Maurice Renard
Der Doktor Lerne
Maurice Renard

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Das neue Tier

Der Herr Leichenschauarzt waren von einer dankenswerten Apathie vor soviel Unglück und untersuchten nichts. Ich erzählte Seiner Ehrwürden von den Herzkrämpfen meines Onkels selig – und der Herr Leichenschauarzt erteilten mir die Erlaubnis zur Beerdigung.

– Der Doktor Lerne ist gewiß tot, sagten Ehrwürden, und damit ist unsere Mission, wenn es Ihnen so gefällt, beendet. Eine jede nähere Forschung könnte einem so eminenten Meister wie ihm als ein Widerspruch vorkommen ...

Das Leichenbegängnis fand ohne Pomp in aller Stille in Grey-l'Abbaye statt.

Die nächsten zehn Tage benützte ich, die Angelegenheiten dieser seltsamen Doppelgestalt, dieses Mörders und Opfers in einer Person, dieses Klotz-Lerne zu ordnen.

In den ungefähr viereinhalb Jahren hatte dieses Doppelwesen nicht die kleinste testamentarische Zeile verfügt. Das bewies mir, daß ihm der Tod trotz aller Ankündigungen durchaus überraschend gekommen war. In jedem Fall war ich doch zweifellos rechtzeitig enterbt worden. Und so fand ich in einem Geheimfach des Schreibtisches richtig jenes Testament von meinem Onkel, das mir in jenem Brief angekündigt worden war. Ich war also der Universalerbe.

Aber Klotz-Lerne hatte das Gut mit reichlichen Hypotheken belastet und schwere Schulden gemacht. Im ersten Augenblick dachte ich daran, einen Prozeß anzustrengen; aber das wär doch zu absurd gewesen. Nein, nein, nein, nein, das war schlechterdings unmöglich. Ich mußte fein still sein, sonst war ich selber am Ende noch sehr übel in die ganze Sache verwickelt worden.

Alles in allem sollte immer noch ein Nutzen für mich abfallen. Und ich war zu einer Zeit fest entschlossen, Fonval ganz fortzugeben, da es mir doch nur eine Stätte scheußlichster Erinnerungen sein würde.

Ich sah alle alten Papiere nach. Die des wirklichen Lerne atmeten durchaus seine medizinische Rechtschaffenheit und die Reinheit seiner Untersuchungen auf dem Gebiete der Pfropfkunst. Die des Klotz-Lerne, die leicht an der verwandelten, oft gotischen Schrift zu erkennen waren, die zeugten von einer Angst und einem Verbrechergeist, daß ich sie verbrannte ... so konnte dies alles nie mehr etwa gegen einen gewissen Nicolas Vermont aufstehen, der sechs Monate lang auf Fonval lebte. Aus demselben Grunde stöberte ich den ganzen Park und die ganzen Nebengebäude durch.

Dies getan, verschenkte ich die Tiere an die Dorfbewohner, und Barbara wurde entlassen.

Dann bestellte ich Arbeiter. Man verlud alle Familienstücke, während Emma ihre eigenen Sachen packte – zur Hälfte in ihren Hoffnungen betrogen, zur Hälfte voller Freude auf Paris.

Nach dem Tode Klotz-Lernes – ich sehnte mich nach der großen Welt, dem Komfort des Reichtums in aller Freiheit – hatte ich einem meiner Freunde geschrieben und ihn gebeten, er möchte mir eine Wohnung mieten, die etwas geräumiger als mein Junggesellenheim sein und für ein Liebespärchen taugen müsse. Seine Antwort entzückte uns. Er hatte eine Wohnung in der Avenue Victor Hugo gefunden, grad wie nach Maß für uns gemacht und nach all unsern Wünschen möbliert. Eine sorgfältig ausgewählte Dienerschaft erwartete uns ...

Alles fertig. Alle Sachen, auch die vielen der Emma, expediert. Eines Morgens hatte Herr Pallud, der Notar in Grey, eine letzte Unterredung mit mir zwecks Verkauf des Gutes. – Emma hielt es nicht länger mehr aus hier. – Wir setzten unsere Abreise auf denselbigen Abend fest. Per Automobil. Übernachten in Nanthel. Um den ändern Tag schon in Paris zu sein.

Und die Stunde kam, zu der ich Fonval auf immer verlassen sollte.

Ich lief noch einmal durch die leeren Zimmer des Schlosses und durch den kahlen Park. Als ob der Herbst in beiden zugleich seinen Einzug gehalten hätte ...

Durch die verlassenen Zimmer trippelte immer noch das alte Parfüm, beschwörend, sentimental. Ein bißchen schimmelig ... aber süß! ... An den Wänden überall die Blößen, die einst Bilder und Spiegel zudeckten, vor denen einst Truhen und Laden gebückt oder aufrecht standen: An solchen Stellen ist die sonst sehr schadhafte Tapete noch wie neu, bunt, licht, das blüht dann wie Blumen aus Gräbern ... – Manch ausgeräumt Zimmer erscheint plötzlich schmaler, ein anderes weiter, und beides ohne rechten Sinn. Ich schritt noch einmal durch die Zimmer im Souterrain hin und sah noch einmal zu den Mansardenfenstern und Dachluken hinaus. Ich ließ es mir nicht nehmen, noch ein letztes über all die Tummelplätze meiner Jugend zu wandeln ... ach, meine Jugend! Die allein bewohnte Fonval, das fühlt ich wohl. Was hier auch für Dramen gespielt hatten, das Zimmer Doniphans war meines, und Emmas Zimmer war das meiner Tante, und das blieb so und blieb ... Tat ich wirklich recht, Fonval versteigern zu lassen?

Dieser Zweifel begleitete mich überallhin im Park. Die Weide wurde wieder zur Wiese, der Pavillon des Minotaurus neu zum Briareus. Ich umschritt den ganzen Park. Der Himmel war sehr niedrig und wie graue Watte. Winterlich Licht war. Die Statuen froren ...

Vom Park ins Schloß. Vom Schloß in den Park.

Nein, nein. Nicht länger. Nun hieß es fort, fort, fort. Und Fonval dem Efeu und den Spinnen preisgeben.

Vor der Remise wartet Emma. Ganz zur Reise eingemummelt. Und ungeduldig. Ich tu die Türflügel auf. Das Automobil steht neben dem Gig, im Hintergrund des Verschlags. Ich hab's seit dem Unfall nicht wiedergesehen, ja ich erinnere mich nicht einmal, daß ich selber es hier hereingeschoben hätte. Offenbar hatten mir die Gehilfen, wenn auch nicht allzugern, den Gefallen getan.

Trotz meiner Nachlässigkeit fing der Motor sofort sehr artig zu brummen an. Ich fuhr bis zur halbkreisförmigen Esplanade heraus und schloß dann mit gemischten Gefühlen das ächzende große Tor. Schluß der schrecklichen Affäre Klotz, aber, gnad mir der Himmel, Schluß auch der Jahre meiner Jugend ... Mir war, als könnt ich meine Jugend verlängern, indem ich Fonval nicht hergäbe:

– Wir halten in Grey beim Notar an, sagte ich zur Emma. Ich verkaufe nicht. Ich vermiete nur.

Wir fuhren ab. Ich nahm den Weg rechts. Die Felswände wurden niedriger und niedriger. Emma plapperte. Das Automobil rumrumte vorerst lustig dahin. Und dennoch tat mir's leid, daß ich es so vernachlässigt hatte. Da – mit einem Ruck hielt's an. Und da und da und da – das wiederholte sich. Der Gang der Maschine war bald nichts weiter mehr als ein Vorstürzen, Hineilen, Verlangsamen, Stehenbleiben. Und das immerzu.

Ich sagte doch schon, daß der Wagen durchaus automatisch war. Alle Pedale und Hebel auf ein Minimum reduziert. Eine solche Maschine hat einen Nachteil: sie verlangt, daß sie vor der Ausreise vollkommen intakt ist – einmal auf dem Weg, hat man keinen andern Einfluß mehr auf sie als die Regulierung der Geschwindigkeit ...

Ich würde anhalten und absteigen müssen. Das ärgerte mich.

Wie aber der Wagen weiterhin so ruckweise lief, mußte ich wider Willen lächeln. Denn dies alles gemahnte mich seltsam genug an meine Spaziergänge mit Klotz-Lerne ... genauso pflegte mein Pseudo-Onkel fortwährend stehenzubleiben und wieder weiterzurennen. Ich hoffte, daß das eine vorübergehende Indisposition des Mechanismus sei ... daß es beispielsweise am Öl läge ... und horchte lieber gespannt auf das Brummen des Motors, um herauszuhören, welche Funktion etwa defekt wäre. Aber das Ungleiche des Laufes wurde von Anhalten zu Anhalten immer auffälliger ... einmal blieben wir fast eine Sekunde still stehen. Mein ungereimter Vergleich von vorhin wurde immer treffender, und das belustigte mich: »Ganz und gar wie jene Kanaille von einem Professor«, sagte ich mir, »das ist in der Tat amüsant!«

– Was ist denn los? sagte meine Freundin, du machst mit einemmal so ein ängstliches Gesicht ...

– Ich? ... Ach nein?

Seltsam: Diese Frage machte mich besorgt. Ich dachte, ich hätte die ganze Zeit das kaltblütigste Gesicht von der Welt gemacht. Aus welchem Grunde sollte ich denn ängstlich dreinschaun? Ich war ärgerlich – ganz einfach ärgerlich. Fragte mich da fort und fort, was für ein Organ in diesem »mächtigen Korpus«, wie sich der Professor ausgedrückt hatte, wohl krank sei, und war, da ich nichts fand, im Begriff anzuhalten und ... ich war einfach ärgerlich, das war alles! Ganz umsonst horchte und horchte ich immerzu auf die Detonationen, das Gerassel und all die dumpfen Stöße ... und hörte doch nichts Auffälliges, das mir die Schadhaftigkeit eines der Räder, Gelenke oder Kurbeln verraten hätte.

– Ich möchte wetten, daß da etwas eingerostet oder verdreckt ist! schrie ich. Weiß der Teufel. –

Da sagte Emma:

– Sieh doch, Nicolas! Muß sich das Dings da bewegen?

– Ja! Ich hab's doch gesagt! Da siehst du's!

Sie hatte auf das Acceleratorpedal hingezeigt, das sich ganz von selber bewegte, und das blödsinnige Gehüpf des Wagens stimmte genau mit den Pedalbewegungen überein. Das war also die Havarie! ... – Ich sah's genau an: solang etwas wie ein unsichtbarer Fuß auf das Pedal drückte, stoppte das Automobil. Ich wollte schon absteigen, da raste der Wagen von neuem auf und davon. Das Pedal nämlich war in diesem Augenblick zurückgeschnellt.

Ich wurde von einer quälenden Unruhe befallen. Gewiß: Nichts ist ärgerlicher als ein havarierter Wagen. Aber ich konnte mich nicht erinnern, daß ich mich jemals bei einer Panne so über die Maßen aufgeregt hätte ...

Plötzlich kreischte die Hupe ganz von selbst...

Ich fühlte den unwiderstehlichen Drang, irgend etwas zu reden.

Das Stummsein verdoppelte nur meine Angst.

– Da muß alles ganz und gar nicht in Ordnung sein, sagte ich und sagte es aber so harmlos als möglich. Wir werden nicht vor Nacht ankommen. Armes Emmachen.

– Wär's nicht besser, du gingst sofort an die Reparatur?

– Nein. Ich will lieber weiter ... Wenn man anhält ... da weiß man nie, ob man überhaupt wieder in Flug kommt ... dazu haben wir immer noch Zeit ... Vielleicht auch geht's jetzt ...

Aber die Hupe überschrie mich. Und plötzlich krampften sich mir die Hände am Steuer: das Geschrei der Hupe wurde leiser; aber wurde singend, wurde Rhythmus und Stimmfall ... wie eine Melodie ... (vielleicht hörte ich's nur ...) – Erst war's, wie wenn ein Sänger seine Stimme probiert – und dann intonierte der kupferne Schlund frisch, fromm, fröhlich, frei:

»Rumfideldum fideldum.«

Bei dieser Melodie argwöhnte ich plötzlich das Schlimmste. Etwas ganz Phantastisches, Mysteriöses – ja, immer noch! Ich starb schier vor Schrecken. Ich wollte das Gas abstellen – der Gashebel widerstand. Das Pedal versagte. Die Bremse weigerte sich. Eine höhere unerschütterliche Kraft war da statt meiner am Werk. Ich ließ das Steuer los und arbeitete mit beiden Armen an der Bremse. Ohne das geringste Resultat. Nur die Hupe, die gluckgluckte und gurgelte, als ob sie mich auslachen wollte, und schwieg dann endlich still. Emma lachte und sagte:

– Was für eine komische Trompete!

Mir war alle Lust zu lachen längst vergangen. Ich hatte absonderliche Einfälle...

Diese metallische Maschine, die ganz ohne Holz, Kautschuk und Haut war, also gar keine Fragmente von ehemaligen lebenden Wesen an sich hatte, war die nicht »ein belebter Körper, der niemals gelebt hatte«? Dieser automatische Mechanismus, der war doch ein Leib, mit allen Reflexen ausgestattet und nur total ohne Intelligenz? War das Automobil darum nicht, nach jener Theorie in jenem Notizbuch, wirklich das einzige Wesen, das eine Seele restlos in sich aufnehmen konnte (und von dem der Professor einst behauptete, daß es so ein Wesen nicht gäbe...)?

Im Augenblick seines angeblichen Todes hatte sich Klotz-Lerne – sowie einst in jenen Pappelbaum – in dieses Vehikel versetzt. Doch war er seit Wochen schon sehr zerstreut gewesen und hatte vielleicht, tödliche Inkonsequenz!, nicht bedacht, daß da doch seine Seele vollständig – mit Stumpf und »Stiel« – in den Rezipienten gleiten würde, sein menschlicher Leib dann also nur noch ein Kadaver wäre, in den er kraft seiner eigenen Entdeckung nicht wieder zurückgelangen könne.

Oder ... Klotz-Lerne hatte aus Verzweiflung eine Art Selbstmord begangen, indem er aus der Haut meines Onkels in die Hülle meiner Maschine fuhr? ...

Oder aber ... er wollte das Neue Tier werden, das er einst grotesk genug beschworen, das Tier der Zukunft, die Krone der Schöpfung, das Wesen, das durch die immerwährende Austausch- und Ersatzmöglichkeit seiner Organe die Unsterblichkeit errang?

Und dann ... nein, nein, ich glaubte es nicht, noch konnte ich es nicht für möglich halten. Da war nur eine Ähnlichkeit in ein paar Allüren zwischen dem Professor und der Maschine – eine Gehörstäuschung und ein Schadhaftwerden des Hebels – dieses bißchen bewies das Ungeheuere noch lange nicht. Meine Angst wollte ein entscheidenderes Unterpfand.

Und es wurde mir. Auf der Stelle wurde es mir.

Wir waren an der Waldgrenze angekommen. An jenem Punkt, da der verstorbene Wahnsinnige stets sein unerschütterliches »Bis hierher und nicht weiter« rief. Ich begriff, daß die Maschine hier bocksteif halten würde und warnte Emma:

– Paß auf – lehn dich zurück.

Trotzdem hielt das Automobil so plötzlich an, daß wir beide eine tiefe, tiefe Verbeugung machten.

– Was ist denn los? sagte Emma.

– Nichts. Ruhig, ruhig, nur ruhig...

Frei herausgesagt, war ich in größter Verlegenheit. Was nun? Absteigen war viel zu gefährlich gewesen. Auf dem Rücken des Klotz- Automobils waren wir wenigstens unerreichbar für ihn. Ich hatte keine Lust, mich von dem Ungetüm überfahren zu lassen ... Da machte ich noch einmal den Versuch, das Vehikel vorwärts zu steuern. Jawohl! Nichts, nichts, nichts gehorchte mir. Ich konnte anstellen, was ich wollte ...

Da, plötzlich, steuerte das Steuer von allein, alle Hebel und Pedale rührten sich, und mit einer eleganten Kurve drehte der Wagen um und wollte nach Fonval zurück. Sowie ich ihn aber meinerseits wendete, um die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, ging er keinen Schritt weiter.

Emma meinte, ich solle nun aber endlich absteigen und die »Panne« heilen.

Aber mein Schrecken war seit einigen Sekunden zu Wut geworden ...

Die Hupe gackerte.

– Wer zuletzt gackert, gackert am besten! murmelte ich.

– Was ist denn los? Ja, was ist denn los? sprach meine Reisegefährtin.

Ich hörte nicht auf sie. Ich langte aus dem Werkzeugkasten einen eisernen Pneumatikmontierhebel heraus und schlug auf den widerspenstigen Wagen ein.

Es war großartig. Ich prügelte. Das schwere Gefährt gebärdete sich wie unsinnig. Es tanzte, schlug aus, stampfte, stand auf. Es wollte uns richtig aus dem Sattel heben.

– Klammer dich an! schrie ich meiner Freundin zu.

Und ich prügelte. Der Motor brummte, die Hupe heulte vor Schmerz und Wut. Meine Hiebe hagelten nur so hernieder. Die Tracht Schläge ... es war ein fabelhafter, es war ein Heidenlärm im Gehölz.

Plötzlich ein Schrei wie von einem Elefanten. Und das Mastodon bäumte sich, tat zwei, drei Lançaden und raste dahin – als ob alles kaputtgehen müßte!

Ich war nicht mehr Herr der Situation. Gott gnad uns! Der Achtzigpferdige flog nur so. Wo nehmen wir den Atem her?... Zuweilen ein Hupenton – durch Mark und Bein gehend! ... Wir fahren wie der Blitz durch Grey-l'Abbaye. Über Hühner, Hunde ... immer zu ... Blut spritzt bis zu meinen Brillen auf. Wir fahren so schnell, daß mir das Notarschild des Herrn Pallud wie ein Streifen Gold erscheint. Außerhalb des Dorfes fängt die Staatsstraße an. Platanen stehen Spalier. Wir hindurch. Durch. Und da – was mir zum allererstenmal an meiner Maschine auffiel – wurde das Auto wie müde. Verlangsamte sich ... Und ließ sich lenken ...

Ich mußte das Ungetüm noch öfter prügeln, bis es uns endlich nach Nanthel brachte. Wir kamen erst spät, aber ohne jeden weitern Unfall an. Nur als wir einmal über einen Rinnstein fuhren, schrie der kupferne Mund weh auf. Und ich sah, daß durch das Hindernis die Feder des rechten Vorderrads gebrochen war. Bei meiner Ankunft im Hof des Hotels wollte ich eine neue Feder anbringen lassen – vergeblich. Die Hupe schrie so sehr, daß ich auf die Reparatur verzichtete. Sie war übrigens auch nicht mehr nötig, da ich beschlossen hatte, von hier aus mit der Eisenbahn weiterzufahren und das widerspenstige Tier verladen zu lassen. Alles andere wollte ich der Zukunft überlassen. Für den Augenblick brachte ich den Wagen in die Garage ... und machte mich so schnell als möglich davon, da ich wußte: hinter mir blitzten die runden Augen der Lampen unheimlich her.

Und mir fiel plötzlich eine Stelle aus jener wissenschaftlichen Abhandlung ein, die mir damals sofort aufgefallen war ... und ich war nicht wenig erschrocken, daß sie mir nun etwas wie eine Erklärung des Wunderlichen abgab und mir noch manche zukünftige unheimliche Unannehmlichkeit voraussagte:

»Man kann sehr wohl annehmen, daß zwischen den lebenden Wesen und toter Materie ein Bindeglied besteht – grad so wie zwischen Tier und Pflanze.«

Das Hotel schien luxuriös eingerichtet. – Ein Lift beförderte mich in die Höhe, und man führte mich in unser Zimmer.

Meine Partnerin war mir vorausgeeilt. Sie, die so lange eingeklostert war, sah mit Gier die Straße und den Verkehr und die Schauläden, die da drunten erstrahlten. Sie konnte sich gar nicht davon trennen, das Leben anzuschauen, und lief, noch ganz in ihrer Reisevermummung, von einem Fenster zum andern und riß die Vorhänge auf. Sie nahm nicht die geringste Rücksicht auf mich, die Welt fesselte sie anscheinend viel mehr als meine Person. Mein seltsames Benehmen auf dem Automobil kam da wohl noch hinzu – das mußte ihr doch einigermaßen aufgefallen sein. Und da ich dafür kein Wort der Erklärung zu ihr hatte, hielt sie mich wohl für äußerst extravagant und vielleicht auch noch nicht ganz von meinem Wahnsinn geheilt.

Beim Diner an einem kleinen intimen Tisch und bei Licht, das so heimlich wie die Beleuchtung in meinem Boudoir war, mitten unter befrackten Herrn und dekolletierten Damen – war sie von einer deplacierten Üppigkeit. Sie fixierte diese, betrachtete von oben bis unten jene, jetzt voller Bewunderung, jetzt mit viel Spott, lobte dies ganz laut und mokierte sich über jenes nicht viel leiser ... und wollte mit aller Welt plappern.

Ich schaffte sie fort, sobald ich nur konnte. Aber sie wollte Leben sehen, unter Leuten sein ... ich mußte sie »ausführen«.

Theater oder Varieté. Aber nur das Varieté war geöffnet. An diesem Abend waren da nach Pariser Muster Entscheidungsringkämpfe.

Der kleine Raum war überbesetzt mit Ladenschwengel, Studenten und Straßendirnen. Eine Riesenwolke Rauch lagerte über der Menge ... von billigstem Tabak.

Emma tat sich chic in ihrer Loge. Ein grobsinnlicher Gossenhauer, von einem erbarmungslosen Orchester gespielt, brachte sie in Ekstase. Und da sie sich absolut keinen Zwang antat, richteten sich bald 300 Augenpaare auf ihren Fächer und ihre Hutfedern, die im Takt schwangen. Emma lächelte und nahm die Parade dieser 300 Augenpaare ab.

Die Ringkämpfe begeisterten sie. Noch mehr aber die Ringkämpfer. Diese menschlichen Bestien, deren Köpfe nur Kiefern und gar keine Stirnen haben, machten sie toll.

Ein tätowierter Koloß bekam den ersten Preis. Er war ein »Kind« der Stadt, und die Bürger brachten ihm eine Ovation dar. Er bekam den Namen »der Löwe von Nanthel, der Champion der Ardennen«. Emma war aufgesprungen und applaudierte und schrie: »Bravo! Bravo!« so laut und so beharrlich, daß sie die Heiterkeit des ganzen Saales erregte. Der Champion warf ihr eine Kußhand zu. Ich wurde rot vor Scham.

Wir kehrten ins Hotel zurück. Wir zankten uns. Zankten uns so sehr, daß wir zur Nacht »brav« waren ... »keusch«.

Unser Zimmer lag grad überm Hoteltor. Bis zum Morgen ratterten da Automobile. Ich träumte Schreckliches und Blödsinniges.

Als ich erwachte, lag ich ... allein im Bett.

Stumpfsinnig vermutete ich meine Freundin da, wo auch der Präsident von Frankreich zu Fuß hingeht ... aber ihr Platz im Bett war längst erkaltet, und das brachte mich auf die Beine.

Ich klingelte dem Kellner. Der kam und brachte mir diesen Brief, den ich mir aufgehoben hab, den karierten Bogen, den ich mit einer Stecknadel nun auf dieses weiße Manuskriptpapier hefte, mit all seinen Klecksen und Ordenssternen:

Liber Nigola,

Endschuldich wen ich dich weh dhu aber es Isd beser das wir Uns drenen. ich draf gesdern meinen I. libhaber den Man wegen desen ich mir mid Leoni gezangt hab Alzid wieder. Das isd der hibsche Bengl der gesdern Siger vom ringen war. Ich geh wider zu ihn, weil mir die brusd nach ihn jugd. Ich wierde ihm auch nie verlassen haben nur weil lern mich so schmelich vill Geld Fersprochen hatte. Und dann hätte ich dich doch nur ungliglich gemachd und dann hätte ich dich doch nur bettrogen denn siehmal du bisd doch nur 2 X auf der Höhe Gewessen, das einemal wie dich der stier bei die Hörner Hatte, das anermal wie du plezlich aus mein Zimer gestürmd bisd. daß ibrige war nichd der rede Wert. Ich muß einen richdigen tichdigen man haben. du kanst nichts davor und so hofe ich das ich dich auch nichd weh dhu.

leb Wol fir imer
Emma BourdichetBei der ersten gemeinsamen Lektüre des Doktor Lerne schienen uns die Orthographie und besonders der Stil dieses Schreibens in einem auffälligen Gegensatz zu der gewöhnlichen Ausdrucksweise von Frl. Bourdichet. Ihre Ausdrucksweise scheint denn doch immer noch ein ziemliches gebildeter als dieser Stil. (Siehe Kap. VII, da merkt man den Unterschied.) Gilbert stürzte sich ohne weiters auf diese Ungleichheit, um zu behaupten, es sei überhaupt alles nur ein Ulk Cardaillacs und hier und dadurch gäbe er sich freiwillig zu erkennen. Man antwortete ihm, er soll einen Augenblick alle Ehrlichkeit Cardaillacs voraussetzen; in diesem Fall rühre der Brief direkt von Frl. Bourdichet her, all ihre Reden aber, die sonst im Verlauf der Erzählung angeführt sind, seien freieste Wiedergabe. Seien von Herrn Vermont aus dem Gedächtnis zitiert, und da Herr Vermont kein Romanschreiber von Beruf ist, so hätte er sich eben viel mehr an den Sinn als an die Worte gehalten. (Siehe: wie Herr Vermont einzelne Sätze mit ungleich mehr Farbe und Leben wiedergibt als jenes lange Kap. VII! Wie um so wahrheitsgetreuer er ist, je kürzer die Reden sind.} – Diese Bemerkungen hätten vollauf genügt, die Behauptung Gilberts zu widerlegen. Ein Experiment aber, das Marlotte machte, zerstörte dann jedweden Zweifel von Grund auf. Marlotte bat einige Demimondänen um ein paar Liebesbriefchen und war starr, als er ersah, daß diese Mädchen, deren Ausdruckweise durch den häufigen Verkehr mit wohlerzogenen gebildeten Männern so niedlich ist, fast alle so wie schmutzige Weibsbilder und Trampeltiere schreiben. (Anm. d. H.)

Vor einem so kategorischen Inhalt – noch in einer so barbarischen vernichtenden Sprache – hatte ich mich nur zu beugen. Das Urteil war gefällt. Revision? Wir waren einander aus demselbigen Antrieb zugetan gewesen. Ich hatte nur die Liebe mit so einem bezaubernd schönen Weibe geliebt. Was weiter?

Und ich besaß Energie und Weisheit genug, alle Gedanken über den Vorfall auf morgen zu verschieben. Ich war doch sonst wohl ein wenig schwach geworden ... Erkundigte mich also nach dem nächsten Zug, der nach Paris ginge, und bestellte einen Mechaniker, der mir meinen Achtzigpferdigen, oder wenn man lieber will: das Ding Klotz-Automobil, expedieren helfen sollte.

Der bestellte Mann kam sehr bald. Und wir gingen zusammen nach der Garage.

Der Wagen war verschwunden.

Sollte ich das Verschwinden Emmas und das Verschwinden meines Wagens in einen gewissen Zusammenhang bringen? Hm ... Der Direktor vom Hotel glaubte sofort an Diebe und lief nach der Polizei. Und kam zurück und sagte: es wäre in einem Vorstadtgäßchen ein Automobil mit der Nummer 234-XY gefunden worden. Von den Gaunern natürlich im Stich gelassen. Wegen Ölmangel und so. Das Reservoir wär ganz ausgetrocknet gewesen.

»Das muß wahr sein!« dachte ich mir. »Klotz hat retten wollen. Und hat aber nicht mit dem Öl gerechnet. Daher!...«

Ich behielt aber das Wahre hinter dem Falschen fein für mich und befahl dem Mechaniker, mir den Wagen, ganz so wie er war, nach der Bahn zu schieben ... Aber zu schieben!

– Versprechen Sie es mir! drang ich in ihn. »Es ist sehr wichtig ... Mein Zug geht ab, ich muß mich eilen ... Schnell! Aber das muß ich Ihnen noch einmal sagen: Tun Sie mir bloß kein Öl drauf!


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