Ihren Sekretär wieder eintreten, wir wollen unserer Depesche noch eine kleine Nachschrift beifügen.«

Mit ruhigem, elegantem Schritt hatte der Franzose das Haus verlassen. Ein scharfer Blick zeigte ihm, daß an einer der Hausthüren schrägüber ein Mann noch mit einem Dienstmädchen sehr intim plauderte.

Erst als er um die Ecke gebogen war, förderte er seinen Schritt, sprang bald eine Rampe hinauf und trat in das glänzend erleuchtete Foyer eines Hotels, in dem der Portier und mehrere Lakaien ihn mit ehrerbietigen Verbeugungen empfingen.

»Der Graf?«

»In Ihrem Arbeitskabinett, Monseigneur!«

Der Marquis nahm drei Stufen der teppichbelegten Marmortreppe auf einmal und ging von der Antichambre rasch durch mehrere Zimmer bis zu einem in Braun und Grün dekorierten Kabinett, wo der Kavalier, der ihn vorhin begleitet hatte, an einem großen Tisch schrieb.

»So, Beaumont,« sagte er heiter, »wir werden heut mit Vergnügen zusammen bei der kleinen Luzy soupieren; ich weiß ihr Geheimnis.«

»Dann gratuliere ich Euer Exzellenz und mache Ihren bewunderungswürdigen Talenten mein Kompliment. Darf man es erfahren?«

»O ja, es heißt Schleswig-Holstein! Ein Wort verriet es mir.«

»Ah, das wird unsern Verbündeten im Norden rasch auf die Beine bringen.«

Der Diplomat schüttelte den Kopf, während er sich niedersetzte und die Feder ergriff, um einige Notizen nieder zu schreiben. »Ihre Pferde sind doch bereit?«

»Ich wiederhole es, in fünf Minuten werde ich im Sattel sein.«

»Und wissen Sie selbst genau den Weg oder bedarf es Ihres Reitknechts?«

»Ich habe ihn gestern noch gemacht!«

»Dann werden wir Ihren Diener zurücklassen, ich habe mich anders besonnen, ich werde Sie selbst begleiten.«

»Wie Sie befehlen.«

»Noch eins, ehe ich es vergesse! Ist der Kerl wieder bei Ihnen gewesen, der uns damals bei der Belagerung von Sebastopol so gute Dienste leistete?«

»Er kommt alle acht Tage, um sich einige Winke für die auswärtige Presse zu holen. Er unterhält Verbindung mit einigen republikanischen Blättern in der Schweiz und England.«

»Desto besser. Ich werde mich seiner bedienen, um mich für die Censur meiner Moralität mit einigen kleinen Artikeln zu revanchieren. Ich zahle dergleichen stets aus und wenn die Münze bis an die Stufen eines Thrones rollte. Doch ich glaube, da kommt unser Bote! – Herein!« rief er auf das leise Kratzen an der Thür.

Der Kammerdiener führte einen gewöhnlich aussehenden Mann herein.

»Ich bin mit der Droschke gekommen,« sagte der Mensch. »Der Sekretär des Herrn Gesandten ist eben nach dem Schloßplatz zu gegangen. Ich kenne ihn ganz genau; er steckte ein Papier in die Brusttasche, als er aus dem Hause trat.«

»Es ist gut!« bemerkte der Graf, »die Sache ist bereits erledigt, ich brauche heute Ihre Dienste nicht weiter. Nehmen Sie!«

Er reichte ihm zwei Fünfthalerscheine. Der Mann empfahl sich mit einem Kratzfuß. Er hatte kaum das Zimmer verlassen, als der Diplomat ungeduldig Hut und Handschuh ergriff.

»Das ging rascher, als ich dachte. Sie müssen sie fertig gehabt haben, und wir brauchen die weitere Nachricht nicht erst abzuwarten. Vorwärts, sonst könnten wir zu spät kommen.«

»O Sie wissen ja, es dauert mindestens eine halbe Stunde. Die Chiffern müssen sorgfältig kopiert werden.«

»Das wird nicht viel nützen – das Wiener Kabinett wechselt sie sehr oft. Der Fürst wird sich jedenfalls des neuen Signalbuchs bedienen. Es ist ein Glück, daß unser letzter Courier es mitgebracht. Haben Sie das Licht?«

»In der Tasche!« Der Attachée öffnete die Thür, die beiden Männer verließen das Zimmer, das der Kammerdiener sorgfältig verschloß und stiegen die Treppe hinab.

Vor der Thür richteten sie ihren Gang nach dem Anhalter Thor, in dem unbelebteren Teil der Wilhelmsstraße stand ein Thorweg offen, ein Reitknecht hielt im Hofe zwei gesattelte Pferde.

»Guillaume!«

»Hier, Herr Graf!«

»Du wirst zurückbleiben, warte bis ich zurückkomme!« Die beiden Kavaliere schwangen sich in die Sättel und trabten die Straße entlang durch das Thor, als sie auf der öden Militärstraße waren, galoppierten sie.

»Ist denn auf Tivoli heute noch so spät Feuerwerk?« fragte fünf Minuten später ein von Backes in der Hirschelstraße her mit Frau und drei Hunden heimkehrender Stammgast.

»Warum?«

»Es stieg eben da in der Richtung eine Rakete mit blauen Sternen in die Höhe! Es ist doch bald elf Uhr.

»Sie probieren vielleicht für Morgen. Gehen wir morgen dahin, das Bier soll gut sein.«

»Warum nicht, liebe Ida! Einstweilen, bis wir nach München und Tegernsee kommen, müssen wir uns behelfen. Was kochst Du morgen zu Mittag?«


Eine der kleinen Wärterbuden an der Eisenbahn nach Dresden auf einsamem Feld, etwa eine halbe Meile von der Stadt, hatte um diese Zeit einen eigentümlichen Bewohner.

Der wirkliche stand draußen an der Bahn an einem Feldweg, der von der Chaussee heran führte und schien dort zu horchen oder auf Posten zu sein. Endlich näherte er sich dem Häuschen, dessen Fensterläden und Thüre fest verschlossen waren, während man doch durch die Spalten bemerken konnte, daß im Innern helles Licht schien.

Der Mann klopfte an den Laden. Erst als er es dreimal gethan, antwortete eine Stimme mit ausländischem Accent.

»Wer ist da? was wollen Sie?«

»Es kommen Reiter über das Feld, Herr. Von der Seite her, wo das blaue Licht aufstieg.«

»Gut! Gehen Sie ihnen entgegen und führen Sie sie hierher, damit sie keinen falschen Weg nehmen.«

Der Mann that, wie ihm geheißen. Nach einigen Minuten kam er den Feldweg entlang mit zwei Reitern, die er bis zu dem Häuschen führte.

»Steigen Sie ab, meine Herren!« sagte er, »Ihr Freund erwartet Sie. Ich werde die Pferde einstweilen dort hinten an den Baum anbinden, da fällt es nicht auf, wenn der Güterzug kommt. Wenn Sie ihrer bedürfen, so rufen Sie mich nur, aber mit dem anderen bleibt es dabei – ich weiß nicht, was Sie da drinnen treiben, und es muß alles in Ordnung bleiben, damit ich keine Ungelegenheiten habe.«

»Ich stehe dafür, und die zweiten hundert Thaler erhalten Sie, ehe wir gehen!«

Der Mann faßte an die Mütze, nahm dann die Zügel der Pferde und entfernte sich mit diesen.

Die beiden Fremden – dieselben, die wir vorhin verlassen – traten zu der Bude.

»Öffnen Sie, Dulon, wir sind es!«

Die Thür öffnete sich sofort, und warf einen breiten Lichtschein auf den Bahndamm. Als die beiden eingetreten waren, wurde sie rasch wieder geschlossen.

»Wie, der Herr Marquis selbst?«

»Wie Sie sehen. Einige Umstände machten es notwendig. Außerdem erspart es uns Weitläufigkeiten. Nun? wie weit sind Sie?«

Er warf einen prüfenden Blick rings umher. »Mein Himmel,« sagte er, »mit welchen wenigen Bequemlichkeiten und wie beschränkt diese Leute doch leben!«

Das Innere war kaum acht oder zehn Fuß im Geviert, ein einfacher, weißgetünchter Raum. Ein hölzernes Gurtbett mit einem Strohsack und einer Decke nahm einen großen Teil ein, daneben stand ein Tisch. Zwei Schemel, ein Schränkchen an der Wand, ein kleiner Spiegel, eine Wanduhr und ein Kleiderrechen bildeten das ganze Mobiliar. Auf dem Tisch stand eine Lampe, daneben brannten auf alte Bierkruken gesteckt, zwei Wachskerzen und erhellten vollständig den kleinen Raum.

Zwei Holzdielen aus der einfachen Decke des Stübchens, die einen kleinen Boden bildete, waren ausgehoben. Eine kurze Leiter lehnte an der Wand. Aus der Öffnung hingen zwei lange starke Drähte herab, die bis zu einem eigentümlichen Apparat auf dem Tisch reichten, von dem sie wieder aufwärts gingen.

Sachverständige hätten ihn sofort als einen sehr geschickt und zierlich gefertigten Morseschen Telegraphenapparat erkannt, dessen leicht transportable Batterie sich unter dem Tisch befand. Ein langer Papierstreif und das eigentümliche Schnurren, mit dem er abrollte, zeigte, daß der Telegraph eben in Thätigkeit war. Der gegenwärtige Inhaber des Häuschens, offenbar ein Mann von Fach, einige vierzig Jahr, mit vollem schwarzem Backenbart und etwas verschmitztem Gesicht, war eben im Begriff gewesen, die Depesche zu kopieren.

»Nun, Monsieur Doulon, wie weit sind Sie?«

»Ich glaube, Ihr Signal, Monseigneur, zum Einhängen der Drähte kam gerade zur rechten Zeit. Kaum fünf Minuten darauf war mein kleiner Bursche in Thätigkeit. So – jetzt eben schließt er.«

Das Surren des sich abwickelnden Streifens hatte in der That aufgehört.

»Dann, bitte, kopieren Sie so rasch als möglich. Lieber Graf, machen Sie sich an die Arbeit. Was ist es?«

»Ziffern, einzelne Zahlen!«

»Es ist, wie ich dachte. Hier ist das Buch, Graf!«

Während der Telegraphist die Punkte der Depesche in Buchstaben oder Zahlen kopierte und die einzelnen Streifen hinüber reichte, hatte sich der Attachée auf dem Bett des Wärters etabliert und war eifrig beschäftigt, die Depesche auf Grund des Schlüssels zu dechiffrieren.

»Seine Durchlaucht haben gewiß keine Ahnung von unserer kleinen Abendunterhaltung,« sagte lachend der Marquis. »Aber geben Sie her!«

Er las die ziemlich lange Depesche, dann setzte er die Unterhaltung in italienischer Sprache fort, die der seinen Apparat beobachtende Telegraphist nicht verstand.

»Es ist, wie ich sagte. Hier haben Sie es. Unter der Bedingung, daß Preußen den Oberbefehl der Bundesarmee erhält und daß Österreich der Führung eines Krieges mit unserm Bundesgenossen an der Eider und dem Einrücken in Schleswig-Holstein sich nicht widersetzt, soll der Abmarsch der Truppen nach der französischen Grenze sofort und die Kriegserklärung bei einer Überschreitung der Waffenstillstandslinie erfolgen.«

»Und was soll geschehen?«

»Nun, wir können natürlich nicht verhindern, daß der Courier, der heute nacht über Breslau abgeht, den Inhalt überbringt, aber wir können die vorläufige Benachrichtigung verzögern, und ich denke, es wird für den Kaiser von Wichtigkeit sein, sechsunddreißig Stunden eher in den Besitz der Nachricht zu kommen, als der Kaiser Franz Josef in Verona.«

»Sollen wir also die Depesche ganz fallen lassen?«

»Das wäre gefährlich. Überdies sehen Sie hier am Ende – Nummer 23. Das bedeutet, wenn ich mich recht erinnere: Empfangsbescheinigung erwartet.«

»So ist es!«

»Das Ausbleiben einer solchen würde Verdacht erregen. Wir müssen also eine temporisierende Antwort abgehen lassen. Lassen Sie sehen. Der Courier, der mit dem Nachtzug geht, ist morgen Abend um 8 Uhr in Wien. Um 9 Uhr sind die Depeschen übergeben, um 10 Uhr, wenn Graf Rechberg nicht in Gesellschaft ist, gelesen. Die Differenz mit der telegraphischen Meldung wird natürlich Anfragen in Berlin veranlassen, schwerlich bei Nacht, man kennt die Schwerfälligkeit des Wiener Bureaudienstes. Ein Entschluß des Kabinetts und der Rapport an den Kaiser Franz Josef selbst mit dem Telegraphen wird daher schwerlich vor Montag nachmittag oder gar abend in Verona sein, also 24 Stunden später als unsere Nachricht über Paris in Valeggio, wenn Sie morgen früh mit dem ersten Zug nach Dresden gehen und von dort um 12 Uhr telegraphieren.«

»Die Kombination ist vortrefflich.«

»Ich werde morgen den dänischen Gesandten avertieren, jede Avancierung in Kopenhagen bis auf weitere Ordre von Paris zu inhibieren.«

Er schrieb einige Augenblicke mit Bleistift auf die Rückseite des Papiers, das die Depesche enthielt. »So, das wird genügen. Dauernde Unentschlossenheit des Preußischen Kabinetts, Empfindlichkeit über den Antrag in Frankfurt am 7.; unerfüllbare Forderungen – der Courier das Nähere – Empfangsbescheinigung erwartet. Der Salat ist so gemischt, daß man die Unbestimmtheit der Floskeln wahrscheinlich der Vorsicht gegen die preußische Telegraphie zuschreiben wird und das kleine Quiproquo am Ende gar nicht an den Tag kommt, jedenfalls spät genug, daß man in Paris und am Mincio die nötigen Entschlüsse gefaßt haben kann!«

Der Begleiter oder Sekretär des Diplomaten war mit der Einchiffrierung beschäftigt. Als sie beendigt war, reichte er den Zettel dem Telegraphisten.

»Hier, Monsieur Doulon, nehmen Sie die unterbrochene Leitung wieder auf, und befördern Sie diese Depesche nach Wien. Sie werden die Abgangszeit natürlich um eine halbe Stunde später ansetzen müssen.«

»Sehr wohl, Monsieur le comte!«

»Ihr Wagen hält an der Chaussee. Seien Sie vorsichtig mit Ihrem Koffer bei der Rückkehr in die Stadt und mit der Herstellung der Drähte.«

»Es soll keine Spur des Abschneidens zurückbleiben, es ist an der Verbindung der Faden geschehen.«

»Gut, ich denke, wir haben dann nichts weiter hier zu thun. Soll ich die Pferde holen?«

»Wenn ich Sie bitten darf! Es ist Zeit, daß wir zu Luzy kommen. Das arme Kind wird gar nicht wissen, wo ich bleibe.«

»Ich bitte um Urlaub, wenn ich morgen abreisen soll.«

»Ach richtig; nun, ich glaubte, Sie würden die Zeit bei einer Flasche Champagner mit uns abwarten. Aber ganz nach Ihrer Bequemlichkeit! Adieu, Monsieur Doulon! Lassen Sie sich nicht stören.«

Draußen führte ein Pfiff die Pferde mit ihrem Aufseher herbei.

Als der Graf aufstieg, druckte er dem Mann, der sie herbeigebracht, ein Päckchen Kassenscheine in die Hand. »Hier, mein Freund, es sind zwanzig Thaler drüber, Einthaler-Scheine, damit Sie beim Ausgeben sich nicht auffällig machen. Vorsicht und Schweigen!«

»Ich schwöre Ihnen! überdies weiß ich ja gar nicht, warum Sie eigentlich mein Hundeloch gemietet haben. Wenn Sie wieder was brauchen, für solche Miete steht's Ihnen immer zu Diensten. Sehen Sie, da kommt das Signal vom Güterzug, ich muß die Laterne aufholen!«

Die Glocke über dem Wärterhäuschen schlug an. Während der Beschäftigung des Mannes sprengten die Reiter davon.


Am Sonntag nachmittag bei dem Diner in der Casa Mastei zu Valeggio sagte der Kaiser Louis Napoleon zu seiner Umgebung als von der Dauer des Waffenstillstands die Rede war, die Worte: » Faisons mieux, faisons la paix!«

Zwei Stunden später traf in Verona der General Fleury mit der Einladung an den Kaiser Franz Josef zu einer persönlichen Zusammenkunft in Villa-Franca ein.



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