Maurice Renard
Der Doktor Lerne
Maurice Renard

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Der Tod und die Maske

Und doch wurde der Plan niemals ausgeführt.

Nicht daß ich zag gewesen wäre. Ich war jederzeit fest entschlossen. Und als mir Zweifel an der Existenz der Gefahr aufstiegen, war das zu einer Zeit, da meine Pläne schon nicht mehr realisierbar waren. Aber solange sie's waren, wartete ich mit heftigster Ungeduld auf die erste beste Gelegenheit, die sich gäbe, und diese Hast, mit der ich alles enden wollte, förderte ehrlich gestanden sogar noch meine Angst...

Überall, überall witterte ich Gefahr. Oft und zumeist da, wo's gar nichts zu befürchten gab. – Emma verbrachte die Nächte in meinem Zimmer. Alle Schlüsselritzen, jede kleinste Spalte, durch die der fürchterliche »Seher« mit seinen Augen hätte hereinschauen können, wurden verstopft. Und trotzdem der Ort nun absolut verteidigt war, beklagte sich Emma über meine Kälte, ich getraute mich nicht mehr. Und als ich's doch wieder einmal wagte, überfiel sie ihre seltsame Ohnmacht nach der Leidenschaft um viel früher als gewöhnlich; heute will mir freilich scheinen, daß es war, weil sie so lange gefastet hatte – damals aber vermutete ich hinter dieser allzu schnellen Abwesenheit einen neuen schlimmen Streich: konnte in Emma in jenen Augenblicken nicht eine fremde Seele sein? ... Und das Grauen, in der schönen Hülle meiner Freundin etwa dem Sadismus des alten Lerne genug getan zu haben, machte mich für immer ihre Umarmungen scheuen. – Dem Onkel, dem konnte ich nicht einmal mehr in die Augen sehen. Ich ging schreckerfüllt mit gesenktem Blick und mied die Blicke aller andern, sogar die der Porträts, deren Augen uns überall hin zu verfolgen scheinen. Ein Nichts machte mich zusammenfahren. Ich fürchtete mich vor jedem Tier, das einen weißen Kopf hatte, vor jeder Pflanze, die im Wind schwankte, vor jeder Stimme eines Vogels in einem Baum ...

Man sieht also: es war höchste Zeit, daß ich von hier fort kam – und daß ich mit allen Kräften danach strebte! Aber ich wollte doch den Moment abwarten, in dem mich Lerne willig anhören würde und da ich meine Drohung dann recht sehr ausnützen könnte. Und dieser Moment ... der kam nicht. Die Entdeckung nämlich wollte nicht kommen. Der Mißerfolg unterminierte den Professor. Seine Ohnmachtsanfälle – vielmehr: seine Experimente – häuften sich und ließen ihn rapid von Kräften kommen. Und das beeinflußte seine Stimmungen sehr übel.

Einzig auf unseren Spaziergängen lebte er auf. Da sang er dann immer noch sein »Rumfideldum« und blieb alle zehn Schritt weit stehen und ließ eine wissenschaftliche Betrachtung vom Stapel. Am allermeisten bezauberte das Automobil den Zauberer.

Ich mußte daran denken, daß ich vor Monaten auf dem Automobil schon einmal eine rasende Dummheit begangen hatte, und trotzdem wollte ich es ein zweites Mal nun auf einem Ausflug auf dem Achtzigpferdigen versuchen.

Und ich hätt's getan, wenn ... Ja, wenn!

Es war im Wald von Loureq. Drei Kilometer vor Grey. Auf dem Rückzug nach Fonval von einem Ausflug gegen Bouziers.

Wir nahmen einen leichten Hügel. In voller Fahrt. Lerne lenkte. Ich ging meine Rede durch und wiederholte mir wohl zum hundertstenmal die langher vorbereiteten Sätze. Wie von Fieber trocknete mir der Mund aus. Seit Anfang der Fahrt hatte ich immer und immer wieder die erste bündige Silbe zurückgeschluckt, die die Erpressung einleiten sollte. Vor jeder Dorf- und jeder Wegbiegung hatte ich mir vorgenommen: »Jetzt!« Aber da kamen wir nun schon all die Nester und Krümmungen zurück – und ich hatte noch keinen Laut getan. Kaum zehn Minuten noch. Da! Auf der Höhe des Hügels eröffne ich das Feuer! Das ist die Gnadenfrist!...

Die erste Phrase stak schon im Lauf und wartete nur, abgedrückt zu werden, da wich der Wagen mit einemmal unheimlich nach rechts aus und schleuderte nach links – Herrgott, wir werfen um! Im selben Augenblick hab ich die Führung und bremse mit Händen und Füßen ... Und der Wagen hält – just auf der Höhe.

Dann seh ich Lerne an.

Er sitzt zusammengesunken. Der Kopf fällt ihm vornüber. Die Augen hinter den Brillen sind stier. Der eine Arm hängt schlaff herab. – Eine Ohnmacht! Das hätte schön werden können!... Aber diesmal – sind's diesmal nicht wirkliche Herzkrämpfe? Was faselte ich doch immer von Experimenten!...

Er will nicht wieder zu sich kommen. Ich nehm ihm die Brille ab. Das kahle Gesicht ist wächsern. Die Hände – ich hab ihm die Handschuhe ausgezogen – gleichfalls wie Wachs. Ich nehm seine Hände – was versteh ich von Ärztekunst – und klatsche mit ihnen, wie man es bei Schauspielerinnen macht, die Lampenfieber haben.

Der Applaus schallt in die ländliche Stille. Sonor und unheimlich – zum Exit des großen Komödianten.

Frédéric Lerne ist nicht mehr. Seine Hände sind kalt, seine Backen ganz fahl, sein Blick ohne Seele, sein Herz stand still. Er war seinem Herzübel, an das ich nicht glauben wollte, erlegen. Wie Herzkranke sterben: ohne Laut.

Ich war erschüttert. Eben die Gefahr mit dem Wagen und nun der Tod in Person ... das war zuviel ... Eine Sekunde, und von allem Lerne verblieb nichts als ein Fraß für Würmer und nichts als ein Name, um ihn zu vergessen. Nichts weiter. Und trotzdem ich diesen Schädling so sehr haßte und mich nun von ihm befreit wußte – die Behendigkeit des Todes, mit der diese ungeheuerliche Intelligenz eskamotiert wurde, konnte vorerst nichts, als mich maßlos entsetzen.

Wie eine Figur aus dem Puppenspiel, die nun tot zu sein hat, lag Lerne in dieser Landschaft, die wie gemalt war. Und der Tod puderte ihm das Pierrotantlitz.

In dem Maße aber, als der Geist ins Unendliche entwich, schien sich die irdische Hülle meines Onkels zu verschönen. Ich sah dem Wunder auf Lernes Zügen zu. Licht, selig licht wurde es ihm um die Stirn – als ob sein Leben eine Wolke gewesen wäre – vor irgendeiner Sonne, die nun hervortrat. Sein Gesicht wurde marmorn weiß – und das Ganze war hinfort keine Puppe mehr, sondern eine Statue.

Die Augen wurden mir naß. Nun wußte ich's. Wär mein Onkel heut vor fünfzehn Jahren in all seinem Glück und all seiner Weisheit gestorben, er hätte nicht schöner ausgesehen als jetzt ...

Aber ich darf nicht länger träumen. Dieses Tête-à-tête auf einer belebten Straße mit einer Leiche muß aus sein. Ich faßte ihn beherzt an und setzte ihn auf den linken Wagensitz. Band ihn mit ein paar Riemen fest. Und nachdem ich ihm die Handschuhe wieder angezogen, seine Kopfbedeckung und die Brillen wieder aufgesetzt und ihm sein Halstuch neu umgebunden hatte, schien er eingeschlafen und nichts weiter.

So fuhren wir.

Keinem in Grey fiel die Steifigkeit meines Nachbarn auf – und ich brachte ihn sachte bis Fonval. Und viel Ehrfurcht fühlte ich für den verstorbenen Gelehrten und zugleich manch Mitleiden für den alten Verliebten, der soviel gelitten hatte. Ich hatte über dem Ende alles vergessen, was vorhergegangen war. Fürchtete ihn auch nicht mehr und verachtete und haßte ihn auch nicht mehr im geringsten.

Seit unserem Renkontre im Labyrinth, am Morgen meiner Ankunft, hatte ich nie wieder mit den Deutschen gesprochen. – Ich ging also zu ihnen ins Laboratorium, nachdem ich das Automobil mitsamt seinem geisternden Chauffeur unter der Aufsicht der Magd am Schloßeingang gelassen hatte.

Ich gestikulierte – die Gehilfen verstanden sofort, daß etwas Außerordentliches geschehen sein müßte, und folgten mir. Mit ihren Armesündergesichtern, die beim Geringsten Unheil wittern. Als sie sahen, was sie betroffen hatte, verbargen sie auch gar nicht, daß ihnen das ein schlimmer Strich durch die Rechnung war, und waren ersichtlich voller Angst. Sie redeten sehr erregt aufeinander ein. Johann behielt recht, die andern zwei wurden sehr unterwürfig. – Ich wartete, was sie tun würden.

Da halfen sie mir den Professor in sein Zimmer bringen und auf sein Bett legen. Emma kam, schrie auf und lief davon. Dann gingen die Deutschen ohne jede Förmlichkeit, und Barbara und ich blieben allein beim Onkel. Die dicke Magd vergoß einige Tränen. Zu Ehren und angesichts des Todes, wie ich vermutete. Und nicht für die Manen ihres verflossenen Gebieters. Sie betrachtete ihn – in ihrer ganzen Leibesfülle. Lernes Nase wurde spitz, die Nägel liefen blau an.

Schweigen.

– Wir müssen ihn schön machen, sagte ich plötzlich.

– Lassen Sie mir das, antwortete Barbara. Das ist keine Arbeit für Sie, und ich versteh mich drauf.

Und ich verließ den Toten. Barbara war ein Dorfmütterchen. Die sind alle ein wenig Hebamme und Leichenfrau. Bald nachher kam sie und sagte:

Fertig. Und schön geworden. Fehlt nichts als das Weihwasser und die Orden, die ich nicht finde ...

Lerne war so weiß auf seinem weißen Bett. Und all das Weiße floß ineinander, und es war wie ein alabasterner Sarkophag mit dem Bildnis eines Toten – aus einem Block gehauen. Der Onkel: rührend lieb frisiert; in seinem Plisseehemd; mit der weißen Krawatte. Die Hände, so bleich!, gefaltet – und hielten einen Rosenkranz. Ein Kruzifix erglänzte auf der Hemdbrust. Knie und Füße hoben sich unter dem Linnen ab – wie ferne Schneegipfel. Auf dem Nachttisch, hinter dem Kessel ohne Weihwasser, in dem zwecklos als überflüssiger Weihwasserwedel ein trockener Buchsbaumzweig lag, brannten zwei Wachskerzen. Barbara hatte das Möbel in etwas wie einen Altar verwandelt, und ich machte ihr Vorwürfe ob solcher Inkonsequenz. Sie blieb mir die Antwort nicht schuldig, sagte, daß das alles so sein müsse, und schloß dabei die Vorhänge. Da fielen wie von der Zimmerdecke herab und wie Würmer tiefe Schatten aufs Gesicht des Toten ... und krochen hin und nisteten sich ein und fraßen ... daß ich die Magd anschrie:

– Fenster auf! Licht herein! Hierinnen soll Tag von draußen sein und Vogelsang und Blumenduft aus dem Garten ...

Die Magd gehorchte. »Obgleich sich das alles ganz anders gehörte.« Dann gab ich ihr Instruktionen, daß sie die obligaten Leichenbesorgungen täte, und bat sie, mich allein zu lassen.

Der starke Hauch welker toter Blätter drang ein vom Park. Der macht unendlich traurig. Du atmest ihn, wie du Grabgesang hörst ... Krähen flogen vorbei und schrien hallend, daß mir wie in einer Basilika war ... Und der Abend kam an. Und der Tag war im Verscheiden.

Ich sah mich weiter im Zimmer um. Überm Schreibtisch ein Pastell – darauf lächelt meine Tante, meine Tante Lidivina, lächelt... Man sollte die Menschen nicht lächelnd malen; der tut ein Unrecht an ihnen, der das tut. Sie sehen zuviel Sachen, die ihnen das Herz bluten machen. So wie hier diese Tante in Farben, die dazu lächeln mußte, daß ihr Gemahl mit einer Schlampe hurte, und die selbst dazu noch lächeln mußte, daß er nun aufgebahrt war ... Das Bild war wohl vor zwanzig Jahren gemalt. Aber der Pastellpuder ist wie der Puder des Alters – und sah das Bild wie gealtert aus.

Tante ... Jugendzeit... ich mocht nicht mehr hinsehn ...

Und ich dachte und sah andere Dinge. Daß Dämmer einfiel ... die ersten Fledermäuse schwirrten ... daß dies und jenes da war ... und daß die Kerzenflammen tanzten ...

Wind stand auf. Kam stöhnend durchs Laub her. Schritt hin. Klagend. Und tat mit einemmal einen solchen Seufzer, daß die eine Kerze verlöschte. Die andere flackerte ... Schnell das Fenster zu. Nur nicht im Finstern sein.

Ich sollte mir den Toten doch noch genauer ansehen. Ich sollte...

Die Lampe an. Lerne badete in Licht.

In der Tat, er war schön. Sehr schön. Nichts mehr von der Wildheit, die mich nach fünfzehn Jahren Fernseins so verstören sollte ... außer ein wenig Ironie, die da um den Mund spielte, ein Fläumchen Spott. Hegte mein Onkel selig da noch einen Hintergedanken? Im Tod noch schien er's wie mit der Natur aufnehmen zu wollen, der im Leben der große Retuschierer der Schöpfung war ...

Und sein Werk stand neu vor mir auf. Mit all seinen Wagnissen und Verbrechen. Sein Werk, dafür ihm Pranger und Ruhm zugleich, Zuchthaus und Palme gebührten. Vor kurzem noch hätte ich geschworen, daß er nur das eine von beiden verdiente ... aber ... aber welch Ungeheueres mag das – vor ungefähr fünf Jahren gewesen sein, was den Wirt zum Mörder seiner Gäste machte?...

Ich fragte mich's. Wieder und wieder. Und die Geister Klotz und Mac-Bell schienen im Kamin versteckt und klagten. Schienen in allen Ritzen verborgen und sangen. Die Kerzenflammen tanzten. Ein Vorhang hob sich groß und senkte sich dann wieder. Die weißen und leichten Haare Lernes flogen. Der Wind raufte sie, ließ sie borstig starren, zauste sie ...

Und wie die Windhand im Haar Lernes spielte, sah ich entsetzt und weit übers Bett gebeugt jetzt etwas aufleuchten, jetzt es verschwinden, jetzt wieder aufglühen und jetzt neu sich verhüllen: unter den Silberlöckchen Lernes die violette Schramme, von einer Schläfe zur ändern um den ganzen Hinterkopf herum!...

Der schreckliche halbe Kronreif! Der wahre Zeuge der Operation! Mein Onkel operiert! Von wem? ... Von –

– von Otto Klotz selbstverständlich! Nun, natürlich!

Das Geheimnis entschleiert. Der letzte Schleier zerrissen. Alles klar! Alles: Die jähe Wandlung des Professors zugleich mit dem Verschwinden seines Hauptmitarbeiters, mit der Reise Mac-Bells, mit der Unsichtbarkeit Lernes! Alles: die verwandelten Briefe, die entstellte Handschrift, das Mich-nicht-wieder-Erkennen, der deutsche Akzent, die Pfeife, das Nachlassen des Gedächtnisses, der nach Klotz angenommene Charakter, seine Kühnheit, seine Leidenschaft für Emma, die sträflichen Experimente, die Verbrechen an Mac-Bell und mir! Alles! Alles!! Alles!!! Alles!!!!

Wie hatte mir Emma erzählt? Da, da, da, da – nun fügte sich eins ins andere:

Vier Jahre vor meiner Wiederankunft auf Fonval kommen Lerne und Otto Klotz von Nanthel zurück, wo sie den Tag über waren. Lerne ist wahrscheinlich sehr aufgeräumt. Er ist ganz und gar erfüllt von seinen Studien der Okulierkunst, die nur und nur zum Heil der Menschheit sein sollen. Klotz aber, den's nach Emma verlangt, der will den Experimenten eine andere Richtung geben – eine profanere, eine gewinnsüchtigere: Gehirne austauschen. Zweifellos schlug er diese Idee (die er in Mannheim aus Mangel an Geld nicht ausführen konnte) – meinem Onkel vor. Aber vergeblich.

Da wird er gewissenlos und gemein. Mit Hilfe seiner drei Komplicen, die benachrichtigt waren und im Dickicht lauerten, überwältigt er den Professor, knebelt ihn und sperrt ihn ins Laboratorium ein. Ihn, nach dessen Reichtum und Freiheit, anders: nach dessen Persönlichkeit er lüstern ist.

Aber er will erst noch ein letztes Mal seinen Leib und seine Stärke brauchen, eh er sich ihrer für immer entledigen muß: und er verbringt jene Nacht mit Emma.

Den andern Tag, noch vor Sonnenaufgang, kehrt er ins Laboratorium zurück, drin Lerne gefangen sitzt. Seine drei Komplizen betäuben die beiden und praktizieren das Gehirn Klotzens in die Schädelhöhle meines Onkels. Was Lernes Gehirn anlangt, so stopft man's obenhin in Klotzens Stirn, der ja nur mehr ein Kadaver ist, und begräbt das Ganze hastig – so wie's ist ... Marsch!

Und das ist dann: Klotz in der Maske Lernes! Herr auf Fonval! Herr über Emma! Herr seiner Arbeiten! Wie ein Einsiedlerkrebs in der Muschelschale des Wesens, das er getötet hat ...

Emma sieht ihn aus dem Laboratorium herauskommen. Er nimmt Besitz vom Schloß – bleich und schwankend –, stülpt das ganze Leben auf Fonval um – und läßt die Labyrinthwege anlegen. So ist er vor Strafe sicher und beginnt in diesem unzugänglichen Talkessel mit seinen grausigen Experimenten. Mit seinen glücklicherweise vergeblichen Experimenten! Denn der Tod kam ihm zuvor. Die Herzkrankheit Lernes mußte er bei seiner Vermummung unweigerlich mit in Kauf nehmen. Der Einbrecher, über dem das Haus zusammenstürzt ...

Nun begriff ich auch, warum dieses Gesicht im Tode die früheren lieben Züge meines Onkels wieder angenommen hatte! Die Seele des Deutschen war ausgefahren aus diesem Leib, und beherrschte und verwüstete ihn nicht länger!...

Klotz der Mörder Lernes, und nicht Lerne der Schlächter Klotzens!... Die Verwandlung Lernes hatte mir nicht entgehen können, wenn ich allein mit ihm zusammengetroffen wär. Daß ihn aber alle andern, Emma und die Gehilfen, daß ihn die ganze Umgebung für den wahren Lerne ausgab, das hatte mich blind gemacht. Ich glaubte dem Lärm um mich mehr als meiner eigenen Stimme ...

»Ach Tante,Tante,Tante«, dachte ich, »du hast gut lächeln mit deinen gemalten Lippen. Dein Frédéric ward vor beinah fünf Jahren in einer scheußlichen Schlinge gefangen und erwürgt – und das letzte Fremde war eben aus diesem kalten Leib ausgetrieben. Hier ruht dein Lerne, er ist es ganz selber wieder bis auf ein Stückchen Hirn, einen fremden nichtssagenden Lappen Fleisch. Dein ausgezeichneter Gemahl ist's, bei dem wir wachen – und ein ganz anderer ist's, der eben in Sünden und schwerer Schuld verstarb ...«

Bei diesem Gedanken heulte ich laut auf – vor diesem seltsam Verstorbenen. Nur jener Witz, jenes Flämmchen Spott, jene paar Stäubchen Ironie, der Nachlaß jener Lumpenseele genierte mich noch. Ich fuhr mit Fingerspitzen darüber hin und wischte es fort und massierte den schon erhärteten Mund und wollte ihn nach meinem Gefallen modellieren.

In dem Augenblick aber, als ich (wie ein Bildhauer) ein wenig zurücktrat und meine Arbeit aus der Entfernung maß, klopfte es leis.

– Ich bin's, Nicolas, ich ... Emma.

Sie wußte nichts von allem! Sollte ich ihr die Wahrheit sagen? Wie würde sie einen solchen Wahnsinn des Schicksals aufnehmen? ... Ich glaubte sie ein wenig zu kennen. Sie hatte mich manchmal schon ausgelacht und mir vorgeworfen, daß ich geflunkert hätte ... Ich schwieg also.

– Ruh dich, sagte sie leise. »Barbara kommt dich ablösen.

– Nein, nein, danke. Laß mich.

Ich und nur ich mußte die Totenwacht halten bei meinem Onkel. Ich hatte ihn des Schlimmsten angeklagt, ich wollte seiner und meiner Tante gedenken und um Verzeihung bitten.

Und wie stürmischer Wind auch draußen umfuhr, wir beredeten uns leis die ganze Nacht, der Tote, das Pastell und ich.

Um den Morgen kam Barbara. Und ich ging in die Frühe hinaus, die Feuer meines Bluts zu kühlen.

Der herbstliche Park roch welk, roch nach Friedhof. Der große Wind zur Nacht hatte all die Blätter von den Bäumen gepflückt, meine Schritte raschelten über den zolldicken Blattbelag. Die Bäume Skelette. Nur da und dort im Astwerk noch ein letztes Blatt, von dem man aber auf den ersten Blick kaum sah, war's wirklich Laub oder war's ein Spatz. In wenig Stunden hatte der Park Wintertoilette gemacht. – Was wurde aus dem herrlichen Treibhaus, wenn nun der Frost kam? ... Vielleicht gelingt es, vielleicht kann ich mir jetzt Eintritt verschaffen. Die Deutschen ziehen doch ab ... Ich steuerte drauf los. Aber schon von weitem sah ich was, das mir die Schritte beschleunigte. Die Tür zum Gewächshaus offen – und ätzender und rußiger Rauch drang durch Tür und Fensteröffnungen.

Ich trat ein.

Rundbau, Aquarium und der dritte Raum – ein Bild der Zerstörung. Alles durcheinandergeschmissen, zerbrochen, verbrannt. In jeder der drei Hallen große Haufen. Zertretene Blumen, zerschlagene Töpfe, Glasscherben, Korallen, besudelte Pflanzen, krepierte Tiere: kurz, drei große häßliche Düngerhaufen. Das Ende alles Herrlichen, alles Rührenden und alles Abstoßenden, das einst da war. In einer Ecke glühte jetzt noch ein Haufen alter Lumpen. In einer ändern Ecke zerfielen auf einem Aschenhügel einige Zweige – und das waren gerade die kompromittierendsten von allen – unter knisternder Kohlenglut. Und nach verbrannten Knochen stank's.

Diese Plünderung konnte nur von den Gehilfen herrühren. Die wollten jede Spur ihrer Arbeiten tilgen. Ich hatte sie zur Nacht nur nicht gehört, weil der laute Wind war. Ich hätte sie aber auch in ihrem Verdienstlichen, das sie taten, absolut nicht aufgehalten. Nur immer zu ...

Dann ging ich nach jenem Massengrab in jener Lichtung. Die Gruft war aufgewühlt. Gebein und Gerippe von Tieren lag umher. Die einen ohne Stirnschale, die andern ganz ohne Schädel. Nur Klotz – nur Nelly waren verschwunden.

Die Zerstörung im Laboratorium war eine meisterliche zu nennen. Die zeugte von angeborenem Genie. Und sogar ein wenig von allem Germanentum. Ich lief, wie ich wollte durchs Haus ... und bald war der Wind Portier und öffnete mir zuvorkommend, bald war er ein ziemlicher Lausejunge und schlug mir eine Tür vor der Nase zu. Im Hof lebte nur noch Getier, das noch nicht operiert war. Von allen andern sah ich nichts; von allen andern erfuhr ich erst später. Hier also war alles peinlich sauber zugrunde gerichtet. – Die Operationssäle boten ein unbeschreibliches Chaos von zersplitterten Phiolen, und ein See von pharmazeutischen Essenzen überschwemmte den Boden. Bücher, Papiere und Notizhefte waren hingeschlachtet, ja selbst jene seltsamen Apparate zum Sühnopfer dargebracht. Die meisten chirurgischen Instrumente aber waren geraubt. Die Schurken hatten das Rezept der Klotzschen Schädeloperation und alles Zubehör fein mitgenommen. Sie wollten ihre Kunst wohl anderswo weiterhin anwenden. Die Kommoden und Kleiderkasten in ihrem Wohnhaus waren alle geräumt. Die drei Genossen hatten sich also aus dem Staube gemacht.

Wie ich das verheerte Haus verlasse, entdeck ich in einer Ecke was Bläuliches. Einen Kohlenhaufen, der einem mit seinem Leichengestank den Atem benahm. Ich geh trotzdem näher – und da springt etwas aus diesem pestilenzialischen Haufen hervor – eine halbtote, halbdurchbratene Ratte – und will mir an den Beinen hochhüpfen. Der Schädel ist ihr trepaniert, man sieht die blutige Gehirnmasse.

Vor Mitleid und Ekel trete ich mit meiner Ferse das letzte Opfer der Unmenschen tot.


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