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Auf dem Schaffot.

Noch in der Nacht des Attentats waren von der Polizei die direkten Thäter ermittelt und verhaftet worden.

Wir haben in dem vorigen Kapitel bereits mitgeteilt, daß in dem der Oper gegenüberliegenden Café Broggi ein junger Mann gleich nach der That durch ängstliche Fragen nach seinem Herrn sich verdächtig gemacht hatte, und verhaftet worden war. Sein Herr war angeblich ein Engländer, der in dem Hotel de Saxe Cobourg in der Straße St. Honoré 223 wohnen sollte. Er selbst nannte sich Swiney.

Der Leser weiß bereits, daß der angebliche Swiney der Flüchtling Anton Gomez aus Neapel war. Infolge der obigen Angabe über seine Wohnung begab sich nachts um halb drei Uhr ein Polizeikommissar in das Hotel. Er fand in dem Bett desselben ein Mädchen, Namens Menager, des Verschwörers jetzt nach der That mit den Genüssen der Liebe harrend. Sie wurde verhaftet, später aber freigelassen, da gegen sie nichts vorlag, und man von einer Pariser Courtisane nicht verlangen kann, daß sie einen Unterschied zwischen einem Legitimisten und einem Demagogen oder Kaisermörder macht. Man fand außerdem bei ihm einen Paß auf den angegebenen Namen und an 300 Franken. Sein Herr hieß angeblich Alsop und wohnte in der Rue Monthabor Nr. 10.

Sofort stattete die Polizei diesem ihren Besuch ab. Es war Orsini, den sie in der Person des Bierhändlers Alsop fand. Er lag zu Bett, mit einer leichten Wunde am Kopf, die aber stark geblutet haben mußte. Man fand bei ihm einen von Palmerston unterzeichneten älteren Paß auf den angegebenen Namen, über 8000 Franken an Geld und im Stall ein ihm gehöriges Pferd. Der Verschwörer war seit dem 12. Dezember in Paris und hatte sich nichts abgehen lassen.

Pierri hatte bei seiner Verhaftung in der Straße Rossini das Hotel de France et de Champagne, Straße Montmartre 132, als seine Wohnung genannt. Als sich die Polizei dahin begab, fand sie dort den angeblichen da Sylva, oder vielmehr Karl von Rudio, den Sprößling einer adeligen heruntergekommenen Familie aus dem Venetianischen, halb angekleidet auf dem Bett liegen. Durch ihn eben kam man auf die Spur Orsinis und seines Zusammenhanges mit dem Attentat, da bald ermittelt wurde, daß er die Stelle von Gomez, alias Swiney, im Hotel eingenommen hatte.

Somit waren in einigen Stunden die vier politischen Mörder: Orsini und Gomez, Pierri und Rudio verhaftet, und ihr Zusammenhang untereinander ermittelt. Noch im Laufe des Tages hatte die Justiz auch trotz der bei allen gefundenen, teils von den englischen und portugiesischen, teils von den belgischen ausgestellten und von den auswärtigen französischen Behörden selbst vidimierten Pässen ihre wahren Namen ermittelt.

Als Orsini zuerst nach seinem richtigen gefragt wurde, antwortete er:

»Was thut der zur Sache? meine Namen sind Legion!«

Bereits am Freitag vormittag konnten dem Kaiser genauere Meldungen über das Attentat gemacht werden.

Aber mit dem Rapport über das Attentat selbst und die Personen, die unzweifelhaft, nicht die Urheber, wohl aber die Ausführer gewesen waren, gingen andere Berichte ein, die eben so unzweifelhaft bewiesen, daß das Attentat nicht allein stand, sondern daß es sich um eine weit verzweigte Schilderhebung der revolutionären Partei gegen das Kaisertum handelte, die sich mit verschiedenen ihrer sonstigen Gegner zu seinem Sturz verbunden hatte.

Die Nationalen, die Roten, die Kommunisten und die Orleanisten sollten an verschiedenen Punkten losbrechen. Nur von den Legitimisten fehlten die Beweise der Teilnahme, das schützte sie aber wenig vor dem Verdacht. Offenbar dachte jede der Parteien, wenn nur das Kaisertum erst gestürzt sei, dann ihrerseits die andere entweder zu überlisten, oder mit Gewalt aus dem Felde zu schlagen. Für den ersten Zweck aber waren sie alle einig.

Durch Verrat, der bei einer durch äußerliche Umstände herbeigeführten Vereitelung stets bei der Hand ist, erfuhr die Regierung noch im Laufe des Tages den vollständigen Plan des Angriffs. Es erfolgten eine Menge Verhaftungen, in Paris in den nächsten Tagen mehr als zweihundertfünfzig. Eine große Menge von Fremden und bisher geduldeten politischen Flüchtlingen wurde mit der größten Strenge ausgewiesen.

Im Laufe des Tages meldeten aus den italienischen Herzogtümern, aus dem Kirchenstaat, Neapel und Madrid Telegramme, daß dort ebenfalls revolutionäre Aufstände hätten versucht werden sollen, aber unterdrückt worden waren.

Es fand deshalb am Abend in den Appartements des Kaisers eine Beratung seiner Vertrautesten statt. Der Kaiser selbst war unruhig und finster; er, der nur so selten jemanden in das wahre Geheimnis seiner Politik und seiner Pläne blicken ließ, fühlte am meisten, daß er auf einem Vulkan stand, von dessen vernichtendem Ausbruch, wenn man ihm nicht zuvorkam, das Attentat und die mißlungene Revolte nur ein einzelnes Vorspiel gewesen waren.

Das Feuer, das in diesem Boden gärte und kochte, hieß: die italienische Frage.

Der Kaiser begriff, daß er entweder drei Gegner zu vernichten, oder früher oder später ihnen scheinbar wenigstens nachzugeben haben würde, um ihnen desto stärkere Fesseln entlegen zu können.

Diese drei Gegner waren: Mazzini, Cavour und der Prinz Napoleon!

Der Kaiser durchschaute sie alle!

Den Haß des ehrlichen Republikaners, des Phantasten für eine große italienische Republik, die diplomatischen Intriguen des großen Konstitutionellen für die Machtvergrößerung des Hauses Savoyen, für das Eintreten Piemonts in die Zahl der europäischen Großmächte, endlich den glühenden, aber wohl versteckten und desto gefährlicheren Ehrgeiz des eigenen Verwandten, den die Geburt des Prinzen um die sichere Hoffnung auf den Thron von Frankreich gebracht hatte!

Er kannte sie alle!

In dem Conseil wurde beschlossen, das Attentat nur als ein vereinzelter Mordstreich der revolutionären Partei zu behandeln und daraufhin den Prozeß einzuleiten.

Von der Revolution, von dem beabsichtigten Aufstand gegen das Kaisertum sollte und durfte nicht die Rede fein. Alles, was darauf abzielte, mußte in der Öffentlichkeit unterdrückt werden. Weder die Franzosen, noch das ganze Europa, das noch immer mit einem geheimen Haß und Vorurteil auf das neu erstandene bonapartistische Kaisertum sah, durfte erfahren, auf wie schwachen Füßen er stehe und wie sehr der Boden unter dem Thron des neuen Cäsar schwanke.

Daß die Revolution selbst und die mit ihr verbündet gewesenen Parteien nach dem Mißlingen ihres Planes davon schweigen würden, ließ sich annehmen.

Der Beschluß des Vertrauten-Conseils ist das eine der großen Geheimnisse, die in dem Prozeß Orsini gespielt haben!

Nach dem Conseil blieb der Kaiser mit seinem Stiefbruder, dem Grafen Morny, allein.

Es war Mitternacht, als der Präsident der Deputiertenkammer das kaiserliche Kabinett verließ.

Was sie da verhandelt, das wird vielleicht immer Geheimnis bleiben, aber, was für den strengen Beobachter genügt, das sind die Konsequenzen, die Thaten!

Diese Thaten; Bagnères – Magenta – Solferino – Villafranca – Nizza – Savoyen – Aspromonte: sie haben zur Genüge die Geschichte jener Unterredung geschrieben!


Der Prozeß nahm seinen raschen Verlauf. Da man Mazzini und mit ihm die Revolution nicht anklagen wollte, nahm man einen Popanz, auf den man aus der Ferne losschlagen konnte, den ehemaligen Marine-Arzt, Franz Bernard, einen französischen Flüchtling aus Carcassonne, der die Mitglieder des Attentats nur bis Brüssel begleitet und dort seine Haut salviert hatte. In ihm wollte man zugleich das englische Asylrecht für politische Mörder und Spitzbuben treffen.

Die Bemühung des Untersuchungsrichters hatte bald genug Material herausgefördert, um wenigstens die Mehrzahl der Angeklagten des politischen Märtyrertums zu entkleiden.

Pierri war im Mai 1831 von dem Zuchtpolizeigericht zu Lucca wegen Diebstahls verurteilt worden, zwei Jahre später, wegen desselben gemeinen Verbrechens verfolgt nach Frankreich geflohen, hatte in Lyon, Avignon und Paris das Geschäft eines Mützenfabrikanten betrieben, später, 1843, nachdem seine Frau wegen schlechter Behandlung sich von ihm getrennt hatte, in Algerien in der Fremdenlegion gedient, alsdann in toskanischen Diensten den Rang eines Majors erworben, von dem er entsetzt wurde, und sich 1848 der Revolution in Rom angeschlossen. Im Jahre 1852 aus Frankreich ausgewiesen, hielt er sich 1855 kurze Zeit in Düsseldorf auf und kehrte dann nach England zurück, wo er später in Birmingham die Anfertigung der Sprengbomben leitete.

Gomez, seiner Lebensstellung nach ein bloßer Bedienter, aus Neapel gebürtig, hatte 1852-1855 gleichfalls in der algerischen Fremdenlegion, diesem Sammelplatz des Auswurfs Europas und Afrikas, gedient, war dann in Marseille wegen Betrügereien zu Gefängnis verurteilt worden und später nach England gekommen. Karl von Rudio hat, wie Orsini, wenigstens den Vorzug, ein geborener Revolutionär zu sein, denn auch sein Vater und seine Schwestern wurden wegen Verschwörungen verfolgt. Er selbst trieb sich in Italien müßig umher, beteiligte sich an den politischen Exzessen und kam 1856 nach England, von wo er selbst das Gerücht seines Todes verbreitete. –


Frau von Röbel war von Brüssel allein nach der Heimat und zu ihrem Gatten zurückgekehrt, der bei dem Wiederausbruch eines alten Übels, das noch bis zu den Strapazen der Befreiungskriege zurückdatierte, selbst dringend ihrer Pflege bedurfte. Das treue Mutterherz mußte die beiden Kinder zurücklassen, denn Rosamunde hatte sich mit dem ihr vom Vater überkommenen Zuge der Unbeugsamkeit, sobald sie einmal einen Entschluß gefaßt hatte, geweigert, das Krankenlager des Informators zu verlassen, bis dieser ganz außer Gefahr war, und Otto hatte mit geheimer Befriedigung die Gelegenheit wahrgenommen, zu erklären, daß er die Schwester unmöglich verlassen dürfe und wenigstens an der Grenze über sie wachen werde.

Der tiefere Beweggrund, seine Leidenschaft zu der unglücklichen Carmen Massaignac, blieb freilich dem sorgenden Auge der Mutter nicht verborgen. Aber einerseits hatte die Fremde selbst trotz der kurzen, abenteuerlichen Bekanntschaft ihr Herz gewonnen, andererseits kannte sie den Charakter ihres Sohnes zu gut, um nicht zu wissen, daß er auch in seiner Liebe den strengsten Geboten der Ehre nichts vergeben würde, daß er aber auch hartnäckig auf seinem Willen bestand.

Übrigens war, drei Tage nach der Abreise der Familie von Paris, Doktor Achmet selbst nach Brüssel gekommen und hatte der Edelfrau einen Brief der Fürstin Trubetzkoi überbracht, in dem diese um die Erlaubnis bat, Rosamunde einige Wochen bei sich behalten zu dürfen, und versprach, wie eine Mutter oder ältere Schwester über sie zu wachen. Doktor Achmet berichtete von dem günstigen Einfluß, den die Nähe und Pflege der Geliebten auf den Zustand des Kranken geübt hatte, und die Dame konnte es nicht über das Herz bringen, das edle Opfer des Predigersohnes mit dem strengen Gebot der Rückkehr an ihre Tochter zu vergelten.

So wurde denn beschlossen, von dem freundlichen Anerbieten der Fürstin Gebrauch zu machen, und Rosamunde erhielt von der Mutter Erlaubnis, so lange der Zustand des Patienten gefährlich wäre, bei der Fürstin zu verweilen. Doktor Achmet wollte sie dann nach Brüssel zu dem Bruder zurückbringen.

Dem Vater in der Heimat konnte die Edelfrau somit sagen, daß die Geschwister durch eine Einladung der Fürstin, die sich nicht hätte ablehnen lassen, noch in Paris für kurze Zeit zurückgehalten worden wären.

Weniger leicht und glücklich als auf dieser Seite war der Erfolg der Nachforschungen des Mohrendoktors nach seiner auf so geheimnisvolle Weise verschwundenen Pflegetochter.

In den ersten Tagen hatte, wie gesagt, die Polizei geradezu die Sache von der Hand gewiesen, teils weil man nicht an die Entführung einer Schauspielerin oder Reiterin ohne ihre Einwilligung glauben wollte, hauptsächlich aber, weil alle Kräfte mit der Verfolgung der Entdeckungen aus dem Attentat beschäftigt waren. Später machte er die Erfahrung, daß alle seine Bemühungen auf geheime Hindernisse stießen, und ein im stillen wirkender Einfluß dagegen operierte. Man machte ihm Versprechungen der genauesten Nachforschung, aber diese dienten nur dazu, ihn hinzuhalten.

Wer, der es eifrig und ängstlich mit einem Zweck meint, hätte nicht schon die Erfahrung gemacht, daß selbst in jeder Regierungsform es eine Macht giebt, an der gewöhnlich selbst der Wille des Monarchen scheitert, wie viel mehr die Kraft des Privaten: die sogenannte Bureaukratie. Wer nicht zur Freimaurerschaft des Beamtentums gehört oder den geheimen Schlüssel des Berges Sesam kennt, erlahmt an diesem Gezücht: die besten Kräfte, die erfolgreichsten Ideen, der redlichste Wille, ja die aufrichtigste Treue erschlaffen an der Phalanx der Beamtenherrschaft, denn selbst in Monarchieen regieren in Wahrheit nicht der König oder seine Minister, sondern die Coterien der Geheimen Räte und ihre festgegliederte Beamten-Armee. Die Bureaukratie trägt die Schuld der meisten Revolutionen und hat in der Stunde der Gefahr schon viele Throne verlassen und verraten, aber noch nie einen geschirmt.

Durch die Ernennung des Generals Espinasse zum Minister des Innern und seine eisernen Maßregeln, die er infolge des Attentats gegen die Presse ergriff, wurde dem Doktor auch der Weg der Öffentlichkeit abgeschnitten oder wenigstens so erschwert, daß er von ihm abstand. Mit jedem vergeblichen Schritt überzeugte er sich mehr, daß bei dem Verschwinden seines Schützlings eine geheime Macht im Spiel war, der er nicht offen die Spitze bieten, ja der er nicht einmal die Larve abzureißen vermochte.

Leider hatte Carmen noch nicht Zeit gehabt, ihn von dem Inhalt ihrer Unterredung mit der hohen Dame in Kenntnis zu setzen, die allein vielleicht die Macht gehabt hätte, seine Nachforschungen wirksam zu unterstützen; denn sie war gleich nach ihrer Rückkehr nach der Oper gefahren, und der Oberst Graf Montboisier, den er einige Tage später in seiner Angst aufsuchte, hatte eine Mission nach Berlin und Petersburg erhalten, um die Antwort des Kaisers und der Kaiserin auf die Glückwunschschreiben des russischen Monarchen, des Prinzregenten von Preußen, und der Königin dieses Landes zu überbringen.

Der Hacene vermutete sehr richtig, woher der Schlag gekommen war, aber was konnte er thun, welches Recht hatte er im äußersten Fall, hier einzuschreiten, selbst wenn er es hätte beweisen können, daß der eigene Bruder die Entführung veranstaltet hatte?! Es war Thatsache, daß Carmen Massaignac noch nicht mündig war, daß sie sich der Flucht aus der Obhut ihrer Verwandten und eines mindestens unpassenden, umherstreifenden Lebens schuldig gemacht hatte, und daß nach dem Gesetz ihr älterer Bruder ihr mit jeder Machtvollkommenheit ausgerüsteter Vormund war.

Dennoch hatte der Doktor versucht, bis zu dem Senator zu dringen. Er wußte durch die Mitteilungen des ehemaligen Argelino genug, um wenigstens den Versuch machen zu können, den verbrecherischen Sohn einzuschüchtern: aber als er sich in dem Hotel Massaignac melden ließ, erfuhr er, daß der Marquis mit seiner Gemahlin am dritten Tage nach dem Attentat eine Reise nach Italien angetreten hatte.

So blieb ihm denn nichts übrig, als der Gunst des Zufalls, oder vielmehr der Hand Gottes zu vertrauen und einstweilen im stillen seine emsigen Nachforschungen fortzusetzen.

Von all seinen Schritten und deren geringen Erfolgen hatte der Doktor Otto von Röbel brieflich Kenntnis gegeben. Es bestand ein aufrichtiger und herzlicher Verkehr zwischen den beiden, denn der junge Edelmann hatte dem älteren Freunde kein Hehl aus den Gefühlen gemacht, die ihn für die Verschwundene beseelten. Otto von Röbel verzehrte sich in ungeduldiger Aufregung und hundert Plänen in dem Exil, das ihm ein unglückliches Zusammentreffen von Umständen auferlegt hatte.

Sofort nach der Abreise seiner Mutter hatte er von Brüssel aus zuerst an den Marqis von Massaignac, und als er durch Doktor Achmet erfuhr, daß dieser Paris verlassen hatte, direkt an den Grafen von Montijo geschrieben, sich auf die Ursache seines gezwungenen Ausbleibens von dem Duell berufen und ein erneutes Rendezvous an der Grenze angeboten, ja gefordert.

Die Antwort, die er erhielt, war von der Hand des Garde-Offiziers, der dem Duell als Zeuge mit dem Informator beigewohnt hatte, und lautete höflich aber kalt dahin, daß durch den Kugelwechsel mit dem Stellvertreter des Herrn von Reuble der Graf Montijo die notwendige Satisfaktion erhalten habe und weitere Erörterungen mit seinem Gegner ablehnen müsse.

Die ausweichende Antwort erregte den höchsten Zorn des jungen Mannes, aber er sah ein, daß er vorläufig nichts dagegen machen könne.

Der Prozeß wegen des Attentats hatte unterdes seinen Verlauf genommen.

Die öffentliche Meinung von ganz Europa hatte sich so eklatant über das Verbrechen ausgesprochen, daß die französische Regierung, auf sie gestützt, es wagen konnte, allen Haß, allen Verdacht aus England auszuschütten. Morny hielt eine donnernde Rede in der Deputiertenkammer gegen die englische Politik und ihr Asylrecht für politische Flüchtlinge, die aus England nichts anderes mache, als den Herd für Mord und Brand auf dem Kontinent. Die Offiziere der französischen Armee schleuderten geradezu wütende Herausforderungen gegen England und forderten Krieg! die Journale zählten das Sündenregister Englands gegen Frankreich auf und erinnerten an den systematischen Mord des ersten Napoleon auf dem sonnversengten Felsen von Helena!

Daß sein Neffe einst selbst als politischer Flüchtling auf dem Boden Englands Schutz und Gelegenheit für seinen Fastnachtszug nach Boulogne gefunden hatte, schien man ganz vergessen zu haben!

Die englischen Journale, die bekanntlich verstehen, den Mund noch weit mehr aufzureißen, blieben natürlich nichts schuldig, und die entente cordiale von Sebastopol drohte einen argen Riß zu bekommen.

Der Prozeß hatte unterdes seinen weiteren Verlauf genommen; die Justiz begnügte sich ihrer Anweisung gemäß damit, die notwendigen Zeugen in Frankreich, Belgien und England aufzutreiben, um die Anfertigung der Höllenmaschinen, ihre Überführung nach Frankreich, die Verbindung der vier Verschworenen und die Vorgänge des Attentats selbst zu erweisen.

Anfänglich hatte Orsini die That nicht geleugnet. Erst später, und namentlich bei den Verhandlungen des Prozesses am 25., 26. und 27. Februar fand er es in seinem Interesse, zwar nicht den Entschluß und die Vorbereitungen zu dem Attentat, wohl aber seine direkte Teilnahme auf dem Schauplatz des Verbrechens, also das Schleudern der Bomben selbst, in Abrede zu stellen. Dagegen weigerte er sich, das Geringste gegen seine Mitschuldigen auszusagen.

Pierri leugnete entschlossen. Er wollte nichts von den Bomben wissen und die bei ihm gefundenen nur von Orsini zur Aufbewahrung erhalten haben. Gomez und Rudio überboten sich in jämmerlichen Lügen und Entschuldigungen und suchten durch die Anklagen der beiden Häupter ihr jämmerliches Leben zu erkaufen.

Der Name Mazzini wurde, wenigstens in der Öffentlichkeit, nur selten in dem Prozeß ausgesprochen; von den mit dem Attentat verbundenen Revolutionsplänen war gar nicht die Rede. Die Gefangenen handelten hierin nach einer Instruktion, die ihnen auf geheimem Wege zugekommen war; denn kein Kerker ist so sicher und fest bewahrt, daß List und Gold nicht den Weg hinein finden sollten!

Chaix d'Estanges, der berühmteste Redner Frankreichs an der Barre des Gerichts, vertrat bei den Verhandlungen des Prozesses vor der Jury das öffentliche Ministerium, das heißt das Amt des Anklägers.

Von den Verteidigern zeichnete sich nur der Orsinis, Jules Favre, aus. Er hatte den Mut, nicht den Kopf seines Klienten verteidigen zu wollen, sondern nur, wie er sagte, »auf dessen unsterbliche Seele einen Strahl von jener Wahrheit zu werfen, die allein sein Andenken vor unverdienten Beschuldigungen beschützen könne!« Er verwarf das Verbrechen, aber vor und nach diesem Verbrechen suchte er seinen Klienten in die Toga des Schwärmers der Freiheit, des fanatischen Republikaners zu hüllen.

Das Gericht und den Prokurator überraschend, zog er die Abschrift jenes Briefes hervor, den Orsini am 11. Februar aus dem Gefängnis Mazas an den Kaiser gerichtet hatte, der das Bündnis von Plombières veranlaßte und Österreich die Lombardei gekostet hat, und verlas ihn.

Um 5 Uhr nachmittag (am 26.) zogen sich die Geschworenen zurück, ganz Paris harrte um und in dem Gerichtssaal, der mit den vornehmsten Frauen gefüllt war, ihrer Rückkehr, die um 8 Uhr erfolgte.

Ihr Spruch lautete, wie nicht anders zu erwarten stand, auf Schuldig.

Der Gerichtshof verurteilte Orsini, Pierri und Rudio zur Strafe des Vatermordes, das heißt zum Tode, indem sie barfuß, im Hemd und das Haupt mit einem Schleier verhüllt auf das Schafott geführt werden und vor der Hinrichtung die rechte Hand verlieren sollten.

Gomez wurde zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt.

Die Gefangenen hörten schweigend die Verkündigung, nur Rudio brach zusammen und mußte von den Gendarmen beim Verlassen des Saales geführt werden.

Die drei zum Tode Verurteilten wurden am Tage darauf aus Mazas nach dem Gefängnis von La Roquette überführt, vor dessen Thor die Hinrichtungen vollzogen werden.

La Roquette liegt auf der Straße des Todes, die Straße La Roquette ist der Weg zum Père Lachaise!

Alle drei legten sofort die Kassation ein, selbst Orsini hatte die Feigheit, sein Leben retten zu wollen!

Außerdem hofften sie auf Hilfe von außen, auf einen Aufstand zu ihren Gunsten, der sie befreien sollte.

In der That waren ihre Freunde nicht müßig, aber die Regierung war gewarnt und gerüstet. Ein versuchter Aufstand in Chalons sur Saone wurde rasch unterdrückt; in Paris und durch das ganze Land folgten zahlreiche Verhaftungen, und als sich in der Nacht zum 5. März zahlreiche Volkshaufen auf dem Platz vor dem Gefängnis versammelten unter dem Ruf: » Vive la République!« » Vive Orsini!« und offenbar in der Absicht, die Kerkerthüren zu sprengen, war sofort das Militär bei der Hand und warf die Emeute zurück.

Aber das alles waren sehr bedenkliche Zeichen, und der Kaiser Louis Napoleon versteht sich bekanntlich auf die Vorboten des Sturmes!

Die Schläge und Schutzmaßregeln der Regierung folgten rasch aufeinander: das Sicherheitsgesetz, die Einteilung Frankreichs in fünf große Militärbezirke mit je einem Marschall an ihrer Spitze.

Am 11. März hatte der Kassationshof das Gesuch der Verurteilten verworfen.

Man erwartete die Hinrichtung, aber man glaubte nicht daran. Im Publikum hatten sich zahlreiche Gerüchte verbreitet, daß der Kaiser damit umgehe, die Verbrecher zu begnadigen, während die Minister sich energisch dagegen erklärten. Der grimmige Espinasse bestand vor allem darauf.

Endlich hörte man, daß der Kaiser den Spruch des Gerichts bestätigt habe. Aber das schloß noch im letzten Augenblick die Begnadigung nicht aus, und während Hunderte seit acht Tagen jede Nacht auf dem Platz La Roquette zubrachten, um das blutige Schauspiel nicht zu versäumen, erzählte man sich, daß die Kaiserin ohne Unterlaß ihren Gemahl zu bestimmen suche, wenigstens Orsini zu begnadigen.


Es war ein ziemlich rauher Märzabend, Donnerstag den 11. Am Tage vorher, Mitfasten, dem privilegierten Vergnügungstag zwischen den nutzlosen, aber von der Mode zahlreich besuchten Bußpredigten, hatte sich ganz Paris wieder einmal ausgetobt und statt des politischen Geschwätzes Cancan getanzt. Man konnte sich noch nicht sogleich wieder in die Entsagungen der Fastenzeit finden, und die Kaffeehäuser und Weinschänken waren überfüllt. Man feierte Mitfasten, während Grutry und Coqueret bereits wieder von der Kanzel ihre Donner schleuderten!

Vor dem großen Hotel in der Rue de Faubourg St. Honoré Nr. 39 hielt ein Fiaker. Ein Mann von einigen dreißig Jahren mit blassem, eckigen Gesicht und stechendem Auge sprang heraus und trat zu dem Portier.

»Mylord zu Hause, John?«

»Ja, Sir! Aber ich glaube nicht, daß er zu sprechen ist.«

»Das ist meine Sache. Master Blackburn ist doch im Vorzimmer?«

»Gewiß, Sir! Gehen Sie nur die Seitentreppe hinauf, Mylord ist in seinem Kabinett.«

Der Fremde, der elegant in Schwarz gekleidet war, hielt sich nicht weiter auf, sondern schritt über den Hof des Hotels nach dem Seitenflügel und stieg hier eine matt erleuchtete Treppe hinauf.

Er hatte eben den Vorflur des ersten Stockes erreicht und wollte an die nächste Thür klopfen, als diese sich öffnete und Master Blackburn, der erste Kammerdiener, einen Mann herausführte.

Dieser hatte eine hohe, hagere Gestalt, mit gefurchtem Gesicht und war dem Greisenalter nahe. Als er des Fremden ansichtig wurde, zog er rasch den Kragen seines Mantels über das Gesicht, doch nicht schnell genug, um nicht dem Blick des eben Eingetretenen Veranlassung zu einem gewissen Erstaunen zu geben. Er grüßte kurz den Kammerdiener und ging rasch die Treppe hinab.

Der Diener war einigermaßen verlegen, als er den neuen Gast in das Zimmer führte, und diese Verlegenheit steigerte sich bei der Indiskretion, die sich der Fremde zu schulden kommen ließ.

»Bei allen schlimmen Geistern, Master Blackburn,« sagte er rücksichtslos, »das ist ein eigentümlicher Besuch bei Mylord, wenn mich meine Augen nicht getäuscht haben! Wenn man das in den Tuilerien wüßte, dürfte das Verhältnis mit dem Kabinett von Saint-James leicht noch gespannter werden!«

»O Sir,« meinte der bestürzte Kammerdiener, »es war nur ein Reisender, Master Samwer, der in einer Paßangelegenheit kam!«

»Und der des Abends in einer Privataudienz von Mylord empfangen wird,« bemerkte gleichgültig der Frager. »Ich hätte darauf schwören wollen, dies Gesicht öfter als einmal im Schweizer Kaffeehaus in London Der Hauptversammlungsort der Flüchtlinge in London. gesehen zu haben, wo er mit Signor Ma – – Aber ich schweige schon,« beruhigte er die ängstliche Gebärde des Kammerdieners. »Im Grunde geht es mich nichts an, und ich trage an der Last der Geheimnisse von Jenseits genug, um mich nicht noch mit dem thörichten der Menschen zu beladen. Melden Sie mich, Mylord hat mich zu sprechen verlangt.«

»Ich weiß, ich weiß, Sir, haben Sie einen Moment Geduld.«

Er trat in das Zimmer und hob einige Augenblicke darauf die Portiere.

»Treten Sie gefälligst ein, Sir, Sie finden Mylord in seinem Arbeitskabinett.«

Der Fremde trat in das nächste Zimmer und ging langsam, ohne auf die Umgebungen auch nur einen Blick zu werfen, durch dasselbe nach der offenen Thür des nächsten, aus dem man sprechen hörte.

Auf der Schwelle blieb er stehen.

Es befanden sich zwei Herren in demselben, auf Lehnstühlen am Tisch vor dem Diwan sitzend und beide rauchend.

Der eine, offenbar der Hausherr, eine breite aristokratische Gestalt von gereiftem Alter mit sehr ruhigen, fast phlegmatischen Bewegungen, erhob sich.

»Willkommen, willkommen, Master Hume!« sagte er, dem Eingetretenen die Hand reichend. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie sich einer besseren Gesellschaft entzogen haben, um mit uns armen Menschenkindern zu verkehren. Erlauben Sie mir, Sie einem Freunde vorzustellen. Master Alexander Hume, der berühmte Beherrscher der Geisterwelt, Freund Seiner Majestät des Kaisers der Franzosen und des Herzogs von Hamilton, Herr Marquis von Casale

» Alias Graf Camillo Cavour, Premierminister Seiner Majestät des Königs von Sardinien,« sagte der Geisterbeschwörer ruhig, ohne eine Miene zu verziehen, »und Freund des Signor Mazzini, dem ich soeben die Ehre hatte zu begegnen.«

Die beiden Herren sahen sich etwas verblüfft an, dann brach der Graf in ein lautes Gelächter aus, in das nach kurzem Besinnen der Gesandte einstimmte.

»Mylord Cowlei,« sagte der Premier noch immer lachend, »unser Inkognito kann nur für gewöhnliche Menschenkinder gelten, aber nicht für Hellseher und Vertraute von Geistern. Aber Cospetto, Signor Hume, woher kennen Sie mich? Ich erinnere mich nicht, Sie schon bei uns in Turin gesehen zu haben und bin erst vor einer Stunde in Paris angekommen, ohne daß außer zwei Personen jemand das Geringste davon weiß!«

»Herr Graf,« sagte der Geisterseher, »ich habe die Ehre gehabt, in vergangener Nacht als dritte Person in Ihrem Coupé zu sitzen!«

»In meinem Coupé?«

»Ja, zwischen Maurienne und Chambery, bis wohin Sie Ihren Sekretär Signor Manotti Mitnahmen.«

Der Minister starrte den Schotten erstaunt an.

» Per Baccho!« sagte er, »das ist stark und mir sehr unangenehm. Ich glaubte meine Abreise in das tiefste Geheimnis gehüllt, und nun sehe ich, daß irgend ein Verräter aus meiner nächsten Umgebung mir mit dem Telegraphen den Streich gespielt hat.«

Der Geisterseher hatte sich auf den Wink des Gesandten niedergelassen, so daß er beiden Herren gegenüber saß.

»Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Graf,« sagte er lächelnd. »Sie denken in diesem Augenblick, Se. Majestät der Kaiser Louis Napoleon habe die Nachricht erhalten, ich hätte sie aus dieser Quelle und Sie nach einem Porträt erkannt. Aber dem ist nicht so. Se. Majestät der Kaiser weiß in diesem Augenblick so wenig von Ihrer Ankunft in Paris, wie von der Anwesenheit des Herrn Mazzini.«

»Aber dann erklären Sie mir – wie ist es möglich? Ich kann doch nicht an eine Zauberei glauben!«

Master Hume sah ihn ernst an.

»Sie sind aus Italien, Herr Graf, haben also doch oft von dem bösen Blick der faccia cattiva gehört!«

»Gewiß! der größte Teil des Volkes hält an dem Aberglauben fest, aber das kommt von dem mangelhaften Schulunterricht und der systematischen Verdummung des Volkes durch die Pfaffen.«

»›Es giebt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als uns're Schulweisheit sich träumt,‹ heißt es im Hamlet. Hier, Mylord, hat bedeutende Besitzungen in Schottland. Er wird Ihnen vielleicht einige Thatsachen von der Gabe des zweiten Gesichts erzählen können. Ich, Herr Graf, stamme durch meine Mutter aus Schottland. Aber haben Sie nie von jener seltsamen Macht gewisser Personen in Lappland gehört, ihren verkörperten Geist während eines geheimnisvollen Schlafs nach weit entlegenen Orten wandern zu lassen?«

»Nein; ich glaube auch an dergleichen nicht.«

»Nun, Herr Graf,« bemerkte lächelnd der Geisterseher, »ein gescheiter Mann muß nie etwas verschwören. Vielleicht kann ich Sie eines Besseren überzeugen. Sie wissen also gewiß, daß Sie auf der Tour von Maurienne nach Chambery mit Ihrem Sekretär allein in dem Coupé erster Klasse waren?«

»Zuverlässig!«

»Sie trugen eine graue Reisemütze und noch von der Fahrt über den Mont Cenis einen Biberpelz. Sie unterhielten sich während der ganzen Nacht mit Signor Manotti über den Zweck Ihrer Reise?«

»Das ist leicht zu erraten. Aber woher zum Teufel kennen Sie meine Kleidung?«

»Weil ich mit Ihnen im Coupé war!«

»Das ist unmöglich!«

»Nun, so will ich Ihnen einige Worte wiederholen. Als Signor Manotti Sie fragte, ob Sie sich für die Begnadigung Orsinis und seiner Gefährtin verwenden würden, sagten Sie …«

»Nun?« fragte der Graf in der höchsten Spannung.

»Sie sagten: Den Teufel, ich denke nicht daran! Ich wünschte, wir würden Herrn Mazzini seiner Zeit ebenso los, wie diese vier Dummköpfe!«

Der berühmte Konstitutionelle fuhr zurück, als hätte er einen Schlag bekommen. » Per Bacco!« sagte er endlich, indem er sich mit dem Taschentuch über die Stirn fuhr, »das ist in der That stark!«

»Wie, Herr Graf,« fragte der Gesandte, »waren das wirklich Ihre Worte?«

»Ich kann es nicht leugnen,« sagte der Minister kleinlaut, »Herr Hume wiederholt wörtlich.«

Der Gesandte lachte. »Wissen Sie, lieber Graf, wenn Herr Mazzini das gehört hätte, möchte er doch etwas scheu werden!«

»Ei was,« sagte der Piemontese ungeduldig, »er weiß recht gut, was ich von ihm denke. Aber es ist mir unerklärlich, wie diese Unterredung hat belauscht werden können, denn …«

Er brach ab.

Der Geisterbeschwörer lächelte seltsam. »Euer Excellenz trauen mir also noch immer nicht. Wenn es auch möglich gewesen wäre, Sie zu hören, so hätte man doch nicht sehen können, was Sie, kurz vor Chambery, in Ihr Portefeuille schrieben!«

»In mein Portefeuille? Herr, sind Sie des Teufels?!«

»Sie hatten eben zu Signor Manotti gesagt: Er wird uns bluten lassen, ich kenne ihn! Aber es geht nicht anders – wir müssen Opfer bringen! Dann richteten Sie an Signor Manotti eine Frage und notierten sich aus der Antwort einiges in Ihr Portefeuille. Soll ich Ihnen vielleicht sagen, was Euer Excellenz geschrieben haben? Da Sie wahrscheinlich Ihr Portefeuille bei sich führen, können Sie die Wahrheit gleich erproben!«

»Nur heraus damit, Herr Hume!« drängte neugierig der Lord.

Der Premierminister war aufgestanden; so gefaßt und gewandt er auch sonst war, diesmal schien er alle Fassung verloren zu haben.

»Lassen Sie es gut sein, Herr Hume,« sagte er hastig. »Ich kann diesen Beweisen nicht widerstehen, so wenig ich mir die Sache erklären kann. Sagen Sie mir das eine, wissen mehr Personen als Sie von dieser Unterredung?«

»Wissen? Nein! Aber gehört hat sie eine zweite Person.«

»Und wer ist das?«

»Die Somnambula!«

Der Minister that einen ziemlich undiplomatischen Atemzug. »Ach so,« sagte er, »also durch Somnambulismus haben Sie mich beobachtet?«

»Zufällig, Excellenz. Bei der Entdeckung eines Mediums, wie mir noch kein zweites vorgekommen ist.«

»Wo geschah das?«

»Im Hotel du Louvre, wo ich wohne!«

»Und keine andere Person war zugegen?«

»Keine Seele. Ein bloßer Zufall hat mich mit der jungen Dame in Berührung gebracht oder vielmehr die Fügung der Vorsehung. Sie gehört zu den vornehmen Ständen und lebt in der Familie einer russischen Fürstin, die in dem Hotel wohnt. Sie hatte wahrscheinlich von mir gehört und wandte sich mit einer Frage in Familienangelegenheiten an mich. Ich machte sofort die Entdeckung, daß sie in der auffallendsten Weise für das Fluidum empfänglich sei und manipulierte mit ihr ohne ihren Willen!«

»Aber wie kamen Sie dabei auf meine Person?«

»Durch ein Album, das auf dem Tisch lag. Ich beschloß, die Wahl der Personen dem Zufall zu überlassen, und schlug das Album auf. Das aufgeschlagene Blatt enthielt Ihr photographisches Porträt.«

Der Minister dachte einige Augenblicke nach.

So große Mühe sich auch der Gesandte geben mochte, bei der seltsamen Unterredung gleichgültig zu bleiben, vermochte er doch nicht, sein Interesse an den damit verknüpften politischen Beziehungen zu verbergen. Dem scharfen Auge des Piemontesen entging dies keineswegs.

»Das ist ein gefährliches Spiel, Herr Hume,« sagte er ernst. »Danach wäre niemand vor Ihnen sicher!«

»O nein, Excellenz, alles hat seine Grenzen und hängt von Bedingungen ab. Wie ich bereits die Ehre hatte zu sagen, war es ein reiner Zufall, der mich durch das Medium gerade zum Zeugen Ihrer Unterredung machte, und ich denke zu redlich und zu gleichgültig über Politik, um solche Entdeckungen zu verfolgen. Das größte Hindernis dabei aber ist, daß Medien von einer Empfängnis wie das gestrige nur selten gefunden werden, und daß ich nach dem heutigen Abend wohl schwerlich wieder so glücklich sein werde, eine ähnliche Gelegenheit zu haben.«

»Diesen Abend?«

»Ja! Die junge Dame, oder vielmehr ihre Beschützer haben sich auf meine dringenden Bitten entschlossen, einen einzigen Versuch machen zu lassen. Dies ist auch nur geschehen in der Hoffnung, dadurch Auskunft über jene Frage zu erhalten, welche die Dame an mich gerichtet hat, und zu deren Lösung ich gestern keine Gelegenheit hatte, da ich noch nicht in Rapport dazu gestellt war.«

»Aber wenn sich das Frauenzimmer einmal dazu verstanden hat,« bemerkte der Lord, »so wird sie sich wohl auch weiter überreden lassen.«

»Ich würde mich der Gefahr aussetzen, dafür erschossen zu werden. Der Mann, der sie in Schutz genommen, ein früherer Militär-Arzt, hat mir dies, obschon er seiner maurischen Abstammung nach selbst geheime Dinge und Kenntnisse liebt und achtet, an Stelle ihres Bruders sans gêne erklärt.«

»Und darf man fragen, wer sonst diesem Versuch beiwohnen wird?«

»Der Kaiser!«

Dia beiden Herren fuhren gleichzeitig von ihren Stühlen auf. » By Jove!« sagte der Lord, »da wären wir auf einmal am Ziel. Ist dies wirklich der Fall, Master Hume?«

»Ich hatte bereits die Ehre, es Ihnen zu sagen, Mylord. Der Kaiser wird mit dem Herzog von Hamilton der Sitzung beiwohnen, da ich ihn von dem seltsamen Phänomen in Kenntnis gesetzt habe.«

»Wo wird sie stattfinden?«

»Um neun Uhr in seinem Arbeitskabinett. Die Dame hat auf meine Bitte eingewilligt, da ich als Bedingung meinerseits mir die Wahl des Ortes vorbehielt.«

Der Gesandte hatte mit dem piemontesischen Minister einen Blick des Verständnisses gewechselt. »Hören Sie, Herr Hume,« sagte er dann, »ich habe Sie aus zwei Gründen zu mir bitten lassen. Der erste ist eine angenehme Nachricht für Sie, der Zweite ein Dienst, den ich von Ihnen wünsche. Da Sie aber gerade so hellsehend sind, werden Sie vielleicht schon wissen, was ich Ihnen zu verkünden habe.«

Ohne den Spott zu beachten, der in den letzten Worten lag, antwortete der Amerikaner: »Mylord, mein Verkehr mit dem Überirdischen zeigt mir nur, was andere betrifft, nichts über mich selbst.«

»Desto besser! Dann habe ich das Vergnügen, Ihnen mitteilen zu können, daß nach einer bei der Gesandtschaft eingegangenen Akte das Erbschaftsgericht Ihnen von Mistreß Cavendish zu Bradford testamentarisch eine Jahresrente von 6000 Francs hinterlassen worden ist, wozu ich Ihnen von Herzen gratuliere.«

»Ich danke, Mylord! Aber sagen Sie mir das Wichtigere; womit kann ich Ihnen dienen?«

Die totale Gleichgültigkeit gegen das nicht unbedeutende Geldgeschenk imponierte selbst dem stolzen Pair. »Meine Bitte,« sagte er sehr höflich, »ist folgende. Jedermann weiß, daß Sie unbeschränkten Zutritt zum Kaiser haben und einen gewissen Einfluß auf ihn besitzen. Es ist von Wichtigkeit, daß Graf Cavour noch diesen Abend eine geheime Audienz erhält; doch soll niemand, selbst im Palast nicht, davon wissen. Ich hoffte, Sie würden mir die Gefälligkeit erweisen, den Kaiser zu bewegen, einer Person, die sich nur ihm selbst nennen wolle, eine Audienz zu erteilen. Mein Name darf jedoch dabei nicht erwähnt werden, ebensowenig der Umstand, daß Sie den Herrn Grafen erkannt haben. Sie sind Amerikaner, Master Hume, und ich brauche Ihnen bloß zu sagen, daß Sie damit der Sache der Befreiung einer ganzen Nation von unwürdigen Fesseln einen großen Dienst leisten werden.«

»Herr Hume wird mich dadurch persönlich außerordentlich verpflichten,« bemerkte der Graf.

Der Geisterseher hatte sich erhoben. »Euer Herrlichkeit wissen,« sagte er ernst, »daß ich vermeide, mich mit politischen Dingen zu befassen. Ich kann daher Ihren Wunsch nur in meiner Weise erfüllen.«

»Und die ist?«

»Seine Excellenz mögen die Güte haben, sich Punkt neun Uhr am ersten Thor der Tuilerien nach der Straße Rivoli einzufinden und uns dort zu erwarten.«

»Sie wollen ihn direkt einführen?«

»Sobald ich es an der Zeit halte, ja!«

»Herr Hume,« sagte der Graf, »zählen Sie auf meine Pünktlichkeit, ich werde zur Stelle sein.«

»Schön. Mylord, ich glaube, Sie bedürfen meiner nicht mehr; ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen!«

Er nahm das Dokument der Erbschaft in Empfang und verließ das Hotel.

Die beiden Diplomaten waren kaum allein, als sie sofort die mit dem Eintritt des Geistersehers unterbrochene Unterhaltung wieder begannen.

»Es ist ein unangenehmer Zufall,« sagte der Graf, »daß dieser Herr mich erkannt hat und Mazzini begegnet ist. Ich weiß in der That nicht, was ich von seinen Erzählungen denken soll.«

»Ich sträube mich selbst dagegen, an übernatürliche Kräfte zu glauben, und dennoch lassen sie sich an Hume nicht leugnen, obgleich ihm von Zeit zu Zeit die Fähigkeit dazu gänzlich schwinden soll. Aber gleichviel, mein Gedanke, sich an ihn zu wenden, war ein ganz glücklicher, und Hume ist bei all seinem seltsamen Wesen ein Mann von Wort und Ehre. Sie werden den Kaiser sprechen, und ich freue mich, Ihnen dazu verholfen zu haben.«

»Die Verständigung mit Eurer Herrlichkeit war mir ebenso wichtig!«

»Keine Komplimente unter uns; lassen Sie uns mit offenen Karten spielen. Es bestehen gewisse Verpflichtungen, die wir im Krimkrieg gegen Sie eingegangen sind für Ihren Beitritt zu dem Feldzug. Ich sage Ihnen kein Geheimnis, wenn ich Ihnen ausspreche, daß England augenblicklich außer stande ist, dem König Victor Emanuel oder vielmehr dem Kabinett Cavour die gemachten Zusagen zu halten und die beabsichtigte Erhebung Italiens direkt zu unterstützen. Die Krim hat unsere gedienten Truppen decimiert, der unglückliche, noch lange nicht bekämpfte Aufstand in Indien, der Krieg in China und die Haltung der nordamerikanischen Union nehmen alle militärischen Kräfte in Anspruch. Auf der anderen Seite müssen wir wünschen, Frankreich möglichst nach einer anderen Richtung beschäftigt zu sehen. Diese einfältige Attentatsgeschichte konnte wirklich zu den schlimmsten Folgen führen, obschon wir ganz unschuldig daran sind.«

Der Graf nickte beistimmend mit schlauem Lächeln.

»Die entente cordiale,« sagte er, »hat in der That einen schweren Riß bekommen. Die Piatsche Broschüre und die französische Antwort Die bekannte damalige Broschüre » Louis Napoleon et l'Angleterre«, unter dem Namen Laguerronnière's erschienen, aber offenbar vom Kaiser selbst ausgegangen. werden auch nicht dazu beitragen!«

Der Gesandte zuckte die Achseln. »Was kann das Kabinett machen gegen die Opposition? Die Stimmungen hüben und drüben sind sehr gereizt. Die Verschwörungsbill hat keine Aussicht durchzugehen, selbst der Prozeß Bernard wird« wahrscheinlich mit einer Freisprechung oder einer geringen Verurteilung enden, und dies die Erbitterung noch steigern. Die Presse thut alles mögliche, das Feuer zu schüren, und es bedarf in der That nur eines Funkens ins Pulverfaß, um den Ausbruch herbeizuführen!«

»Und unter diesen Umständen hält das Kabinett von Saint James die italienische Frage für einen vortrefflichen Ableiter?«

»Wir leugnen es nicht. Ohnehin würde die Eifersucht Frankreichs nicht eine direkte englische Einmischung in Oberitalien zugeben. Wir sind deshalb damit einverstanden, daß Frankreich Piemont dort unterstützt, nur …«

»Nun, Mylord?«

»Müßten Sie keine zu großen Verpflichtungen eingehen. Sie kennen die Pläne des Kaisers Louis Napoleon auf das Mittelländische Meer!«

Der sardinische Minister beantwortete diese englische Anmaßung, die unter den obwaltenden Umständen vollkommen die Unverschämtheit der britischen Politik repräsentierte, nur mit einem diplomatischen Lächeln. »Ich denke, Mylord,« sagte er, »Wir, nicht England, sind die, welche den Preis zahlen müssen.«

»Ihre Konstituierung,« fuhr der Lord fort, die kleine Zurechtweisung überhörend, »Wird uns ein bedeutendes Opfer kosten. Wir gehen damit um, Korfu aufzugeben.«

Das spöttische Lächeln zuckte wieder um den Mund des Grafen, diesmal ziemlich unverhohlen. »Sollte diese Politik,« sagte er, »nicht weit eher Österreich zu Gunsten kommen, als uns?«

»Bah, lieber Graf, die österreichische Marine wird kaum je eine Stellung einnehmen, die es uns wichtig macht, das Adriatische Meer zu schließen.«

»Das ist sicher! Aber offen gesprochen, Mylord, ist es nicht sehr freundschaftlich für uns und schmeckt sehr nach einer gewissen politischen Achselträgerei. Verzeihen Sie, daß ich mich offen ausdrücke, aber ich muß ganz bestimmt darauf bestehen, zu erfahren, in welcher Weise England die für unsere Hilfe im Krimkriege geleisteten Versprechungen zu erfüllen denkt?«

Der Gesandte spielte mit dem Crayon, das er in der Hand hielt. »Ich habe Ihnen bereits auseinandergesetzt, lieber Graf,« sagte er, »daß wir im Augenblick außer stände sind, anders, als mit unserm moralischen Gewicht und etwa der Lieferung von Waffen in der Lombardei Ihnen Beistand zu leisten. Aber wir sind bereit, unter gewissen Bedingungen Sie im Süden Italiens zu unterstützen.«

»Sie wollen uns also Neapel erobern helfen?«

»Das heißt – wir wollen Sie dabei durch gewisse Demonstrationen unterstützen. Zum Beispiel eine Flotte vor Neapel legen, ein Vorwand wird sich ja leicht finden, und bei einem Aufstand in dem unruhigen Stellten, wo alles gärt und nur auf das Signal wartet, die neapolitanische Marine verhindern, sich den Ausschiffungen zu widersetzen. Wir sind bereit, mit einer Anleihe, Waffen und Munition und der Zulassung von Werbungen den Aufstand zu unterstützen.«

»Also in der gewöhnlichen englischen Weise. Ich muß gestehen, Mylord, das ist allerdings sehr unter unsern Erwartungen! Und was beanspruchen Sie dafür?«

»O – sehr wenig! Die Abtretung einiger Schwefelwerke in Sicilien. Wir hätten Sicilien selbst beanspruchen sollen.«

»Euer Herrlichkeit wissen sehr wohl, daß dies einen Krieg zwischen England und Frankreich hervorrufen würde. Aber ich muß auch das Verlangen von Gebietsbesitz auf Sicilien überhaupt ablehnen und sage Ihnen offen, daß, kommt es zu einem Kriege mit Neapel in der Frage der italienischen Einheit, der König Victor Emanuel lieber Beistand auf einer anderen Seite suchen müßte. Das einzige, wozu wir uns noch verbindlich machen würden, können gewisse Handelsvorteile sein, nicht aber das Aufgeben der Haupterwerbsquellen des Landes.«

Der Engländer erwiderte nichts auf diese direkte Zurückweisung, als daß er darüber berichten werde, und ging dann zu einem anderen Teil der Verhandlungen über.

»Die Eifersucht zwischen Preußen und Österreich,« sagte er, »sichert die Neutralität des ersteren, wenigstens solange Sie nicht die deutschen Grenzen selbst bedrohen. Die Heirat der Prinzeß Royal und die schleswig-holsteinsche Frage geben uns den nötigen Einfluß. Es bleibt demnach nur die Einmischung von Rußland zu berücksichtigen.«

»Darüber, Mylord, braucht sich das Kabinett von St. James keine Sorge zu machen. Rußland wird nicht intervenieren, wenn die Macht Österreichs geschwächt wird.«

»Das weiß ich, das ist klar! Aber später – bei Neapel. Rußland hat aus der Haltung der Bourbonen beim orientalischen Kriege eine gewisse Verpflichtung der politischen Dankbarkeit.«

»Euer Herrlichkeit glauben gewiß am allerwenigsten an solch ein Phantom. Die Sache hat uns allerdings ein kleines Opfer gekostet, indes, es war nicht zu ändern.«

»Und darf man fragen, welches?«

»O gewiß, Mylord, es kann überdies nicht verschwiegen bleiben. Se. Majestät der König Victor Emanuel hat den unbedeutenden Hafen von Villafranca zwischen Nizza und Monaco zu einer Kohlenstation für die russischen Dampfer im Mittelmeer an den Kaiser von Rußland abgetreten.«

Der Schlag war so direkt, daß der englische Diplomat für einige Augenblicke ganz verstummte.

So unbedeutend diese Gebietsabtretung an und für sich war, zeigte ihr Abschluß hinter dem Rücken des britischen Kabinetts doch klar, wie sehr man den Einfluß Englands im Mittelmeer bereits gesunken glaubte.

»Eine Kohlenstation? Wahrhaftig? Ist dieser Vertrag denn bereits abgeschlossen?«

»Gewiß, Mylord, vollständig unterzeichnet. Die Übergabe wird in kurzem erfolgen.«

Die Miene des Grafen war so unbefangen, so vergnügt, daß es der englische Diplomat gar nicht wagte, etwas darauf zu erwidern; er fühlte, daß er geschlagen war, und daß es allein galt, ein möglichst gutes Gesicht zu der verdrießlichen Thatsache zu machen.

»Ich wünsche, daß Sie den Handel nicht zu bereuen haben, und die Aufgabe der Kabinette von St. James und der Tuilerien wird es sein, dafür zu sorgen, daß Rußland nicht etwa eine militärische Flottenstation aus dieser Erwerbung macht. Werde ich von Ihnen Nachricht erhalten, lieber Graf, über den Ausgang Ihrer Verhandlungen mit dem Kaiser Louis Napoleon?«

»Gewiß, Mylord, die drei Mächte müssen dabei ja, Hand in Hand gehen.«

»Nur nicht, wie bei Villafranca; der Name ist etwas odiös. Ich sehe Sie also noch vor Ihrer Abreise?«

»Wenn es möglich ist, ja. Andernfalls erhalten Sie auf dem bisherigen Wege unserer Kommunikation sofort Nachricht. Und nun, Mylord, habe ich nur die Bitte, dafür zu sorgen, daß Marquis d'Azeglio bei seinen Unterhandlungen mit dem Bankiers der City und den Waffenfabrikanten in Birmingham von Ihrer Regierung unterstützt wird. Leben Sie wohl, Mylord, und nehmen Sie meinen Dank für die rasche Vermittlung der geheimen Audienz.«

Die beiden Diplomaten hatten sich erhoben.

»Die Bestätigung des Urteils ist also erfolgt?« fragte der Piemontese noch an der Thür.

»Vor zwei Stunden, wie ich Ihnen bereits sagte.«

»Und die Hinrichtung?«

»Das werden Sie in den Tuilerien erfahren! Ich weiß es nicht. Man pflegt diese gewöhnlich 14 Tage aufzuschieben!«

Die beiden Diplomaten drückten einander die Hände und schieden. Master Blackburn geleitete den in seinen Mantel gehüllten Premier des Königreichs Italien über dieselbe Stiege hinab, auf die er kurz vorher den ersten Verschwörer der appenninischen Halbinsel expediert hatte.


Es war kurz vor neun Uhr, als Doktor Achmet in Begleitung einer tief verschleierten Dame das Hotel du Louvre verließ und nach dem nahen Portal der Tuilerien ging, das zum Carousselplatz führt.

Die Dame drängte sich scheu und dicht an ihren Begleiter, der ihr Mut einsprach.

An dem Ausgang des Hotels hatte sie ein Herr erwartet; er sprach einige Worte mit dem Arzt und ging dann voran. Als sie in den großen Hof der Tuilerien traten, sahen sie einen Mann im Mantel an dem Gitter, das den inneren Hof von dem Platze trennt, auf- und niedergehen.

Als die drei näher kamen, trat er auf den Führer zu.

»Signor Hume?«

»Zu dienen. Haben Sie die Güte, sich uns anzuschließen, aber ich bitte im voraus um Entschuldigung, wenn ich Sie einige Zeit im Vorzimmer warten lassen sollte.«

»Es kommt mir nur darauf an, unerkannt in die Appartements zu kommen.«

»Schön, Herr Graf, dann haben Sie die Güte, uns zu folgen.«

Die Schildwache am Eingang des Triumphbogens, welcher in den inneren Hof führt, rief sie an.

» Halte-là, Messieurs! On ne passe pas ici!«

»Doch mein Braver, hier ist die Karte!«

Der Geisterbanner zeigte die Erlaubniskarte zum Eintritt nach Schluß der äußeren Zugänge.

» Passez!«

Der Garde-Zuave trat zur Seite.

Master Hume mit seiner Gesellschaft wandte sich sofort links nach dem Pavillon de Flore, in dem sich die Gemächer des Kaisers befinden.

Sie traten in die Seitenthür. Am Fuße der Treppe wartete ein Lakai auf sie, der sie hinaus geleitete; oben, am Eingang der Vorzimmer, trat ihnen Thélin, der erste Kammerdiener des Kaisers, entgegen.

»Guten Abend, Monsieur Hume. Seine Majestät lassen Sie bitten, einstweilen in den blauen Salon einzutreten und alle Vorbereitungen zu treffen. Der Kaiser ist in diesem Augenblick noch dringend beschäftigt.«

Er öffnete die Thüren des nächsten Zimmers.

»Dieser Herr, Monsieur Thélin,« sagte der Amerikaner, »ist mein Begleiter, ich habe ihn nötig heute bei dem Experimentieren. Sie werden erlauben, daß er in dem Zimmer neben dem Salon zur Hand ist.«

»Sie haben zu befehlen, Monsieur. Will Madame nicht ablegen?«

Die junge Deutsche, die nur in ein großes Shawltuch gehüllt war, machte eine abwehrende Bewegung.

»Treten Sie ein!« – – – – – – – – – – –


Der Kaiser saß an seinem Schreibtisch in seinem kleineren Arbeitszimmer – vor ihm lagen geöffnete Briefe und mehrere Aktenstücke.

Er hatte das Kinn in die Hand gestützt; das verschlossene Gesicht war noch finsterer als gewöhnlich. Dem Manne gegenüber, der allein mit ihm im Zimmer war, brauchte er nicht die eherne Maske, die sonst vor den spähenden Blicken so schroff seine Gedanken und Empfindungen verbarg.

Louis Napoleon hatte sich seit den Scenen, die seine Vermählung einleiteten, körperlich bedeutend verändert. Die Gestalt hatte ein unvorteilhaftes Embonpoint angenommen, die Gesichtsfarbe war noch matter und ungesunder als früher. Nur selten fiel der Glanz eines freundlichen Gefühls über dies strenge, eherne Gesicht, das seit dem Attentat noch finsterer geworden war.

Ihm gegenüber stand die ziemlich elegante, feste Gestalt seines Halbbruders Morny, mit der einen Hand auf den Tisch gestützt, in der andern eine Feder, die er dem Kaiser reichte.

Die Söhne der schönen und galanten Exkönigin von Holland schienen in dieser Stunde die Rollen getauscht zu haben. Der Präsident des Corps législativ war sicher, entschlossen, kühn, der Kaiser finster und mißtrauisch, wie immer, aber zugleich schwankend und unentschlossen, wie er nur selten war.

»Höre mich an, Louis,« sagte der Graf energisch. »Du weißt, daß mein Schicksal an das Deine geknüpft ist, daß ich mit Dir fallen würde. Man wird mir niemals den 2. Dezember vergeben. Saint Arnaud ist tot, ich habe jene Tage jetzt allein zu vertreten, und ich will nicht die Verantwortung für die Ströme von Blut auf mich genommen haben, um jetzt unser Werk an einer thörichten Schwäche untergehen zu sehen. Wenn Du Orsini und seine Helfershelfer begnadigst, so sanktionierst Du damit die Revolution!«

»Ich bin ihr Sohn, Jules, vergiß das nicht!«

»Bah, die Phrase ist gut für ein Wahlmanifest, wenn man Präsident oder Kaiser werden will. Ist man das geworden, dann muß der Sohn der Herr seiner Mutter werden und zwar ein strenger Herr, oder die anderen Kinder wachsen ihm über den Kopf. Die Meinung des Ministerrats war einstimmig, sie verlangen die Hinrichtung der Verbrecher. Meinetwegen begnadige Rudio und schicke ihn nach Cayenne. Er ist der ungefährlichste und von der Mazzinistischen Bande so lange als Verräter verfemt und verfolgt worden, bis er sich zu dem Beitritt zu der schändlichen That entschlossen hat.«

»Aber die Kaiserin besteht auf Begnadigung. Die wiederholten Drohbriefe, die sie empfangen hat, haben sie in Angst und Schrecken um das Leben ihres Sohnes gesetzt.«

»Madame Eugenie fürchtet bloß die Zukunft, sie hat höchstens den Schreck zu rächen, es befinden sich aber in Paris über zweihundert Personen, die ihr Blut gerächt sehen wollen.«

Der Kaiser warf dem strengen Forderer einen raschen Blick zu. »Höre, Jules,« sagte er, »ich glaube, Cayenne ist gerade nicht ein besseres Schicksal, als die Guillotine!«

»In Cayenne lebt man, aus Cayenne entkommt man, und eine blutige That fordert blutige Sühnung. Darf ich Espinasse den Befehl zur Hinrichtung schicken?«

»Ich weiß nicht, warum Du so eilst. La Roquette ist ein ganz sicherer Aufenthalt!«

»Sire,« sagte der Graf, plötzlich den Ton ändernd, »ich müßte Sie nicht kennen, oder Sie haben einen Hintergedanken dabei. La Roquette ist sicher, aber auch die Bastille hat man gebrochen. Erinnern Sie sich, daß, wenn nicht die strengsten Präventivmaßregeln ergriffen worden wären, wir am 24. Februar eine blutige Revolte der Roten gehabt hätten, und daß wir in der Nacht zum 5ten noch die Versuche dazu gesehen haben.«

»Es wäre besser gewesen, wir hätten sie zum Ausbruch kommen lassen. Wir wären dann mit einemmal damit fertig geworden!«

»Sire,« sagte der Graf sehr ernst, »man kann innerhalb zehn Jahren nicht mehr als einmal einen zweiten Dezember machen!«

Der Kaiser schwieg einige Augenblicke. »Du hast recht! Aber Du kennst jenen Brief Der berüchtigte Brief Orsini's an den Kaiser aus dem Gefängnis, den Jules Favre, der Verteidiger Orsini's bei der Verhandlung ganz unerwartet vorlas, und der einen Fingerzeig für die folgenden Ereignisse giebt, lautete:
An Napoleon III., Kaiser der Franzosen.
Die Aussagen, welche ich gegen mich selbst in diesem bei Gelegenheit des Attentats vom 14. Januar anhängig gewordenen Prozesse gemacht habe, sind hinreichend, um mich in den Tod zu schicken, und ich werde denselben erdulden, ohne um Gnade nachzusuchen, sowohl deshalb, weil ich mich nicht vor Dem demüthigen will, der die Freiheit meines unglücklichen Vaterlandes im Entstehen gemordet hat, als auch, weil in der Lage, in der ich mich befinde, der Tod für mich eine Wohlthat ist. Am Ziele meiner Laufbahn will ich dessen ungeachtet den letzten Versuch wagen, um Italien zu Hilfe zu kommen, für dessen Unabhängigkeit ich bis auf diesen Tag allen Gefahren getrotzt und zu allen Opfern bereitwillig die Hand geboten habe. Dieselbe bildet das unablässige meiner heißesten Wünsche, und dieser letzte Gedanke ist es denn auch, den ich in den Worten, die ich an Ew. Majestät richte, niederlegen will. Um das jetzige Gleichgewicht in Europa aufrecht zu erhalten, muß Italien unabhängig gemacht, oder es müssen die Ketten, unter denen Oesterreich es in Sklaverei hält, fester geschmiedet werden. Fordere ich für Italiens Befreiung, daß das Blut der Franzosen für die Italiener vergossen werden solle? Nein, so weit gehe ich nicht! Italien verlangt, daß Frankreich Deutschland nicht gestatte, Oesterreich in den Kämpfen, die alsbald erfolgen werden, zu unterstützen. Und dieses eben ist es, was Ew. Majestät thun können, wenn Sie wollen. Von diesem Willen hängen das Wohlergehen oder der Tod einer Nation ab, der Europa zum großen Theil seine Civilisation verdankt. – Dieses ist die Bitte, die ich aus meinem Kerker an Ew. Majestät richte, indem ich nicht ganz daran verzweifle, daß meine schwache Stimme Gehör finden werde. Ich beschwöre Ew. Majestät, dem Vaterlande die Unabhängigkeit wiederzugeben, die dessen Kinder im Jahre 1849, durch den Fehler der Franzosen selbst, verloren haben. Mögen Ew. Majestät sich erinnern, daß die Italiener, unter denen auch mein Vater war, mit Freuden ihr Blut für Napoleon den Großen überall, wohin er sie zu führen beliebte, vergossen haben; mögen Sie dessen eingedenk sein, daß sie ihm treu blieben bis zu seinem Sturze; mögen Sie nicht vergessen, daß solange Italien nicht unabhängig ist, die Ruhe Europa's, so wie die Ihrige nur eine Chimäre ist! Mögen Ew. Majestät den letzten Zurufen eines Patrioten auf den Stufen des Schaffots nicht das Ohr verschließen! Mögen Sie mein Vaterland befreien und die Segenswünsche von Millionen Bürgern werden Ihnen in die Nachwelt folgen!
Aus dem Gefängnisse Mazes, 11. Februar 1858.
Felix Orsini.
– er hat nicht so Unrecht! Die Italiener sind eigentlich etwas schlecht behandelt worden.«

»Nicht mehr, als sie verdienen. Die Italiener sind wie die Polen, unruhige Kinder, die das Geschenk der Freiheit nicht vertragen. Überdies, Sire, steht es ja in Ihrer Hand, die Sache wieder gut zu machen. Man wartet in Turin ja nur auf Ihren Beistand!«

»Meinst Du?«

»Eure Majestät wissen das besser als ich. Überdies, Sire, haben Sie die Erbschaft Ihres Onkels erst zum Teil erfüllt!«

»Du meinst Rußland!«

»Ja, Sire, der Fleck von 1812 ist glänzend ausgelöscht. Außerdem ist England dabei gedemütigt worden, und wenn Sie jetzt Sardinien unterstützen und die Österreicher aus Oberitalien werfen, so ist diese Demütigung vollständig, und der englische Einfluß an den Küsten des mittelländischen Meeres gebrochen. Sie haben dann mit zwei weiteren Faktoren von 1813 und 1815 die Abrechnung gehalten!«

»Meinst Du? Du vergißt, Jules, daß dies eine alte Schuld ist, und daß die Neuzeit manchen neuen Posten in das Konto eingetragen hat. Man kokettiert in England mit mir nur, weil man mich fürchtet. Der brutale Hochmut der Nation zeigt ihre wahre Stimmung. Wie hat man sich gegenüber dem Attentat benommen? Der Prozeß Bernard wird offenbar mit der Freisprechung oder einer ganz geringen Strafe des Halunken endigen; die Revolutionsbill Die in Folge des Attentats von Lord Palmerston eingebrachte Bill gegen Verschwörung der Flüchtlinge, die in England Asyl gefunden. wird nicht durchgehen; alle Welt, vom Lord bis zum Kesselflicker agitiert dagegen und die Pyatsche Felix Pyat war der Präsident des französischen Klubs in London. Broschüre sagt ganz offenkundig, wie man denkt!«

»Nun gut! was hindert Dich, mit England noch besondere Abrechnung zu halten? Die Zeit wird kommen, denn offenbar ist die englische Macht im Sinken, und Amerika ist früher oder später der Dorn in seinem Fleisch. Aber vor allem darf Frankreich Italien nicht aus den Augen verlieren, denn dort ist der Boden, wo seine politischen und blutigen Schlachten ausgefochten werden. Man besiegt den Germanismus nicht am Rhein oder an der Spree, sondern am Mincio und an der Tiber!«

Der Kaiser war aufgestanden und einige Male in dem Zimmer auf- und niedergegangen; dann blieb er vor einer Karte Italiens stehen, die an der Wand hing. »Italien grenzt sehr nahe an Frankreich!« sagte er.

Der Graf lachte. »Gewiß, Sire. Deswegen waren wir auch stets so rasch dort!«

»Bedenke, Jules, unsere Position in Rom beherrscht ganz Italien!«

»Und außerdem den heiligen Vater, das Schoßkind Deiner Frau. Aber wer, zum Henker, rät Dir denn, Rom aufzugeben!«

»O dieses Haus Savoyen ist sehr ehrgeizig. Man müßte doch wenigstens wissen, für was?«

In diesem Augenblick ließ sich ein zweimaliges Kratzen an der Thür hören.

»Ah, Thélin! Herein mit Dir!«

Der alte Kammerdiener trat ein.

»Ist er da?«

»Ja, Sire, im blauen Salon, wie Sie befohlen haben!«

»Und hat er sie mitgebracht?«

»Wen, Sire?«

»Parbleu – die Dame, das Frauenzimmer!«

»Ja, Sire! Es ist eine Dame dabei, die tief verschleiert ist. Aber sie ist nicht das gewöhnliche – Medium, wie Herr Hume es nennt!«

»Es ist gut, Thélin! Sage Monsieur Hume, daß ich sogleich bei ihm sein werde! Jules, Du begleitest mich!«

»Wohin?«

»Nun, zu nichts weiter, als zu einer Sitzung mit Monsieur Hume. Er hat mich wissen lassen, daß er ein vortreffliches neues Medium entdeckt hat.«

»Sire, ich bitte Sie im Namen Frankreichs, zuvor diese Ordonnanz zu unterzeichnen!«

Er schob ihm das Papier zu und reichte ihm zum drittenmal die Feder.

Der Kaiser nahm sie, er tauchte sie ein und hob die Hand.

Sie wurde ihm festgehalten.

Eine zarte aristokratische Hand, die Hand seiner Gemahlin, hatte sich auf die seine gelegt.

»Sie werden nicht unterzeichnen, Sire!«

»Wie, Eugenie, Du bist es?«

»Ja, Louis, ich bin Dein guter Engel! Begnadige sie! vergieb ihnen, wie ich es thue. Um unseres Kindes willen!«

»Ihre Majestät wollen mir die Bemerkung erlauben,« sagte Morny schroff, »daß dies Staatsangelegenheiten sind.«

»O, reden Sie nicht! Ich weiß, daß Sie kein Gefühl haben außer für Blut und Gold!« rief die Spanierin heftig. »Was kümmert es Sie, Sie wissen es nicht, was es heißt, ein Kind zu haben auf diesem blutumströmten, selbst von der Kirche verfluchten Thron! Wäre ich ruhig in meinem Privatleben geblieben, ich wäre hundertmal glücklicher, als mit diesem Mann, der weder Frau noch Kind liebt!«

Der Kaiser sah einen jener leidenschaftlichen Stürme kommen, die nach der unglücklichen Überraschung des 14. Januar sich bereits mehrfach wiederholt hatten, und eilte, sie ihm zu entziehen.

»Du sollst uns begleiten, meine Liebe! Du weißt, daß ich ein wenig abergläubisch bin, ich will die möglichste Rücksicht nehmen auf Deine Wünsche, aber ich verlange, daß Du ruhig bist!«

»Du rettest das Leben Deines Kindes, wenn Du Gnade walten läßt! Hörst Du, ich will es! Du bist mir Genugtuung schuldig für jene schändliche Scene, als ich Dich …«

Der Kaiser hatte Thélin einen befehlenden Wink gegeben. Der finstere Zug zwischen seinen Brauen war plötzlich so schroff und tief geworden, daß selbst die leidenschaftliche Spanierin schwieg.

Er bot, ohne weiter ein Wort zu sagen, der Kaiserin den Arm und führte sie durch die Flügelthür, die Thélin geöffnet hatte.

Der Präsident des gesetzgebenden Körpers folgte mit einem leichten Achselzucken. – – – – – – – – –


Wir haben bereits erwähnt, daß der maurische Arzt und seine Begleiterin in den sogenannten blauen Salon, der nur durch ein kleines Zwischenzimmer von dem Arbeitskabinett des Kaisers geschieden war, eingeführt worden war.

Der Piemontese war in einem der anstoßenden Zimmer geblieben, nachdem er Master Hume seine Karte eingehändigt hatte.

Der Geisterbanner bewies, daß er in diesen Appartements eine sehr bekannte Person war. Er führte das Edelfräulein zu einem Sessel in der Nähe des Kamins und bat sie, hier Platz zu nehmen und sich durch nichts stören zu lassen.

Dann unterredete er sich mit dem Arzt und dem bereits anwesenden Herzog von Hamilton. Sie hatten etwa zehn Minuten gewartet, als die Thür des Salons hastig geöffnet wurde, und der Kaiser mit der Kaiserin eintrat. Hinter ihnen mit einer aus Spott und Mißvergnügen ziemlich deutlich zusammengesetzten Miene kam Graf Morny.

Louis Napoleon ließ, sobald er eingetreten war, den Arm der Kaiserin los und ging auf Hume zu.

»Da sind Sie ja, Monsieur Hume! Und gerade zur rechten Zeit. Haben Sie das Medium mitgebracht?«

»Erlauben Euer Majestät mir. Ihnen die Dame zu präsentieren.«

Die Dame verbeugte sich, man konnte trotz des Hutes und Schleiers bemerken, in welcher Aufregung sie sich befand.

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Madame,« sagte der Kaiser, »daß Sie sich bereit gezeigt haben, meinen Wunsch zu erfüllen, und mich die seltene Naturkraft, die sich bei Ihnen in so ausgezeichnetem Maße findet, selbst beobachten zu lassen. Wollen Sie nicht Hut und Schleier ablegen? seien Sie ganz ohne Sorgen, ich versichere Sie meines ganz besonderen Schutzes.«

»Sire,« fiel hier der Geisterbanner ein, »es ist eine der Bedingungen, unter denen sich die Dame zu der Sitzung verstanden hat.«

»Also ein Teil des Programms! Nun gut, ich füge mich. Und dieser Herr?«

»Der Begleiter der Dame, Doktor Achmed, früher Arzt bei den Garde-Zuaven Ihrer Majestät?«

»Der Mohrendoktor, Parbleu! Ich erinnere mich und warum sind Sie aus dem Dienst getreten?«

»Sire, ich wurde vor Sebastopol gefangen genommen und kehrte erst nach längerer Zeit als Begleiter einer Dame zurück, die sich in Rußland unter meinen Schutz gestellt hatte.«

»Dieser hier?«

»Nein, Sire, einer Landsmännin Ihrer Majestät, der Primadonna des Cirque, Sennora Rositta!«

Er hatte die Worte absichtlich laut gesagt, damit die Kaiserin sie hören sollte.

Seine Berechnung hatte ihn nicht getäuscht. Die Kaiserin kam, als sie den Namen hörte, sofort näher. Aber die Ungeduld des Kaisers schnitt jede weitere Erörterung ab.

»Wenn ich nicht irre, so haben Sie die Bedingung gestellt, den somnambulen Schlaf dieser Dame zugleich benutzen zu dürfen, um einige Fragen an sie zu richten?«

»Ja, Sire, unter dieser Bedingung, die dazu dienen soll, über das Schicksal einer uns teuren, in rätselhafter Weise verschwundenen Person Aufschluß zu erhalten, hat Fräulein de Reuble sich dazu verstanden, sich in magnetischen Schlaf bringen zu lassen.«

»Nun gut! das ist die beste Gelegenheit, sich von der Extase der Dame zu überzeugen. Sie werden demnach die Fragen beginnen. Wenn Sie mit Ihren Vorbereitungen fertig sind, Monsieur Hume, können wir anfangen. Setzen wir uns!«

Der Kaiser nahm die Hand seiner Gemahlin und führte sie zu einem Lehnsessel. Sein Wink befahl den anderen Anwesenden, sich geeignete Plätze zu suchen.

Nur Hume selbst blieb stehen. Er befand sich dem preußischen Edelfräulein gegenüber, die, von den seltsamen Verhältnissen aufgeregt, sichtlich unter Hut und Schleier zitterte.

Der Magnetiseur ging nach einer der Fensternischen und holte dort einen kleinen Tisch, den er vor das Mädchen stellte.

»Bitte Madame, legen Sie Ihre linke Hand auf den Tisch.«

Das Edelfräulein that es.

»Nun sehen Sie mich an!«

Er begann vor ihr stehend die Manipulationen.

Nach zwei oder drei Minuten sah man das Mädchen rückwärts sinken mit dem Kopf an die Lehne des Sessels, ihre Hand blieb auf dem Tisch liegen, eine gewisse Starrheit verbreitete sich über alle Glieder.

Der Geisterbanner that noch einige Striche, dann hielt er inne.

Es war eine große Stille im Zimmer, alle, selbst der ungläubige Spötter Morny, beobachteten den Vorgang mit Interesse.

»Sie schlafen, Madame?«

»Ja, mein Herr!«

Die Stimme der Somnambula war schwach, aber deutlich verständlich.

»Sind sie hellsehend?«

»Ich weiß es nicht!«

»Ich frage, ob Sie alle Dinge und Personen, körperliche oder unkörperliche, mit denen ich Sie in Verbindung setze, sehen?«

»Ich glaube es. Es ist mir, als wäre mein Geist sehr frei. Fragen Sie?«

Der Geisterbanner wandte sich an den Arzt.

»Haben Sie einen Gegenstand bei sich, welcher der Person gehörte, über welche Sie das Mädchen befragen wollen?«

»Hier ist ein Handschuh, den sie am Abend vorher, ehe sie in so unerklärlicher Weise verschwunden ist, getragen hat!«

»Geben Sie her!«

Er schob den Handschuh unter die linke Hand des zurückgelehnt schlummernden Mädchens auf die Tischplatte.

»Was wollen Sie wissen?«

»Zunächst, ob sie lebt, oder ob ihr ein Unglück widerfahren ist!«

»Madame, suchen Sie die Person, deren Handschuh Sie in Ihrer Hand haben. Lassen Sie den Tisch für Sie antworten, wo es geht, um sich nicht zu ermüden. Haben Sie die Person?«

Obschon die Hand des Mädchens nur steif und unbeweglich auf dem kleinen, mit runder Bouleplatte und vergoldeten Füßen versehenen Tisch ruhte, zeigte sich doch nach einigen Augenblicken ein seltsames Phänomen.

Der Tisch geriet in ein sichtbares Schwanken und gleich darauf klopfte der Fuß dreimal deutlich auf das Parkett.

Der Kaiser warf seinem Bruder einen bedeutsamen Blick zu.

»Befindet sich die Person in diesem Augenblick noch unter den Lebenden?«

Der Tisch wiederholte das Klopfen. Der maurische Arzt legte nach morgenländischer Sitte unwillkürlich die Hand aufs Herz.

»Sehen Sie die Person genau an. Können Sie sie uns beschreiben?«

Die Somnambula machte eine leichte Bewegung. »Ah – ich kenne sie! – es ist die Dame, die uns besuchte – die Sennora –«

»Welche Sennora?«

»Ich kann den Namen nicht finden, nein, aber ich sehe sie deutlich! Sie ist sehr blaß und hager, sie weint!«

»Um Himmelswillen, wo? wo ist sie?«

»Können Sie sagen, wo die Person sich befindet?«

»Sie martern mich, ich weiß keine Namen – ich kann Ihnen nur beschreiben.«

»Also – was sehen Sie?«-

Die Antwort kam in Absätzen, aber die Worte waren deutlich.

»Eine enge Zelle, sehr häßlich, es sieht aus wie ein Kerker, das Fenster oben ist vergittert, sie trägt ein Kleid von grober Leinwand, ihr schönes Haar ist abgeschnitten. Sie sitzt auf dem Holzbett, bloß ein Strohsack darauf – auf dem Tisch ein Krug mit Wasser und Brot – ein Kruzifix – das ist alles!«

»Was thut die Person?«

»Sie hat die Hände gefaltet, ihre Augen sind gerötet – o, wie sie hager und bleich ist. – Jetzt …«

»Nun, geben Sie sich Mühe, genau zu sehen!«

»Ja, ja, jetzt steht sie auf, sie sucht einen Gegenstand im Stroh des Bettes, sie hat ihn. Er ist sehr schön!«

»Was ist es? können Sie die Sache nicht erkennen?«

»Es ist ein Ring, ein Ring mit einem großen Diamanten – ein schwarzer Diamant – wie er funkelt im Schein der Lampe!«

Die Kaiserin hatte sich halb von ihrem Sitz erhoben bei den Worten, ihre Miene drückte die größte Teilnahme aus.

Der Kaiser warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Ein schwarzer Diamant? Vielleicht der Ihre, Madame, den Sie am Abend des Attentats verloren?«

»Verzeihung, Sire! Sie stören die Einwirkung!«

Der Kaiser lehnte sich zurück, aber der Arzt hatte sich fast ungestüm erhoben und den Arm des Magnetiseurs gefaßt. »Bei allem, was Ihnen teuer ist, beschwöre ich Sie, fragen Sie sie, wo das Gefängnis ist, in dem die Schändlichen Carmen eingeschlossen haben. Den Ort, bitte ich Sie, den Ort!«

Der Amerikaner zuckte die Achseln. »Sie haben es bereits gehört, Mademoiselle kann nur Andeutungen geben, nicht Namen. Ich will versuchen, was zu erfahren ist. Was thut die Person jetzt, Madame?«

»Ich sehe deutlich, sie küßt den Ring! Ihre Augen leuchten, es muß das einzige sein, was man ihr gelassen, oder was sie verbergen konnte. Jetzt – sie lauscht – sie versteckt den Ring in ihrem Busen – die Thür geht auf – ah!«

»Was ist Ihnen?«

»Es ist ein fremdes Weib, sie sieht fast aus wie eine Nonne, sie bringt Wasser – sie spricht mit ihr –«

»Was? Was sagt Sie?« fragte der Doktor, indem er die Hand der Somnambula faßte. »Reden Sie, ich beschwöre Sie im Namen Ihres Bruders Otto!«

Ein Zucken lief über die Glieder des Mädchen, als litte sie einen plötzlichen körperlichen Schmerz. »Ich verstehe nicht Italienisch! Es ist alles dunkel, ich sehe nichts mehr!« sagte sie verdrießlich.

Sie verstummte und schien in tiefem Schlaf befangen.

Der Geisterbanner zog den Handschuh unter ihrer Hand fort. »Sie sind selbst schuld, wenn Sie nicht mehr erfahren haben,« sagte er zu dem Arzt. »Sie haben die Kette unterbrochen, und wir müssen die Zeit benutzen, wo die Extase noch fortdauert, um zu Wichtigerem überzugehen.

»Ich danke Ihnen, Herr,« erwiderte der Doktor halblaut. »Zum Glück habe ich jetzt wenigstens eine Spur, wo wir Carmen von Massaignac suchen sollen!«

So leise er gesprochen, so hatte das Ohr der Kaiserin doch den Namen gehört.

Sie wandte sich rasch nach dem Arzt.

»Sie sprechen von der Marquise Carmen von Massaignac?« sagte sie. »In welcher Verbindung steht das, was wir eben von der Somnambule gehört haben, mit diesem Namen? ich wünsche es eines Umstandes wegen zu wissen!«

»Ihro Majestät haben zu befehlen. Die Person, von welcher die Somnambule soeben gesprochen hat, ist die junge Marquise von Massaignac, dieselbe, welche unter dem Namen der Kunstreiterin Rositta sich Ihrer Majestät Wohlwollens zu erfreuen hatte. Daraus gestützt, bitte ich Ihro Majestät um Schutz für eine Unglückliche, die wahrscheinlich ein Opfer der Habsucht und Tyrannei unwürdiger Verwandter geworden ist!«

»Ich habe gehört, daß die Kunstreiterin Rositta verschwunden war, aber ich glaubte nicht …«

»Ihro Majestät schwöre ich, daß Rositta die Marquise von Massaignac ist, die durch verschiedene Umstände zu der Annahme dieser Rolle bewogen wurde. Seit dem Abend des nichtswürdigen Attentats ist sie auf geheimnisvolle Weise aus dem Opernhaus verschwunden.«

»Sire,« wandte sich die Kaiserin zu ihrem Gemahl, »Sie haben gehört, was dieser Herr erzählt. Ich bitte um Ihren Schutz für das verunglückte Mädchen. Den meinen hatte ich ihr bereits zugesichert und als Unterpfand ihr, wie ich jetzt zu meinem Bedauern gestehen muß, den Ring mit dem schwarzen Diamanten anvertraut!«

Der Kaiser zog bei der letzten Mitteilung die Stirn in Falten, sie berührte ihn offenbar unangenehm.

»Es thut mir leid, Madame,« sagte er, »daß Sie mein Geschenk nicht besser zu bewahren wußten!«

Aber er hätte offenbar klüger gethan, die Sache nicht zu erwähnen; denn wie immer fand er an der schönen Spanierin einen schlagfertigen Gegner.

Eine leichte Röte überflog das Gesicht der hohen Dame, die sie unter dem Fächer barg. Dann neigte sie sich zu ihrem Gemahl hinüber.

»Sire, Sie belieben zu vergessen, daß ich den Ring an dem Tage fortgab, an dem ich die Ehre hatte, einige Briefe der Mademoiselle Pierrefond Ihnen dafür wiederzugeben! ich bitte nochmals um Schutz für meine junge Freundin!«

Der Kaiser drehte ziemlich verlegen seinen Schnurrbart. »Die Sache soll untersucht werden, verlassen Sie sich darauf. Morny, erinnern Sie mich daran. Können wir zu den Gegenständen übergehen, Monsieur Hume, wegen deren ich Ihre Somnambule befragen will?«

»Sire, die Extase ist wieder vollständig!«

Der Geisterbanner warf dem Arzt einen verständigenden Blick zu. Doktor Achmet trat in eine entfernte Fensternische.

»Ändern Sie das Experiment, Monsieur Hume,« sagte der Kaiser. »Wir wollen in unserer früheren Weise verfahren. Nehmen sie den Psychographen.«

Der Amerikaner holte eine kleine runde Scheibe herbei, in deren Mitte sich eine bewegliche Nadel, fast wie eine Magnetnadel befand. Rings um die Scheibe liefen die Buchstaben des Alphabets.

»Wen rufen wir?«

»Euer Majestät mögen bestimmen. Sie wissen, daß die Citierung am leichtesten bewirkt wird, wenn wir einen Gegenstand zur Hand haben, der dem Verstorbenen im Leben gehört hat.«

»Ich habe daran gedacht. Legen Sie diese Waffe in die Hand der Somnambule. Sie gehörte der Person, die ich meine.«

Er nahm aus der Tasche des Rockes einen kleinen Dolch von ausgezeichneter florentinischer Arbeit, offenbar eine Waffe aus dem fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhundert.

Hume nahm dieselbe und betrachtete einen Augenblick das Monogramm auf dem Griff.

Darauf neigte er sich zu dem Kaiser und sagte flüsternd:

»C. B., Sire?«

Der Kaiser nickte.

»Euer Majestät wissen, ich muß den Namen kennen!«

»Cäsar Borgia!«

Die zwei Worte waren so leise gesprochen, daß nur Hume selbst sie zu hören vermocht hatte.

»Wollen Euer Majestät die Fragen mündlich stellen oder niederschreiben?«

»Wir wollen sehen. Setzen Sie sich nur in Rapport!«

Der Magnetiseur hatte die kleine Waffe, wie vorhin den Handschuh, unter die linke Hand der jungen Dame gelegt.

Bei der ersten Berührung schauderte sie sichtbar zusammen.

Der Geisterbanner fixierte das Mädchen jetzt scharf mit seinen Blicken. Die Somnambule machte mehrere unruhige Bewegungen, ohne die Finger von der Waffe zu nehmen, ihr Atem wurde schwer, fast stöhnend – selbst auf der kleinen zarten Hand zeigten sich große Schweißtropfen.

Plötzlich begann der Tisch wie früher zu schwanken.

Es war eine eigentümliche Stille in dem Salon eingetreten, selbst der Fächer der Kaiserin rauschte nicht mehr.

»Sire,« sagte der Magnetiseur mit tiefer, leiser Stimme, »er ist da. Sie können fragen!«

»Fragen Sie, ob er uns antworten will!«

»Madame, Sie haben die Frage gehört!«

Der Tisch, der bisher die zitternden Schwingungen fortgesetzt, blieb plötzlich ruhig und unbeweglich.

»Sie sehen selbst, Sire, er weigert sich!«

»Er soll antworten. Lassen Sie das Fluidum stärker wirken, und wenden Sie den Psychographen an!«

Der Amerikaner nahm die rechte Hand der Somnambule und stellte die Spitze des Mittelfingers auf den Knopf der Nadel. In dieser unbequemen Stellung blieb die Hand, ohne sich zu rühren, als sei sie aus Marmor gehauen.

Plötzlich fing die Nadel an zu zittern und flog dann nach verschiedenen Richtungen in der Runde, indem sie an einzelnen Punkten mit der Spitze einen Moment verweilte, etwa wie die Zeiger der früher gebräuchlichen Telegraphenapparate.

Der Magnetiseur verfolgte aufmerksam mit seinen Augen die Bewegungen. Er hatte eine kleine Schiefertafel genommen, auf die er mit besonderer Geschicklichkeit die Buchstaben unter einander schrieb, bei denen die Nadel verweilte.

Im Augenblick, wo sie aufhörte, sich zu bewegen und er den letzten Buchstaben geschrieben hatte, überreichte er auch die Tafel dem Kaiser.

Dieser nahm sie und warf einen Blick darauf. Es waren sechs Buchstaben unter einander geschrieben. Die graue krankhafte Gesichtsfarbe des Kaisers verwandelte sich zu einer fahlen Blässe, die im nächsten Moment einer unheimlichen Röte Platz machte.

Gleich darauf warf er einen forschenden Blick umher, als wolle er sich vergewissern, ob auch niemand die Wirkung beobachtet habe, die jene sechs Buchstaben so plötzlich auf ihn gemacht hatten.

Die einzige Person, die außer dem Magnetiseur bei dem Platz des Kaisers den Ausdruck seiner Mienen hatte beobachten können und auch wirklich beobachtet hatte, war der Arzt gewesen. Aber er wurde von dem Vorhang des Fensters ganz bedeckt.

Im nächsten Moment war die Aufregung des Kaisers bereits vollständig überwältigt, nur die tiefere Falte zwischen den Brauen bekundete noch den Eindruck, den die sechs Buchstaben auf ihn gemacht, und mit einem raschen Strich hatte er sie von der Tafel gelöscht.

Diese sechs Buchstaben hatten gelautet:

R
I
M
I
N
I

Am 25. März 1831, also siebenundzwanzig Jahre früher, fiel der ältere Bruder des Kaisers an dem Thor von Rimini bei einem der zahlreichen Aufstände der italienischen Nationalpartei unter dem Säbel des ungarischen Husaren Andreas Palazsdi! Vgl. Villafranca. I. Teil, S. 149. »Der Gefangene von Ham.«

Die furchtbare Mahnung aus einer andern Welt, von jenem Schatten, dessen blutiger Name mit dem Tode des Herzogs von Gandia Der ältere Sohn Papst Alexanders VI. in der Geschichte befleckt ist, mußte auch auf einen ehernen Geist ihre Wirkung üben!

Dennoch bestand diese nur darin, daß der Kaiser sich erhob und an den Tisch trat.

»Fahren Sie fort, Herr Hume,« sagte er ruhig. »Geben Sie mir die Tafel!«

Der Magnetiseur überreichte ihm die Tafel und den Stift, der Kaiser schrieb drei Zeilen und reichte sie dem Amerikaner, der sie las und dann sogleich die Schrift auswischte.

»Wollen Eure Majestät die Antwort selbst entgegen nehmen?«

Der Kaiser nickte.

Der Beschwörer legte nach diesem Zeichen den Mittelfinger seiner linken Hand auf die Somnambüle, sie zugleich scharf mit seinem Blick fixierend.

Der Körper des Mädchens erbebte unter neuen Konvulsionen, zugleich fing die Nadel des Psychographen an, sich mit großer Geschwindigkeit zu drehen.

Der Kaiser folgte ihr hastig mit dem Auge, während er zugleich so schnell wie möglich einzelne Buchstaben auf die Tafel schrieb.

Die Bewegung der Nadel dauerte etwa eine Minute, dann stand sie still. Der Kaiser hob die Tafel näher zum Auge und bemühte sich, die flüchtig geschriebenen Zeichen zu entziffern. Ein triumphierendes Lächeln zeigte sich einen Augenblick um den sonst so verschlossenen Mund.

»Fragen Sie den Herzog von Valentinois Cäsar Borgia wurde von Ludwig XII. von Frankreich mit dem Herzogtum Valentinois in der Dauphiné belehnt. ob auch in Rom?« sagte er hastig, ohne sich erst des Stifts zu bedienen.

Die Nadel bewegte sich nicht, auch der Tisch rührte sich nicht!

»Fragen Sie doch! Fragen Sie doch!«

»Sire, ich habe bereits zweimal gefragt, und Sie haben die Antwort erhalten. Der Geist ist nicht mehr gegenwärtig. Sehen Sie das Medium an.«

In der That lag die Somnambüle wieder ruhig im Sessel.

»Glauben Sie, Monsieur Hume,« fragte der Kaiser nach einer Pause, »daß wir den Ruf noch einmal wiederholen könnten?«

»Nein, Sire, die Schatten sind sehr schwer zu bewegen, unserer irdischen Neugier überhaupt Rede zu stehen, und ich fürchte überdies, daß die Somnambüle eine Wiederholung nicht ertragen würde. Ich habe mein Wort gegeben, sie keiner Gefahr auszusetzen.«

»Aber das vorige Experiment, das Hellsehen an Lebenden, können wir wiederholen?«

»Ja, Sire. Es ist sogar wünschenswert.«

Der Kaiser wandte sich an den Grafen Morny.

»Was sagst Du zu dem allen, was Du hier gesehen hast?«

Der Präsident des gesetzgebenden Körpers lächelte etwas spöttisch. »Wenn die Komödie Ihnen Vergnügen macht, Sire, so habe ich nichts dagegen!«

»Du bist und bleibst ein Ungläubiger, selbst den eklatantesten Beweisen gegenüber. Du weißt nicht, was ich erfahren habe!«

»Sire, es ist spät, ich muß mich noch mit den Ministern verständigen. Wollen Sie die Gnade haben, die Order zu unterzeichnen und mich zu entlassen?«

»Welche Order?«

»Sie wissen – auf Ihrem Tisch!«

»Sei so gut, in mein Kabinett zu gehen und mir den Brief zu holen, der zur rechten Hand liegt.«

»Und die Order?«

»Du magst sie mitbringen!«

Der Graf verließ den Salon. Einige Augenblicke nachher, während deren die Kaiserin sich mit dem Herzog von Hamilton unterhielt, kehrte er zurück. Er hatte in der einen Hand zwei Papiere, in der anderen eine Feder.

»Hier, Sire!«

Der Kaiser nahm den Brief, den sein Bruder ihm reichte. Als er ihn aufschlug, um ihn anzusehen, machte er eine leichte Bewegung der Überraschung.

»Dieser Brief lag zur Rechten?«

»Ja – ist es nicht der richtige?«

»Zufall oder Verhängnis!« murmelte der Kaiser. »Was es auch sei, ich will es benutzen! Es ist richtig, Graf,« sagte er laut. »Nehmen Sie diesen Brief, Herr Hume, und verbinden Sie ihn mit dem Medium. Aber ich wünsche, die Somnambüle selbst zu befragen, bringen Sie mich mit ihr in Rapport!«

»Durch mich, Sire, oder direkt?«

»Direkt!«

»Dann, Sire, wird es nötig, daß uns der Schleier nicht stört, da Ihre Einwirkung natürlich geringer ist. Ich kann es verantworten, Euer Majestät das Gesicht dieser Dame zu entschleiern, aber ich habe mein Wort gegeben, daß Sie niemand weiter sehen soll!«

»Dies wird nicht geschehen. Lieber Herzog, unterhalten Sie einige Augenblicke in jener Fensternische die Kaiserin, ich wünsche, das jetzige Experiment ohne Zeugen zu machen.«

Die Kaiserin hatte sich erhoben, sie hätte den Salon verlassen, wenn nicht die Worte des Grafen über eine Order und sein Drängen zur Unterschrift ihren Argwohn erregt hätten.

Sie nahm den Arm des Pairs und trat mit ihm in das entfernteste Fenster, indem sie dem Grafen winkte, sich ihnen anzuschließen. Sie wollte wissen, was das Blatt enthielt.

Der Kaiser, Master Hume und die Somnambüle waren so gut wie allein.

»Legen Sie diesen Brief unter ihre Hand!«

Der Amerikaner gehorchte. Indem er es that, schob er zugleich die Karte, die er vor zwei Stunden im Palais der englischen Gesandtschaft erhalten, und auf die der Eigentümer einige Worte geschrieben hatte, unter das Papier.

»Jetzt, Monsieur Hume, haben Sie die Güte, mich in direkte Verbindung mit dem Subjekt zu bringen und dann zurückzutreten.«

Der Magnetiseur hob den Schleier des Hutes auf, das blasse feine Gesicht Rosamundes von Röbel zeigte sich. Die Augen waren von einem dunklen, fast violetten Rand umgeben und geschlossen.

Der Kaiser betrachtet die Somnambüle einige Augenblicke, offenbar nicht ohne Teilnahme. Dann reichte er dem Magnetiseur die Hand.

»Fangen Sie an!«

Der Amerikaner bildete zwischen ihm und dem Medium eine Kette, die er nach und nach verkürzte. Zuletzt legte er die Hand des Kaisers auf die Stirn der Schläferin.

»Jetzt, Sire, verlieren Sie keine Zeit!«

Er trat zurück bis in die Mitte des Salons, so daß er von den leise gestellten Fragen und gegebenen Antworten nichts hören konnte, während er seine Blicke auf beide fixiert hielt.

»Suchen Sie die Person, die das Papier geschrieben hat, Mademoiselle,« sagte der Kaiser.

»Welches von beiden?«

»Was soll das heißen? Haben Sie denn zwei Papiere? Ich meine den Brief, den Sie unter Ihrer Hand halten.«

»Ja – ja – das ist die eine, ich habe sie – es ist weit dahin – jetzt – o es ist sehr kalt!«

Die Schlafende schauderte, als fröstelte es sie.

»Das will ich glauben, Kapitän Roß ist dort erfroren; aber ich bin nicht bange, daß mein lieber Herr Vetter sich den Eisbären allzusehr aufdrängen wird! Ich möchte schwören, daß er so wenig die Kälte liebt, als das Feuer, wenigstens hat er das letztere zur Genüge an der Alma bewiesen. Fahren Sie fort – was sehen Sie?«

»Ein Schiff, es ist Eis ringsum – und Wasser – ein heller Himmel mit glänzenden Strahlen, die wie Raketen am Horizont aufschießen!«

»Ein Nordlicht ohne Zweifel!«

»Ich weiß es nicht, aber es ist, als ob der Himmel sich geöffnet hätte! –«

»Aber die Person – die Person!«

»Welche?«

»Zum Henker, die am Nordpol!«

»Sie sitzt am Tisch – in dem Salon des Schiffs. Ein Mann ist bei ihr. Er schreibt eifrig, sie diktiert ihm – –«

»Können Sie die Worte hören?«

»Ja – zum Teil.«

»Wiederholen Sie dieselben!«

»›Wir sind auf der Rückfahrt, in drei Tagen hoffe ich in Bergen zu sein!‹«

»Wie, auf der Rückfahrt?«

»›Dort finde ich Ihre Briefe und schicke den meinen ab. Der Kapitän machte Umstände, aber ich wurde krank. Ich hoffe, Sie haben für den Fall, daß die erwartete und notwendige Veränderung in Paris bereits erfolgt ist, meine Interessen wahrnehmen lassen. Italien kann sich ganz auf mich und meine Freunde verlassen, ich werde mein Wort halten. Ich trete zuerst wieder für Korsika auf. Auch im andern Fall werde ich sofort nach meiner Rückkehr, wie wir ausgemacht haben, den Antrag auf die Zurückziehung der Truppen aus Rom stellen!‹«

»– Sieh', sieh' – das wollte mein Herr Vetter? –«

»Sie stören mich, ich kann nicht mehr hören, der Brief ist geschlossen – die Person siegelt ihn – sie schreibt selbst die Adresse und legt ihn in ein Portefeuille.«

»Können Sie die Adresse lesen?«

»Die Adresse?«

»Ja!«

»Aber es ist ja dieselbe, wie auf der Karte! Er ist da!«

»Wer?«

»Der die Karte geschrieben hat!«

»Welche Karte?«

»Die ich in der Hand halte – – –«

»Eine Karte? Was steht auf derselben?«

»Warten Sie – ich strenge mich an – jetzt! Sire – ›Ich bin hier und bitte um eine geheime Audienz!‹«

»Aber der Name, die Adresse?«

»Ca – mill – Camillo – Comte de – Comte de Ca …«

» Cavour

»Ja, Cavour!«

»Und der Schreiber der Karte ist hier?«

»Dicht neben mir, ich sehe ihn – in dem zweiten Zimmer von hier – ein kluges Gesicht – –«

Der Kaiser konnte sich nicht länger halten, er faßte nach der Hand der Hellseherin, die noch immer starr auf dem Tische lag und die Papiere bedeckte, die er ihr entriß.

Ein leichter Schmerzensruf entfloh den Lippen der Somnambule, als sei gewaltsam ein Nerv verletzt oder von einem elektrischen Schlag getroffen, und sie fuhr mit der Hand, die bisher so tot und beweglich gewesen, nach dem Herzen. Zugleich eilte der Amerikaner herbei.

»Um Gotteswillen, Sire! Sie können die junge Dame bei dieser Nervenüberreizung töten mit der plötzlichen Erweckung!«

»Was liegt daran! Wie kommt diese Karte in die Hand der Sommnabule, Monsieur Hume?«

Er hatte die Karte gelesen. Auf der Vorderseite stand der Name

Camillo Comte de Cavour.

Auf der Rückseite mit Bleistift geschrieben, was die Hellseherin eben gesagt hatte.

Das Auge des Kaisers war so finster, so durchbohrend auf den Amerikaner gerichtet, daß dieser trotz seiner gewöhnlichen Ruhe in Verlegenheit geriet.

»Sire,« sagte er, »ich wollte damit einen Versuch machen, wie weit die geheimnisvolle Kraft der Somnambule geht.«

»Aber wie kommen Sie zu dieser Karte?«

»Ein Fremder, der gehört, daß wir uns zu Euer Majestät begaben, hat mich am Eingang des innern Hofes dringend gebeten, ihm Zulaß in das Schloß zu verschaffen und diese Karte in die Hände Eurer Majestät zu bringen.«

»Sie haben sie gelesen?«

»Nein, Sire! Niemand als Euer Majestät hat einen Blick darauf geworfen.«

»Ihr Ehrenwort?«

»Mein Ehrenwort darauf!«

Der Amerikaner sprach die Wahrheit, er hatte die Karte nicht angesehen.

»Aber wo ist der, der Ihnen die Karte gegeben hat?«

»Im zweiten Vorzimmer, Sir, bei Monsieur Thélin.«

Der Kaiser dachte einige Augenblicke nach. Dann schien er seinen Entschluß gefaßt zu haben.

»Gut denn! ich will den Mann sprechen. Haben Sie die Güte, wenn Sie die Dame fortführen, Thélin zu sagen, daß er ihn über den zweiten Korridor in mein kleines Arbeitskabinett führen soll.«

Die Unterredung war bisher mit unterdrückter Stimme geführt worden. Der Geisterbanner hatte dabei nur halb auf den hohen Sprecher gehört, seine Aufmerksamkeit galt dem Mädchen, das mit dem Erwachen aus dem Zustande der Betäubung kämpfte. Der Mohrendoktor, der bei dem Aufschrei seines Schützlings hinter der Gardine hervorgetreten war, eilte auf seinen Wink voll Besorgnis herbei. Beide waren um die Erwachende beschäftigt, deren bisher so blasse Wangen eine fieberhafte Röte zu bedecken begann.

»Die Sitzung ist zu Ende,« sagte der Kaiser laut. »Meine Herren, das Experiment war ausgezeichnet, so merkwürdig, wie ich es noch nie gesehen habe. Sie werden die Güte haben, Monsieur Hume, der fremden Dame einstweilen bei ihrem Erwachen unsern Dank abzustatten.«

Die Kaiserin, Graf Morny und der Herzog waren näher getreten.

»Apropos, Jules, hast Du die Order zur Unterschrift hier?«

»Hier, Sire!«

Der Graf reichte ihm Papier und Feder.

»Wann?«

»Sonnabend morgen, Sire! Bis dahin werden alle Vorbereitungen getroffen sein!«

»Und Du stehst mir für alles?«

»Wenn Sie die Maßregeln mir überlassen, mit meinem Kopf! ich kenne meine Pariser!«

»Gieb her! Aber nicht früher!«

Der Kaiser legte das Papier auf den nächsten Tisch und ergriff die Feder.

Die Kaiserin faßte nochmals seinen Arm.

»Louis, bedenken Sie, was Sie thun! Es handelt sich um Ihr Leben, um die Zukunft Ihres Sohnes!«

»Eben darum, Madame! Sie oder ich! ich will meinem Sohn Frankreich hinterlassen, nicht meinem Vetter!«

Die letzten Worte waren so leise gesprochen, daß nur die Kaiserin sie hören konnte. Sie ließ sogleich die Hand von seinem Arm. Der Kaiser unterzeichnete mit einem raschen, kräftigen Federzug.

»Nimm! Gute Nacht, meine Herren!«

Er reichte der Kaiserin den Arm und führte sie nach dem Schlafzimmer, aus dessen Kabinett eine Treppe zu den von ihr bewohnten Gemächern niederläuft.

Graf Morny und der Herzog entfernten sich durch den großen Eingang, während der Amerikaner Thélin herbeirief. –

Fünf Minuten später trat der Kaiser in sein kleines Arbeitskabinett, das Zimmer, zu dem, außer Thélin, selbst die Vertrautesten nur selten Zugang hatten.

Ein Mann erhob sich von einem der Sessel mit tiefer Verbeugung.

Der Kaiser ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand »Das ist ein höchst unerwarteter Besuch, lieber Graf, und so geheimnisvoll! Was hat das zu bedeuten?«

»Sire,« sagte der Premierminister von Sardinien, »ich komme, um Frankreich zwei neue Provinzen zu bringen!«

»Zwei Provinzen? – Das wäre! und welche?«

» Nizza und Savoyen!« – – – – –


Der Magnetiseur hatte dem Arzt ein Flacon gegeben, um, während er Thélin den Befehl des Kaisers überbrachte, das scharfe Salz auf die Nerven der Somnambule wirken zu lassen, die jetzt nach und nach wieder zum Bewußtsein kam.

Dem apathischen Schlaf schien eine große nervöse Aufregung zu folgen, die wahrscheinlich durch die unvorsichtige hastige Erweckung hervorgerufen war. Der Puls des Fräuleins von Röbel ging fieberhaft, die schläfrige Starrheit des Blickes machte einem wilden, unruhigen Ausdruck Platz, der ganz mit dem sanften, geduldigen Wesen, das ihr eigen, disharmonierte.

Doktor Achmet schüttelte bedenklich den Kopf. »Ich möchte fast, mein eigener Wunsch hätte mich nicht verleitet, Ihren Bitten nachzugeben, Monsieur Hume,« sagte er unruhig. »Der Zustand, in den die junge Dame versetzt worden, gefällt mir nicht. Ihr ganzes Nervensystem ist aufgeregt.«

»Aber wir haben für die Wissenschaft einen Erfolg gehabt, wie noch nie! Denken Sie, diese magnetische Kraft, dieses Zwingen des Überirdischen …«

»Zum Henker mit Ihrem Überirdischen! ich wünschte, ich hätte Mademoiselle in dem Hotel und in ihrem Zimmer!«

»Eine kleine Dosis Opium zur Beruhigung der Nerven und ein tüchtiger Schlaf wird sie vollkommen wieder herstellen. Soll ich Sie begleiten?«

Das Edelfräulein schien sich körperlich soweit wieder erholt zu haben, daß es nicht nötig war. Sie war aufgestanden und sah mit etwas wirren Blicken umher.

»Was ist mit mir geschehen, Doktor? wo bin ich? das ist nicht mein Zimmer …«

»Erinnern Sie sich, liebe Rosamunde, daß Sie in den Tuilerien sind, daß mit Ihrer Bewilligung von diesem Herrn ein Experiment mit Ihrer großen zufällig entdeckten somnambulen Kraft gemacht worden ist, um mir und Ihrem Bruder die Marquise Carmen entdecken zu helfen!«

»Ja, ja, ich erinnere mich, es mag so sein, aber führen Sie mich fort von hier in die frische Luft – ich weiß nicht, wie mir ist – mein Kopf brennt, mein Blut ist in den Adern wie Feuer – – –«

»Es wird das beste sein, Mademoiselle in die frische Luft zu führen,« riet der Magnetiseur. »Ich werde mich morgen früh nach ihrem Befinden erkundigen.«

Der Arzt, sich selbst Vorwürfe machend, hatte die junge Dame in das Vorzimmer geführt, wo er sie in das weite Shawltuch hüllte. Dann nahm er ihren Arm und führte sie die Treppen hinunter aus dem Schloß.

Sie schritt, als sie über den inneren Hof gingen, rasch und elastisch neben ihm her, und der Arzt schlug ihr daher vor, zur Beruhigung ihrer Nerven nicht direkt den Ausgang nach der Straße Rivoli und dem Hotel zu passieren, sondern nach der andern Seite zu gehen und an dem Quai der Seine entlang den Umweg um den Louvre zu nehmen.

»Ja, ja – Luft – Bewegung – ich will unter Menschen sein – mir ist, als müßte ich laufen, tanzen …«

Der Arzt sah sie mit Besorgnis an und faßte ihren Arm fester. Sie hatte den Schleier zurückgeschlagen, um die frische Nachtluft besser zu genießen, und er bemerkte mit Schrecken in dem hellen Licht der Gaslaternen, daß ihr Gesicht fieberhaft gerötet war, und ihre Augen seltsam glänzten.

»Um Gotteswillen, Mademoiselle, beruhigen Sie sich, wir werden gleich zu Hause sein, und dann werde ich für die Linderung dieses Zustandes sorgen!«

Statt der Antwort begann das unglückliche Mädchen eine rasche Tanzmelodie zu trällern und ihn immer ungestümer fortzuziehen.

Doktor Achmet machte sich jetzt die lebhaftesten Vorwürfe, daß er das Experiment des Magnetiseurs gestattet hatte. Er begriff, daß die geheimnisvolle unnatürliche Anstrengung des Nervensystems, statt, wie in den meisten Fällen eine Erschlaffung und Apathie, hier eine Überreizung der Sinne hervorgebracht hatte, die namentlich bei weiblichen Wesen oft von den seltsamsten Extravaganzen begleitet ist, die dem sonstigen Wesen und Charakter der Individuen gänzlich widerstreben.

Sie waren auf dem Quai des Louvre eben bis zum Pont des Arts gekommen, und der Mohrendoktor sah sich nach einem Fiaker um, um die kurze Strecke bis zum Hotel lieber in diesem zurückzulegen, als über die Brücke ein Strom von Menschen daher kam.

Sie kamen aus dem Straßengewirr des Luxembourg und des Quartier Latin, um nach den Boulevards und der Straße La Roquette zu drängen. Die Nachricht von zwei merkwürdigen Schauspielen hatte sich rasch verbreitet; aus der Straße Lafitte sollte der große Leichenzug des Prinzen von Audh unter Fackelzug nach dem Père Lachaise sich bewegen, vor dem Gefängnis La Roquette sollte das Schafott gebaut werden.

Das waren zwei öffentliche Belustigungen in der Fastenzeit, die man sich nicht entgehen lassen durfte!

Wahrscheinlich wirkte noch eine dritte Ursache mit, die Volksmassen nach jener Richtung zu drängen: die Absicht eines neuen Versuchs zur Emeute, um die Gefangenen zu retten.

Studenten, Arbeiter, Bürger, Grisetten, Flaneurs und Taschendiebe, jene unheimlichen Gestalten, welche die Cité, das Quartier Latin, Vaugirard und das Arrondissement de l'Observatoire auch auf dieser Seite der Seine bei jedem Zusammenströmen des Volkes ausspeien, alles war auf den Beinen.

Der Strom der Menge drängte an dem Quais nach dem Stadthaus entlang, um von dort durch St. Antoine und nach dem Bastilleplatz zu ziehen, wo man den Leichenzug vorüberkommen sehen oder ihn bis La Roquette begleiten konnte.

Mit Schrecken bemerkte der Arzt, daß seine Begleiterin an diesem Menschenstrom und diesem Lärm ein besonderes Vergnügen zu empfinden schien, und ihre Aufregung sich damit steigerte.

»Lassen Sie uns warten, Mademoiselle,« bat er, »bis die Menge vorüber ist. Sie wird sich auf dem Platz des Louvre zerstreuen.«

»Nein, nein, kommen Sie! es thut mir wohl! ich bin so aufgeregt – so lustig – ich muß sehen –«

Sie hatten die Ecke des Louvre und des Platzes vor der Kirche St. Germain l'Aurrois erreicht, von deren Turm einst die Glocke das schaurige Signal zur Bartholomäusnacht gab, als hinter ihnen drein im raschen Trabe eine Abteilung der berittenen Garde-Municipale ankam, um sich gleichfalls nach den Boulevards zu begeben und dort die Chaine für den Leichenzug zu bilden.

Die Kolonne der Wächter der öffentlichen Sicherheit spaltete rücksichtslos den Strom des Publikums, alles stürzte zur Seite, lachend, schmähend und scheltend oder Witze reißend mit der lustigen und leidenschaftlichen Beweglichkeit, die dem Pariser Volk eigen ist.

»Gute Geschäfte, Kameraden! Habt hübsch acht, daß der Meister Bäcker Monsieur Orsini nicht um einen Kopf länger macht, Louis möchte dann zu kurz kommen!«

»Sie sollen die Diamanten der seligen Familie Audh bewachen! der Ko-hi-noor wird dem Sarge des Prinzen vorausgetragen!«

»Dummkopf! die Engländer haben ihnen längst alles gestohlen. Er läßt sich bloß in Paris begraben, weil's ihm in London zu teuer ist!«

In das Kreischen eines Frauenzimmers, das eine fremde Hand in ihrer Tasche fühlte, mischte sich das Pfeifen und Jauchzen der Straßenjugend, das Gelächter der Studenten, die mit ihren »Frauen« am Arm übermütig umherdrängten.

Dazwischen ließ ein Schalk oder ein Politiker unter der Menge, sicher für seine Person, den so sehr verpönten und bereits in der Nacht zum 5. mit scharfen Säbelhieben bezahlten Ruf hören: » Vive Orsini! Vive la République!«

Die Polizei-Agenten, die unter jedem Menschenschwarm sich befinden, drängten sofort nach der Stelle, von wo der Ruf erschollen war und faßten eine oder zwei unschuldige Personen; einer der letzten Garden, diensteifrig spornte sein Pferd in die Menge.

»Hurra für den Kaiser und Seine Hoheit den seligen Prinzen von Audh! Vorwärts, vorwärts, oder wir kommen zu spät!«

In diesem Augenblick fühlte der Doktor, daß seine Begleiterin sich von ihm losriß.

»Mademoiselle, Rosamunde! wo wollen Sie hin?« Aber der Gardist mit seinem Pferde war bereits zwischen ihnen, auf der andern Seite mitten in dem Gedränge konnte er einen Augenblick noch ihre Gestalt sehen, dann schloß sich die Woge.

»Lassen Sie mich durch! lassen Sie mich durch! Mademoiselle, sie ist unbekannt in Paris! …«

Ein lustiger Student umarmte ihn, daß er sich nicht rühren konnte. »He, alter Bursche, laß sie laufen! sie hat sich wahrscheinlich einen Jungen genommen, und das ist der Lauf der Natur! Wir Mediziner wissen das! Keine Eifersucht heute, morgen kommt das Täubchen sicher ganz unbeschädigt wieder in den Taubenschlag, wenn Du sie gut gewöhnt hast und spielt Dir noch einen Marsch dazu auf! Ventre saint gris! ich kenne meine Pariserinnen!«

Die ganze Gesellschaft lachte.

»Lassen Sie mich los, Herr, es ist meine Tochter!«

»Ah – bah! – oder eine Nichte! So spricht jeder alte Sünder!«

»Wenn Sie ein Student der Medizin sind, so achten Sie wenigstens den gleichen Stand, ich bin selbst Arzt!«

Der Bruder Studio ließ ihn sogleich los. »Holla! das ist etwas anderes! ich bitte um Entschuldigung, aber Jugend hat nun einmal keine Tugend. Louison und ich stellen uns zur Disposition, um Ihnen suchen zu helfen!«

Aber Doktor Achmet war bereits in der Menge verschwunden.

Diese begann sich auf dem Platz nach allen Seiten zu teilen. Einige folgten den unschuldig Verhafteten, andere eilten den inneren Straßen zu, die meisten folgten der früheren Absicht.

Doktor Achmet eilte voll Angst über den Platz, von Gruppe zu Gruppe; er rief wiederholt den Namen des Edelfräuleins und fragte die Begegnenden, ohne auf den Spott zu achten, dem er sich aussetzte, aber trotz des hellen Lichts der Laternen – nirgends war eine Spur der jungen Deutschen zu entdecken.

Endlich kam er zu der Überzeugung, daß sie getrennt von ihm sich wahrscheinlich direkt nach dem Hotel begeben habe. Die Entfernung war nur gering, und Fräulein von Röbel lange genug in Paris, die Umgebung des Louvre überhaupt zu bekannt, um sich hier verirren zu können.

Sobald der Gedanke in ihm aufgetaucht, eilte er in das Hotel zurück und befragte den Portier.

Der Portier war seit einer Stunde nicht von dem Thor gewichen, aber er hatte nichts von der Rückkehr der Dame gemerkt.

Bei den Hunderten, die in dem großen Hotel aus- und eingingen, konnte er sie aber leicht übersehen haben – Doktor Achmet eilte nach den Zimmern der Fürstin.

Die einzige Person, die um den Ausgang, wenn auch nicht dessen näheren Zweck gewußt hatte, war Tunsa, die seit jener Scene am Lager des Verwundeten eine leidenschaftliche Verehrung und Hingebung für die Deutsche gezeigt hatte. Rosamunde beherrschte diese wilde dämonische Natur gerade durch den Zauber ihrer weiblichen Milde und Ruhe und konnte mit ihr ausrichten, was selbst der Fürstin nicht gelang. Der Fürstin selbst hatte man von der Absicht des Fräuleins und des Arztes nichts zu sagen gewagt, weil sie sich sicher dagegen erklärt haben würde.

Tunsa eilte sofort in das Zimmer der Deutschen und überzeugte sich, daß diese noch nicht zurückgekehrt war. Auch sie geriet in die größte Besorgnis, obschon man jeden Augenblick erwartete, die Verlorene wieder eintreten zu sehen.

Doktor Achmet rannte aufs neue nach dem Platz am Louvre, er drang sogar bis an den Eingang des Pavillon Marsan, um sich bei der Dienerschaft zu befragen, ob die Fremde vielleicht dahin zurückgekehrt sei.

Es schlug zwölf Uhr, als er, erschöpft von dem Suchen und von der Sorge, endlich in das Hotel wieder eintrat. Tunsa und mehrere Diener der Fürstin erwarteten ihn am Thor. – Rosamunde von Röbel war noch immer nicht zurückgekehrt, die Fürstin, der man ihr Vermissen nicht länger hatte verschweigen können, war in größter Besorgnis darüber – – – – – – – – – –


Die von der ostindischen Kompagnie ihres Thrones und Gatten beraubte Königin von Audh war zur Zeit des Attentats im Hotel Lafitte gestorben und einige Tage darauf mit indischem Pomp beerdigt worden.

Seit dem Begräbnis der Rachel am 11. Januar hatte kein Leichenkondukt so die Neugier der Pariser in Anspruch genommen. Um so mehr mußte neben dem Attentats-Prozeß die Nachricht Teilnahme finden, daß der Prinz Aboul-Wasser-Kadir-Mirza-Mahamed-Ali-Bahudan, der auf die Nachricht von dem Tode seiner unglücklichen Schwägerin von London nach Paris geeilt und im goldenen Königs-Mantel von Audh mit seinem jungen und schönen Neffen Mirza dem Sarge seiner Schwägerin nach dem Père Lachaise gefolgt war, jetzt die Anmaßung der indischen Krone in England selbst mit dem Tode gebüßt hatte und von seinem Neffen nach Paris gebracht worden sei, um an der Seite der entthronten Königin seine einfache Ruhestätte zu finden.

Daß ein solches Schauspiel halb Paris in Alarm setzte, war nicht zu verwundern. Das Begräbnis hatte erst am Nachmittage stattfinden sollen, war aber dann auf die späte Abendstunde festgesetzt worden.

Die Boulevards von der Straße Lafitte ab waren mit harrenden Menschenmassen bedeckt, und die Polizeibeamten hatten Mühe, den Fahrdamm frei zu halten. In dieser Menge wiederholten hin und wieder einzelne Redner die Mitteilungen der Tagesblätter über die unglückliche Königsfamilie von Audh und die vergeblichen Bemühungen der verstorbenen Fürstin, ihres Schwagers und ihres Sohnes, des jungen Prinzen Mirza, in London Gerechtigkeit für den Raub ihrer Krone und die Gefangenhaltung ihres Gatten in Kalkutta zu erlangen.

Die Königin war darüber gestorben, und den Mann, der sich mutig als ihr Nachfolger proklamierte, hatte wenige Wochen nachher das gleiche Schicksal erreicht.

Man erzählte, daß der Prinz Mirza, von dessen Schönheit namentlich die Frauen viel zu sagen wußten, mit der Leiche seines Oheims nach Paris geflüchtet sei, um den Giften der ostindischen Kompagnie und ihrer Helfershelfer zu entgehen. Andere wollten wissen, daß der berühmte birmanische General d'Orgoni, ein geborner Franzose, den jungen Prinzen den Mördern in London entführt habe.

Die Erinnerung an das Attentat vom 14. Januar frischte sich dadurch von neuem auf und wiederholt hörte man aus der Menge den Ruf: »Nieder mit den englischen Meuchelmördern!«

Die Pariser Polizei hütete sich sehr wohl, gegen diese Stimmung einzuschreiten. Man brauchte sie für den nächsten Tag!

Die Wogen des Volkes gingen bis zum Bastilleplatz, hier aber war der Eingang zur Straße La Roquette von Militär abgesperrt unter dem Vorwand, den Weg für den Leichenzug frei zu halten.

Dies war die Ursache der Verbreitung des Gerüchts, daß die Hinrichtung der verurteilten Italiener schon am nächsten Morgen erfolgen solle und das Schafott bereits gebaut würde.

Übrigens hatten schon seit drei Tagen oder vielmehr seit drei Nächten Haufen von Liebhabern solcher blutigen Schauspiele in der Nähe des Gefängnisses in den Schenken, ja auf der offenen Straße biwakiert, um ja die ersten Zuschauerplätze bei der Tragödie zu haben! – – – –

Der Bastilleplatz war des Zusammenströmens auf den Boulevards wegen verhältnismäßig leer, und selbst die Jongleurs und Bänkelsänger, die bis spät in die Nacht hinein hier ihre öffentlichen Vorstellungen geben, vermochten nicht, das sonst so bereitwillige Publikum zu fesseln.

An der nördlichen Seite des Gitters, das die Juli-Säule einschließt, ging ein Mann auf und nieder, in einen langen Mantel gehüllt, von großer stattlicher Figur. Auf der andern Seite des Gitters schien er einen Gefährten zu haben, denn auch hier wanderte ein Mann im Paletot, den Hut tief in die Augen gedrückt, rastlos auf und nieder. Sein Schritt war elastisch und kräftig, wie er der Jugend angehört.

Mehrmals kreuzten sich die Wege der beiden und dann suchte der forschende Blick des älteren das Gesicht des anderen zu erspähen, das dieser jedesmal abwandte.

Beide schienen entweder einander zu beobachten, oder eine andere Person zu erwarten.

Endlich, bei einer Wendung, die sie wieder einander gegenüber brachte, gelang es dem Mann im Mantel, das Gesicht des zweiten Spaziergängers fest ins Auge zu fassen.

Er blieb sogleich stehen.

»Wenn ich mich nicht sehr irre,« sagte er freundlich, »so kennen wir uns? Sie sind der junge Preuße, der am Abend des Attentats im Foyer der Oper verhaftet wurde und der am Tage vorher sich so wacker im Cirkus benommen hatte?«

Otto von Röbel, denn dieser war es wirklich, den seine Ungeduld heimlich nach Paris zurückgetrieben hatte, und der mit dem Straßburger Abendzug in Paris eingetroffen war, sah unwillig und erstaunt auf den Frager.

»Mein Herr, wenn Sie ein Polizei-Spion sind, so verrichten Sie Ihr Handwerk. Ich werde meinen Namen nicht verleugnen!«

»Ein Polizist? Goddam! das ist originell! es geht mir wie den Spitzbuben, ich bin ein geborener Antipode jeder Polizei! Wenn ich mich Ihnen denn vorstellen muß, in dem heraldischen Taschenbuch der Herren Waterford und Comp. figuriere ich als Seine Herrlichkeit der Viscount von Heresford!«

»Mylord, ich bitte tausendmal um Entschuldigung! In dem Mantel und dem breitkrämpigen Hut erkannte ich Sie nicht gleich.«

»Das ist wahr, ich dachte im Augenblick nicht an die Maskerade. Es geht mir wie Ihnen, ich habe keine Lust heute abend, mich mit einem Policemann zu boxen; denn wenn mir recht ist, glaube ich doch gehört zu haben, daß man Sie ausgewiesen hat?«

»Ja, Mylord! aber ich danke dem Zufall, der mir Gelegenheit giebt. Ihnen für die freundliche Weise Dank zu sagen, mit der Sie in einer, meine Person betreffenden Sache meinem armen Freunde beigestanden haben.«

»Ah, Sie meinen das Duell? Zum Henker, ich habe in meinem Leben deren so viele gesehen, daß die einzelnen nicht der Erinnerung wert sind, als um zu beweisen, daß in dieser albernen Welt der Schuft gewöhnlich den Sieg über den ehrlichen Mann davonträgt, wenn eine kräftige Hand nicht hin und wieder einen Riegel vorschiebt. Aber Ihr Freund, der sich beiläufig wie ein braver Kerl benommen hat, ist außer Gefahr und in voller Besserung!«

»So hörte ich mit Freude, und um mich davon zu überzeugen und zugleich eine mir nahestehende Person zurückzuholen, bin ich heimlich nach Paris gekommen.«

»Nehmen Sie sich in acht! Im Hotel du Louvre fehlt es nicht an geheimen Polizei-Agenten, die alles ausspionieren, und es ist gerade nicht angenehm, wenn auch ganz interessant, unter Polizei-Eskorte über die Grenze gebracht zu werden, wie mir zweimal passiert ist, das eine Mal in Rußland unter dem seligen Kaiser Nikolaus, das andere Mal unter Herrn Thiers, weil ich ihn im Cercle des Herrn Odilon-Barrot einen alten Spitzbuben genannt hatte!«

Der junge Preuße mußte unwillkürlich über die naive Mitteilung des Excentrik lachen. »Um dem zu entgehen, Mylord, beabsichtige ich auch nicht, ohne weiteres das Hotel zu besuchen, da Herr Espinasse sehr mißtrauisch gegen die Fremden sein soll. Ich habe deshalb durch einen Kommissionär gleich nach meiner Ankunft mittels einiger Zeilen einem Freunde die Bitte übersandt, mich hier zu treffen.«

Der Lord horchte auf das Geräusch, das wie eine Woge aus dem Innern der Stadt herüber schwoll.

»Es geht mir, wie Ihnen, auch ich habe mir an der Juli-Säule ein Rendezvous mit einer Person gegeben. Aber wenn uns unsere beiden Leute noch lange warten lassen, möchten sie uns schwerlich finden; denn das Gewühl dieses neuen Spektakelstückes des Herrn Bonaparte kommt immer näher.«

»Sie meinen den Leichenzug des Königs von Audh? ich wußte nichts davon, sonst hätte ich einen andern Platz gewählt. Ich warte seit einer Stunde, aber Doktor Achmet kann wahrscheinlich nicht durchdringen.«

»Man dringt immer durch, wenn man ein paar gute Fäuste besitzt und einen Rock zu verlieren hat. Was diese Begräbnis-Komödie betrifft, die man mit irgend einem indischen Bettelprinzen aufführt, wie sie am Ganges schockweise herumlaufen, so würde sie wahrhaftig nicht in Scene gesetzt worden sein, wenn es Herrn Louis nicht gerade paßte, einmal wieder auf die Engländer schimpfen zu lassen. Aber – voilà – da kommt der Mann, den ich erwartete. Auf Wiedersehen denn, Sir, und gute Verrichtung!«

Der Brite nickte dem jungen Edelmann einen Gruß und ging einem Mann entgegen, der in einen langen, schwarzen Rock gekleidet, wie ein Geistlicher oder wenigstens wie ein Angehöriger der Kirche, ein in ein weißes Tuch gehülltes Paket tragend, von der Seite des Boulevard Bourbon langsam herankam.

Ein flüchtiger Blick, den der junge Preuße, der sich sogleich diskret entfernte, auf den Ankommenden warf, zeigte ihm, daß dies ein alter Mann mit langem weißen, auf seine Schultern herabfallenden Haar war, der eine große Brille trug. Seine Gestalt war von der Last der Jahre und Krankheit gekrümmt.

Der junge Deutsche setzte sein Auf- und Niederwandern auf der andern Seite des Denkmals fort.

Lord Heresford war dem alten hüstelnden Mann näher getreten. »Zum Henker, husten Sie sich nicht die Lunge aus, würdigster Signor, ich denke. Sie werden sie noch länger brauchen. Aber in der That, wenn ich Ihre Verkleidung nicht vorher gekannt hätte, ich würde Sie sicher nicht erkannt haben!«

Der Alte richtete sich mühsam an dem langen Stock empor, den er trug. Dann warf er einen raschen Blick um sich her und schien ein ganz anderer Mann geworden.

»Wir haben zehn Minuten Zeit, ehe der Leichenzug kommt, Mylord, das wird genügen. Ich mußte Sie warten lassen, weil ich erst das Resultat dieser Unterredung des Grafen mit dem Tyrannen hören wollte.«

»Sie haben also den Grafen Cavour gesprochen?«

»Er hatte noch nicht zwanzig Schritte aus dem Thor der Tuilerien gethan, als ich an seiner Seite war, schwerlich sehr zu seinem Behagen.«

»Nun – und?«

»Der Graf erklärte sich ganz bestimmt gegen jeden neuen Aufstandsversuch. Sie müssen einig geworden sein, aber der Teufel weiß, um welchen Preis. Cavour behauptet, daß der Bonaparte ein Jahr Zeit zu den diplomatischen und militärischen Vorbereitungen verlangt hätte.«

»Und was hat er in diesem Fall versprochen?«

»Drei Korps seiner besten Truppen am Mincio, seine eigene Anwesenheit und seine besten Generale!«

»Aber Rom?«

Der Verkleidete lachte bitter auf. »In Rom bleibt es vorläufig beim alten, bis wir vielleicht einmal Garibaldi vom Süden her die Fremden hinauswerfen lassen. Die auf den Thronen verstehen sich immer, auch wenn sie sich wie zwei Wölfe beißen! Der Graf erklärte mir ganz bestimmt, daß die Verhandlungen mit dem Prinzen abgebrochen werden müßten, und daß sich die italienische Partei verpflichten müsse, nichts gegen die Person des Tyrannen und gegen seine Regierung in Frankreich zu unternehmen. Nach den Vorgängen in Genua hätte ich diese Erklärung voraussehen können!«

»Sie meinen die Verhaftung Hodges?«

»Gewiß! Dowell-Hodge ist sehr unvorsichtig gewesen. Seine Papiere kompromittierten, ganz abgesehen von meiner Person, eine Menge unserer Freunde, und die Konstitutionellen haben damit die Macht in den Händen, unsere Partei vor der Deputiertenkammer anzuklagen und die schädlichsten Maßregeln durchzubringen! Es bleibt uns im Augenblick nichts übrig, als uns ruhig zu verhalten. Italien ist unser erstes Ziel, und ehrlich gestanden, wenn er in dieser Beziehung auch nur einen Teil seiner Zusagen hält, ist er uns mehr wert, als dieser politische Duckmäuser, der seine Kastanien mit unsern Händen aus dem Feuer holen will!«

»Meinetwegen! ich kümmere mich herzlich wenig um Ihre politischen Pläne und welche Partei die Schläge bekommt, wenn es nur tüchtige giebt, bei denen man sich die Langeweile vertreiben kann. Ich werde bis dahin nach Indien gehen! Aber wie steht es mit der Hauptsache?«

»Was?«

»Nun, Goddam, mit dem Signor Orsini, dem erbärmlichen Meuchelmörder, für den ich noch keinen Finger rühren würde, wenn es mich nicht kitzelte, dem Herrn Bonaparte einen Streich zu spielen.«

Der Graf zuckte die Achseln und erklärte, man müsse sie ihrem Schicksal überlassen. Ihre Aufopferung sei notwendig für Italien.«

»Wissen Sie, ob das Urteil bereits bestätigt ist?«

»Diesen Abend; Morny ist nicht eher gewichen, und die Drohbriefe an Madame Eugenie haben demnach nichts genützt. Es soll wieder eine jener mystischen Komödien des Amerikaners Hume im Pavillon stattgefunden haben; dieser Aberglaube ist wahrhaftig die einzige Schwäche, die man an ihm finden kann!«

»Dann ist keine Zeit zu verlieren, Espinasse ist ein alter Haudegen voll grimmiger Entschlossenheit und wird Royer Der Justizminister. zur sofortigen Vollstreckung nötigen.«

»Deswegen eben sehen Sie mich hier, Mylord, in diesem Kostüm. Doch glaube ich nicht, daß man es wagen wird, die drei Tage abzukürzen. Die Verwerfung des Kassationshofes muß heute Abend den Verurteilten publiziert worden sein. Dann hat Abbé Hugon das Recht, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht Zutritt zu verlangen, und Sie sehen, daß ich diese Gelegenheit sofort benutzt habe. Wie weit sind Sie gekommen?«

»Es steht alles gut. Die Klausel des Urteils, daß sie als Vatermörder – dieser Herr Bonaparte ist wirklich ein vortrefflicher Vater seines Volkes! mit verhülltem Gesicht auf das Schafott gebracht werden sollen, ist ein glücklicher Umstand.«

»Aber wann soll die Verwechslung stattfinden?«

»Bei der sogenannten Toilette des Henkers. Sie wird an jedem Verurteilten in einer besonderen Zelle vorgenommen werden. Von dem Augenblick an sieht niemand mehr ihr Gesicht. Nur ein Aufseher, der Scharfrichter und seine Gehilfen sind dabei zugegen!«

»Und der Bursche, der das angenehme Geschäft hat, die Stelle Orsinis zu vertreten?«

»Es ist ein Verbrecher, der längst den Tod erleiden sollte, der aber lange krank im Lazarett gelegen. Man wird ihn darin sterben lassen. Der Kerl erwartet nichts anderes, als hingerichtet zu werden und wird den Teufel etwas von der Verwechslung merken. Übrigens ist das Sache des Meister Scharfrichters, und ich müßte mich sehr irren, oder die Erfindung der eisernen Knebel, die sich zwischen den Zähnen erweitern, und einige feste Hanfschnüre um die Gelenke werden jede Gefahr der Entdeckung beseitigen.«

»In der That, Mylord, der Gedanke, Orsini noch an der Treppe des Schafotts der heiligen Justiz zu escamotieren, ist kostbar und konnte nur in Ihrem Kopf entstehen. Aber ich glaube, daß er ebenso kostspielig ist!«

» Goddam! zu was Teufel hätte ich denn das Geld, wenn ich es nicht zu meinem Vergnügen verwenden sollte? Der Spaß kostet zehntausend Pfund, das ist aber nicht zu teuer für die Genugthuung, Herrn Louis vor ganz Europa eine Nase zu drehen.«

»Die beteiligten Beamten werden sofort nach England flüchten?«

»Sie denken nicht daran! Wenn Orsini in gehöriger Sicherheit in Amerika wieder auftaucht, können sie meinetwegen die Geschichte mit dreister Stirn für eine Lüge erklären, der Kalk hat längst die Gebeine des unglücklichen Stellvertreters verzehrt und Herr Louis Napoleon wird so klug sein, zu thun, als ob die Geschichte mit seinem Willen passiert sei. Es thut mir nur leid, daß ich ihm nicht auch Pierri entführen kann, aber der Kerl ist in der That zu gemein, als daß es sich lohnte, auch nur eine Guinee an ihn zu verschwenden.«

»Wohl, Mylord, ich bin jetzt genügend informiert, und in einer Stunde wird Orsini von allem in Kenntnis gesetzt sein. Aber wie wird man ihn aus La Roquette bringen?«

»Er wird es mitten durch die Wachen als einer der Gehilfen des Meister Henker verlassen und zwar schon vor der Hinrichtung. Das ist eine Bedingung, die ich für das Geld gestellt habe. Man wird ihn sofort aus Paris bringen bis zur nächsten Station der Nordbahn. Um 3 Uhr ist er in Brüssel.«

»Sie werden ihn selbst begleiten?«

»Ich? nein! ich mag mit seiner Person nichts zu thun haben! überdies will ich mir die öffentliche Gerechtigkeitspflege des Herrn Bonaparte ansehen, ich habe diesmal wirklich eine kleine Schwäche im Genre des sehr ehrenwerten Kapitän Peard!«

»Sie haben also bereits eine sichere und unverdächtige Person?«

»Das nicht; ich will meinen Kammerdiener Brown wegen einer solchen Bagatelle nicht gern entbehren, überhaupt ist er auch allen Polizei-Agenten von Paris zu gut bekannt, weil er sich mit der Hälfte schon geboxt hat. Aber es wird sich bis dahin jemand finden, der mir den Dienst erweist. Warten Sie, ich glaube, ich habe die geeignete Person!«

»Wen meinen Sie, Mylord?«

»Sehen Sie dort den jungen Mann, der auf der andern Seite des Gitters so beharrlich auf und nieder wandert?«

»Ja, er befand sich in Ihrer Gesellschaft, als ich kam. Wer ist er?«

»Ein – Tedesco, von der Ihnen verhaßten Nation, aber kein Österreicher! Er ist ein entschlossener, couragenser Bursche und braucht nur das Notwendigste zu wissen. Ich werde sogleich mit ihm sprechen. Jetzt machen Sie, daß Sie fortkommen um den würdigen Abbé Hugon nicht warten zu lassen! Frischen Sie die Courage des Herrn Orsini gehörig auf, damit er bis zum entscheidenden Augenblick den Poltron spielt und nichts von der Märtyrer-Glorie vor der Polizei einbüßt.«

»Verlassen Sie sich darauf, Mylord, er wird seine Instruktion erhalten. Wollen Sie mich erwarten, es wird vielleicht nötig sein, im Fall, daß ich etwas Wichtiges im Gefängnis erfahren sollte?«

»Aber wo?«

»Ich denke, wir treffen uns in der Nähe des Gefängnisses, in Menilmontant. Kennen Sie am Boulevard des Amandiers die Pas Rosier?«

»Nein, aber ich werde sie finden.«

»Etwa in der Mitte der Straße ist eine Wein- und Tanzkneipe, es steht eine grüne Laterne vor der Thür. Die Gesellschaft besteht aus den verschiedensten Elementen und ist für die Nähe des Père Lachaise ziemlich lustiger Natur, aber wir werden dort unbehorcht und sicher sein, ich kenne den Wirt!«

» Well! Ich werde punkt ein Uhr dort sein, bis dahin wird das Begräbnis zu Ende sein, und Sie werden Herrn Orsini beruhigt haben!«

»Auf Wiedersehen, Mylord! Sie Helfer in der Not!«

»Auf Wiedersehen, Krone aller Verschwörer! dort kommt der Zug!«

Der falsche Gehilfe des Almoseniers von La Roquette humpelte nach dem Eingang der Straße, der Engländer ging rasch nach der andern Seite des Gitters, um durch die auf dem Boulevard Beaumarchais (St. Antoine) heranwogende Volksmenge nicht von dem Preußen getrennt zu werden, den er zum Helfer bei seinem kecken Streich ausersehen.

»Ihre fernere Wache, Sir,« sagte er, »ist nutzlos, der Platz wird gleich so dicht mit Menschen gefüllt sein, daß an das Auffinden eines einzelnen nicht zu denken ist. Verschieben Sie Ihr Geschäft bis morgen und kommen Sie mit mir, um uns ein Begräbnis mit den Ceremonien vom Ganges anzusehen. Wenn wir noch fünf Minuten warten, werden wir mit der Menge auf diesem Platz eingesperrt bleiben! Überdies habe ich Sie um einen Dienst zu bitten!«

Otto von Röbel hatte bereits eingesehen, daß sein Brief den älteren Freund nicht getroffen haben mußte oder daß dieser verhindert worden sei zu erscheinen, und da er ohnehin nicht wußte, wo er die Nacht über bleiben sollte, entschloß er sich leicht, das Anerbieten des Lord anzunehmen.

»Wenn ich Ihnen wirklich einen Dienst leisten kann, Mylord,« sagte er höflich, »so befehlen Sie ganz über mich. Ich bin so tief in Ihrer Schuld für die Teilnahme, die Sie meinem Freunde bewiesen haben, daß Sie in jeder Sache auf mich rechnen können!«

»Ich halte Sie beim Wort, doch davon später. Jetzt, Sir, kommen Sie!«

Beide gingen gleichfalls nach der Straße La Roquette, die das Militär und Polizeiagenten abgesperrt hielten. Ein Fünffrankenthaler, in die Hand eines der letzteren gedrückt, verschaffte ihnen leicht den Durchgang, und der Lord blieb in der Nähe stehen, um die Ankunft des Zuges zu erwarten und sich diesem anzuschließen.

Er hatte Recht gehabt, einige Augenblicke nachher war der große Platz von einer Menschenmenge überflutet, die sich mit Schreien und Lärmen an der unerwarteten Schranke des Militärkordons vor der Straße La Roquette brach und dann nach dem Platz oder den Seitenstraßen zurückströmte.

Das dadurch veranlaßte Gedränge war arg, und die dem Zuge voran reitenden Municipal-Gardisten hatten Mühe, die Bahn für den Leichenkondukt frei zu machen.

Der überaus lange und große Leichenwagen war von sechs, mit roten, goldbesetzten Decken geschmückten Pferden gezogen. Auch über den Sarg, der unter dem Baldachin stand, war eine rote, goldgestickte Decke gebreitet. Zwölf Trauerkutschen eröffneten das Grabgeleit, hinter der letzten folgte zunächst der junge Thronerbe von Audh, zur Rechten auf den berühmten Abenteurer, den birmanischen General d'Orgoni, einen der grimmigsten Feinde der Engländer gestützt, zur Linken den Kommandeur Lynch.

Ein allgemeines » Le pauvre garçon!« der Menge empfing die jugendliche Erscheinung des Prinzen Mirza und in das » Ah qu'il est beau, le pauvre Prince!« der Frauen mischte sich von allen Seiten der energische Ruf: » A bas les Anglais! mort aux meutriers!«

»Dieser Mann versteht sein Handwerk!« sagte der Lord zu seinem Gefährten. »Ich wette, daß mindestens hundert solcher Schurken von der Polizei bezahlt sind, hier Lügen über die britische Nation zu verbreiten. Ich wollte, ich hätte einen der Halunken im Bereich meiner Faust!«

Die Chaine der Soldaten am Eingang der Straße La Roquette öffnete sich vor dem Zuge, ließ aber nur diesen passieren und schob seine Barrikade von Gewehrläufen wieder der nachdringenden Menge entgegen, die sich jetzt in den Nebenstraßen verlief.

Der Viscount und sein Begleiter hatten sich innerhalb der Straße dem Zuge angeschlossen, um die Ceremonieen auf dem Friedhof mit anzusehen. Als sie an dem Platz zwischen dem Mustergefängnis für jugendliche Gefangene zur Linken und dem neuen Strafhaus ( nouveaux Bicêtre – La Roquette) zur Rechten vorüberkamen, deutete der Lord auf die dunklen einförmigen Mauern des letzteren.

»Sehen Sie sich den steinernen Sarg dort an, Sir,« sagte er höhnisch, »meinen Sie wohl, daß ein Mensch seinen Wänden entlaufen könne, ohne Flügel zu haben?«

»Es ist ein Gefängnis?«

» Yes! und eines der festesten in Frankreich, und jedenfalls besser bewacht, als Ham war; Herr Louis Napoleon versteht sich darauf!«

»Ich habe mir sagen lassen, daß es so entschlossene und schlaue Verbrecher giebt, daß kein Gefängnis sie halten kann. Ich habe einmal die Lebensbeschreibung eines solchen Mannes aus Ihrem eigenen Lande gelesen, Jack Sheppards!«

»Goddam! – er war ein ganzer Bursche! Schade, daß man ihn zuletzt doch gehängt hat. Es ist nur etwas lange her.«

»Sie haben in neuerer Zeit die berühmte Flucht Orsinis aus Mantua!«

»Das ist wahr. Aber es möchte Signor Orsini doch schwerer werden, aus diesen Mauern zu entschlüpfen!«

Der Ton des Excentrik hatte unverkennbar etwas Spöttisches.

»Wie? der gräßliche Mörder sitzt hier?«

»Es ist La Roquette; er wartet auf die Guillotine. Aber warum schaudern Sie bei dem Namen?«

»Mein Gott, hat er nicht an jenem Abend, an dem ich das Unglück hatte, selbst unter dem Verdacht der Mitwissenschaft um eine so abscheuliche That verhaftet zu werden, eine Menge schuldloser Personen schändlich gemordet, wenn er auch seinen nichtswürdigen Zweck nicht erreicht hat?«

»Das ist eben der Unterschied, junger Mann! Merken Sie sich die Lehre fürs Leben, der Erfolg macht alles! Der zweite Dezember desselben Mannes, auf den Orsini seine vortrefflichen Bomben so ungeschickt schleuderte, war eben nichts anderes, als ein vorbereiteter Mord en gros! Aber weil Herr Louis Napoleon aus drei- bis viertausend erschossener Männer, Weiber und Kinder sich einen Thron aufzubauen verstanden hat, deshalb nennt die Welt das Dezember-Gemetzel nicht einen Mord, für den man in La Roquette die Guillotine erwartet, sondern eine große historische That!«

»Sie reden sehr frei, Mylord, es könnte gefährlich werden in dieser Umgebung!«

»Bah! Ich kümmere mich um keine Polizei der Welt und habe mich so ziemlich mit der aller Staaten, die deren besitzen, geprügelt. Am wenigsten um die Pariser, der die handfesten Knüppel der Londoner Policemen oder die langen Stöcke der Khawassen von Konstantinopel fehlen! Überdies denkt halb Frankreich dasselbe, wenn es auch unter Herrn Espinasse nicht die Courage hat, es zu sagen! – Aber à propos, wie steht es mit Ihrem Freund, wegen dessen Bekanntschaft Sie damals verhaftet wurden?«

»Kapitän Laforgne?«

»Ja! Ich habe viel Braves von ihm gehört!«

»Er ist glücklich in die Schweiz gelangt und befindet sich jetzt bei seinem Freund und Wohltäter, dem General Garibaldi, auf einer Insel an der Westküste Oberitaliens.«

»Ah – Caprera! Ich habe davon gehört. Well! Ich werde den General besuchen auf meinem Wege nach Indien und dem Kapitän Ihre Grüße bestellen!« – –


Zu derselben Zeit, als der Leichenkondukt des Königs von Audh sich durch die Straße La Roquette nach der letzten Ruhestätte des indischen Fürsten in einem fremden Weltteil bewegte, rollte vom Faubourg St. Antoine her durch die Rue de la Muette ein geschlossener zweisitziger Wagen ohne Abzeichen rasch heran und hielt an der Ecke der Straße de la Folie, welche die Rückseite des Gefängnisses bekränzt.

Zwei Männer stiegen aus, beide tief in Mäntel gehüllt, der eine den Kopf mit einer Militärmütze bedeckt, der andere in Civil.

Sie gingen nach dem verschlossenen Eingang des Gefängnisses, vor dem ein Doppelposten steht.

»Werda?«

»Gutfreund! Wir wünschen in das Gefängnis zu treten!«

Der Soldat hatte die Militärmütze gesehen.

»Das ist hier nicht gestattet, mein Herr, selbst wenn Sie die Parole haben. Sie müssen sich nach dem Haupteingang in der Straße La Roquette wenden.«

»Das ist, was ich vermeiden will, Kamerad! Giebt es kein Mittel?«

»Man müßte an der Schelle ziehen und einen Aufseher rufen. Aber …«

»Nun?«

»Haben Sie die Parole?«

»Malakof! wo Du selbst gefochten, mein Braver, wie ich an Deiner Uniform sehe.«

Zugleich öffnete der Fremde den Mantel und zeigte die Uniform eines Generals.

Die Schildwache wollte präsentieren, aber der Offizier verhinderte es. »Kein Aufsehen, Kamerad. Ziehe die Klingel und rufe jemanden herbei!«

Der Soldat zog stark die Schelle; bald darauf hörte man schwere Tritte auf dem Pflaster des Thorwegs im Innern, und ein eng vergittertes Schubfenster im Thor wurde geöffnet.

»Was giebt's?«

»Hier ist ein Herr, der ins Gefängnis zu treten wünscht.«

»Unsinn – der Zutritt ist nur bis abends 6 Uhr erlaubt. Ich werde es dem Sergeanten der Wache anzeigen, daß Sie mich unnütz belästigen, Schildwach!«

Der General war näher getreten, während sich sein Begleiter im Schatten hielt.

»Es ist auf meinen Befehl geschehen,« sagte er. »Ist der Direktor des Gefängnisses noch wach?«

»Ja, aber was geht das Sie an?«

»Hört, guter Freund,« bemerkte der Offizier ruhig, »Ihr werdet am besten thun, Euch etwas höflichere Manieren anzuschaffen, wenn Ihr Euren Posten behalten wollt. Bringt diese Karte sofort dem Direktor und hütet Euch, unterwegs das Papier zu öffnen, in dem sie steckt. Aber ohne einen Augenblick Verzug, wenn Euch Euer Amt lieb ist.«

Der eingeschüchterte Aufseher nahm leise brummend durch das Gitterfenster das Papier und trollte sich. Es waren kaum fünf Minuten vergangen, als rasche Tritte sich im Innern des Hofes hören ließen, und das Pförtchen im Thor aufgeschlossen wurde.

»Darf ich bitten, einzutreten?«

Der alte Offizier trat von seinem Begleiter gefolgt in den Thorweg, wo der Direktor des Gefängnisses ihn erwartete, während der Wärter die Thür wieder verschloß.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, daß Euer Excellenz haben warten müssen, aber ich konnte den Besuch nicht ahnen, und die Dienstvorschriften sind überaus streng.«

»Keine Entschuldigung, mein Herr! die strengste Pflichterfüllung ist die beste. Wollen Sie so gut sein, uns an einen Ort in der Nähe zu führen, wo ich Ihnen meinen Auftrag mitteilen kann, ohne daß wir nötig haben, durch das ganze Gefängnis zu gehen?«

»Ich bitte, mir die Ehre zu erweisen, mir zu folgen.«

Er schritt über den Hof weg nach einem Seitenflügel und öffnete die Thür.

»Haben Euer Excellenz die Gewogenheit einzutreten, hier ist eines der Bureaus.«

Sie waren alle drei in ein in der gewöhnlichen Weise der Geschäftszimmer möbliertes Gemach eingetreten, aus dem zwei weitere Thüren nach dem Innern des Gebäudes führten. An den Wänden umher hingen schwarze Tafeln mit einer Menge von Schlüsseln.

»Wollen Euer Excellenz die Gnade haben, Platz zu nehmen? und dieser Herr?«

Der Direktor sah etwas neugierig auf den zweiten Besucher, der den Hut in die Stirn gedrückt und den Mantel um sich geschlagen behielt, so daß seine Züge nicht zu erkennen waren.

»Dieser Herr,« sagte der General, »gehört zu mir! – Ich komme im Allerhöchsten Auftrag, mein Herr, um einige Fragen an Sie zu richten, und um eine Gefälligkeit zu bitten. Vor allem muß aber über unsere Unterredung und selbst über meinen Besuch das unbedingteste Schweigen beobachtet werden. Sie haben doch bei Empfang der Karte meinen Namen nicht genannt?«

»Bewahre! Des Schweigens können Euer Excellenz versichert sein, aus diesen Mauern kommt ohnehin nicht viel Nachricht in die übrige Welt.«

»Desto besser. Es ist Ihnen bekannt, daß der Kassationshof heute die Berufung der italienischen Meuchelmörder verworfen hat?«

»Ja, mein Herr. Heute abend um sieben Uhr haben der Untersuchungsrichter und ein Mitglied des hohen Kollegiums in meinem Beisein den Verurteilten die Verwerfung mitgeteilt.«

»Und was ist seitdem geschehen?«

»Sie sind, wie dies üblich ist, der Vorbereitung des Almoseniers des Gefängnisses übergeben worden.«

»Das Urteil pflegt in drei Tagen nach der Bestätigung vollstreckt zu werden?«

»Gewöhnlich. Die Bestätigung ist bereits erfolgt und mit ihr zugleich vor einer halben Stunde der Befehl angelangt, alle Anstalten derart zu beschleunigen, daß die Hinrichtung bereits am Sonnabend Morgen um sieben Uhr erfolgen kann!«

»Wissen das die Gefangenen?«

»Nein, sie erhalten die Nachricht erst wenige Stunden vor der Vollstreckung.«

»Wo befindet Orsini sich jetzt?«

»In einer der Zellen für die zum Tode Verurteilten!«

»Wie hat er die Nachricht der Verwerfung aufgenommen?« frug plötzlich rauh der Verhüllte.

»Ziemlich gefaßt, mein Herr! er scheint die Hoffnung auf die Gnade des Kaisers noch nicht aufgegeben zu haben. Doch befindet er sich in einer fieberhaften Aufregung – er hat Schreibmaterial verlangt, um ein Gesuch aufzusetzen oder sein Testament zu machen. Pierri tobt und schleudert Verwünschungen gegen Gott und alle Welt, Rudio ist fast bewußtlos vor Angst und weint und klagt.«

»Der Dummkopf! der Kaiser hat ihn ja begnadigt!«

»Man pflegt dies erst in der letzten Stunde den Verbrechern bekannt zu machen, um die heilsame Wirkung der Angst nicht zu schmälern.«

»Sind die Gefangenen gefesselt?«

»Nein, Monsieur, die Aufsicht ist so gut, daß dies nicht notwendig erscheint. Es wäre eine unnütze Grausamkeit.«

»Aber dieser Orsini zum Beispiel ist bereits aus einem der festesten Gefängnisse ausgebrochen!«

Der Direktor lächelte. »Ich bitte Euer Excellenz zu bemerken, daß dies in Österreich geschah. Aus dem Gefängnis La Roquette geht man nur auf das Schafott oder durch die Gnade des Kaisers in die bürgerliche Gesellschaft zurück.«

»Ist es nicht möglich,« mengte sich wiederum der Unbekannte in die Unterredung, »den Verurteilten vorher einige Zeit zu beobachten, ehe man ihn besucht?«

Der Direktor sah ihn erstaunt an. »Wie, Monsieur, Sie wollen Orsini sprechen?«

»Ja!«

»Aber das geht nicht an, ohne eine besondere Erlaubnis des Präsidenten des Kassationshofes!«

»Ich werde sie haben. Aber beantworten Sie zunächst meine andere Frage.«

»Es befinden sich allerdings in den Thüren vergitterte Öffnungen, durch welche die Aufseher ziemlich unbemerkt die Gefangenen kontrollieren können!«

»Ich bin kein Aufseher,« sagte der Fremde ungeduldig. »Machen Sie nicht so viel Umstände. Im geheimen Archiv der Polizei befindet sich ein Plan von La Roquette, demzufolge an drei gewissen Zellen ein geheimer Korridor oder sonst ein Raum da ist, aus dem man alles, was in diesen Zellen gethan oder gesprochen wird, sehen oder hören kann. Ich frage Sie nun, ob der Gefangene Orsini sich gegenwärtig in einer dieser drei Zellen befindet?«

Der Direktor zögerte, obschon er die Wahrheit zu ahnen begann.

»Mein Herr, das ist ein Amtsgeheimnis von so hoher Bedeutung …«

Der Fremde unterbrach ihn ungeduldig.

»Roquet, sagen Sie diesem Herrn doch, daß er mich nicht unnötig aufhält!«

Der General gab lächelnd dem Direktor einen bedeutungsvollen Wink mit den Augen.

»Ich versichere Sie auf mein Wort, daß Sie für alles gedeckt sind. Entsprechen Sie genau den Befehlen dieses Herrn.«

Der Beamte verbeugte sich. »Orsini befindet sich in diesem Augenblick allerdings mit dem Almosenier des Gefängnisses und dessen Sakristan in einer der bezeichneten Zellen.«

»Und warum wird er dort nicht beobachtet?«

»Ich habe keinen Befehl dazu erhalten.«

»Nehmen Sie Ihre Schlüssel, und führen Sie mich an jenen Ort, wo ich sehen und hören kann!«

Der Direktor nahm, ohne ein Wort zu entgegnen, einen Leuchter mit Kerze, zündete diese an der Gasflamme an und öffnete eine der Thüren im Hintergrunde.

»Haben Sie die Gnade mir zu folgen; mit so wenig Geräusch wie möglich.«

Er ging voran in einem der gewöhnlichen Gänge, die in das Innere des Gefängnisses führen. Der Korridor war breit und gut erleuchtet; an einer Kreuzung fanden sie eine Schildwache, an zwei anderen Stellen begegneten sie Aufsehern, die in Schuhen mit starken Filzsohlen fast unhörbar und auf einen Wink des Direktors, ohne sich weiter um sie zu kümmern, an ihnen vorüber glitten.

Dann kamen sie zu einer steinernen Treppe, die in das erste Geschoß hinauf lief.

Der Direktor führte sie jedoch nicht diese hinauf, sondern wandte sich in einen engeren Seitengang, der in einer kleinen Kurve sich bog, so daß er von der Treppe oder dem größeren Korridor aus nicht übersehen werden konnte. Als sie so weit hineingeschritten waren, schien der Gang mit einem quer vorgestellten großen Schrank zu endigen.

Der Direktor holte ein kleines Schlüsselbund, das offenbar nur seinem Privatgebrauch diente, aus der Tasche und suchte einen Schlüssel aus, mit dem er den Schrank aufschloß. Dann leuchtete er in das Innere.

»Haben Sie die Gnade, einzutreten!«

Als der Beamte das Licht in den Schrank hielt, konnte man sehen, daß statt der Hinterwand eine Treppenöffnung in die Höhe führte.

»Darf ich voran gehen?«

»Zeigen Sie den Weg!«

Der Direktor stieg, das Licht hoch haltend, die Stufen hinauf, die mit einem Teppich belegt waren, um das Geräusch der Schritte zu dämpfen, nachdem er den General ersucht hatte, die Thür des Schrankes wieder ins Schloß zu drücken.

Sie stiegen eine Anzahl Stufen hinauf, die wahrscheinlich der der großen Treppe, an welcher sie vorüber gegangen waren, gleichkam und gingen dann einen kurzen sehr schmalen Gang entlang.

Dieser öffnete sich in einen dreieckigen Raum. Der Direktor zündete einen von der Decke herabhängenden Gasarm an, der eine spärliche, aber genügende Helle verbreitete, um erkennen zu lassen, daß an jeder der drei Seiten sich eine schmale dunkle Thüröffnung befand.

»Meine Herren,« sagte der Führer, »Sie befinden sich jetzt inmitten des Gefängnisses. Diese drei Thüren führen zu den Wänden der Zellen, die man den Verurteilten oder solchen Verbrechen giebt, deren Treiben zu beobachten des Staatsinteresse gebietet. Die Einrichtung ist so geschickt, daß Sie alles sehen und hören können, was der Gefangene thut und spricht, ohne bemerkt zu werden. Die ganze Anlage hängt in von außen ganz unbemerkbarer Weise mit dem System der Röhrenleitung für die Heizung des Gebäudes zusammen.«

»Welches ist die Zelle, in der, wie Sie sagen, Orsini jetzt mit dem Geistlichen zusammen ist?«

»Dort!« Der Direktor wies nach der mittleren Öffnung; der General wandte sich mit einer fragenden Bewegung zu seinem Begleiter.

»Bleiben Sie hier, ich will selbst gehen! Sprechen Sie nicht!« Als sei er überzeugt, daß man ihm gehorchen müsse, trat der Mann im Mantel in den bezeichneten Gang, in dem er etwa zwanzig Schritt machte, wobei ein schwacher Lichtschimmer vom Ende her ihm die Richtung zeigte, bis seine vorgestreckte Hand an die abschließende Wand stieß. Auch hier war der Fußboden mit einem dicken Teppich belegt und die Wand rechts und links stark mit Leder gepolstert. Als der Fremde an das Ende kam, befand er sich in Höhe der Augen vor einer durchbrochenen Rosette von Gußeisen, wie solche in den mit der sogenannten russischen Heizung versehenen Gebäuden dazu dient, die Wärme in die Zimmer zu lassen, oder die trockene Luft in der Höhe zu entfernen.

Die Rosette war so geschickt gearbeitet und so dünn, daß man durch die Öffnungen die ganze darunterliegende gewölbte Zelle übersehen konnte. Zugleich war die Wölbung derart eingerichtet, daß sie nach den Gesetzen der Akustik allen Schall nach der Rosette hin konzentrierte.

In der Zelle befanden sich vier Personen: Felix Orsini, der ehemalige Gefangene von Mantua, der greise Abbé Hugon, Almosenier des Gefängnisses, sein Kirchendiener, oder vielmehr der Vertreter desselben, dem wir auf dem Bastillenplatz begegnet sind, und ein Gefangenenwärter.

Die Zelle enthielt nichts, als einen am Fußboden befestigten Tisch und zwei in gleicher Weise angeschraubte Bänke, von denen die eine so breit war, daß sie mit einem darauf liegenden Strohsack zur Lagerstätte dienen konnte. An der Wand hing ein Kruzifix. Vor dem Tisch stand ein unbeweglicher schwerer Holzklotz als Sessel. Die Rosette befand sich an der Wandseite über der Lagerstätte. Der Verurteilte saß, als der Fremde an die Rosette trat, neben dem Geistlichen auf der Lagerstätte und hörte mit zerstreuter Miene auf die Tröstungen der Religion und die Ermahnungen, seine Verbrechen zu bereuen und durch ein aufrichtiges Bekenntnis vor dem irdischen Richter seine Seele zu entlasten, ehe der furchtbare Augenblick gekommen sei, in dem sie vor ihren ewigen treten müsse.

Der Geistliche sprach in keiner Weise zelotisch, sondern ruhig und verständig, indem er das Gefühl nicht verdammte, aus dem die fanatische That der vier Italiener hervorgegangen, sondern nur die That selbst. Dennoch achtete offenbar Orsini wenig auf die Worte, und sein dunkles Auge suchte wiederholt den falschen Küster, dessen Zeichen beim Eintritt er wohl bemerkt hatte. Der Alte unterhielt sich jedoch leise mit dem Gefangenenwärter und schien ihm keine Beachtung zu schenken.

»Sie wollen also heute nicht dem heiligen Sakrament der Beichte sich unterziehen, mein Sohn?« sagte endlich der Abbé.

»Nein, hochwürdiger Vater, ich fühle mich nicht dazu gestimmt!«

»Aber bedenken Sie wohl, daß nach dem Urteil der menschlichen Gerechtigkeit Ihre Stunden gezählt sind, daß Sie keine Zeit zu verlieren haben, sich vor Ihrem Schöpfer zu demütigen und die Heiligen um ihre Fürbitte anzurufen. Ein reuiges Herz, ein offenes Bekenntnis erleichtert die letzten Stunden!«

»Sie reden, als ob ich in der nächsten schon hingerichtet werden sollte?« sagte der Verschwörer mit einem fragenden Blick.

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, mein Sohn, daß ich nichts davon weiß, daß es nur meine Pflicht ist, den Verurteilten ihre letzten Stunden zu erleichtern, indem ich sie mit ihrem Gott versöhne und sie die Gnade des Erlösers anrufen mache. Ich habe es für Pflicht gehalten, noch diesen Abend zu Ihnen und den anderen Schuldigen zu kommen, weil ich gehört, daß Ihnen heute die Verwerfung Ihres Gnadengesuches verkündet ist.«

»Das ist noch nicht der Befehl zur wirklichen Vollstreckung des Urteils!«

»Nein, Gott kann die Herzen der Mächtigen lenken zur Gnade, aber bedenken Sie, daß Ihr Verbrechen sehr schwer ist!«

Der Verurteilte schleuderte einen trotzigen Blick nach dem falschen Sakristan.

»Ich werde mich diese Nacht damit beschäftigen,« sagte er in fieberhafter Aufregung, »noch einmal an den Kaiser zu schreiben. Da liegt bereits das Papier, ich habe ihm so vieles zu sagen, das er hören muß! Ich verlange wenigstens Aufschub der Vollstreckung, und er darf mir ihn nicht verweigern! Ich habe Freunde die mich unterstützen müssen. Mit ihrer Hilfe …«

»Rechnen Sie lieber auf Gott, als auf die Hilfe menschlicher Freunde,« sagte der Geistliche ernst. »Unglücklicher Mann, ich sehe, wie es mit Ihnen steht. Sie können noch zu keinem Entschluß kommen und mißkennen Ihre Lage. Werfen Sie endlich die Bande von sich, mit denen Sie sich an das Leben ketten wollen, und vertrauen Sie allein auf Ihren Erlöser. Ich muß Sie jetzt verlassen und mich zu Ihren unglücklichen Gefährten begeben. Gebe Gott, daß ihr Herz empfänglicher ist. Nehmen Sie dieses Gebetbuch, und benutzen Sie es. Morgen hoffe ich Sie besser vorbereitet für das heilige Sakrament der Beichte und der Kommunion zu finden.«

Der Priester hatte sich erhoben und gab dem Sakristan einen Wink, die heiligen Gerätschaften aufzunehmen.

Diesen Augenblick benutzte der Verkleidete, um durch ein Zeichen dem Verurteilten anzudeuten, daß er mit ihm sprechen wolle.

Orsini legte die Hand auf den Arm des Priesters.

»Ich wünschte,« sagte er, »Sie könnten zu mir in den Klängen meiner Muttersprache reden. Sie würden wahrscheinlich mehr Eingang zu meinem Herzen finden, denn ich bin nicht so verstockt, als Sie glauben!«

»Ich weiß,« erwiderte der Abbé milde, »welche große Macht die Erinnerungen an die Heimat über das menschliche Herz üben und bedaure deshalb um so mehr, daß ich die schöne Sprache Ihres Vaterlandes nicht verstehe!«

»Wenn ich Ihnen, hochwürdiger Herr, oder dem unglücklichen Mann hier dienen kann,« sagte der verkleidete Sakristan, »so bin ich gern bereit, da ich in meiner Jugend unter dem großen Kaiser die Kriege in Italien mitgemacht und das Italienische gelernt habe, ehe ich in die heilige Kirche eintrat.«

»Das trifft sich gut,« meinte arglos der Geistliche, »und ich danke es dem hochwürdigen Pfarrer von St. Ambroise, der Sie mir an Stelle meines armen kranken Ambrosio zugeschickt und empfohlen hat. Da dieser Beamte hier mit dem Gefangenen die Zelle teilt, hat es wohl kein Bedenken, wenn ich Sie hier noch auf eine halbe Stunde zurücklasse, bis ich etwa Ihrer Dienste bei den anderen Gefangenen bedarf?«

Die Frage war an den Aufseher gerichtet. »Es hat nicht das geringste Bedenken,« sagte der Mann. »Ich darf die Zelle nicht verlassen, und mein Kamerad, der außen die Wache hält, wird Euer Hochwürden in die Zelle des Herrn Rudio geleiten. Das ist der Schlimmste, er thut nichts als heulen, obschon ich glaube, daß der Kleine, der Major, wie er sich nennt, Pierri. mehr Furcht hat, als er sehen lassen will.«

»So reden Sie diesem armen Manne zu, der Gnade Gottes sich demütig anzuvertrauen, damit ich bei meinem Besuch morgen früh eine aufmerksamere Stimmung in ihm finde!«

Der Geistliche klopfte an die Thür, die sich sofort öffnete, und verließ die Zelle. Der Aufseher sprach einige Worte mit seinem Gefährten, dann wurde die Pforte wieder verschlossen.

Man hörte Schritte sich entfernen und dann nur noch den gemessenen Tritt der Schildwache, die auf dem Korridor der Verurteilten mit geladenem Gewehr auf und nieder ging.

Der falsche Sakristan horchte einige Augenblicke, dann wandte er sich zu dem Gefangenenwärter, indem er dicht zu ihm herantrat.

»Sie sind der Mann, der bei diesem Herrn bis zu seinem Tode bleibt und bei der sogenannten Toilette des Henkers zugegen ist, kurz, der ihm die letzten Dienste erweisen soll?«

»Ja, Monsieur.«

»Gut, dann habe ich Ihnen einen Namen zu nennen, es ist der des Lord Heresford!«

»Das genügt, Monsieur. Wer Sie auch sein mögen, ich sehe. Sie sind im Geheimnis!«

»Ich habe vor kaum einer halben Stunde den Lord verlassen und bin hier, um alles vorzubereiten und Signor Orsini zu verständigen.«

»Dann, Monsieur, beeilen Sie sich. Sie können jeden Augenblick abgerufen werden. Ich werde unterdes an der Thür Wache halten.

» Parlate Italiano?«

Der Mann sah ihn groß an. »Was meinen Sie?«

»Ich fragte, ob Sie Italienisch verstehen?«

»Nein, Herr!«

»Gehen Sie also an die Thür. Sie wissen, daß der Lord mit der Belohnung nicht knickert.«

»Ich weiß, ich weiß! Aber auch, daß man mich nach Lambessa oder Cayenne schicken kann!«

Der Aufseher stellte sich horchend an die Thür; der falsche Sakristan ging auf den Gefangenen zu, der sich, ihr Zwiegespräch mit großer Erregung beobachtend, auf sein Lager gesetzt hatte.

»Felicio!«

»Ah! – ich kenne diese Stimme! Ich habe mich also nicht getäuscht. Es ist der Prophet!«

»Für die anderen meinetwegen, für Sie Ihr Freund! Wissen Sie, daß der Befehl zu Ihrer Hinrichtung bereits erteilt ist?«

Der Verschwörer fuhr zusammen. »Zu wann?« stammelte er endlich.

»Übermorgen, Sonnabend früh!«

»Und will man mich wirklich sterben lassen wie einen Hund?« fragte der Gefangene wütend. »Sind das die Versprechungen, die man mir gemacht? Aber ich werde mich rächen, ich werde dann nicht allein sterben, ich –«

»Still!« gebot der Sakristan. »Hätten Sie Ihre Absicht mit etwas mehr Geschicklichkeit oder Ruhe ausgeführt, so befänden Sie sich jetzt nicht in diesen Mauern. Doch das läßt sich nicht ändern, es handelt sich vorläufig nur darum, Sie zu retten! Sie wissen nicht, daß über diesem Versuch bereits mindestens zwanzig Menschen, die in der Nacht zum 5ten einen Aufstand vor La Roquette machten, nach Cayenne wandern werden. Was enthält jenes Papier, von dem Sie sprachen?« Er wies nach dem Tisch.

Der Verurteilte zögerte.

»Antwort bei Ihrem Eid, Felicio Orsini!«

Der Republikaner holte tief Atem. »Es ist – es ist die Bitte um Begnadigung!«

Der Sakristan ging, ohne eine Antwort zu geben, nach dem Tisch, las das Papier, das übrigens erst einige Zeilen enthielt, und zerriß es.

»Setzen Sie sich, und schreiben Sie, was ich Ihnen diktiere!«

Der Verurteilte gehorchte. Bei der Unterredung bedienten sich übrigens beide nur der italieni 

schen Sprache.

»Ich bin bereit!«

»›Sire!

An der Schwelle des Schafotts sende ich dem Mitgliede des Bundes der Carbonari, das jetzt auf dem Throne von Frankreich sitzt und mit der Gewalt seiner Bajonette die Hauptstadt Italiens und damit Italien selbst gefesselt hält, mein Testament!‹«

 

»Mein Testament!« wiederholte der Schreibende.

»Fahren Sie fort:«

 

»›Die italienische Liga hatte Sie nicht gerufen, Sie und Ihr Bruder sind freiwillig in den Bund getreten und haben den Eid bei Ihrem Leben geleistet. Ihr Bruder starb für die Freiheit, – das Wie? ist Ihnen am besten bekannt! – Sie selbst sind einer unserer Tyrannen geworden. In der Nacht, als Ihre Kanonen das letzte Bollwerk des mit dem Blut Ihrer Bundesbrüder frei gewordenen und verteidigten Rom niederwarfen, schworen hundert Männer einen heiligeren Eid, als der Ihre war, dieses Blut zu rächen. Sire, wir, die Sie auf das Schafott senden, sind nun die ersten, die nach langem Zögern, nachdem wir sieben Jahre lang auf Ihre Umkehr und die Erfüllung Ihrer Versprechungen gewartet haben, ihren Eid lösen.

»›Greifen Sie zurück in die letzten Erinnerungen Ihrer geheimen Politik, und Sie werden wissen, was uns den Dolch in die Hand gegeben hat.‹«

 

»Mailand!« sagte der Schreiber.

»Bologna und Venedig! Weiter!«

 

»›Von diesem Augenblick an giebt es nur zwei Dinge: die Befreiung Italiens oder Ihren Tod. Sie können noch hundert Köpfe unter dem Eisen Ihrer Guillotine fallen lassen, aber der hundertunderste wird Ihren Fall sehen. Aus der Mitte Ihrer Kohorten heraus wird der Tod, in welcher Form es auch sei, Sie holen. Denken Sie an das Schicksal Cäsars! Die Tuilerien gewähren nicht mehr Schutz, als das Kapitol!

»›Ich sterbe, Sire, indem ich Sie binnen hier und einem Jahre vor den Richterstuhl derer lade, die seit vierzig Jahren für die Freiheit Italiens gestorben sind, wenn bis dahin mein Blut nicht durch Ihre Kriegserklärung an Österreich gesühnt ist. Ich verwerfe Ihre Gnade und sterbe als ein Märtyrer meiner Überzeugung und als ein Rächer meines Volkes.

»›Sire! Wählen Sie! Ich vermache die Sorge für meine Familie, meinen Freunden und die Pflicht, meinen Tod zu feiern oder zu rächen, Italien.‹«

 

»Unterzeichnen Sie: »La Roquette. Felicio Orsini!«

Der Verurteilte hatte es gethan, er warf jetzt die Feder mit Erbitterung nieder.

»Gut! Sie wollen meinen Tod, so sei es denn!« sagte er finster. »Ich will Ihnen zeigen, daß ich meinen Eid halte!«

Er hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt, die Arme auf den Tisch gestützt.

Der »Prophet«, wie er ihn nannte, hatte das Papier genommen und es in Briefform gefaltet.

»Sie sind noch nicht fertig. Schreiben Sie die Adresse des Kaisers, aber mit fester Hand. Unten die Bemerkung: Mein Testament. Nach meinem Tode zu übergeben!«

In stummer Verzweiflung leistete der Gefangene Folge.

»So ist es gut. Diesen Brief behalten Sie bei sich, bis Sie den Todesgang antreten sollen. Dann vergessen Sie nicht, ihn zurückzulassen, oder besser, übergeben Sie ihn dem Manne dort, der Sie bis zum letzten Augenblick nicht verlassen soll. Er wird für die Beförderung sorgen!«

»Sie sind Erz und Marmor,« sagte der Verurteilte bitter. »Bedenken Sie, daß ich nur ein Mensch bin, und spannen Sie die Saiten nicht zu straff!«

»Eben deshalb, weil ich Sie nicht ganz für einen Brutus halte, wollen wir jetzt von Ihrer Rettung sprechen!«

»Von meiner Rettung? Sie fügen noch den Hohn zu Ihrer Hartherzigkeit!«

»Sie irren sich; ich bin von nichts mehr entfernt, als davon, Sie zu verhöhnen oder zu täuschen. Ihre Rettung ist eine abgemachte Sache. Ich dächte, der Umstand, daß Sie mich hier sehen, und daß jener Mann dort von unserer Unterredung keine Notiz nimmt, könnte Ihnen schon Bürgschaft genug sein.«

»Das ist wahr. Aber ich kenne Ihren Einfluß; daß Sie in Paris waren unter irgend einer Verkleidung und Verbindungen in meinem früheren Gefängnis hatten, wußte ich aus den Anweisungen und Botschaften, die Sie mir während der Prozesses haben zugehen lassen. Aber wenn sich vor Ihnen auch die Thüren der Kerker öffnen, so dürfte es doch ein anderes mit uns sein!«

»Ich kann auch bloß für Ihre Rettung bürgen, Pierri und Rudio müssen ihr Schicksal tragen. Sie aber, wenn Sie Mut und Ruhe bewahren, sollen frei aus diesem Kerker herausgehen!«

»Ja, auf das Schaffot!«

»Es führt ein Weg neben dem Schafott vorbei!«

»Nein, das Eisen der Guillotine wird fallen – aber auf den Kopf eines anderen!«

Der Verurteilte blickte den Verkünder dieser seltsamen Rettung mißtrauisch und fragend an. »Was soll das heißen?«

»Sie wissen, daß Sie zur Strafe des Vatermordes verurteilt sind?«

»Ja, ich soll die Hand verlieren, ehe man mir den Kopf zum besten dieses würdigen Vaters abschneidet!«

»Das Urteil ist in dieser Beziehung gemildert. Aber was wichtiger ist, Sie werden mit verhülltem Haupte das Schafott betreten.«

»Nun?«

»Die Personen, die Sie in dem letzten Augenblick in Ihre Zelle umgeben zur Vornahme der sogenannten Toilette der Verurteilten sind bestochen. Man wird eine andere Person an Ihre Stelle schieben, irgend einen des Todes längst würdigen Verbrecher, der das Fallbeil erwartet. Sie werden in der Kleidung eines der Knechte des Nachrichters das Gefängnis verlassen im Augenblick, wo die Hinrichtung vor sich geht. Ein Fiaker erwartet Sie am hinteren Ausgang von La Roquette und bringt Sie bis vor die Barriere. Dort harrt ein Wagen, der Sie mit Ihrem Begleiter im Galopp bis Ereil bringt, wo Sie den Bahnzug nach Brüssel besteigen. Das übrige ist die Sache Ihres Begleiters. In Brüssel finden Sie alles nötige, um sofort nach England zu gehen.«

»Gott sei Dank! Wenn ich England erreichen kann, …«

»England ist in diesem Augenblick kein Boden für Sie. So sehr man auch geneigt sein würde, sich über Ihre Flucht zu freuen und diese zu unterstützen, kann man Sie doch nicht offen beschützen, da man die französische Alliance braucht. Man würde gezwungen sein, Sie auszuliefern. Sie dürfen England nur betreten, um sofort nach Liverpool zu gehen und sich dort mit dem ersten Dampfer nach Amerika einzuschiffen.«

»Aber man wird den Betrug bald entdecken, man wird mich verfolgen!« sagte der Italiener eigensüchtig, ohne mit einer Silbe des Schicksals seiner Gefährten zu gedenken.

»Nein, nur ein unglücklicher Zufall kann überhaupt eine Entdeckung herbeiführen, ehe sie von Ihnen selbst ausgeht. Die Toten sprechen nicht, und die Lebenden und Wissenden werden sich hüten, es zu thun, bis es an der Zeit ist. Darum auch müssen Sie selbst unter anderem Namen in Amerika verborgen bleiben, bis Sie von dem Bunde die Erlaubnis erhalten, wieder hervorzutreten.«

»Und – – wenn es nun mißglückt?«

»Dann halten Sie Ihren Eid, und sterben Sie wie ein Mann, der jenen Schergen der Gewalt zeigt, was die Begeisterung für die Freiheit vermag. Der Erfolg hätte Ihre That geadelt, jetzt muß es Ihr Tod thun. Aber fürchten Sie nichts, die Vorbereitungen sind so gut getroffen, daß ein Mißlingen kaum möglich ist. Darum, wenn man Sie morgen mit Versprechungen von Gnade oder Drohungen bestürmt, halten Sie fest, und zeigen Sie ihnen die Verachtung des Mannes, der bereit ist, für seine Sache zu sterben!«

»Ich werde es!« sagte der Verurteilte, indem der alte Fanatismus wieder den Sieg gewonnen, mit funkelndem Auge. »Der Prophet soll den Schüler seiner würdig finden.«

In diesem Augenblick sah der Gefangenwärter von der Thür auf.

»Man kommt, um Sie zu rufen!« sagte er.

Der Sakristan war im Augenblick wieder in seiner Rolle.

»So leben Sie denn wohl bis morgen, unglücklicher Mann,« sprach er salbungsvoll, und möge Gott Ihr Herz rühren, daß die Worte unseres frommen Abbé in demselben Eingang finden! Bedarf der hochwürdige Herr meiner?« fragte er den eintretenden Aufseher.

»Ja, Herr Sakristan, der Abbé wünscht Sie in der Zelle des Gefangenen Rudio zu sehen!«

»Also nochmals Mut und Vertrauen, Signor Orsini,« sagte der Verkleidete auf französisch. »Gott sei mit Ihnen!«

Die Thür fiel hinter ihm ins Schloß. – –

Einige Minuten nachher kehrte der Mann im Mantel aus dem geheimen Gange zurück und trat in das Vorzimmer, wo der Direktor und der General warteten.

»Kommen Sie!«

»Wohin befehlen Euer …«

Der Unbekannte unterbrach ihn herrisch. »Still! – Haben Sie nicht verstanden, daß General Roquet Ihnen Schweigen in jeder Beziehung auferlegt hat?«

Der Direktor verbeugte sich ehrerbietig.

»Führen Sie uns zurück nach dem gewöhnlichen Aufgang. Ich wünsche in die Zelle des Signor Orsini zu treten und mit ihm zu sprechen. Sie werden die beiden Aufseher, die bei ihm postiert sind, so lange entfernen.«

»Aber – ich bitte um Entschuldigung – der Gefangene ist nicht gefesselt, er ist ein verwegener und entschlossener Mensch, und es dürfte nicht ohne Gefahr sein …«

»Sie werden die Thür hinter mir nicht verschließen und mit dem General in der Nähe derselben bleiben, so daß Sie jeden Ruf hören können. Gehen Sie voran.«

Während der Direktor das Licht nahm und auf dem Wege zurückging, den sie vorher gekommen, näherte sich der General seinem Begleiter.

»Ich bitte Sie, die Warnung dieses Herrn zu beachten,« sagte er flüsternd. »Es ist doch zu gefährlich, gestatten Sie mir wenigstens, dabei zu sein.«

»Nein, Roquet, das geht nicht! Überdies können Sie unbesorgt sein, ich bin nicht ohne Waffen.«

Er hob unter dem Mantel die Hand empor und öffnete sie.

Aus dem Ärmel ragte der kurze fünffache Lauf eines jener kleinen Taschenrevolver, die man bequem in der hohlen Hand bis zum Gebrauch verbergen konnte.

Der Offizier nickte beruhigt.

Unterdes war der Direktor wieder bis zu dem Schrank gekommen und visierte durch eine geheime Klappe, ob der Gang leer sei, dann öffnete er, und sie traten hinaus.

Der Beamte schritt ihnen die Treppe vorauf und führte sie nach dem Vorplatz, von dem aus man die verschiedenen Gänge übersehen konnte. Dort bat er sie, einige Augenblicke zu verziehen und trat dann in den Korridor, der zu den Zellen der zum Tode Verurteilten führt.

Gleich darauf kamen die beiden Aufseher, die in und vor der Zelle Orsinis ihren Posten hatten, an ihnen vorüber.

Der Direktor winkte, sie traten näher und standen vor der mit Eisen beschlagenen Thür.

»Sie ist offen, wenn Sie noch befehlen, einzutreten!«

»Gut. Bleiben Sie hier und merken Sie auf!«

Der Unbekannte öffnete selbst die Thür und trat in die Zelle, den Hut auf dem Kopf, den Mantel vor dem Gesicht. Orsini saß an dem Tisch und schrieb eifrig.

Als er den Fremden eintreten sah, glaubte er wahrscheinlich, es sei ein Beamter des Gerichts, denn er blieb ruhig sitzen und sagte mit trotziger und höhnischer Miene:

»Sie kommen wahrscheinlich im Auftrage des Tyrannen Frankreichs und Italiens, um mir anzuzeigen, daß seine Guillotine ihr Amt an mir verrichten soll? Nun, ein paar Stunden eher oder später, es kommt nichts darauf an! Lassen Sie mich nur den Satz eines Briefes an meine Frau beendigen, und ich stehe sogleich zu Diensten!«

Der Fremde trat an die andere Seite des Tisches, ließ den Mantelkragen fallen und nahm den Hut ab.

So blieb er stehen.

Der Italiener schrieb in der angenommenen Gleichgültigkeit noch ein oder zwei Minuten weiter, ohne die Augen zu erheben.

Dann sagte er: »Ich bedauere, mein Herr, daß ich Ihnen keinen anderen Sitz als jene Bank anbieten kann. Se. Majestät der Kaiser Louis Napoleon hat mich etwas schlecht möbliert logiert.«

»Das ist wahr,« sagte der Unbekannte ruhig in italienischer Sprache. »Aber Sie haben es nicht besser gewollt.«

Der Verschwörer sah erstaunt empor, dann sprang er betroffen auf und starrte den Fremden an, als sehe er eine Erscheinung.

»Träume ich – seh' ich recht? – Sire – Euer Majestät …«

»Still!« sagte der Fremde, »Sie vergessen, Signor Orsini, daß Sie ein Republikaner sind und mich vor vier Wochen haben in die Luft sprengen wollen!«

»Sire,« sagte der Verschwörer finster, »es galt dem Unterdrücker meines Vaterlandes!«

»Sie sind ein Narr mitsamt Ihrem Herrn Mazzini und haben beide nicht warten gelernt. Aber die Kaiserin, die Sie mit Ihren Meuchelmördern so schwer gefährdet, hat um Gnade für Sie gebeten. Ich bin hierher gekommen, um Ihnen einige Fragen vorzulegen, ehe ich mich darüber entscheide. Wollen Sie dieselben beantworten?«

»Ich muß die Fragen erst kennen!«

»Bedenken Sie, es handelt sich um Ihren Kopf, den Sie verwirkt haben!«

»Ich bin bereit, ihn auf das Schafott zu tragen!«

»Und ich wiederhole Ihnen, daß Sie ein Narr sind, wenn Sie Ihr Leben nicht retten wollen.«

»Fragen Sie, und ich werde sehen!«

»Zunächst – man hat mich wissen lassen, daß der Eid zu meiner Ermordung sich schon aus früherer Zeit herschreibt!?«

»Seit dem Tage, da Sie die Freiheit Italiens durch die Eroberung Roms unterdrückt haben.«

»Und warum hat man so lange gezögert? Oder gehörten Pianori und Bellamore auch zu Ihnen?«

»Nur der erstere, der andere war ein Verrückter. Aber nach uns werden Hundert kommen!«

»Das beantwortet meine Frage nicht. Warum haben Sie gerade jetzt Ihr Mordattentat versucht?«

Der Italiener sah ihn spöttisch an.

»Sie haben sonst nicht ein so kurzes Gedächtnis, Sire!«

»Ich verstehe Sie nicht!«

»Nun wohl, ich kannte eines Ihrer politischen Geheimnisse, Ihren neuesten Verrat an Italien!«

Der andere schwieg.

»Pianori,« fuhr der Verurteilte fort, »hob das Pistol wegen Ihres geheimen Vertrages mit Österreich für die Hilfe im Krimkrieg. Sie sicherten ihm damals die Lombardei.«

»Aber Österreich war nicht unser Verbündeter!«

»Man hielt nur so viel, als dem Kabinett von Wien gut dünkte. Eben deshalb schloß England den Vertrag mit Piemont.«

»Sie sehen also, daß Ihre wahnsinnige Partei sich getäuscht hat!«

»Nein, denn Sie hassen Piemont ebenso wie Österreich und handeln nur nach Ihrem Vorteil.« Er trat einen Schritt auf ihn zu, was den andern veranlaßte, fast unwillkürlich die Hand von dem Mantel frei zu machen.

»Fürchten Sie nichts, Sire, obschon ich weiß, daß Sie es waren, der den Aufstand in Mailand, Venedig und Bologna, der Italien frei machen sollte ohne die Waffen Viktor Emanuels, den Österreichern verraten und sie gewarnt hat!«

»Das ist falsch!«

»Es ist!«

Der Besucher biß sich auf die Lippen. »Wer hat Ihnen oder Herrn Mazzini dieses Märchen aufgebunden?«

»Ihre Alliance mit England, Sire, steht auf sehr schwachen Füßen! Soll ich Ihnen vielleicht die Details der Mitteilung bezeichnen? Lord Palmerston ist in Wien sehr gut bedient!«

»Also von dort her? Ich hätte es mir denken können!« Er biß die Zähne aufeinander. »Nun gut, ich will es nicht leugnen, denn das Geheimnis geht mit Ihnen zu Grabe. Ich will Ruhe in Europa!«

Wiederum lächelte der Italiener spöttisch. »Wenn England es Ihnen erlaubt, Sire!«

»Wiederum England und immer England! Nun wohl, Signor Orsini, ich habe Ihnen angeboten, Ihren Kopf zu retten, ja ich verspreche Ihnen, nach kurzem Gefängnis Sie ganz zu begnadigen und Ihnen selbst die Mittel zu einem anständigen ruhigen Leben zu sichern, wenn …«

»Nun, Sire, wenn …«

»Sie haben dies abscheuliche Attentat, das so vielen Menschen das Leben gekostet hat, in England vorbereitet!«

»Der Prozeß enthält darüber das Nötige.«

»Ja, aber er läßt das meiste hinter den Coulissen. Er enthüllt nicht einmal die Person dieses mysteriösen Master Alsop. Offenbar hätten Sie alle die Vorbereitungen und Proben in England nicht treffen können, wenn Sie nicht einen geheimen Schutz gehabt hätten.«

»Sire, England ist ein sehr freies Land!«

»Für die Verbrecher ja, sonst nicht! Ich kenne es zur Genüge. Ich weiß ganz bestimmt, daß die Absicht des nichtswürdigen Attentats dem Kabinett von St. James vorher nicht unbekannt gewesen ist!«

»Dann Sire,« sagte der Italiener kalt, »wissen Sie mehr als ich! Aber wie ich aus dem Prozeß gehört habe, hat die Londoner Polizei ja vorher gewarnt!«

»Ja, wie es alle Monat mindestens zweimal geschieht! Stellen Sie sich nicht, als ob Sie mich nicht verständen, Signor Orsini. Ich verlange von Ihnen eine Erklärung und die Beweise, um das englische Kabinett vor Europa des Mordversuchs gegen mich anklagen zu können! Ich bin überzeugt, ich weiß, daß Sie dies können!«

»Nun, Sire, ja – ich kann es!«

»Also gut – wir sind einig! – Sie werden den General-Prokurator und zwei Mitglieder des obersten Gerichtshofes morgen zu sich fordern und vor diesem Ihre Aussage zu Protokoll geben!«

»Welche Aussage?«

»Nun, in betreff der Mitwissenschaft des englischen Kabinetts!«

»Ich weiß von nichts!«

»Aber Sie haben im Augenblick ja mir die Thatsache selbst zugestanden!«

»Ihnen gegenüber, Sire, das ist etwas anderes! Vor der Öffentlichkeit habe ich keine Ursache meinen Brüdern das letzte Asyl, Italien die letzte Hoffnung zu verschließen, die ihnen bleibt!«

»Also Sie weigern sich, die Aussage zu machen, die allein Ihren Kopf retten kann?«

»Ich bin ein Republikaner, aber kein Verräter! Suchen Sie diese in Frankreich und selbst auf dem französischen Kaiserthron!«

»Wahnsinniger, ich hätte Ihnen alles verziehen, aber Sie müssen begreifen, daß Sie nach dieser Unterredung meinen Willen erfüllen oder das Schafott besteigen müssen. Ich warne Sie, täuschen Sie sich nicht mit falschen Hoffnungen!«

»Ich ziehe das Schafott vor!«

»Ist dies Ihr letztes Wort, Signor Orsini?«

»Ja, Sire!«

»Dann wollen wir scheiden. Setzen Sie Ihren letzten Willen auf. Sie kennen jetzt meine Gesinnungen auf Kosten Ihres Kopfes, Sie selbst haben die Gnade zurückgewiesen und wollen Ihr Schicksal. Ich gebe Ihnen mein Wort, soviel wie möglich Ihr Testament zu erfüllen.«

»Und Italien, Sire?«

»Wenn der König von Sardinien von den Deutschen angegriffen wird, werde ich sein Verbündeter sein!«

»Das ist für den Eid eines Carbonari wenig genug, wenn es auch der Krone Frankreichs vielleicht sehr nützlich sein mag,« sagte der Verschwörer spöttisch. »Genug, Sire – meine Stunden sind gezählt und ich brauche sie, um Ihnen und der Welt zu zeigen, daß Ihre Guillotine keine Schrecken für mich hat!«

»Wir werden sehen. Meine Aufgabe ist: die Größe Frankreichs, die Sicherheit Europas. In diesem Gefühl vergebe ich Ihnen den Mordversuch gegen mich!«

»Und ich vergebe Ihnen meinen Tod, Sire!«

Der Fremde klopfte an die Thür, die sich sofort öffnete.

Er warf noch einen Blick zurück auf den Verurteilten, der ihm eine kalte höhnische Verbeugung machte.

»Signor Orsini, gedenken Sie morgen an diese Stunde!«

Die Thür schloß sich hinter ihm, man hörte in demselben Augenblick noch das trotzige, spöttische Lachen des Verurteilten.

Der Fremde hatte wieder den Mantel um sich gezogen.

»Führen Sie uns in das Zimmer, in dem Sie uns bei unserer Ankunft empfingen!« befahl er kurz.

Der Direktor ging ehrerbietig voran.

Als sie auf den großen Treppenflur kamen, in den die Korridors des Gefängnisses münden, trat gerade aus dem nächsten ein Aufseher mit zwei Personen.

Es waren der alte Almosenier des Gefängnisses, Abbé Hugon mit seinem Sakristan.

Der Direktor konnte das Zusammentreffen nicht mehr vermeiden, er blickte entschuldigend nach dem Mann im Mantel, der ruhig mit dem Kopfe nickte, zum Zeichen der Zustimmung.

Abbé Hugon grüßte höflich die Fremden und trat zu dem Direktor.

»Es ist traurig, zu sehen, wie sich der Mensch gegen den Tod wehrt; der eine mit erheucheltem Trotz, der andere mit kläglicher Furcht, statt sich reuig seinem Erlöser in die Arme zu werfen,« sagte der Greis. »Ich habe kaum je die Schwere meines Amtes so gefühlt, wie heute!«

»Hoffen wir, daß es Ihren Ermahnungen gelingen wird, die Unglücklichen zu einer passenden Stimmung zu bringen, ehrwürdiger Herr,« erwiderte der Direktor. »Sie waren bei Orsini?«

»Ja und bei Rudio. Nottelet hat seinen geistlichen Zuspruch dem Verurteilten Pierri zugewendet. Ist denn keine Gnade zu hoffen?«

Der Direktor zuckte die Achseln. »In betreff Orsinis und Pierris schwerlich!«

»Dann helfe uns Gott in dem schweren Werk, sie wenigstens christlich sterben zu machen! Kommen Sie!«

Die letzten Worte waren zu dem Sakristan gesprochen, der ihn begleitete.

Dieser hatte sich während der kurzen Unterredung möglichst zurück und im Schatten gehalten, nachdem er einen raschen scharfen Blick auf die begegnende Gruppe geworfen. Jetzt kam er, indem er dem Priester in seiner anscheinend vom Alter gebeugten Haltung nachschlich, dicht an dem Mann im Mantel vorüber.

Dieser ließ in demselben Augenblick den Kragen des Mantels fallen, mit dem er den unteren Teil des Gesichts bedeckt hielt.

Der falsche Sakristan schlug bei dieser Bewegung das Auge auf und begegnete dem auf ihn gerichteten Blick.

In diesem Blick lag ein eigentümlicher Ausdruck von Ironie.

So große Selbstbeherrschung der Mann, den der Verurteilte als den »Propheten« bezeichnet hatte, in den tausend Gefahren auch gewonnen, mit denen er sein ganzes abenteuerliches Leben lang gekämpft, so konnte er bei dem Anblick dieses Gesichts und dieses ironisch auf ihn gerichteten Auges doch eine unwillkürliche Bewegung der Überraschung, ja, des Erschreckens nicht unterdrücken.

Im nächsten Moment hatte er seine Ruhe wiedergewonnen und schritt, als ob er nicht das Geringste gemerkt habe, hinter dem Geistlichen drein die Treppe hinab und nach dem vorderen Teil des Gefängnisses.

Der ungenannte Begleiter des Generals hatte sofort wieder den Mantel vor das Gesicht gezogen und gab dem Direktor einen Wink, den Weg fortzusetzen. Dieser führte sie zurück nach dem Bureau, in das sie zuerst eingetreten waren.

Der Unbekannte setzte sich sogleich in einen Sessel und ließ den Mantel sinken. Der Beamte blieb in ehrerbietiger Haltung vor dem Tische stehen.

»Ich sehe, Sie haben mich erkannt, mein Herr!«

»Ja, Sire!«

»Nun gut, dann wissen Sie, daß Schweigen Ihnen doppelte Pflicht ist! Zur Sache! Welcher Beamte begleitet den Scharfrichter bei den Vorbereitungen zu der Hinrichtung!«

»Mein Stellvertreter, Sire, der Oberaufseher des Gefängnisses, der zugleich die Aufsicht über den Krankensaal führt.«

»Sein Name?«

»Durand, Sire, er ist ein sehr zuverlässiger, pflichtgetreuer Mann und Euer Majestät ganz ergeben.«

»Bemerken Sie den Namen, Roquet!«

»Ist derselbe bei der sogenannten Toilette der Verurteilten zugegen?«

»Ja, Sire, er, der Scharfrichter mit seinem ersten Gehilfen und der Aufseher, der den Gefangenen in den letzten Tagen bewacht hat.«

»Welcher Nachrichter vollzieht das Urteil?«

»Es ist das Privilegium des Scharfrichters von Paris, doch hat er das Recht, sich einen seiner Gehilfen oder Kollegen zu substituieren!«

»Gut! Entfernen Sie sich jetzt, ich habe einige Augenblicke mit General Roquet zu thun. Sorgen Sie, daß wir hier nicht gestört werden. Ich werde Sie dann rufen lassen!«

Der Direktor entfernte sich gehorsam mit einer ehrerbietigen Verbeugung.

»Jetzt, General, setzen Sie sich hierher und schreiben Sie!«

Der General gehorchte. »Ich bin bereit, Sire!«

»Zuerst Order an Marschall Magnan, Gouverneur von Paris, die Dispositionen für die morgen, oder vielmehr heute mittag um 12 Uhr die Wachen beziehenden Regimenter eine Stunde vorher zu ändern und namentlich für das Gefängnis La Roquette ein anderes Regiment zu bestimmen als an der Reihe ist!«

»Fertig, Sire!«

»Weiter! Order an General Espinasse, sofort und noch diese Nacht durch den Telegraphen die Scharfrichter von Rouen und Caen hierher zu berufen, so daß sie diesen Abend in Paris eintreffen!«

Der General schrieb eilig. »Es ist geschehen, Sire!«

»Instruktion für den Offizier, der die Wache des Gefängnisses kommandiert: abends 10 Uhr einen Doppelposten vor das Lazarett der Anstalt zu stellen und niemandem, selbst den Aufsehern nicht, den Austritt bis zum anderen Morgen 8 Uhr zu gestatten! Siegeln Sie die Order mit Ihrem Ring!«

Der General that es.

»Nun noch eine Instruktion für den Direktor des Gefängnisses. Erstens: Von dem Augenblick des Bezugs der neuen Wachen, also von Mittag ab, darf niemand und unter keinerlei Vorwand mehr die Rundmauern des Gefängnisses verlassen bis 9 Uhr des anderen Morgens. Zweitens: Der Direktor hat an Stelle des bisher dazu bestimmten Beamten selbst der sogenannten Toilette der beiden Verurteilten beizuwohnen. Drittens: die Hinrichtung des Verurteilten Orsini geschieht nicht durch den Scharfrichter von Paris, sondern durch den von Rouen. Der Wechsel ist diesen Beamten des Kriminalgerichts erst am Morgen der Hinrichtung mitzuteilen. Sind Sie fertig?«

»Ja, Sire!«

»So schließen Sie die letzte Instruktion und die an den kommandierenden Offizier in ein Couvert und bezeichnen Sie es mit ›Geheim‹ und dem Befehl, es erst mittag 12 Uhr zu eröffnen.«

»Sire, ich verstehe Sie nicht recht – ist etwas geschehen, was diese Veränderungen notwendig macht?«

»Nichts von Bedeutung, General. Ich habe nur einen alten Bekannten, der sich noch nicht daran gewöhnen kann, daß Aschermittwoch vorüber und die Maskenscherze des Faschings nicht mehr an der Tagesordnung sind!«

»In der That, ich verstehe Sie nicht, Sire!«

»Später! Später! Aber wissen Sie, wem wir eben in diesem so wohl bewachten Gefängnis von La Roquette begegnet sind?«

»Wen meinen Sie? dem Geistlichen?«

»Nein, Herrn Mazzini

»Mazzini?«

»Ja, oder wenn Sie den vollständigen Namen wissen wollen, Signor Giuseppe Mazzini!«

»Das ist unmöglich, Sire!«

»Oh – doch!«

»Aber dann muß man die Person, die verdächtig ist, dieser ewige Revolutionär und Meuchelmörder zu sein, sofort verhaften. Ich will sogleich selbst eilen …«

»Bleiben Sie ruhig sitzen, General und siegeln Sie den Brief. Ich denke nicht daran, Herrn Mazzini einzusperren, ich habe noch gewisse Verpflichtungen gegen ihn von Ham her. Überdies wäre es leicht möglich, daß wir in weniger als einem Jahre wieder ganz gute Freunde sind. Diese Herren italienischen Propagandisten sind nur etwas zu ungeduldig und heißblütig! So, jetzt rufen Sie den Direktor, und lassen Sie an dem hinteren Thor den Wagen vorfahren!«

»Und die Mörder, Sire?«

»Die Mörder? Nun, sie sind ja verurteilt und müssen ihr Schicksal tragen. Ich mische mich nicht in die Sprüche meiner Gerichtshöfe!«

Der Direktor trat ein. – – – –


Die letzten Ceremonien waren vorüber, die Menge der Neugierigen, die bis zu dem Kirchhof gelangt waren, verlief sich, während die Indier mit ihren Fackeln bei dem Grabe zurückblieben.

Der Lord hatte den Arm des Preußen gefaßt.

»Lassen Sie uns gehen, es ist Zeit! Wir können diesem würdigen Herrn von Audh, der nicht einmal das Vergnügen eines Königlichen Harems gehabt hat, wie seine Vorgänger, doch nichts mehr nützen. Und nun zu dem Dienst, den Sie mir leisten sollen. Wann wollen Sie nach Brüssel zurückkehren?«

»Sobald wie möglich, Mylord, sobald ich die Personen gesprochen habe, die ich aufzusuchen gekommen bin. Spätestens Sonnabend oder Sonntag mit dem Frühzug, wenn ich solange hier mit Sicherheit bleiben kann.«

»Das ist eine leichte Sache, ich bürge dafür. Der Dienst, um den ich Sie bitten werde, ist, eine Person glücklich aus Frankreich zu schaffen, etwa als Ihren Diener. Ich sage Ihnen aber offen, die Sache ist nicht ohne Gefahr.«

»Desto besser.«

»Haben Sie eine Legitimation aus Brüssel?«

»Nein! Ich bin bei Erquelines heimlich über die Grenze gegangen und habe den Umweg über Reims gewählt.«

»Das wird auf dem Rückweg nicht nötig sein, es handelt sich darum, so rasch als möglich die Grenze zu überschreiten.«

»Sagen Sie mir Ihren Plan!«

»Wir müssen es auf alle Gefahr wagen, den Brüsseler Zug zu nehmen. Er geht um 9 Uhr ab. Sie werden Paris mit jener Person um 7 Uhr zu Wagen verlassen und erst in Ereil einsteigen, als kämen Sie vom Lande. In Douai verlassen Sie wieder den Zug, und dann ist es Ihre Sache, über die Grenze zu kommen. Sie dürfen nichts dabei sparen. Sie haben plein pouvoir, die besten Pferde zu kaufen und sie zu Tode zu reiten.«

»Ich hoffe, die Sache einfacher zu bewerkstelligen, wenn mein Begleiter nur ein guter Fußgänger ist!«

» By Jove! ich versichere Sie, er wird laufen, als ob die Sohlen ihm brennten. Ich sage Ihnen die näheren Umstände nicht, um Ihnen eben volle Ruhe zu sichern und Sie vor unnützer Verantwortlichkeit zu bewahren. Wir sprechen ausführlicher darüber. Wenn Sie eben noch kein Unterkommen in Paris haben, wird der Ort, wohin wir gehen, der beste sein.«

»Und wohin führen Sie mich, Mylord, wenn ich fragen darf?«

»Gerade an keinen, wie ich glaub, in betreff der Tugend und Mäßigkeit sehr empfehlenswerten Ort, in eine der Schenken jenseits der äußeren Boulevards, wo es heute abend laut genug zugehen dürfte, da ein guter Teil von Paris nach dieser Seite des neuen Ninive gelockt worden ist. Ich erwarte dort jemand, mit dem ich mich wegen der Angelegenheit besprechen kann!«

Sie gingen weiter, den Boulevard des Amandiers entlang, bis sie in die Nähe des Pas Rosier kamen.

Trotz der Abgelegenheit der Gegend war der Ort ziemlich belebt. Die Schaulustigen, die sich auf die Nachricht von der bevorstehenden Hinrichtung in der Nähe von La Roquette versammelt hatten, verbrachten die Nacht in den Kneipen, um sich am nächsten Morgen zu überzeugen, daß sie sich vergeblich bemüht hatten. Andere Gruppen kamen vom Père-Lachaise und mischten sich unter die, welche der Ruf der Weinkneipe, die der Sakristan dem Lord zum Rendezvous bezeichnet hatte, direkt dahin zog.

Obschon es in der Fastenzeit und daher jede öffentliche Tanzlustbarkeit verboten war, wußten die Besucher des Rosier d'or oder »Goldenen Rosenstrauch«, wie die Kneipe aller Botanik entgegen hieß, sich vollkommen zu entschädigen, und die Polizei drückte willig ein Auge zu, weil sie gewiß war, hier immer die besten Nachrichten und geeigneten Falls einen sicheren Fang zu machen.

Ein Vorzug derartiger Pariser Kneipen war der Umstand, daß die Gesellschaft, selbst wenn die Hefe der Vorstädte dort verkehrte, selten einseitig war, sondern immer ein buntes Bild der verschiedensten Stände bot.

Wie erwähnt, lag der Rosier d'or in einer Sackgasse des Boulevard des Amandiers. Das vordere Haus, durch die bunten Laternen gekennzeichnet, war einstöckig, als gewöhnliche Tabagie für die spießbürgerlichen Stammgäste der Nachbarschaft eingerichtet.

Aber neben dem gewöhnlichen Hausflur befand sich eine Einfahrt, die zu dem Hofraum, dem Sommergarten und den Lokalitäten führte, die durch einen Seitenflügel mit dem Vorderhause verbunden und der eigentliche Aufenthalt der Gäste waren.

Ein großer Saal war mit Tabaksrauch, mit den Dünsten von Wein, Branntwein und Speisen und der Musik zweier Harfenistinnen und einer Flöte gefüllt.

Wer den Cancan in seiner Vollkommenheit, das heißt den Matratzenball en debout, sehen wollte, der hatte im Rosier d'or Gelegenheit dazu.

Die Pariser Polizei hat mehr zu thun, als sich für gewöhnlich um die Decenz in einer öffentlichen Tanzkneipe zu kümmern. An den privilegierten Orten, wie die Clauserie de lilas, Chateau rouge, Mabille u. s. w., transportiert man die Extravaganten ohne viel Lärm hinaus, und das Publikum nimmt nicht die geringste Notiz davon, weil jedermann weiß, daß ihm im nächsten Augenblick dasselbe passieren kann. In den Kneipen der Vorstädte hat man nicht einmal diese Rücksicht, sobald nicht geradezu die Nudität regiert, läßt man das Völkchen treiben, was es will.

Es ist überhaupt schlimm, wenn die Polizei die Moralität machen soll!

Im Rosier d'or verkehren nicht die Loretten der Straße Breda und der Chaussee d'Autin. Selbst die Grisetten des Quartier latin haben, wenn sie mit ihren »Männern« nicht eine Extrapartie machen, ihre Vergnügungsorte jenseits der Seine weit bequemer.

Aber es gießt in Menilmontant und den anstoßenden Quartieren verschiedene Fabrik-Etablissements, die Hunderte von Mädchen aus dem Volk beschäftigen, und das ist immer ein guter und frischer Schlag, der es mit den Bewohnerinnen der Straße Breda und mit den Grisetten der Magazine in der inneren Stadt aufnehmen kann.

Er hat keine so feinen Hände, keine so großen Ansprüche, aber bessere Hüften!

Außerdem fehlt es nicht an pikanten Elementen, bei denen nicht bloß das Fleisch den Vorrang hat.

Die kleinen Boulevard-Theater senden ihre Rekruten und selbst ihren Stamm hierher.

Der Wein im Rosier d'or ist kein blauer, sondern für einen Franken die Bouteille wunderbar gut und rein. Der Wirt, Monsieur Carabouche, muß ganz besonders die Kunst verstehen, den Octroi zu betrügen; die Fremden, die hierher kommen, die Routiniers des Café anglais und des Palais Royal, die sich einfinden, um Brautschau zu halten über die tägliche neue Einwanderung aus dem Elsaß und der Champagne, die in Menilmontant ihre Hauptstation hat, locken die dramatische Spekulation in Trikots.

Es ist ein alter Grundsatz, dessen Wahrheit namentlich die Verschwörer von Profession kennen, daß in der größten Öffentlichkeit die sicherste Verborgenheit ist.

Monsieur Carabouche stand mit den Polizeibeamten seines Quartiers auf dem besten Fuß. Er hinderte sie nie daran, einen oder den anderen Besucher seiner »Kränzchen« vielleicht mitten in einer Quadrille oder bei einer Flasche Champagner zu drei Franken beim Kragen zu nehmen und nach einer der nächsten Mairen mit der Aussicht auf Bicêtre oder das Bagno zu bringen, ja, er gab ihnen selbst außer freier Zeche die vortrefflichsten Fingerzeige, aber das that seiner Beliebtheit und seinem Renommee nicht den geringsten Eintrag; denn er lieh auf Pfänder, namentlich an dramatische Künstler, für die er eine besondere Vorliebe zeigte, brauchte willig die Kreide und man wollte wissen, daß er, wo es in seinem Interesse war, ein Geheimnis auch sehr gut zu bewahren verstand.

An Tagen, oder vielmehr in Nächten, wie die heutige war der Rosier d'or überfüllt. An solchen Tagen führte Madame Carabouche, eine kleine, dicke, aber sehr rührige Frau mit einer unermüdlichen Zunge das Regiment am Schenktisch des Vorderhauses, und Herr Carabouche regierte in dem Salon, wie Madame gegen die Nachbarschaft den großen Raum des Hintergebäudes zu nennen liebte. Wir müssen der Persönlichkeit des Herrn Carabouche einige Worte widmen.

Er war ungefähr sechzig Jahre alt und führte das Geschäft seit fünfzehn Jahren. Bis dahin war er zuerst einer der Gehilfen des Totengräbers von Père Lachaise und dann Leichenbitter oder Begleiter der Trauerkutschen gewesen.

Seine Körperkonstitution eignete ihn dazu ganz vortrefflich. Alles an ihm war lang und mager, der Körper, der Kopf, die Nase, die Hände, die Beine, es gab keine Linie an ihm, die nicht in die Länge gegangen wäre, gerade wie bei seiner kleinen runden Frau alles in die Breite ging. Selbst die Augen, die abgesehen von den Chinesen bei gewöhnlichen Menschenkindern eine horizontale Richtung in dem Gesicht nehmen, und der Mund, der gewöhnlich in die Quere zu laufen pflegt, schienen bei ihm diese gewöhnliche Richtung verloren zu haben, um nicht dem Ganzen zu widersprechen.

Man wollte wissen, daß er in seiner Jugend Taschendieb gewesen wäre, weil aber schon damals seine Physiognomie allzu erkennbar erschien, das Geschäft hätte aufgeben müssen. Da er durch irgend einen Zufall seiner Erziehung fertig mehrere Sprachen redete, war er mit Gentlemen oder Kunstreitern und Schauspielern auf Reisen gegangen und eine Reihe von Jahren gänzlich verschollen, bis er nach der Juli-Revolution und der Thronbesteigung der Orleans plötzlich wieder in Paris erschien und sich nach den verschiedenen Wechselfällen des Lebens seltsamer Weise in die Karriere des Kirchhofs warf.

Aus jeder Periode seines Lebens hatte er gewisse Angewohnheiten behalten.

Für gewöhnlich war er trübselig und melancholisch, ja. die Leute, die ihn bei seinem Wiedererscheinen in Paris gekannt hatten, waren der Meinung, daß etwas schwer auf seiner Seele lasten müsse, weshalb er auch einen so melancholischen Beruf ergriffen hätte.

Er besaß merkwürdiger Weise eine sehr schöne Stimme und war ein geübter Sänger.

Nun konnte man ihn in ein und derselben Viertelstunde irgend ein lustiges Chanson aus einer der neuen Operetten, wie sie die Schauspieler und Schauspielerinnen bei ihm trällerten, wiederholen hören, wenn die lustige Gesellschaft ihn dazu verführte. Im nächsten Augenblick aber fiel er plötzlich, wie um die Sünde abzubüßen, in einen schauerlichen Grabgesang, schlug sich die Brust und bekreuzte sich zum großen Gaudium seiner übermütigen Gäste.

Wie mit seinem Gesang, so ging es auch mit seiner gewöhnlichen Redeweise, ausgenommen, daß er die Citate aus der Begräbnismesse mit frivolen Redensarten aus allen Ländern und Sprachen zu variieren liebte, die er vor seinem Gräberposten besucht hatte.

Dieses Original von einem Kneipenwirt stand in einem abgetragenen schwarzen Frack und Beinkleidern, mit weißer, oder vielmehr ursprünglich weißer, Kravatte hinter dem Schenktisch des großen Saales und bemühte sich eifrig, Wein, Punsch und Liköre einzuschenken, oder die Größe der Portionen zu überwachen, die etwa dem scharfen Auge seiner runden Ehehälfte vor dem Verlassen der Küche entgangen waren.

Es war kurz vor 1 Uhr, als der Lord mit seinem Begleiter in den Goldenen Rosenstrauch eintrat, zunächst in das Billardzimmer des Vorderhauses.

Wir wissen, daß Seine Herrlichkeit ganz absonderlich für absonderliche Gesellschaft eingenommen war, und der erste Blick in das Innere belehrte ihn, daß er deren hier in der merkwürdigsten Weise finden könne.

Um das Billard her standen etwa fünf bis sechs Männer mit langen, bis von ihren Hüten auf die Erde herabfallenden oder um die Arme gewickelten Trauerfloren in schwarzer Kleidung, statt der in den Ecken lehnenden Trauerstäbe die Billardqueues in der Hand, Cigarren im Munde und eifrig beschäftigt, eine Boule zu spielen.

Andere in gleichem Kostüm saßen an den Tischen, spielten Karten und tranken Wein zu zehn Sous die Flasche, um sich von den Strapazen des Kirchhofs zu erholen. Es waren die Leichenbitter, die soeben den König von Audh zu seiner letzten Ruhestätte auf der Höhe des Père Lachaise gebracht hatten und hier sich bei einem alten Kollegen von den Anstrengungen erholen wollten.

Die Gesellschaft am Tisch hatte zwischen sich zwei der indischen Diener, die sie mit hierher geschleppt hatte und die bereits civilisiert genug waren, um sich den vom Koran verbotenen Wein von Paris schmecken zu lassen, während sie sich durch Pantomimen mit ihren schwarzen Gastgebern verständigten. Die armen Kerle in ihren bunten Gewändern, barfuß, mit den braunen hageren Gesichtern und den langen Bärten nahmen sich höchst seltsam in dieser Gesellschaft aus, die durch einige Bürger, meist Gärtner und Angestellte an den großen Schlachthöfen und Bildhauer vervollständigt wurde, Klassen, die besonders in der Nähe des Boulevard des Amandiers und der Höhen von Lachaise vertreten sind. Doch befanden sich offenbar auch viele Personen aus den entfernteren Stadtteilen dort.

Die Unterhaltung drehte sich natürlich um das Leichenbegängnis und die Hinrichtung.

»Zwei Points, Fillebarde! Sie sind gemacht,« sagte sich vergnügt die Hände reibend ein kleiner, runder Kerl, zu dessen feistem, blühend rotem Gesicht der Trauerflor in vollstem Widerspruch stand. »Ich habe mir sagen lassen, daß diese indischen Heiden die Gewohnheit haben, ihre Weiber an ihre Leichname zu binden und sich mit ihnen verbrennen zu lassen. Was mir an der Sitte nicht gefällt, das ist, daß sie mit dem Verbrennen der Frauen erst bis zu ihrem Tode warten müssen, andernfalls wäre ich entschlossen, nach Indien zu ziehen!«

»Du bist ein Don Juan, dicker Granget,« erwiderte sein Gegenpart. »Ich werde es meiner Gevatterin Nanon sagen, daß Du sie zum Scheiterhaufen verdammst, während der Kaiser die Italiener doch bloß guillotinieren läßt!«

»Auf Ehre, es würde ihm und mir nichts nützen bei Madame Granget, denn ihre Zunge wäre imstande, noch aus dem Korbe des Meister Rothemd heraus mit diesem Spektakel anzufangen und mich zu verleumden. Ich ziehe das Feuer vor!«

»Damit Du eine Junge heiraten kannst, die schwarze Jeannette in dem Kranzladen an der Ecke der Straße Folie, ich kenne Dich, Faublas der Jüngere!«

Der Dicke schmunzelte behaglich. »Was wollt Ihr, Messieurs, jeder Mensch hat seine Leidenschaften, und Madame Nanon ist volle fünfzehn Jahre älter, als ich! Es lebe die Liebe, es lebe der Wein bis über die Gräber hinaus!«

Einer seiner Kollegen, ein großer magerer Gesell mit einer kupferfarbenen Nase hob die Hände zum Himmel. » Apage Satanas!« rief er mit einer wahren Grabesstimme. »Dieser Granget ist eine Schande für unser Amt. Wir müssen Anzeige über ihn machen im Leichen-Bureau des Arrondissements, damit man über seine Moralität wacht!«

»Ich stimme dafür, daß er bei der nächsten Bewerbung um den Tugendpreis der Akademie abvotiert wird. Granget, ich verweigere Dir feierlich meine Stimme!«

Der Kleine mit dem Borsdorfer Gesicht hob sich auf die Zehen. »Ich bitte Sie, meine Herren, die Nase dieses Heuchlers Tourbillon zu betrachten! Glauben Sie, daß er sie seinen Leichenwachen zu verdanken hat?«

»Nein! nein!« schrien die andern.

»Granget, Du verleumdest mich! Die Teilnahme an den Leiden meiner Witwen und Waisen hat mein Haar grau gemacht und der scharfe Wind auf dem Kirchhof diese sonst bleichen Wangen gerötet!«

»Lüge nicht! Ich habe Dich selbst am vorigen Sonntag aus der Courtille nach Hause geführt, als Du Madame Colombine, die Leichenwäscherin, besucht hattest und nachher nicht mehr auf den langen Beinen stehen konntest!«

Ein schallendes Gelächter belohnte die Entdeckung. »Es war eine Ohnmacht!« rief der Lange, »meine schwachen Nerven waren angegriffen von der Geschichte, die sie mir über drei gesegnete Todesfälle in einer Familie während des Laufs einer Woche erzählt hatte! Aber meine Herren, meine Herren! Bedenken Sie, daß wir hier nicht allein sind, und daß Sie unserem hochachtbaren Stande, der gleich hinter der Geistlichkeit folgt, Schmach bereiten durch solche boshafte Reden!«

»Es ist wahr, Tourbillon hat Recht! Man muß die Standesehre wahren! Halte Dein Maul, Granget!«

»Was würde Carabouche dazu sagen, wenn er Euch gehört hätte!« näselte der Besucher der Leichenwäscherin.

»Carabouche! Wo ist Carabouche? Madame, lassen Sie mir einen frischen Schoppen bringen, und sagen Sie mir, wo Sie Ihren Gemahl haben, daß er seine Freunde vernachlässigt!?«

Die kleine dicke Frau schrie mit gellender Stimme nach dem Kellner.

»Was wollen Sie von Carabouche? Der arme Mann hat heute einen schweren Stand! Sie wissen, wie unglücklich es ihn macht, in der lüderlichen Gesellschaft zu sein, aber Jean-Pierre, unser Oberkellner, hat sich gestern das Bein gebrochen und die Herren vom Theater Beaumarchais feiern heute eine Taufe?«

»Eine Taufe? Zum Henker! Die ganze Regie hat doch nicht etwa zusammen ein Kind gemacht?«

» Fi donc, Monsieur Granget, Sie sind abscheulich! Ich werde Sie bei Madame Granget verklagen! Man erteilt heute einer abscheulichen Sünderin, einer Novize des Ballets ihren Namen, und Carabouche muß den Schenktisch überwachen!«

» Pardieu! Bei der Tugend der elftausend Jungfrauen, da muß ich dabei sein! Carabouche wird Roger übertreffen!«

Der kleine Leichenbitter rollte den Trauerschleier um feinen linken Arm, nahm die Frackschöße in die Höhe und versuchte eine Pirouette zu schlagen, während er nach der Thür zum Garten eilte.

In einer Ecke saßen ein paar ziemlich verdächtige Gestalten mit einem Mitglied des offiziellen Leichengefolges zusammen und tranken ihm eifrig zu.

Der eine der beiden Fremden war ein Kerl von kolossaler Figur mit einem ungeschlachten finsteren Gesicht und einem keulenartigen Knüttel zwischen den Beinen, neben sich einen Bullenbeißer, dem er von seinem Abendessen zuweilen einen Knochen oder einen Bissen Fleisch zuwarf; der andere, äußerlich gerade das Gegenteil von ihm, denn er war klein und mager, und hatte unter roten Haaren ein wahres Fuchsgesicht.

Wer am Vorabend des berüchtigten blutgetränkten 2. Dezember mit gewissen Personen hinunter gestiegen wäre in die Steinbrücke von Montrouge, um die Schenke zur »Schönen Guillotine« zu besuchen, würde sich auch jetzt, nach sieben Jahren, wohl noch der beiden Persönlichkeiten erinnern.

»Also man hat den Sarg erst im Hofe des Hotel Lafitte zugemacht?« fragte der Kleine, während er dem Leichenbitter aufs neue einschenkte.

»Ja wohl, Monsieur! Ich selbst habe es gesehen, wie die braunen Heiden die Leiche wuschen und allerlei ketzerische Ceremonieen mit ihr vornahmen.«

»Aber ich kann unmöglich glauben, daß man ihr all den Schmuck, von dem Sie erzählen, gelassen hat, um ihn auf dem Kirchhof mit zu verscharren!«

»Ich will mich selber begraben,« schwor der bereits weinselige Leichenbestatter, »wenn ich nicht die funkelnde Krone auf seinem Kopfe mit Rubinen und Diamanten und Smaragden und wie der Putz der Vornehmen alle heißt, mit diesen meinen lebendigen Augen gesehen habe. Die Armbänder waren dreimal so dick, wie die Stricke, mit denen Meister Calonne, der Totengräber, die Särge ins Grab läßt und die Ringe an den magern Fingern funkelten von lauter Juwelen! Es ist eine Schande, daß so viel Geld in der Erde verfaulen soll, aber diese Indier thun's nun einmal nicht anders, während sie uns mit einem Hundelohn abspeisen, die wir doch eigentlich den ganzen Staat des Leichenbegängnisses machen!«

Der würdige Repräsentant der Audhschen Familientrauer fing an zu schlucken, leerte das Glas noch einmal und legte dann das schwankende Haupt mit dem Trauerflor auf den Tisch. Die Augen des Kleinen funkelten leuchtender, als die Diamanten und Smaragden, von denen jener erzählt hatte.

»Was meinst Du, Nebukadnezar,« Zehn Jahre. II. Bd. S. 465. flüsterte er. »Wollen wir morgen Nacht den Masematten Diebstahl handeln? Die Erde wird noch locker sein im Kniwer Grab und die Arbeit gering.«

Der Riese schüttelte bedenklich den Kopf, »'s 'st Jaske bessachern, Baal,« Kirchendiebstahl, Herr! sagte er, »die Galeeren sind uns sicher, wenn wir treife sind!« überführt werden. Überdies sind auf dem Bajes-aulem Kirchhof. immer zwei Beileschmiere. Nachtwächter.

»Balmaure! Narr. Wenn es so viele Awanim-tauwess Edelstein. gilt, was thun wir mit zwei Chajess Leben. Wenn Du keine Courage hast, will ich's dem Gurgeljean vorschlagen!«

»Was der Jean Gorge thut, kann ich auch,« brummte mürrisch der riesige Wächter der »Schönen Guillotine« in den Steinbrüchen. »Packan macht den einen stumm, ohne daß er einen Laut thut. Ihr wißt, Tête-Renard, daß er darauf abgerichtet ist!«

»Still, Chammor, Dummkopf. wer wird hier Namen nennen! Wir wollen weiter drüber kaspern Reden. nachher, es sind hier Orchims Gäste. in der Nähe und halten die Ohren auf!«

Die Warnung bezog sich auf den Lord und seinen Begleiter, die an dem Tisch daneben Platz genommen und eine Flasche Wein bestellt hatten.

»Nun, by Jove! Ich glaube, Meister Joseph kennt meine schwachen Seiten, daß er mir hier das Rendezvous gegeben,« sagte der Lord. »In der That, die Gesellschaft ist originell genug. Der selige Rajah von Audh hat sich gewiß nicht träumen lassen, wo sein Leichenschmaus einst gefeiert werden würde! Puh, Frau Wirtin, das Zeug ist sauer wie Essig! Haben Sie keinen Burgunder, Volnay oder Chambertin? Aber unvermischt, der Preis ist gleichgültig!«

Er warf einen Napoleonsd'or auf den Tisch.

Otto von Röbel heftete nicht ohne Besorgnis einen Blick auf die verdächtige Nachbarschaft, die bei dem Anblick der reich gefüllten Börse lange Hälse gemacht und sich zugewinkt hatte.

»'s 'st ein Roter, Engländer. aufgepaßt, Neb! Vielleicht ist auf dem Nachhausegehen nach etwas zu machen!«

»Ein schuftiger Engländer? Dann stech ich den Kerl ab wie ein Schwein! Es lebe der Kaiser, wenn ich auch an den Dreibein glauben müßte!«

Der »Fuchskopf«, als er die Stimmung seines Werkzeugs sah, ließ Branntwein kommen. – –

»Ich möchte Sie bitten, Mylord,« sagte der junge Preuße zu dem Pair auf Englisch, »etwas vorsichtiger in dieser obskuren Umgebung zu sein. Es dürfte Ihrer Absicht mehr entsprechen.«

»Sie haben Recht, Sir,« meinte der Excentric, »Ihr Rat ist gut, aber ich weiß in der That nicht, was mir heute abend ist, und ich brauche wirklich einige Aufregung, um die Unruhe auszugleichen, die mich verzehrt.«

»Ich kenne das nähere Ihres Vorhabens nicht, Mylord, aber wahrscheinlich ist es dieses, was Sie so in Spannung setzt.«

»Ah –! Dann kennen Sie Edward Heresford noch schlecht, junger Mann! Nein, die Sache, in der Sie mein sehr unwissender, aber sehr gefälliger Verbündeter sein wollen, könnte mich nur bester Laune machen, denn es handelt sich darum, einem Gegner einen Streich zu spielen und eine Parolie zu bieten für schuftigen Undank! Nein, die Unruhe, die mich verzehrt, diese eigentümliche Aufregung der Nerven ist anderer Art, ich erinnere mich, Ähnliches kaum ein einziges Mal empfunden zu haben, damals in Indien, vor der Schlacht von Ferozschah!«

»Wie, Mylord, Sie haben die Schlacht mitgemacht, in der unser wackerer Prinz Waldemar an der Seite Ihres Generals den Angriffen der Afghanen stand?«

» Goddam! Ich war nicht zehn Schritt von ihm, als er so tapfer mitten unter dem Ansturm seinen Freund, den Arzt, wie zum Teufel war doch sein Name?«

»Hofmeister!«

»Richtig, Master Hofmeister, sterbend in seinem Arm auffing. Seitdem habe ich Respekt vor den Preußen! Aber, wie gesagt, am Vorabend der Schlacht, als ich mit dem Prinzen bei Lord Harding soupierte, überfiel mich auf einmal ein ähnliches Gefühl, und am anderen Morgen hatte ich einen Lanzenstich in der Seite, der mich drei Monate aufs Krankenlager warf! Aber fort mit den Narrheiten! wir haben hier treffliche Gelegenheit, alle Gespenster, und wären es die drei Hexen Macbeths, zu vertreiben. Lassen Sie uns den Volnay austrinken, der für eine Barriere von Paris nicht schlecht ist, und nach den hinteren Räumen gehen, um mit dem Wirt zu sprechen, an den ich gewiesen bin!«

Er schenkte das Glas voll und stürzte es hinunter, während er sich erhob.

»Apropos, sind Sie bewaffnet?«

»Ich habe es bei dem Zweck, den meine Reise hat, für besser gehalten, keine Waffen bei mir zu führen, um nicht in Versuchung zu kommen, sie zu brauchen.«

»Dann nehmen Sie diesen Revolver. Man kann nicht wissen, was Ihnen zustößt, wenn Sie diese Nacht hier zubringen müssen, und es ist besser, auf alle Fälle vorbereitet zu sein!«

»Aber dann sind Sie selbst waffenlos!«

»Ich bin bekannter mit den Parisern und bleibe auch nur so lange, bis die Person kommt, die ich erwarte. Lassen Sie uns jetzt den Wirt aufsuchen.«

Er hatte sich rasch orientiert und ging seinem Begleiter voran durch die Thür, durch die vorhin der kleine Leichenbitter verschwunden war.

Tête-Renard bezahlte und folgte ihnen mit Nebukadnezar, der, seit er von seinem Meister gehört, daß der Fremde ein Engländer sei, bei dem blinden Haß, der damals die Armee und die niederen Stände, von der Presse aufgereizt, wegen des Attentats erfüllte, mit grimmigen Blicken die beiden betrachtete.

Der Viscount trat in den Hof, der Lärm, das Jauchzen übermütiger Lust, die ihm aus den hinteren Lokalitäten entgegen schallten, zeigte ihm den Weg.

Sie traten in den »Salon«, wie Madame Carabouche den Ort zu nennen liebte.

Monsieur Carabouche war an seinem Schenktisch beschäftigt, den soeben zwei Pärchen belagert hielten.

Wir haben bereits erwähnt, daß wegen der Fastenzeit keine Tanzmusik stattfinden durfte.

Aber ein Sprichwort sagt: »Wer gern tanzt, dem ist leicht gepfiffen!« und die Gesellschaft half sich mit dem Sprüchwort, bildete einen Kreis oder eine Chaine um die zum Tanz Angetretenen und pfiff aus Leibeskräften die Melodie eines Contretanzes oder eines Cancan. Wer nicht mit dem Talent zu pfeifen begabt war, sang wenigstens die Melodie. Überdies hatte sich ein musikalischer Bewohner der Courtille gefunden, welcher für solche Fälle eine schrille Piccoloflöte in der Tasche trug, und dies mit den beiden Harfen genügte vollkommen.

Somit fehlte es nicht an der nötigen musikalischen, wenn auch nicht immer harmonischen Unterstützung.

Nahe an der Schenke befand sich ein Tisch, dem Herr Carabouche besondere Aufmerksamkeit zu widmen schien.

An diesem Tisch saßen Herren und Damen in etwas derangierter, aber immer genialer Toilette. Die Herren hatten die Halskragen geöffnet, der Dickste sogar den Rock ausgezogen und sich theatralisch mit dem bunten Shawl einer der Damen drapiert, während ihr Hut windschief auf seinem bereits kahlen Kopf saß; die Frauen trugen einzelne Stücke der Garderobe, die offenbar noch einer Rolle auf dem Theater angehörten, darüber ein Tuch im Kreuz gebunden oder einen eleganten, nur etwas zerknitterten und schmutzigen Paletot oder Burnus geworfen.

Sicherlich aber genierte in diesem Augenblick Rücksicht auf die Garderobe am allerwenigsten die lustige Gesellschaft.

Man trank Wein, Punsch und Bier, ziemlich alles durcheinander.

»Carabouche, eine Flasche Champagner, aber keinen Elsasser oder von Deiner Limonade gazeuse! Ich kenne Dich, schuftiger Kirchhofswurm, wie Du Deine Gäste gern betrügen magst. Aber bei Venus und Terpsichore, beim ersten Versuch schleudere ich Dir mein Glas an den Schädel!«

Der Sprecher war ein dicker, stattlicher Mann von einigen vierzig Jahren, mit Brillantringen auf den fleischigen Fingern und dem roten Band im Knopfloch.

»Dicker Duplessis, ich trinke mit Dir!«

»Komm her, Kind, setz' Dich auf meinen Schoß, es ist Dein Ehrentag. Du sollst getauft werden, und ein so unschuldiger Täufling riskiert bei einem Junggesellen, wie ich bin, nichts.« Er zog das etwa siebenzehnjährige Mädchen mit den dunklen blitzenden Augen und den dreisten Manieren zu sich, aber sie drehte sich mit einer Pirouette aus seinen Armen und warf ihr rechtes Bein in die Höhe, daß die Fußspitze ihm den Hut vom Kopf schleuderte.

»Zum Henker! wenn Du einen Winkel von über neunzig Grad machen willst, so benachrichtige mich vorher, kleine Josephine, damit ich meinen Operngucker benutzen kann. Du sollst binnen acht Tagen die erste Tänzerin an St. Martin sein, da Mademoiselle Cournière nicht hier ist, wenn Du das Kunststück noch einmal machst!«

» Fi donc, dicker Schäker, wer wird so neugierig sein! Gieb Deinen Champagner her und laß uns darauf trinken, daß Dein Bericht über mein Debüt mehr Furore macht, als der über das Köpfen der armen Sünder!«

»Die Heiligen mögen sich ihrer erbarmen!« erklang die melancholische Stimme des Wirts. »O Mademoiselle Durvant, wie können Sie so Profanes mit dem Tode zusammenbringen. Juventus nunquam virtus! Herr, verschließe Deine Ohren dem Frevel!«

»Dummes Vieh!« sagte höchst gelassen der Journalist. »Glaubst Du, daß wir hierher gekommen sind, um Deine Litaneien anzuhören? Wein her, oder wir demolieren die Bude und attakieren die Keuschheit der Madame Carabouche. He, Legnier, haben Sie den Skandal am Ambigu mit Madame Fleurette gehört?«

»Nein, Doktor!«

»Ei parbleu! Sie hat den neu engagierten Liebhaber vierundzwanzig Stunden in ihrem Zimmer eingeschlossen, weil er bei seinem ersten Besuch wie Joseph den Mantel im Stich lassen wollte!«

» Tout le monde autrefois courut
Après la petite Ragonde;
À son tour la Vieille est en rut,
Elle court après tout le monde!
«

»Bravo, Papa Carabouche, ich sehe, Du bist wenigstens noch nicht zu den Trappisten übergegangen,« lärmte die Tänzerin, ihr Glas dem Journalisten zum Füllen hinhaltend. »Geschwind, würdigster Sohn und Erbe aller Begrabenen, gieb uns noch ein Chanson zum besten!«

»Papa Carabouche, Papa Carabouche, ein Lied!« heulte die ganze Tafelrunde. Die Quadrille war eben zu Ende und alles drängte nach dem Schenktisch.

Ein Kreis hatte sich um den ehemaligen Leichenbestatter gebildet.

»Ich bin ein armer Sünder, der sich mit diesem traurigen Broterwerb beschäftigen muß, um sein und seines Weibes Leben zu fristen!« weinte kläglich der Lange. »Störet mich nicht in meinem Beruf und haltet die Versuchung von mir. Exercisco vos! Exercisco vos!«

»Was wir uns daraus machen!« lachte ein kleiner beweglicher Mann mit einem türkischen Fes auf dem Kopf und so weiten Seemannsbeinkleidern, daß man drei solche Figuren hätte hineinstecken können. »Den Teufel über diesen Dummkopf von Garderobier! Wie kann er mir zu meiner heutigen Rolle die Hosen des dicken Bamboche geben! Ich bitte Dich, Celeste, hilf mir, sie dreifach umzuschlagen oder ich kann die nächste Quadrille nicht mit Dir tanzen!«

»Carabouche! Carabouche! Wein hierher: Beim heiligen Prinzen von Arkadien, die Bedienung ist heute hundeschlecht!«

»Madame Carabouche ist mit Zwillingen niedergekommen, sie kann die Küche nicht besorgen!«

»Nein, die Ratten von Popincourt haben sie gefressen!«

»Die Köchin ist mit einem Zuaven davongelaufen!«

»Pfui, es ist eine ehrbare Person, über fünfzig! Aber Carabouche läßt erst auf den Dächern die Katzen fangen, die er uns als Hasen braten will!«

»Ich habe neulich einen Rattenschwanz im Frikassee gefunden. Pfui, Carabouche!«

Der unglückliche Wirt hob die Hände in die Höhe. »O, Ihr Lügner! Ihr Lügner! Wollt Ihr einen ehrlichen Mann in seinem Gewerbe zu Grunde richten, nachdem Ihr ihm seine letzten Sparpfennige abgeborgt habt?«

»Aus christlicher Liebe mit zweihundert Prozent!«

»Wucher ist verboten, Carabouche! Ich brauche zehn Napoleons!«

Der Leichenbitter warf einen raschen Blick auf den Sprecher, einen sehr liederlich, aber zugleich sehr gentil aussehenden jungen Mann mit blondem Henryquatre.

»Monsieur Bertin, erster jugendlicher Liebhaber der ›Variétés‹, ich borge Ihnen nichts mehr! Apage Satanas! Bezahlen Sie erst Ihre letzte Anleihe!«

» Fichtre! Ich folge dem Beispiel der Regierung und bin bereit, alle Jahre ein Prozent zu tilgen. Aber wenn Du mir auf diesen Ring nicht zehn heilige Napoleons borgen willst, kannst Du zusehen, wer heute meine Zeche bezahlt!«

»Unsinniger Jüngling, der Du in Dein Verderben rennst! Zeigen Sie den Ring her!«

»Es ist Pariser Gold, er hat ihn in der Colonnade des Palais Royal gekauft! Er betrügt Dich, Carabouche!«

»Zum Teufel! Werdet Ihr schweigen? Es ist ein Geschenk der kleinen Herzogin von Chateaubris, die sich in mich als ›Raoul‹ verliebt hat, und wenigstens fünfhundert Franken wert!«

Der Wirt hatte den Ring bereits in der Hand und betrachtete ihn nach allen Seiten. »Man hat Sie belogen, Monsieur Bertin, das höchste, was ein ehrlicher Christ geben kann, sind fünfzig Franken!«

»Sage acht Füchse!«

»Ich müßte die Witwen und Waisen bestehlen!«

»Hundert Franken denn, oder ich veröffentliche im Journal des Debats unter der Protektion Monsieur Duplessis die Liebesbriefe der Madame Carabouche an mich, die beweisen, daß sie Dich zum Hahnrei macht.«

Und Monsieur Bertin begann sofort den »Cocus« zu singen:

» Dans notre voisinage, où voit tant d'abus,
Disait Lucas à son Compère:
Sans vous compter, combien comptez Vous de cocus?
«

Der ehemalige Leichenbitter ließ sich verleiten und fiel sofort ein:

» Comment, sans me compter!
Reprit l'autre en colere.
«

»Das Geld, das Geld, oder ich stürme die Kasse, wie ich die Tugend der Madame Carabouche gestürmt habe!«

Der Lange breitete seine Hände schützend über den Ladentisch. »Halt, halt! Sie sollen es haben, Monsieur Bertin! O über die Verderbnis! Aber das Gericht wird kommen über Euch, mit Schrecken und Pestilenz und Eure Gebeine verstreuen über die Heide! Ihr Spötter und Ruchlosen! tempus fugit! Das Gericht ist nahe!«

» Resurgam!« lachte der Schauspieler, indem er von den fünf Goldstücken eins zwischen die Gläser warf. »Vier Flaschen Champagner, alte Unke! Es ist Zeit, daß die Taufe beginnt. Mademoiselle Josephine, ich zahle das Weihwasser, aber ich muß die Ehre des ersten Cancan haben!«

Die Tänzerin sprang auf den Stuhl, ihr Glas in der Hand und setzte den Fuß sehr ungeniert auf die Lehne.

»Nichts da, ich muß freie Wahl behalten zu meiner Einsegnung. Duplessis ist mir zu ungeschickt, und mit Dir, Bertin, kommt man in schlechtes Renommee. Ich muß etwas Anständiges, etwas Exquisites haben! Hurra! ich habe mein Teil! Musik, Kinder, den Cancan von Sebastopol!«

»Was ist's? Wer ist der Glückliche?« und Carabouche begann mit heller Stimme zu singen:

» Un jour que Madame dormait,
Monsieur baisait sa Chambrière!
«

Mademoiselle Durvant war von dem Stuhle gesprungen und wie ein Jagdhund durch die Menge geschlüpft. In einem Augenblick hielt sie den kleinen dicken Leichenbitter beim Kragen, der eben neugierig in den Salon hineinlugte.

»Hierher, Monsieur! Herein mit Dir, schwarzer Posaunenbläser des Todes! Du sollst die Ehre haben, bei mir Gevatter zu stehen und den ersten Cancan auf meiner Kindtaufe zu tanzen. Ohne Sträuben, Du kleines schwarzes Ungeheuer, oder ich zerzause Dein Kapitol!«

Sie zog und stieß ihn unter allgemeinem Gelächter bis zum Tisch der Schauspieler.

»Bei allen Unterirdischen, wen haben wir hier? Einen Boten des Jenseits!«

»Granget!« rief der lange Wirt, die Hände erhebend.

»Wie kommt Ihr hierher, Gevatter, warum bleibt Ihr nicht bei Madame Carabouche? in coelo quies! Laßt ihn los, Ihr Unholde, er ist von der Zunft und mein Gevatter!«

»Eben darum! Jetzt soll er bei mir Gevatter stehen. Trink, alter, dicker Junge. Zizine, binde ihm den Trauerhut fest auf seinen runden Schädel, er darf ihn beim Tanze um keinen Preis verlieren!«

Mademoiselle Durvant brachte ihrer neuen Eroberung ein großes Glas Champagner und nötigte ihn, es in einem Zuge zu leeren, während ihre Kollegin ihm ein paar rote Bänder, die sie sich von der Haube ihres ländlichen Kostüms abriß, an den Hut mit den langen Trauerflören steckte und diesen unter dem feisten Kinn zusammenband.

Der kleine Mann hatte freilich trotz des Prahlens unter seinen Kollegen eigentlich nur seine lüsterne Neugier befriedigen wollen und sich auf den Schutz seines Freundes und Gevatters Carabouche verlassen und schnitt daher ein ziemlich albernes Gesicht; aber der Champagner, dessen Portion sofort von einer der anderen Damen wiederholt wurde, machte ihm Courage und begann ihm über die Bedenklichkeiten fortzuhelfen.

Überdies setzte sich die hübsche Kreolin auf seinen Schoß und begann, ihn zu karessieren.

Der kleine Mann fing an mit den Augen zu zwinkern und den Mund wie ein verliebter Täuberich zu spitzen, während die Männer der Gesellschaft sich ausschütten wollten vor Lachen, und Carabouche einmal über das andere den Teufel exortierte und seinen ehemaligen Kollegen ermahnte, seiner Würde eingedenk zu sein, bis der Teufel ihn selber bei den Haaren faßte und mit irgend einem Witzwort der Gesellschaft verleitete, einige Verse eines liderlichen Couplets dazwischen zu streuen.

Während dieser Scene der leichtfertigen Gesellschaft in der unmittelbaren Nähe des Büffetts waren die anderen Kreise nicht müßig, und jeder amüsierte sich so gut und so ausgelassen er konnte, ohne sich viel um den anderen zu kümmern.

Am entgegengesetzten Ende des Saales saß eine eben so laute Gesellschaft, wie die an der Schenke: Studenten mit ihren »Frauen«, die das Gerücht der Hinrichtung in diese Gegend getrieben hatte, Flaneurs aller Art, Grisetten, Handwerker, bunt durcheinander. Neben einem großen Burschen von etwa dreißig Jahren, mit frechem, übermütigem Gesicht und bunter geschmackloser Garderobe, der den Ton an dem Tische lärmend angab und von seinen Eroberungen schwatzte, lehnte eine Frauengestalt, die nicht in den Kreis zu gehören schien.

Man sah ihr, trotz der sehr derangierten, einfachen, aber eleganten Toilette die Dame aus den höheren Ständen sofort an. Sie war von schlankem, hohen Wuchs, hatte herrliches blondes Haar und blaue Augen, aber diese von einem dunklen Streifen umgeben.

Überhaupt war ihr freundliches und angenehmes, wenn auch nicht schönes Antlitz von krankhafter Farbe und Magerkeit. Ein roter Fleck auf ihren Wangen zeigte einen fieberhaften Zustand, und ihr Wesen war ein seltsames. Ihre Augen flammten in dem Glanz einer unnatürlichen Erregung, dann plötzlich bedeckte dunkle Röte Stirn und Wangen bis zum Busen hinab, als käme sie augenblicklich zur Erkenntnis ihrer Lage; sie blickte mit Zittern und Entsetzen auf ihre Umgebung. Aber im nächsten Moment schien eine unbekannte Erregung und das Feuer der Getränke, die ihr Galan ihr reichte, wieder eine wilde Leidenschaft durch ihre Adern strömen zu lassen, ihre Augen funkelten in wollüstigem Feuer, ihr Busen hob sich und sie preßte sich unwillkürlich an ihren Begleiter.

An ihrem Stuhl hingen Hut und Schleier.

»Laßt uns tanzen, tanzen!« rief sie plötzlich aufspringend mit fremdem Accent. »Rodolphe, mein Liebster, ich muß tanzen, ich will lustig sein!«

»Hussa, meine kleine Elsasserin, einen Cancan noch und dann zu Hause und zu Bett! Es lebe die Liebe, wenn man einen Freund hat, wie den schönen Henriot!«

»Sie hat den Teufel im Leibe!« sagte einer der Studenten. »Seit einer Stunde rast sie ununterbrochen!«

»Wo zum Henker hat der Bursche die Dirne aufgeschnappt? Mir ist, als hätt' ich sie schon im Gedränge am Louvreplatz gesehen!«

»Cancan! Cancan!«

» Lucas revenant au logis
Avec plusiers gens de sa sorte!
«

Das Mädchen, das bereits ihren Liebhaber am Arm gefaßt und emporgezogen hatte, blieb plötzlich stehen. Sie fuhr mit der Hand nach der Stirn, es war, als durchzucke sie ein elektrischer Schlag, und ihr Gesicht färbte sich mit fliegender Röte.

»Um Gotteswillen, wo bin ich?« sagte sie deutsch, indem sie den Mann, der sie umfassen wollte, mit Ekel von sich stieß. »Rühren Sie mich nicht an! Was ist mit mir geschehen? ich will fort von hier, nach Hause!«

Ihre Augen starrten mit unverkennbarem Entsetzen umher.

»Mach' keine Flausen, alberne Dirne!« sagte der Mann roh, ohne daß er die deutschen Worte verstanden hätte. »Bald hab' ich's satt und kann zehn andere Demoiselles haben, denn sie lecken sich die Finger nach dem schönen Henriot. Allons! Trink und dann noch einen Tüchtigen!«

Er setzte ihr das Punschglas an den Mund und das Mädchen trank einen Schluck, erst mit Ekel, dann sog sie das noch halbgefüllte Glas leer. Ihre Augen begannen aufs neue zu funkeln. » En avant, Rodolphe, au danse!«

Sie zog ihn in die Reihe, die sich bereits gebildet hatte.


»Die Taufe! Die Taufe!«

»Wer hält das Kind?«

»Ich bin der Vater, ich beanspruche die Ehre!«

»Den Henker auch, dicker Duplessis, Sie lassen mich fallen!« rief der unschuldige Täufling.

»Wenn Du fällst, meine Liebe,« tröstete der Journalist, »so fällst Du auf denjenigen Teil, der am wenigsten Schaden leiden kann! Aber ich will mir einen Substituten kommandieren. Nicole, halten Sie ihr die Beine, aber hübsch anständig, ohne Dich über die Knöchel zu verirren!«

»Nein, Nicole ist nichtswürdig, mein schwarzer Pate soll es thun!«

»Mann des Grabes,« sagte der dicke Journalist pathetisch, »diese Ehre soll Ihnen widerfahren, indem wir hoffen, daß Sie den irdischen Versuchungen abgestorben sind und in dieser jungen Sünderin nur ein einfaches Wickelkind sehen, dessen unzüchtige Berührung im Code Napoleon verboten ist. Bei dem Haupte Orsinis! wickeln Sie ihre Unterröcke um die Knöchel und halten Sie fest. Wo ist der Pfaffe und das Taufbecken? Saint Just, thun Sie Ihre Schuldigkeit!«

Der erste Komiker des Beaumarchais, ein hagerer Alter mit einem grauen Krauskopf, schlug eine Serviette um seine Schultern, Nicole griff eine Schüssel zum Gläserspülen von dem Schenktisch, goß das schmutzige Wasser Monsieur Carabouche über die Füße und leerte eine Flasche Champagner hinein.

»Ich bitte die verehrlichen Paten, sich um den Täufling zu gruppieren! Haben Sie sich gruppiert?«

»Duplessis, kneifen Sie mich nicht, oder ich kratze Sie!«

»Es ist Dein schwarzer Liebhaber da unten, der Dich wie Blaubart an den Fußsohlen krabbelt!«

»Dann geb' ich dem Kerl einen Tritt vor den Magen!«

»Meine Herrschaften, meine Herrschaften! Sennoras und Gentlemen! Sie werden doch keine Todsünde begehen? Langue di Santi! Es ist eine Blasphemie der heiligen Kirche,« rief der Wirt. » Absolve quaesumus Domine!«

»Halt's Maul!« befahl der Komiker. »Stillgestanden, ich beginne!«

In diesem Augenblick waren der Lord und sein Begleiter in den Saal getreten und näherten sich der ausgelassenen Gruppe.

Monsieur Saint Juste hatte die Faust bereits in dem improvisierten Taufbecken und bespritzte den viel versprechenden Täufling dreimal.

»Im Namen des Porte Saint Martin, des Ambigu und Beaumarchais taufe ich Dich, ungezogener Sprößling der Terpsichore zum Mitglied der noblen Zunft von den Trikots und Flatterhöschen! Möge es Dir nie an Einfaltspinseln fehlen, die Deine Wattons für Fleisch und Blut halten und ihre Börsen noch bereitwilliger im Stich lassen, als ihre Unterhosen. Stehe auf, keusche Vestalin der Bretter, und wandle hinfort auf den Theaterzetteln unter dem Namen – alle Teufel, wie soll sie denn heißen?«

»Ambroise!«

»Nein, Georgine!«

»Esmeralda!«

»Es muß etwas Feines sein! Wie wäre es mit Klytemnästra oder Portiunkula?«

» Fi donc!«

»Halt, da ist's! Sie hat Finesse genug schon in dieser zarten Jugend, um die Männer auszuziehen, wenn diese sie ausziehen wollen! Ich schlage vor, den Täufling Finette zu heißen!«

» Finette! Finette!« schrie die Bande.

»Mademoiselle Finette,« sagte der Journalist, »erheben Sie sich mit diesem Namen, wenn Sie nicht wünschen, auf dem Kopf zu stehen und der verehrten Gesellschaft ein Schauspiel zu geben, denn meine Arme sind eingeschlafen! Teufel, Mylord,« unterbrach er sich, »sind Sie's wirklich? Wie zum Henker kommen Eure Herrlichkeit hierher?«

»Ein Mylord? Parbleu! Da muß ich dabei sein! Dicker Duplessis, Du wirst mich ihm als Dein eben getauftes Kind vorstellen!«

Mademoiselle Finette, nach ihrem neuen nomme de guerre, schwang sich vermittelst eines Trittes auf ihren schwarzen Paten wieder in senkrechte Stellung und lorgnettierte den Lord und seinen Begleiter.

»Wahrhaftig! ein ganzer Gentleman, und wenn er Pfunde hat und nicht knickerig ist damit, will ich ihn centnerweise lieben, obschon mir der andere lieber wäre.«

»Mylord,« sagte der Journalist, »erlauben Sie mir, mich für so manche interessante Stunde zu revanchieren und Ihnen diesen Kreis achtbarer und unter der Ägide weiland des Herrn Carabouche, ehemaligem Mitgliede der hochehrwürdigen Leichenbitter- und Totengräber-Zunft, jetzigem Ganymed dieses tugendhaften und respektablen Ortes zu präsentieren, wie sie eben bemüht sind, in Erwartung des Abscheidens der Herren Orsini und Komplizen diese sittsame Novize der Tanzkunst mit dem Champagner einer dramatischen Taufe zu begießen!«

»Uf!« rief der würdige Täufling, »war das eine lange Rede! Erhole Dich, Dicker!« und damit schlug sie ihn mit der Fußspitze gegen den Leib, daß er laut aufkreischte.

»Satan von einem Frauenzimmer! ich werde Dich bei Gericht wegen eines Mordversuchs denunzieren!«

»Pah! das für die Gerichte der ganzen Welt!« Sie schlug ein Schnippchen. »Edler Brite, wollen Sie mit mir den Täuflings-Cancan tanzen, obschon Sie nicht die Ehre haben, mein Pate zu sein?«

Der Viscount lachte. »Nein, schöner Säugling, ich bin etwas zu steif dazu. Aber ich mache mir das Vergnügen, Ihnen als Patengeschenk diese Nadel« – er nahm die kostbare Busennadel aus seiner Krawatte – »an die Brust zu stecken!«

» Carrajo!« sagte Carabouche, »dieser Engländer verdient auf dem Père-Lachaise begraben zu werden!«

Der Lord machte bei dem höflichen Wunsch eine unwillkürliche Bewegung, als träte er auf ein widriges Reptil, und seine Hand zuckte nach der Stirn.

Im nächsten Augenblick hatte er jedoch die Schwäche bewältigt, und die Tänzerin half ihm ohnehin darüber fort.

»König aller Mylords, Finette erteilt Dir hiermit einen Passepartout auf ihre Gunstbezeugungen. Papa Carabouche, wenn Du nicht ein so infamer Wucherer wärst, würde ich dies Kleinod bei Dir in Versatz geben!«

»Ich schwöre Ihnen, Mademoiselle Finette, ich achte diesen Großinsulaner zu hoch, um nicht das Möglichste zu thun. In paradisum deducant te Angeli!«, und er begann mit heller Stimme die bekannte Ballade zu singen:

» O Richard! o mon roi!
L'univers t'abandonne;
Sur la terre il n'est donc que moi
Qui s'interesse à ta personne!
«

»Still, Gräberunke! hörst Du nicht, daß sie den Cancan beginnen! Allons, mein hübscher Junge! Ich erzeige Dir die Ehre als Engländer, obschon Ihr mir meinen kleinen Louis mit den Spindelbeinen ermorden wolltet!«

»Mademoiselle,« sagte der Preuße höflich aber bestimmt, »ich bin kein Engländer und verstehe die französischen Tänze nicht!«

»Als Entschuldigung verspreche ich Ihnen, die Nadel bei Monsieur Carabouche mit hundert Pfund einzulösen!«

»Bei dem heiligen Cartouche! er ist der einzige Gentleman in der Gesellschaft! Hierher, also. Du schwarzes Ungeheuer! Finette, die Königin des Cancan, erzeigt Dir die Ehre, ihr Wort zu halten und mit Dir einen Schmeißer zu riskieren! Aber der Teufel soll Dich holen, wenn Du Dich nicht anstrengst!«

»Madame,« sagte der kleine Leichenbitter, sich in die Brust werfend, und vom Champagner zu jedem Exzeß angefeuert, »ich hoffe Ihnen Ehre zu machen!«

Er bot ihr die Hand und führte sie unter dem Gelächter der Übrigen zu der Reihe, die sich bereits bei der seltsamen Musik gebildet hatte.

»Es lebe der Cancan! Vorwärts!«

Monsieur Carabouche war auf seinen Schenktisch gestiegen und sah aus, wie der schwarze Pfahl eines Galgens, während er mit tiefer Stimme den Baß zu dem jubelnden übermütigen Gesange intonierte.

Die lange Reihe war in voller Bewegung, die Herren stampften und sprangen wie besessen, die Damen kniffen die Röcke zusammen und schlugen bis zu den Nasenspitzen der Tänzer die Spitzen ihrer Schnürstiefeln.

»Finette hat Recht, sie ist die Königin des Cancans! Seht, wie sie rast! Die Bocksprünge ihres Partners sind wirklich zum Totlachen!«

»Sie hat Rasse, die Kleine! aber dort unten die große Blonde – kommen Sie einmal dahin, Monsieur de Reuble, dies Mädchen tanzt wie eine wahre Bacchantin! So müssen die Mänaden sich gebärdet haben!«

Sie traten einige Schritte weiter vor, plötzlich erscholl ein wilder, gellender Ruf.

» Rosamunde

Trotz des bacchantischen Lärmens im Saale drang der Ruf weithin bis in die fernste Ecke.

Zugleich warf die kräftige Hand des jungen Preußen zwei Paare über den Haufen, und er stürzte sich mitten zwischen die Reihe.

» Rosamunde

Ein schriller Aufschrei, die große blonde Tänzerin, mit dem bleichen Gesicht blieb mitten in der Tour stehen, sie fuhr mit den Händen nach den Schläfen und schwankte wie ein Rohr. Ihre hellen blauen Augen fuhren wie irrsinnig umher.

»Um Himmels willen! diese Stimme! – Otto! Otto rette mich!«

Mit dem Sprung eines Löwen war er bei ihr.

»Heiliger Gott! wie kommst Du hierher? Halte Dich an mich, Rosamunde! fort von hier!«

Der Tanz stand still, alles drängte herbei. Er hatte sie mit beiden Armen umschlungen und aufgehoben, und versuchte, sie aus den Reihen zu tragen. »Fort da! Platz!«

»Daß ich ein Narr wäre, mir so den Mund zu wischen!« schrie der schäbige Elegant, der mit der Fremden zum Tanz angetreten war. »Für was hätte ich sie vom Chateau d'Eau bis hierher geschleppt? Laßt die Elsasserin los, langer Schlingel, oder Ihr sollt es mit mir zu thun kriegen.«

»Schmeißt den Störenfried 'raus! Was will der Bursche hier?«

Das Mädchen hing bewegungslos an des Bruders Halse, nur ein lautes Schluchzen verriet, daß sie nicht in Ohnmacht gefallen war. Sein Gesicht nahm eine blasse, fast fahle Farbe an. Seine Augen wurden starr und gläsern, ein unheimliches Licht schien aus ihnen emporzublitzen.

»Lassen Sie mich durch! geben Sie Raum!«

Aber die Menschenmauer verdichtete sich, lachend, trotzend, in vielen begann sich der böse Geist zu regen.

»Nichts da! für was habe ich sie traktiert? Die Elsasserin muß bei mir schlafen!«

Der schöne Henriot hatte das Wort kaum ausgesprochen, als ihn ein Faustschlag so gewaltig ins Gesicht traf, daß er der Länge nach den Boden maß.

»Canaille!«

Dies war das einzige Wort, das den Schlag begleitete. Aber die vor dem nun wirklich erschreckenden Anblick des jungen Mannes zurückweichende Menge erhob jetzt ein Zetergeschrei, und die Freunde des Monsieur Henriot schrieen, der fremde Tölpel habe ihn totgeschlagen.

Die Adern an der sonst so klaren, ruhigen Stirn Otto von Röbels waren blau angeschwollen, eine eigentümliche krampfhafte Bewegung zuckte um seinen Mund.

Es war jener Zustand, den schon einmal seine Mutter beschworen, als er sich aus der Luke des Schloßturmes zu Neufchâtel mit seinem damaligen Feinde gestürzt hatte.

Der Lord hatte sich näher gedrängt, als er seinen Begleiter in dieser Situation sah.

» By Jove, Sir! was haben Sie da, was giebt's?« fragte er auf englisch.

»Mylord, ich muß hinaus, oder ich begehe einen Mord!«

»Ruhig! ruhig! was ist geschehen?«

Der Preuße hatte mit einem Schwunge die halb ohnmächtige, willenlose Gestalt des Mädchens auf seinen linken Arm geworfen. Zugleich erinnerte er sich an den Revolver, den ihm der Lord gegeben, und riß ihn aus der Tasche.

»Platz da! wer mich anrührt ist ein Kind des Todes!«

Man sah ihm an, daß der geringste Widerstand die Drohung auf jede Gefahr hin schrecklich zur Ausführung bringen würde.

»Um Himmelswillen, schießen Sie nicht, Röbel!« rief der Lord. »Bedenken Sie, was Sie thun!«

»Mylord, es ist meine Schwester

»Dann fort! bringen Sie sie fort! ich decke Ihnen den Rücken!«

Der Viscount brach sich Bahn zu seinem Begleiter, indem er die Vorstehenden achtlos zur Seite stieß.

»Engländer! Engländer! Schlagt die Meuchelmörder tot, die falschen Hunde! die Giftmischer und Bombenschmeißer!«

Der Nationalhaß, durch das Attentat erregt und die Presse geschürt, brach in vollen Flammen aus. Vergebens hörte man Papa Carabouche, der übrigens an Schlägereien ziemlich gewöhnt war, von der Höhe seines Schenktisches herab fortwährend rufen: » In coelo quies! in coelo quies! – Cospetto! halten Sie Ruhe, meine Herrschaften, oder ich rufe die hohe Polizei!«

Der Preuße schien weder den Sturm um ihn her noch die letzten Worte seines Begleiters gehört zu haben. Langsam, den Revolver vorgestreckt, das jetzt wirklich ohnmächtige Mädchen auf seinem Arm, ging er auf die Menge, die unwillkürlich mehr von dem Anblick, den er bot, als von der drohenden Mündung des Pistols eingeschüchtert, ihm Platz machte, nach der Thür zu.

Der dicke Journalist hatte Geistesgegenwart genug, diese rasch zu öffnen und sie, als der junge Mann mit seiner Last hinausgeschritten war, zuzuschlagen.

Lord Heresford, der seinem Begleiter Schritt vor Schritt folgte, warf sich vor die Thür.

»Also Messieurs,« sagte er lachend, »es scheint, daß es den Engländern gilt? Nun, Goddam your eyes! das hier ist ein Kanal, den niemand passieren soll trotz Cherbourg! Bleibt hübsch zurück, Kinder, wer sich nicht ein blaues Auge holen will!«

Er streifte ruhig seinen Rockärmel in die Höhe und setzte sich in Boxerpositur.

»Auf ihn! auf ihn! Der Puddingfresser verhöhnt uns noch! Schlagt ihn zu Boden, den englischen Lumpen! Hinter dem Mädchendieb drein!«

Vergebens versuchte Duplessis und einige Verständige, vergebens suchte selbst Meister Carabouche die Menge zu beruhigen. Der erstere rief vergeblich, es sei der Viscount von Heresford, ein englischer Excentrik und ein vornehmer Mann, ein Freund des Kaisers, den man schonen müsse.

Die Frauenzimmer kreischten bei dem Skandal, der kleine Tänzer Finettes hatte sich unter einen Tisch verkrochen, und die Tänzerin selbst bemühte sich auf alle Weise, die Streitenden zu beruhigen; denn die Pfunde des Engländers waren ihr zehnmal wichtiger als jeder Zipfel von Nationalstolz.

Aber es waren viel zu viel überwiegende Elemente in der Gesellschaft, die den Krakehl liebten und wollten. Die Studenten hetzten und schrieen aus purem Übermut, die niederen Personen tobten aus Brutalität, und die Kunde, daß ein Lord, ein Engländer, sich ihnen so herausfordernd entgegenstellte, erhitzte die Gemüter.

Monsieur Henriot hatte sich bereits von dem Denkzettel wieder erholt und that alles mögliche, um die verlorene Beute wieder zu gewinnen, ohne sich dabei einer weiteren Gefahr auszusetzen.

»Auf ihn! Schlagt ihn nieder, den englischen Lumpen!« Ein großer, kräftiger Bursche warf die anderen zur Seite.

»Fort da! laßt mich an den Engländer! ich habe so manchen Ochsen erschlagen und werde wohl mit dem Beefsteak-Gesicht fertig werden!«

Es war ein kräftiger Schlächtergeselle von Menilmontant, aus der Normandie, mit Muskeln wie die Taue eines Schiffes und einem blutgewohnten und blutgierigen Blick.

Die Menge, die um so mehr Courage hatte, nachdem sie sich überzeugt, daß ihr einzelner Gegner keine anderen Waffen zur Abwehr führte, als seine Hände, jauchzte ihrem Vorkämpfer Beifall.

»Hurra! drauf, Kamerad! gieb's ihm tüchtig, dem Mylord!«

Der Schlächter hatte seinen Rock abgeworfen, den ihm bereitwillig einer der Gesellschaft hielt und ging mit geballten Fäusten auf den Viscount los.

»Daß sich keiner untersteht, sich hineinzumengen!« brüllte er.

Der englische Excentrik stand ruhig, den Oberkörper leicht zurückgebeugt in der Boxerposition. Seine Miene zeigte die ruhige spöttische Überlegenheit, die ihn bei weit ernsteren Gefahren nie verlassen.

»Nehmen Sie sich in acht,« sagte er fest. »Nicht ich bin es, der den Kampf beginnt! Ihre saubere Gesellschaft wird hoffentlich so anständig sein, ihn ehrlich führen zu lassen!«

»Hund von einem Briten! nimm das als Antwort!«

Der Schlächter stürzte sich auf die ruhige, schlanke, anscheinend kaum des Widerstandes gegen solche brutale Kraft fähige Gestalt des Pairs, und führte einen furchtbaren Schlag nach ihm, der wirklich einen Ochsen hätte töten können.

Der Viscount parierte den Schlag mit seinem linken Arm und, den rechten vorwerfend, versetzte er seinem Gegner zwischen die Augen einen solchen Stoß mit der Faust, daß er zurücktaumelte und von seinen Freunden aufgefangen werden mußte.

Einige Augenblicke darauf hatte das Wutgeschrei seiner Kameraden ihn jedoch wieder zur Besinnung gebracht.

Er faßte nach dem Messerschärfer, der an einem Muschelgürtel an seiner Seite hing und, ihn wie ein Messer zum Stoß haltend, stürzte er unter Brüllen nochmals vorwärts.

Der Excentrik erwartete ihn, den linken Fuß und den linken Arm vorgestreckt, ohne einen Laut von sich zu geben.

Seine Stirn war in zwei tiefe Falten zwischen den Brauen zusammengezogen, die Zähne waren fest zusammen gebissen.

Wie ein wildes Tier sprang der Schlächter auf ihn ein, die stumpfe aber gefährliche Waffe zum Stoß vorgestreckt.

»Stirb, Du englischer Mörder!«

»Dummkopf!«

Eine leichte Bewegung der Linken wandte den gefährlichen Stoß zur Seite. Zugleich traf die Faust des Lords so gewaltig gegen die linke Schläfe des Angreifenden, daß dieser im Halbbogen sich drehte und wie ein Sack zu Boden stürzte.

Aber fast im selben Augenblick erklang auch von allen Seiten der Ruf: »Nieder mit ihm! Schlagt ihn zu Boden! Hinaus mit ihm!« und von drei Seiten stürzte sich mit allerlei Waffen zum Handgemenge der ganze Halbkreis auf den Lord.

Ein paar Minuten widerstand er mit kräftiger, energischer Verteidigung, mit dem Rücken gegen die Thür gestemmt, die er so mannhaft verteidigte. Aber dann wurde seine Kraft überwältigt, und er sank, noch immer ohne einen Laut von sich zu geben und um Hilfe zu rufen, in die Knie.

In diesem Augenblick, wo die Kämpfenden einen wirren wüsten Knäuel bildeten, stieß Tête-Renard, der sich mit seinem Akoluthen von Beginn des Streites an unter der Menge befand, sein Werkzeug an.

»Vorwärts, Neb! jetzt ist der Augenblick! Gieb's ihm unter der fünften Rippe! Die Börse steckt in seiner linken Rocktasche!«

Der Wächter der »Schönen Guillotine« stürzte sich in den Knäuel der Balgenden. Gleich darauf hörte man einen leichten Schrei.

Neb sprang zurück. »Ich habe sie! fort!«

Wie mit einem Zauberschlage löste sich die wirre wilde Masse. »Blut! – Blut! – Mord!«

Meister Carabouche schlug die Hände zusammen. » Dies illa dies irae, calamitatis et miseriae! Herr, erbarme Dich!«

Der Ruf Mord, der Anblick des Blutes, das im Nu viele Hände färbte und eine große Lache auf dem Fußboden bildete, riß sofort die Streitenden auseinander und ließ den Platz um den Lord frei.

Man konnte jetzt sehen, welches Unheil geschehen war.

Der Viscount hatte sich wieder auf ein Knie erhoben, die linke Hand stützte er auf den Boden, die rechte preßte er auf die Seite, während zwischen den Fingern unaufhaltsam dunkle Blutwellen hervordrangen. Auch von der Stirn rieselte ein Blutstreif aus einer Wunde, die ihm ein Stockhieb geschlagen hatte. Seine Kleider waren zerrissen und beschmutzt.

» Goddam!« sagte er schwer. »Das war feiger tückischer Mord! Zum Teufel mit diesen Froschfressern! Sie haben mir den Rest gegeben! Helfen Sie mir auf, Duplessis, wenn Sie ein Gentleman sind, damit ich als ein solcher sterbe!«

Der dicke Journalist, schreckensbleich und von allen Geistern des Weines verlassen, versuchte den Blutenden aufzurichten; er sah sich nach Beistand um, aber der Kreis umher lichtete sich rasch, und jeder eilte, so schnell wie möglich aus dem Saale zu kommen, um nicht bei der um glücklichen Geschichte von der Polizei als Mitschuldiger oder Zeuge gefaßt zu werden. Nur zwei oder drei Personen, darunter Mademoiselle Durvant, die Tänzerin, die man Finette getauft, unterstützten ihn.

»Um Gottes willen, Mylord, ermannen Sie sich! es wird hoffentlich nicht so schlimm sein. Einen Arzt! Steht nicht da, Ihr langen Esel, sondern schafft einen Doktor herbei!«

Die Ermahnung galt Monsieur Carabouche, der mit noch verlängertem Gesicht und die Hände ringend dabeistand und kaum wußte, ob er die Sterbe-Litanei oder irgend ein Lied seines gewöhnlichen Schlages anstimmen sollte. Endlich entschloß er sich, seinen Gevatter Granget unter dem Tisch hervorzuzerren und ihn mit einem Tritt und dem Auftrag nach vorn zu schicken, man möge schleunigst einen Doktor auftreiben.

Die Kunde von dem Unglück war unterdes durch die Flüchtenden bereits in das Vorderhaus gedrungen, und Madame Carabouche eilte mit großem Geschrei an der Spitze der noch anwesenden Leichenbitter und anderer neugieriger Gäste herbei, die nicht zu fürchten brauchten, durch ihre Gegenwart bei dem Streit selbst kompromittiert zu werden.

Duplessis hatte mit Hilfe der Tänzerin und zweier anderer Personen – denn der Saal war jetzt völlig leer von den übrigen Gästen – den Pair auf den Sessel gehoben, den Carabouche aus seiner Schenke eiligst herüber langte, als Madame auf dem Schauplatz ankam und bei dem Anblick des blutenden Mannes laut aufkreischte.

»Carabouche, Unglücklicher! was ist geschehen? was hast Du gethan! Heilige Ursula und Genoveva, was wird die Polizei dazu sagen! und sie erzählen gar, er sei ein Lord!«

»Lord oder Kesselflicker,« bedeutete zähneklappernd ihr würdiger Gemahl die Dame, » mors vincit omnia, Madame Carabouche, der Tod macht alles gleich! Exultabunt domino ossa humiliata! Carombo! es ist eine ganz verfluchte Geschichte, aber ich kann nichts dafür und werde für ein möglichst christliches Begräbnis sorgen!«

Der Verwundete war in Ohnmacht gesunken. »Einen Arzt! einen Arzt! ihr Narren!« wiederholte der Journalist. »Schafft wenigstens Essig und Wasser herbei, statt Euch zu zanken. Mademoiselle Josephine, haben Sie Ihr Flacon bei sich?«

»Hier ist es, Dicker!«

Zugleich ließ sich eine ernste Stimme hören. »Was ist hier geschehen? wer ist ermordet?«

Die hohe, jetzt aufgerichtete Gestalt des falschen Sakristans war in den Kreis getreten.

»Ein Priester! oder wenigstens einer von der Kirche! Gott sei Dank, daß dieser englische Mylord nicht als Ketzer zu sterben braucht!«

Der »Prophet« hatte die Vorstehenden zur Seite geschoben und einen raschen Blick auf den Blutenden geworfen. »Gütiger Himmel, Mylord Heresford! Was ist geschehen? – wer hat das gethan?«

»Ein unglücklicher Streit, eine Prügelei um ein Frauenzimmer,« erzählte der Journalist. »Der Lord war erst kurz vorher eingetreten und verteidigte einen Freund gegen die Menge, die ihn überwältigte. Ich hoffe, seine Wunde ist nicht gefährlich; wenn Sie etwas davon verstehen, mein Herr, wie es mir nach Ihrem Benehmen scheint, so legen sie einen Notverband an, bis es mir gelingt, einen Arzt herbeizuschaffen, denn die Wirtsleute scheinen den Kopf verloren zu haben!«

Der falsche Sakristan hatte in der That die Kleider des Verwundeten geöffnet und seine Brieftasche hervorgezogen, in der sich ein kleines wundärztliches Besteck befand. »Ich kann wenigstens die erste Hilfe leisten,« sagte er hastig. »Gehen Sie, mein Herr, und suchen Sie einen Arzt herbeizuholen, so schnell wie möglich! Es ist ein großes Unglück!«

Der Journalist zog Madame Carabouche fast mit Gewalt mit sich fort, um von ihr die nötige Auskunft zu erlangen.

Er hatte kaum den Saal verlassen, als der Sakristan den Kneipenwirt zur Seite winkte.

» Ora!« sagte er leise.

Meister Carabouche fuhr zusammen und sah den Verkleideten erschrocken an. Die Verkleidung selbst war indes so meisterhaft, daß er nichts entdecken konnte, was sein Erstaunen vermindert hätte.

» E semper!« antwortete er.

»Es ist gut damit! Ich bin Euer Vorgesetzter. Wenn es sonst noch eines Mittels bedarf, Euch zum raschen Gehorsam zu bewegen, so wird, denke ich, die Erinnerung an Neapel und das Verschwinden eines gewissen deutschen Reisenden vor sechzehn Jahren auf dem Wege nach dem Vesuv genügen, von dem sein Diener allein zurückkehrte.«

Der ehemalige Leichenbitter war ganz fahl im Gesicht geworden und zitterte sichtbar. »Befehlen Sie, Herr, was soll ich thun? Sie werden einen armen Mann nicht unglücklich machen!«

»Ich denke nicht, wenn ich strengen Gehorsam finde. Zunächst schafft auf irgend eine Weise und so schnell wie möglich diese Leute aus der Nähe des Kranken, bis wir sie etwa brauchen.«

»Alle – auch das Weibstück?«

»Auch diese! Ich werde mich unterdes mit dem Verwundeten beschäftigen.«

Der Wirt rief seine ehemaligen Kameraden zusammen und erklärte ihnen, daß es, wie er sich ausdrückte, in articulo mortis sei, und daß der Lord, sobald er wieder zu sich käme, von dem fremden geistlichen Herrn ermahnt werden solle, vor seinem Ende die Ketzerei abzuschwören. Damit trieb er sie und alle anderen Neugierigen nach dem andern Ende des Saales.

Der Sakristan hatte unterdes die Wunde näher untersucht und die Blutung durch ein festes Umbinden mit seinem weißen Halstuch für den Augenblick gestillt. Sein Blick war sehr ernst, und er schüttelte mehrmals den Kopf.

»Was sind für Leute hier gewesen?« fragte er streng. »Der Stich ist offenbar von der geübten Faust eines Banditen geführt worden, denn er geht durch die Rippen von unten nach oben, und ich fürchte, daß die Lebensorgane verletzt sind!«

»Ich schwöre Ihnen, Herr, ich weiß von nichts!« stöhnte der unglückliche Wirt. »Es sind heute des Begräbnisses und der Hinrichtung wegen so viel Fremde hier gewesen …«

»Genug! schweigt! Er kommt wieder zu sich. Mylord, mein teurer Freund, ermannen Sie sich!« Er hatte den Verwundeten ein scharfes Salz vorgehalten und seine Schläfe damit gerieben. Der Viscount schlug die Augen auf.

» Goddam!« sagte er leise, »ich meinte schon, es wäre zu Ende. Ah, Sie sind es, Signor! Das ist gut, so kann ich Ihnen wenigstens meine Aufträge geben. Es ist mir ein Unfall passiert, und ich fürchte – der Excentrik und rastlose Herumschweifer wird bald ein stiller Mann sein.«

Der »Prophet« antwortete weder auf die Frage noch auf den begleitenden Blick.

»Ich weiß, Signor Giuseppe,« sagte der Lord, »daß Sie ein halber Wundarzt sind. Bei Ihrem Geschäft lernt man das durch die Übung. Sie kennen mich zur Genüge, also sagen Sie kurz und bestimmt, wie es steht!«

»Mylord, ich habe nach einem Arzt geschickt. Indes – versuchen Sie einmal, tiefer zu atmen.«

Der Verwundete that es, offenbar mit Anstrengung. Ein leichter hellroter Schaum trat auf seine Lippe.

Der Italiener beugte schmerzlich das Haupt. »Freund,« sagte er traurig, »Sie sind ein Mann! ich fürchte, Sie haben nur noch wenige Minuten zu leben. Wenn Sie irgend eine Bestimmung haben –«

»Nein, meine Bestimmungen sind längst getroffen! Es ist nur einfältig, nach so mancher besseren Gelegenheit an einem Kneipenstreit sterben zu müssen, und doch ist das Wie? am Ende gleich. Kommen Sie hierher, Signor, fassen Sie in meine Brusttasche, und nehmen Sie das kleine Portefeuille. Es sind Zwölftausend Pfund darin in Banknoten, die anderen Papiere verbrennen Sie. Es ist das Geld für die Rettung Orsinis. Apropos! ich schulde dem Mädchen da, der Tänzerin, die den Mut hatte, mir beizustehen, hundert Pfund!«

»Sie sollen bezahlt werden, Mylord, aber …«

»Nun, wenn Sie den Streich nur so ausführen, wie er eingeleitet, bin ich überflüssig! Ich gehe wenigstens mit dem Vergnügen aus der Welt, an diesem Herrn Bonaparte mich revanchiert zu haben. Sie waren im Gefängnis? Sie haben alles vorbereitet?«

Das Sprechen wurde ihm offenbar sehr schwer, es war mehr ein Röcheln. Auf den befehlenden Wink des »Propheten« war der Wirt in scheue Entfernung zurückgetreten.

»Mylord, wissen Sie, wem ich in La Roquette begegnet bin?«

»Nun? rasch, ich habe keine Zeit, lange zu raten!«

»Dem Kaiser!«

» Damned!« und – was – wollte er dort?«

»Ich weiß es nicht. Er war mit General Roguet, anscheinend inkognito. Aber das Schlimmste …«

»Nun?«

»Ich begegnete ihm, als ich den Gefangenen verlassen hatte, und ich fürchte, er hat mich erkannt, oder wenigstens Verdacht geschöpft!«

»Warum?«

»Sein spöttischer Blick sagte es mir.«

»Verdammt! aber dann hätte er Sie verhaften lassen!«

»Nein – warum das? er ist zu klug. Er weiß, daß es Lärm gemacht hätte. Aber wenn er mich erkannt hat, weiß er, daß ich nicht ohne Zweck dagewesen bin, und wird seine Maßregeln treffen!«

» Hell and damnation über sein unverschämtes Glück! und besiegt zu sterben, – Edward Heresford – wie ein Hund, am Abend vor der Schlacht!« Er warf sich ungestüm zur Seite, das Blut aus der Wunde strömte aufs neue – der Schaum auf seinen Lippen wurde dichter.

»Mylord, Mylord! denken Sie an Gott!«

»Ich – bin fertig mit ihm – oder er – mit mir! – Gute Nacht, Giuseppe Mazzini – auch Ihre Zeit – wird kommen, und Ihr Bau und all Ihr Mühen sich als eitel erweisen! Jetzt – ich fühle es – kommt der Tod – so heiß, so heiß!«

»Gott nehme seine Seele in Gnaden auf!« sagte tief ergriffen der Verschwörer. »Es stirbt ein wackrer Mann!«

Der Wirt, die Leichenbitter, die Tänzerin, sie alle waren wieder herbeigetreten. Finette hielt das Haupt des Sterbenden.

Plötzlich versuchte dieser noch einmal, sich mühsam emporzurichten, ein sarkastisches Lächeln flog über sein Gesicht.

»Peard,« flüsterte er stammelnd, »Peard – wird sich – ärgern, – daß, daß er – mich nicht sterben sieht!« Er sank zurück in den Stuhl und schnappte nach Luft, ein Gurgeln in der Kehle, ein neuer Blutschaum auf den Lippen – er war tot!

So starb Edward Marquis von Heresford, ein Excentrik vom reinsten Wasser, aber auch im besten Sinne des Wortes einer der originellsten und der bravsten Charaktere seiner Zeit.

Als der Journalist gleich darauf mit einem aus dem Schlaf getrommelten Arzt herbeieilte und mit ihm mehrere Polizeibeamte eintrafen, fanden sie nur seine Leiche, um welche die Leichenbitter des Père Lachaise, seine ominöse letzte Gesellschaft standen und unter dem Vorsang ihres alten Kollegen die Litanei respondierten: Kyrie eleison! Ora pro eo!

Der Sakristan war verschwunden.


Der Freitag verging unter den widersprechendsten Gerüchten; schon gegen Abend sammelten sich wieder große Menschenmassen in der Nähe von La Rouquette, um ja des blutigen Schauspiels nicht verlustig zu gehen.

Bald sollten sie sich überzeugen, daß sie sich diesmal nicht vergeblich bemüht hatten.

Um 10 Uhr fuhren drei Wagen mit Balken und Bohlen beladen vor das Gefängnis; man begann bei Fackelschein das Schafott aufzuschlagen.

Der Pöbel belustigte sich hin und wieder, die Carmagnole oder sonst ein mißliebiges Lied anzustimmen, und die Sänger wurden mitunter von den in Civil unter der ganzen Menge zahlreich anwesenden Polizei-Agenten beim Kragen genommen und eingesteckt. Im ganzen verhielt man sich ziemlich ruhig, um den Platz und die Aussicht nicht zu verlieren.

Um drei Uhr war das Schafott von den Zimmerleuten beendet und die Gehilfen des Scharfrichters stellten ihre schreckliche Maschine auf und probierten ihren Gang.

Es war alles in bester Ordnung, das Eisen fiel ganz ezcellent in seinen Fugen. Um 5 Uhr rückte das Militär, das zu der Hinrichtung kommandiert war, von Vincennes, von den Kasernen Popincourt und Bondy her an, säuberte den Platz und nahm seine Aufstellung.

Fünf Schwadronen Kavallerie besetzten die Zugänge des Gefängnisses; mehrere Abteilungen der Pariser Garde stellten sich an der Ausmündung der mit der Straße de la Roquette gleichlaufenden Straßen von den Straßen Basfroi und Popincourt auf, um den weiteren Zudrang der Menge zu hindern, die sich von Minute zu Minute vermehrte.

Es war, wie wir wiederholen, Sonnabend, den 13. März. Das Urteil des Assisenhofes des Seine-Departements war am 26. Februar gefällt worden. Das Attentat hatte am 14. Januar stattgefunden, die ganze Prozedur also gerade zwei Monate gedauert.

Um 5½ Uhr erschienen der Direktor des Depôts der Verurteilten und Abbé Hugon in der Zelle Orsinis, und der erstere teilte ihm mit, daß der verhängnisvolle Augenblick nahe sei. Orsini antwortete gefaßt, daß er bereit sei.

Hierauf gingen der Direktor und Abbé Nottelet in die nahe liegende Zelle Pierris und sagten ihm, daß er sich zum Tode vorbereiten müsse. Karl von Rudio wurde die Umwandlung der über ihn gefällten Todesstrafe in lebenslängliche Zwangsarbeit mitgeteilt. Er fiel in Konvulsionen, nachdem er während der ganzen Zeit in wahrhaft jämmerlicher Weise lamentiert und sein Schicksal beweint hatte.

Das Benehmen der beiden Verurteilten zeigte auch jetzt den Unterschied ihres Charakters, der sich bereits früher offenbart hatte.

Pierri befand sich in fortwährender Aufregung; er sprach und gestikulierte ohne Unterlaß, diskutierte über alles mit seinen Wächtern und suchte selbst in den Worten des Priesters einen Gegenstand zur Kontroverse. Bei der Mitteilung der nahen Vollstreckung des Urteils zuckte er trotz aller Anstrengung, sich fest zu zeigen, zusammen und verlangte dann mit einer Miene, der er gewaltsame Fassung zu geben suchte, zu frühstücken, indem er bat, daß man ihm Rum in den Kaffee gieße. Er trank ihn mit fieberhafter Aufregung, die sich durch heftiges Gestikulieren und Ausrufe bekundete. Nachdem er Kaffee und Rum genommen, bat er dringend, ja zornig, um noch mehr Rum und Wein.

Die Angst vor dem nahen Tode kämpfte sichtlich in ihm mit dem Trotz seines Charakters.

Seit der Ankündigung der Verwerfung des Kassationsgesuches, also seit jenem verhängnisvollen Donnerstag Abend, an dem ihn der falsche Sakristan besucht, hatte Orsini eine finstere Ruhe bewahrt; er brütete offenbar in seinem Innern über die ihm gemachten Verheißungen und sprach nur wenig. Gegen den Abbé Hugon, der ihn am Freitag besuchte, benahm er sich ehrerbietig, hörte seine Ermahnungen an, erklärte, daß er sich über die französische Justiz in keiner Hinsicht zu beklagen habe und beichtete nach den Vorschriften seiner Konfession. Die Begleitung des Geistlichen durch einen anderen Ministranten machte ihn zwar anfangs unruhig, und er erkundigte sich nach dem Mann, der ihm am Abend vorher in italienischer Sprache Trost zugesprochen; als der Abbé ihm aber erwiderte, daß der Sakristan einer benachbarten Pfarrei angehört und nur für seinen erkrankten Amtsbruder ausgeholfen habe, schwieg er, um den »Propheten« nicht zu kompromittieren, und, darauf vertrauend, daß dessen erfindungsreichem Geist viele andere Wege zu Gebote stehen würden, in seine Nähe zu kommen. Da er es nicht wagen durfte, sich mit dem Aufseher, der ihm als Mitwisser und Mithelfer des Geheimnisses bezeichnet worden war, anders, als durch allgemeine Winke zu unterhalten, hatte er sich bald auf sein Lager geworfen, und schlief, oder versuchte zu schlafen; denn schwerlich kann in einem solchen Zustand und bei dieser verzehrenden Erwartung die Seele Ruhe finden, in wirklichen Schlaf zu versinken.

Nach der Ankündigung der Vollstreckung des Urteils durch den Direktor verließen die Aufseher die Zelle, und Abbé Hugon blieb mit dem Verurteilten einige Augenblicke allein. Er benutzte sie, um ihm nochmals Mut, Ergebung und Vertrauen auf die Verzeihung Gottes anzuempfehlen.

Dann trat der Direktor wieder ein, ihn begleiteten zwei dem Verurteilten unbekannte Aufseher.

Jetzt zum erstenmal erbebte der Italiener und begann einen unglücklichen Ausgang zu fürchten. Er warf einen unruhigen Blick auf die Männer und bat um ein Glas Rum.

Man brachte es auf einen Wink des Direktors, der das ernsteste Schweigen beobachtete. Orsini, der wahrscheinlich unterdes bedacht, daß die Abwesenheit des von seinen Freunden gewonnenen Aufsehers für die Vorbereitungen der Flucht notwendig sei und der Umtausch der Personen ja erst bei der sogenannten Toilette erfolgen sollte, bat, das Glas auf das Wohlsein des Direktors leeren zu dürfen.

Dann ging er festen Schrittes zwischen den beiden Aufsehern nach der Kapelle des Gefängnisses, wo er zum erstenmal nach der öffentlichen Verhandlung ihres Prozesses seinen Gefährten und Schicksalsgenossen Pierri wiedersah.

Orsini kniete neben dem Priester nieder und betete anscheinend sehr andächtig, vielleicht für das Gelingen seiner Flucht – vielleicht – – Gott allein weiß es!

Jetzt hörte man die Uhr auf der Kapelle des Gefängnisses ausheben und schlagen.

Mit welchen Gefühlen mögen die Verurteilten diesen Schlägen, deren jeder sie näher zur Ewigkeit brachte, gelauscht haben.

Es schlug eins – zwei – drei – dreiviertel auf sieben.

In einer Viertelstunde mußte für Orsini alles entschieden sein; er erhob sich ohne Mahnung ungeduldig von seinen Knieen.

Man mußte Pierri erinnern, aufzustehen, da die Zeit zu ihrer »Toilette«, jenem furchtbaren letzten Akt vor der Hinrichtung selbst, gekommen war.

Die Aufseher führten die Verurteilten bis an die Schwelle der Kapelle.

Jenseits derselben standen zwei Männer, in Schwarz gekleidet; es waren die beiden Scharfrichter von Paris und Rouen. Mit der Berührung dieser Männer waren sie dem Schafott verfallen.

Ehe die Verurteilten die Schwelle überschritten, reichten die beiden ehrwürdigen Geistlichen ihnen noch einmal die Hand, sie nahmen gleichsam Abschied von ihnen, denn sie sollten sie erst bei dem furchtbaren Gange wiedersehen.

Felix Orsini trat rasch und kühn über die Schwelle, er hoffte ja hinter ihr das Leben zu finden; Pierri zauderte, dann all seinen Trotz aufbietend, folgte er. Der traurige Zug schritt langsam durch den Gang, Orsini warf rechts und links suchende Blicke.

Eine Minute nachher waren sie an die Stelle gekommen, wo die Gänge sich teilten. Die Thüren von zwei größeren Zellen standen offen, in jeder derselben stand ein Schemel in der Mitte bereit und befanden sich zwei Personen in kurzen anschließenden Jacken.

Orsini warf einen unruhigen Blick umher, aber er beruhigte sich, als er sah, daß die beiden Aufseher, die bisher speziell zu seiner Bewachung bestimmt gewesen waren, unter den anderen Personen standen, die hier der Verurteilten harrten. Nur war der eine, derselbe, den er im Vertrauen wußte, sehr blaß und unruhig und hielt die Augen zu Boden geschlagen. Indes der Verurteilte wußte nichts von den Spezialitäten seiner Rettung, und nur, daß der Wechsel der Personen während der nächsten Minuten vor sich gehen solle.

In diesem Augenblick trat der Direktor vor und zog ein Papier aus der Brusttasche.

»Herr Jerôme Jean Letrain, Nachrichter der Justiz von Paris, ich übergebe Ihnen den hier anwesenden Joseph Andrea Pierri auf Befehl der Behörde der öffentlichen Sicherheit, um ihn zur Vollstreckung des Urteils vorzubereiten.«

»Sie irren, Herr Direktor,« sagte der Mann, »ich soll das Urteil an dem anderen Gefangenen vollstrecken.«

»Nein. Befehl des Kaisers! Emile Gauthier Barolle, Nachrichter der Justiz von Rouen, ich übergebe Ihnen den hier anwesenden Felix Orsini, zu gleichem Zweck! – Gehen wir!«

Obschon er noch immer nichts Bestimmtes wissen konnte, durchzuckte doch eine furchtbare Ahnung den Gefangenen.

Aber es war zu spät, um sich in anderer Weise zu vergewissern. Er biß die Zähne zusammen und trat in die Zelle.

Hinter ihm traten der Nachrichter von Rouen, der Direktor des Gefängnisses und die beiden Gefangenwärter ein, die diesen Morgen den Dienst übernommen hatten. Der Mann, den ihm der »Prophet« als Mitwisser bezeichnet hatte, rührte sich nicht.

Die Aufseher schlossen sofort die Thür und stellten sich vor dieselbe. In dem Augenblick, wo die Thür sich schloß, erfaßten auf einen Wink des Meisters die beiden Henkersknechte den Verurteilten und nötigten ihn, sich auf den Schemel in der Mitte der Zelle niederzusetzen.

Er warf einen stieren, angsterfüllten Blick umher, die Zelle hatte an der Seite einen zweiten Ausgang.

Er atmete hoch auf.

Indes hatte das schreckliche Werk begonnen; niemand sprach, man hörte nur das schwere Atmen des Verurteilten und das Knirschen der Schere, die seine schwarzen, krausen Haare im Nacken abschnitt, um dem furchtbaren Eisen Platz zu machen. Der zweite Gehilfe band ihm mit einer dünnen festen Hanfschnur die Hände.

Als dies geschah, überfiel ihn aufs neue die Ahnung der Wahrheit. Er versuchte sich zu erheben und fragte leise: »Warum das? – ich denke …«

»Bleiben Sie ruhig sitzen,« sagte der Nachrichter. »Es muß sein!«

Fast willenlos ließ er die Knechte in ihrer gräßlichen Hantierung an seinem Körper fortfahren. Einer der Knechte zog ihm die Schuhe und Strümpfe aus, der zweite brachte einen großen und dichten schwarzen Schleier herbei.

Jetzt, jetzt mußte der Augenblick gekommen sein!

Der Nachrichter nahm den Schleier und hängte ihn über das Haupt des Verurteilten, daß er in langen Falten über das Gesicht niederfiel.

»Erheben Sie sich, Felix Orsini!«

Er stand auf, er zitterte vor Aufregung.

»Kommen Sie!«

Der Nachrichter faßte seinen Arm und führte ihn auf die zweite Thür zu.

Die Thür öffnete sich.

Jetzt – – –

Er trat über die Schwelle, ein leises Murmeln von Stimmen brauste wie Wogendonner an seine Ohren, dann hörte er eine gellende, fast schreiende Stimme, die kurz abgebrochen zu ihm sagte

»Nun! mein Alter!« Historisch, wie überhaupt die ganze schreckliche Scene.

Er erkannte die Stimme seines Genossen Pierri, und als er, soweit es der dichte Schleier gestattete, um sich blickte, sah er sich in einer geräumigen Halle und diese von Gefängnisbeamten, Wachen, den Geistlichen und anderen Personen gefüllt.

Jetzt erst begriff er, daß er verloren war, daß ein Verrat oder ein Mißlingen aller Anstalten ihn unwiderruflich dem Schafott überlieferte.

Er that einen Schritt, als wollte er sich gegen die Menge stürzen, ein leichtes Stöhnen entrang sich, kaum den Nächststehenden hörbar, seinem Munde. Dabei fielen ihm vielleicht die Worte seines furchtbaren Meisters ein: Dann halten Sie Ihren Eid und sterben Sie wie ein Mann!

Er schien sich gewaltsam zu fassen. Gleich darauf antwortete er mit fester Stimme seinem Todesgefährten. »Ruhe! Ruhe!« – – – – – – – – – –


Als der Henker Pierri den Schleier auf den Kopf legte, sagte dieser mit fieberhaften Lachen: »Ei man putzt mich, wie eine alte Kokette!« und als man ihm die Schuhe auszog, da die Verurteilten den letzten Gang mit nackten Füßen antreten sollten, wiederholte er: »Es ist gut, daß ich mir gestern die Füße wusch!« – –

Es war zwei Minuten vor 7 Uhr, als die Thore von La Roquette sich öffneten.

Gleich darauf begann im Innern des Gefängnisses eine Glocke zu läuten, und der schreckliche Zug trat heraus.

Pierri, mit nackten Füßen, das Haupt mit dem schwarzen Schleier bedeckt, ging voran; Abbé Nottelet führte ihn. »Seien Sie unbesorgt,« sagte Pierri, obschon er zitterte, zu ihm, »ich habe keine Furcht, ich gehe auf den Calvarienberg.« Als er aus der Pforte des Gefängnisses trat, begann er das Lied der Girondisten:

» Mourir pour la patrie etc.«

Orsini, gleichfalls nackten Fußes, das Haupt verschleiert, folgte mit dem Abbé Hugon.

Am Fuße des Schafotts, auf dem der Nachrichter von Caën sie erwartete, verlas der Huissier Janvier den Urteilsspruch.

Als dies geschehen war, stiegen die beiden Verurteilten die Stufen hinan. –

Über den Platz hin klang die vibrierende gellende Stimme des fanatischen Mörders:

» Frères, pour une cause sainte,
Quand chacun de nous est martyr,
Ne proférons pas une plainte,
L'Italie un jour doit nous bénir.
Nourir pour la patrie!
C'est le sort le plus beau, le plus digne d'en vie!
«

Die Kommandanten der Truppen erhoben die Säbel, die Trommeln wirbelten. Die Knechte des Henkers stürzten sich auf den Italiener und warfen ihn auf das verhängnisvolle Brett.

Im Nu war er angeschnallt, das Brett rasselte in den Fugen vorwärts …

» Mourir …«

Ein Wink – ein Blitz fuhr nieder – ein Schlag …

Der Flüchtling von Mantua schien alle Energie seiner Jugend in diesem Augenblick wieder gefunden zu haben. Der Meuchelmörder und seine Furcht waren verschwunden, nur der Mann, der für seine Meinung stirbt, war geblieben. Er sprang einen Schritt vor und mit einer energischen Bewegung schleuderte er den verhängnisvollen Schleier von sich!

» Franzosen – ich bin Orsini! Es lebe Italien! es lebe Frankreich

In diesem Augenblick erhob sich, auf den Schenkel eines Lastträgers tretend aus der fernen Menge eine dunkle Gestalt und schwenkte ein rotes Taschentuch.

Ein bitteres verächtliches Lachen flog über das bleiche Gesicht des Revolutionärs. Ohne eine Bewegung zu machen, überließ er sich den Händen der Henker.

Wenige Augenblicke, und der warme Strom des Lebens spritzte aus hundert Quellen!

Durch die Reihen des Militärs aber donnerte das Kommando:

Vive l'Empereur!


Zwei Stunden später kam der »Prophet« finster und bleich in das heimliche Versteck, das er seit vierundzwanzig Stunden bewohnte, von seiner Sicherheit und Verborgenheit vollkommen überzeugt.

In dem versteckten Hinterzimmer auf dem Tisch lag ein Brief.

Die Adresse lautete: Master Alsop!

Der große Verschwörer stutzte, als er die Adresse las. Er wußte, daß er das Zimmer vor seinem Weggehen sorgfältig verschlossen hatte.

Dann öffnete er rasch das Couvert. Es enthielt ein Blatt, auf dem standen nur die Worte:

»Der Kaiser Napoleon wird binnen Jahresfrist an Österreich den Krieg erklären.«

Schluß des zweiten Bandes.


Herrose & Ziemsen, Wittenberg.

 


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