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X.

Der Wagen hält vor einer Polizeiwache im Hafenviertel. Die Gegend sieht alles andere als vertrauenerweckend aus, es riecht auch ziemlich übel nach einer eigentümlichen Mischung von fauligem Wasser, ranzigem Öl und noch verschiedenem, was schwer zu unterscheiden ist, aber keineswegs zu den Wohlgerüchen gehört. Der Kommandant der Wache, Inspekteur Boulanger, ist die Höflichkeit selbst. Er bittet sich die Papiere Hunts aus und sieht besonders den von der Seinepräfektur ausgefertigten neuen Haftbefehl gegen den Fakir Bairab genau durch.

»Verbindlichsten Dank, Monsieur, es ist alles in bester Ordnung. Darf ich aber eine Frage an Sie stellen? Kennen Sie Marseille?«

Der Dolmetscher übersetzt, Hunt verneint.

»Oh,« sagt der Kommandant. »Dann muß ich Ihnen folgendes sagen: Sie befinden sich hier im Hafenviertel von Marseille und damit zugleich im schlimmsten Winkel unseres schönen Vaterlandes. Ich bitte Sie deshalb von Herzen, unternehmen Sie nichts auf eigene Faust! Selbstverständlich stehe ich mit meinen Leuten vollständig zu Ihrer Verfügung, Sie brauchen nur zu befehlen, es ist alles schon vorbereitet. Wenn Sie sich aber nur zehn Schritt von unserem Trupp entfernen, dann kann ich für nichts mehr bürgen.«

Hunt hört sich die Übersetzung an und denkt sich: ›Schlimmer als mit den Gangsters in den Staaten wird es wohl kaum sein, die französische Polizei scheint etwas ängstlich zu sein. Aber ich habe ja meinen Colt und schieße auf den Knopf.

Hunt fragt, ob man nicht gleich zur Verhaftung schreiten könne.

Der Dolmetscher übersetzt Hunts Frage.

»Gewiß, Monsieur!« antwortet der Kommandant und erteilt einen Befehl. Sieben Kriminalbeamte treten ein und stellen sich in einer Reihe auf. Die Leute sehen toll aus! Alle tragen schmierige, zerlumpte Anzüge, sie sind ungewaschen, einer hat sich sogar ein täuschend echtes blaues Auge angeschminkt. Hunt bemerkt mit Erstaunen, daß die Kriminalbeamten sich sogar »parfümiert« haben, sie müssen sich Fusel auf die Kleidung gespritzt haben. Wenn Hunt nicht wüßte, daß er Polizisten vor sich hat, würde er die Leute für Ganoven übelster Art halten. Allerhand Achtung!

Boulanger betrachtet prüfend seine Garde und nickt befriedigt, die Leute haben sich wirklich Mühe gegeben.

Der Dolmetscher bemerkt Hunts bewundernde Anerkennung und sagt: »Leider nützt die ganze Maskerade trotzdem nicht viel, denn die Unterweltler kennen jeden von uns ganz genau. Immerhin ist es besser so, wir fallen wenigstens auf einige Entfernung nicht gleich auf. Und Sie kennt hier ja niemand.«

Boulanger überlegt. »Eh bien, wir sind mit uns dreien genau zehn Mann, mehr können wir unmöglich mitnehmen. Darf ich bitten, Monsieur Hunt? Wir sind so weit.«

Der Kommandant geleitet Hunt höflich durch einen Hinterausgang auf die Straße, der Dolmetscher schließt sich ihnen an. Die anderen Kriminalbeamten huschen nach verschiedenen Seiten entlang und sind sofort von den dunklen Nebengassen verschluckt.

»Sie gehen auf verschiedenen Wegen zum ›Weißen Hund‹, wo der Inder wohnt,« erklärt der Dolmetscher. »Bitte, halten Sie sich dicht bei uns, wir sind gleich zur Stelle!«

Es dauert wirklich kaum zwei Minuten, da bleibt der Kommandant in einer düsteren Gasse stehen. Über dem Eingang eines verfallen aussehenden Hauses brennt trübselig eine weiße Laterne mit Milchglasfenstern, auf denen so etwas wie ein Affe gemalt ist. Über dem Eingang kann man gerade noch die verwitterte Inschrift »Weißer Hund« entziffern.

Eine verkommene Gestalt löst sich aus dem Dunkel eines Hausflurs, spuckt im Bogen aus, geht auf den Kommandanten zu und bittet ihn um Feuer für eine Zigarette. Der Polizeioffizier hält seine brennende Zigarette hin, der Ganove flüstert ihm etwas zu.

Die Gestalt verschwindet im Dunkeln, der Kommandant bespricht sich kurz mit dem Dolmetscher.

»Alles in Ordnung,« erklärt der Dolmetscher Hunt. »Das Haus ist umstellt, der Inder ist drin, unsere Leute von der Wache sind zur Stelle. Bitte, folgen Sie uns, und tun Sie genau dasselbe wie wir!«

*

Ein paar Steinstufen geht es hinab, Boulanger stößt eine Tür auf. Vor ihnen liegt ein langgestreckter Kellerraum mit gewölbter Decke und gekalkten Wänden. An verschiedenen Tischen sitzen wohl an die fünfzig Menschen.

Hunt mustert schnell die Versammlung und schaudert unwillkürlich zusammen. Was da sitzt, ist eine Musterauslese von Galgengesichtern aller Hautfarben, Europäer, Chinesen, Nigger, Malaien, alles ist vertreten. Und alle tragen den Stempel gemeinsten Lasters und Verbrechens auf der Stirn. Am fürchterlichsten sehen die Weiber aus, die aber in der Minderzahl sind. Boulanger hat mit seiner wohlgemeinten Warnung nur zu recht gehabt.

Als Hunt mit den Kriminalbeamten – drei Beamte von der Wache haben sich noch angeschlossen – den Keller betritt, stockt sofort die Unterhaltung an allen Tischen. Es ist mit einem Schlage still wie in einer Kirche.

Boulanger tritt einen Schritt vor und verbeugt sich höflich. »Mesdames et Messieurs,« sagt er liebenswürdig. »Lassen Sie sich bitte durch uns in keiner Weise stören! Wir wollten nur mit dem indischen Monsieur, der hier wohnt, gern etwas besprechen.«

Eisige Stille folgt den höflichen Worten des Polizeioffiziers, eine Stille, die selbst dem gewiß nicht zartfühligen Hunt an den Nerven reißt. Der Detektiv senkt vorsichtig die Hand nach seiner Revolvertasche, er meint, im nächsten Augenblick würde der ganze Keller explodieren. Boulanger beißt sich auf die Lippen, tritt noch einen Schritt auf die Gesellschaft zu, die ihn mit haßerfülltem Schweigen anstarrt, und sagt mit krampfhafter Höflichkeit: »Die Herrschaften geben mir sicher die Ehre, sie zu einer Lokalrunde einladen zu dürfen. Ich sehe, der indische Monsieur ist nicht bei Ihnen, wir gehen dann gleich hinauf und erledigen die kleine Anfrage. Die Herrschaften geben mir doch die Ehre, nicht wahr?«

Die Antwort ist eisiges Schweigen.

Da erhebt sich langsam ein riesiger Mensch mit Stiernacken und einem Boxergesicht, auf dem eine große Schmachtlocke – eine »Herzensangel«, wie die Franzosen sagen – sonderbar absticht. Der Mensch wirft einen flüchtigen Blick über die schweigende Versammlung und verbeugt sich dann höflich vor Boulanger. Der Mann zieht sich den Hosenbund hoch und sagt mit einer merkwürdig verschleierten hohen Stimme: »Da die verehrten Anwesenden nichts dagegen zu haben scheinen, und die Herren« – er macht wieder eine Verbeugung gegen den Polizeioffizier und seine Begleiter – »uns so höflich eingeladen haben, gestatten wir uns, der Einladung Folge zu leisten.«

In die Versammlung kommt etwas Leben, ein aufgeregtes Flüstern wird an einigen Tischen hörbar, verebbt aber schnell wieder. Der Wirt, ein aufgeschwemmter, übel aussehender Kerl, der bisher regungslos am Schanktisch gelehnt hat, baut eine Reihe Absinthflaschen auf dem schmierigen Tisch auf. Der stiernackige Boxer verteilt die Flaschen auf die verschiedenen Tische und ruft laut: »Der Herr Kommandant soll leben, wir trinken alle auf sein Wohl!«

Johlende Zustimmung antwortet, der Bann ist gebrochen.

Der Boxer flüstert dem Budiker zu: »Los, Papa Pierre, führ' die Polente rauf, damit wir verduften können! Was geht uns das braune Vieh an?«

Der Wirt holt eine Petroleumlampe unter dem Schanktisch vor, die merkwürdigerweise schon brennt, und erbietet sich zu führen. Boulanger atmet erleichtert auf, es scheint alles glatt zu gehen.

Der Wirt geht zum Hintergrund des Kellers, wo eine Treppe in den Oberstock führt. Hunt und die Kriminalbeamten folgen ihm, die Gäste machen höflich Platz und kümmern sich anscheinend nicht mehr um die unerwünschten Besucher.

Die Steinstufen gehen in eine gekrümmte Holzstiege über, die Stufen sind lebensgefährlich schmal und ausgetreten, auch kleben sie vor Schmutz. Merkwürdig hoch führt die Treppe, Hunt nimmt an, daß ein niedriges Stockwerk dazwischen liegen muß.

Ein dunkler, schmaler Gang öffnet sich. Der Wirt stellt seine Funzel auf die Dielen. »Vorletzte Tür links, Messieurs,« sagt er und schlurft die Treppe wieder hinunter.

*

»Vorwärts!« befiehlt Boulanger leise. »Je schneller wir aus dieser Höhle herauskommen, desto besser.«

Die drei Kriminalbeamten, die sich ihnen angeschlossen hatten, bleiben an der Treppe stehen. Zwei entsichern ihre Pistolen, der dritte nimmt in jede Hand eine Handgranate; so kann man die schmale Stiege gegen jeden Ansturm verteidigen.

Hunt hat seinen Taschenscheinwerfer angeknipst und geht auf Zehenspitzen zu der bezeichneten Gangtür. Boulanger und der Dolmetscher haben ihre Taschenlampen vorgezogen, folgen dem Detektiv und lassen die Lichtkegel argwöhnisch über die anderen Türen zu beiden Seiten des Ganges spielen.

Nichts rührt sich, auch aus dem Keller ist kaum ein Laut zu hören.

Das Folgende spielt sich plötzlich so schnell ab, daß außer Hunt keiner es so recht beobachten kann.

Lautlos hat sich die Tür des Inders daumenbreit geöffnet. Nur Hunt hat es sofort bemerkt; er hat auch einen Pistolenlauf gesehen, der sich durch den Spalt schiebt.

Zwei Schüsse krachen – oder sind es drei? –, donnernd wirft der enge Gang den Schall zurück.

Ein dumpfer Fall, dann ist alles still.

Mit zwei Sprüngen ist Hunt an der Tür des Inders, er stößt sie auf und drückt sich sofort gegen die Wand. Aber die Vorsicht ist nicht mehr nötig. Der Yogi liegt rücklings auf den Dielen seines Zimmers mit den Füßen zur Tür. In der verkrampften Rechten hält er einen sonderbaren, langläufigen Revolver.

Hunt nimmt den Revolver an sich, der Yogi wälzt sich stöhnend auf die Seite, Hunt dreht ihn auf den Rücken und hebt ihm den Kopf etwas hoch.

Der Inder öffnet die Augen und sieht Hunt starr an, aber der Blick ist schon glasig, er sieht ins Leere. Ein Zucken läuft durch den Körper des Inders, er richtet sich halb auf, stiert um sich und stößt heftige, abgerissene Worte hervor. Etwas wie ein höhnisches Grinsen geht über sein verzerrtes Gesicht, dann sinkt der Oberkörper langsam zurück. Noch ein kurzes Aufbäumen, dann ist es mit dem Yogi Bairab zu Ende.

Hunt richtet sich auf und fragt den Dolmetscher: »Was sagte er noch?«

»Oh, Monsieur,« antwortet der Dolmetscher, der wahrhaftig auch Indisch verstehen muß, etwas verlegen: »Das ist schwer zu übersetzen. Er sagte so etwa: ›Mein Auge hält den Verruchten auch im Tode noch in seinem Bann!‹ Aber es könnte auch etwas anderes bedeuten, wahrscheinlich ist es nur sinnbildlich aufzufassen und hängt mit der indischen Götterlehre zusammen, die ich nicht so genau kenne.«

»Wahrscheinlich,« nickt Hunt und untersucht den Revolver des Inders. Er hält ihn dem Dolmetscher hin und sagt: »Der Kerl hat auch einen Schuß abgegeben. Ist jemand von Ihnen getroffen worden?«

Das ist nicht der Fall. Der Polizeioffizier schüttelt den Kopf, er meint, nur Hunts beide Schüsse gehört zu haben. Der Yogi hat eine Kugel oben in der Schädeldecke sitzen, die zweite ist durch die Türverschalung geschlagen. »Sie sind ein ausgezeichneter Schütze, Monsieur Hunt,« stellt Boulanger anerkennend fest.

Hunt untersucht schnell das Zimmer des Inders. Es ist ein jämmerliches, kleines und schmutziges Loch mit einem schießschartenähnlichen Fensterchen. Gepäck des Inders ist nicht zu finden, er war ja aus Frankfurt nur mit dem, was er auf dem Leibe hatte, entflohen.

Auf einem Wink Boulangers nehmen der Dolmetscher und einer von den Beamten an der Treppe die Leiche auf.

Als der kleine Trupp in den Keller zurückkehrt, ist der Raum fast leer, die meisten Gäste haben sich verzogen.

Der schwammige Wirt nickt anerkennend, als er den Toten sieht. »Merci bien, Messieurs, daß Sie mir ihn gleich aus dem Hause schaffen.« Er nennt einen ziemlich unverschämten Betrag für die »Lokalrunde«; Boulanger zahlt, ohne ein Wort zu verlieren.

»Guten Abend, Messieurs!« ruft der Wirt ihnen gleichmütig nach, als sie mit dem Toten den Schankraum verlassen.


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