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IX.

Am Freitag ist Hunt sehr früh auf. Er überzeugt sich zunächst, daß es Morris ganz gut geht; O'Grady berichtet glücklich, daß sein Herr ihn sofort erkannt habe.

Dann spricht Hunt mit seinem Gehilfen. »Höre, Patrik! Ich fahre mit Dr. Lively nach Frankfurt, wahrscheinlich sind wir in wenigen Tagen wieder da. Du bleibst hier im Haus und hältst deine Augen offen. Ich glaube ja kaum, daß wir außer mit deinem Freund Benjamin noch mit jemand zu rechnen haben, aber man kann nie wissen. Du bist mir jedenfalls dafür verantwortlich, daß in meiner Abwesenheit kein Unglück geschieht.«

»Keine Sorge, Chef, weiß schon, was gespielt wird. Und wenn der Benjamin wirklich mit ein paar anderen Halunken anrücken sollte, dann hält sich meiner Mutter Sohn an die alte Regel: Erst schießen, dann fragen!«

»Mach keine Dummheiten, wir sind hier nicht in den Staaten! Du darfst nur schießen, wenn du in Notwehr bist, verstanden?«

O'Flanagan grinst. »Klar, Chef, verstehe ganz ausgezeichnet. Habe noch nie anders als in Notwehr den Finger krumm gemacht. Wenigstens hat keiner von den Schuften, die ich schon voll Blei gepumpt habe, jemals etwas anderes behauptet, waren allerdings alle tot wie abgenagte Schinkenknochen.«

Hunt lächelt und drückt dem Iren die Hand. »Also mach's gut, my boy! Ich habe Eile.«

Auf dem Flugplatz in Croydon wartet etwas abseits schon das Sonderflugzeug. Die Abfertigung ist schnell erledigt, aber der Anwalt fehlt noch.

Es schlägt neun Uhr, noch zwanzig Minuten vergehen, da kommt endlich ein Auto auf den Flugplatz gerast, aus dem Walford herausspringt.

»Haben Sie es geschafft, Sir?« fragt Hunt.

»Ja, aber ich danke für die Hetze. Hier ist der Haftbefehl.«

Hunt überfliegt das wichtige Schriftstück und steckt es befriedigt ein. »Ist die Polizei in Frankfurt auch verständigt?«

»Ja, auch das.«

»Allright. Sonst noch was, Sirs?« Hunt sieht die Freunde fragend an.

»Bitte einsteigen!« drängt der Flugzeugführer. »Ich muß starten und den Platz für das Postflugzeug freigeben, es wird schon aus dem Schuppen geschoben.«

Walford wünscht Hunt und dem Arzt Hals- und Beinbruch, sie steigen ein. Die Motore donnern los, das Flugzeug rollt ab. Walford winkt heftig, aber der Doppeldecker hat sich schon vom Boden gelöst und schwebt in südlicher Richtung davon.

Drei Stunden später landet das Flugzeug auf dem Frankfurter Flughafen. Die Abfertigung dauert diesmal etwas länger. Als Hunt und Lively nach dem Ausgang gehen, tritt ein hoch aufgeschossener Junge mit blonden Haaren auf den Detektiv zu und fragt: »Sind Sie Herr Hunt?« Er spricht das »u« natürlich deutsch aus, aber Hunt versteht und bleibt stehen.

»Jes, my boy. Uas du uollen?«

Der Junge zieht einen zerknitterten Umschlag aus der Hosentasche. »Ich soll Ihnen diesen Brief von einem Herrn Walker geben, der im Hotel wohnt. Sie möchten ihn gleich durchlesen, hat der Herr gesagt.«

Hunt öffnet schnell den Brief. Walker berichtet, daß alles in Ordnung sei, Hunt möge zum Polizeipräsidium fahren und sich deutsche Kriminalbeamte mitgeben lassen. Dann möge er anrufen, ob sie gleich zur Verhaftung der Inder schreiten könnten. »Allright,« nickt Hunt und gibt Lively den Brief zu lesen.

»Dann wollen wir es mal so machen,« stimmt der Arzt zu und wendet sich in deutscher Sprache an den Jungen: »Lauf mal, mein Sohn, und besorge uns eine möglichst große Taxe, da draußen steht ja eine ganze Menge herum!«

»Das habe ich schon getan,« antwortet der Junge stolz. »Da, der grüne Wagen ist es.«

Sie fahren zum Polizeipräsidium und setzen dort den Jungen ab. Lively gibt ihm fünf Schillinge und sagt, als der Junge die englischen Münzen verwundert betrachtet: »Mußt sie dir einwechseln, Kerlchen, deutsches Geld habe ich leider nicht bei mir.«

Auf dem Präsidium wird Hunt schon erwartet. Sein Ausweis wird geprüft, dann bekommt er einen Kriminalbeamten und einen Englisch sprechenden Kommissar mit.

Sie fahren zum Monopol. »Setzen Sie sich bitte in die Halle, Mr. Lively, zur Verhaftung will ich Sie nicht mitschleppen, vier Mann sind schon reichlich.« Hunt ruft das Hotel an, in dem Walker wohnt; der deutsche Kommissar hat ihm die Verbindung hergestellt. Walker meldet, daß die Inder auf ihren Zimmern seien, Hunt möge nur kommen.

Hunt erklärt das dem Kommissar und fragt, ob er das Hotel kenne.

Der Kriminalkommissar lächelt. »Die Bruchbude kennen wir ganz genau, da ist alle Nase lang etwas faul. Wir fahren nur hier am Bahnhof entlang und dann links in die zweite Querstraße.«

Der Kommissar läßt den Wagen schon vor der Ecke halten. Die drei gehen zu Fuß zum Hotel, das wirklich keinen überwältigenden Eindruck macht.

Hunt, mit seinem Koffer in der Hand, geht als erster hinein.

In einem kleinen Vorraum, der zugleich Frühstückszimmer zu sein scheint, sitzt Walker und wartet. Er begrüßt Hunt: »Allright, Chef. Haben Sie keine deutschen Beamten bekommen?«

»Doch, sie warten draußen, ich wollte erst mit dir reden. Wo liegen die Zimmer?«

»Im zweiten Stock, Sir. Hier haben Sie eine Skizze, die rot umrandeten sind es.«

Hunt nimmt die Skizze, geht auf die Straße und winkt den Kriminalbeamten.

*

Im Hintergrund des Vorraums steht ein Pult, hinter dem an einem mit Zahlen beschriebenen Brett Schlüssel hängen: das Empfangsbüro. Der dicke Wirt sitzt hinter dem Pult und schreibt. Als Hunt, den er für einen neuen Gast hielt, auf die Straße geht, sieht er verwundert auf und zuckt zusammen, als er den mutmaßlichen Gast mit den Kriminalbeamten zurückkommen sieht. »Was gibt's?« fragt der Wirt erschrocken.

»Nichts, was Sie angeht,« weist ihn der Kommissar ab. »Kümmern Sie sich um nichts, es ist gleich erledigt!«

»Etwa der Inder?« fragt der Wirt hartnäckig.

»Ja, wenn Sie es durchaus wissen wollen. Machen Sie seine Rechnung fertig, wir nehmen ihn mit!«

Eine Glocke schrillt, im Ziffernkasten klappt eine Ziffer herunter.

»Jupp!« ruft der Wirt und öffnet eine schmale Tür neben dem Pult. »Der Inder will seine Stiebel haben.«

Ein ungewaschen aussehender, mürrischer Mensch, der eine grüne Leinenschürze vorgebunden hat, erscheint und hält dem Wirt stumm ein Paar frischgewichste Schuhe unter die Nase. Dann will der Schürzenmann die Treppe hinaufsteigen.

»Stop!« ruft Hunt und hält den Hausdiener am Arme fest. »Geben Sie die Schuhe und Ihre Schürze her, ich will raufgehen.«

»Guter Gedanke,« sagt der Kommissar und übersetzt dem Hausdiener, der die Kriminalbeamten mißvergnügt betrachtet, Hunts Aufforderung ins Deutsche.

»Ah, aus die Luke kiekst de?« grinst der Hausdiener. »Der Maharadscha is wohl nich janz waschecht?« Er liefert bereitwilligst Schuhe und Schürze an Hunt ab.

Walker ist schon zum zweiten Stock hinaufgegangen, wo auch er sein Zimmer hat. Als Hunt und seine Begleiter den zweiten Stock erreichen, packt Walker in seinem Zimmer, das gleich links neben der Treppe liegt, laut pfeifend seine Sachen; die Tür steht auf. Walker nickt beruhigend und zeigt mit dem Daumen nach dem Ende des Ganges.

Hunt klopft kurz an die Tür des Inders, öffnet und sagt: »Hier sind Ihre Schuhe, Sir!«

Hunt hat mit einem Blick übersehen, daß der Yogi mitten im Zimmer steht, die Inderin kauert mit hochgezogenen Knien auf einem zum Bett hergerichteten Sofa.

Hunt stellt die Schuhe hin und zieht mit der linken Hand die Tür hinter sich zu. Als er sich aufrichtet, sieht er den Blick des Inders starr und drohend auf sich gerichtet. Hunt hat natürlich, ohne sich etwas dabei zu denken, englisch gesprochen und sich verraten.

Mit einer raschen Bewegung hat Hunt seinen Colt gezogen und auf den Inder gerichtet. »Hände hoch!«

Walker und der Kommissar stehen sprungbereit draußen vor der Tür, der andere Kriminalbeamte hat sich am Ende des Ganges aufgestellt, wo eine Art Hühnerleiter nach den Bodenräumen zu führen scheint.

Zwei Schüsse krachen, eine Frauenstimme schreit gellend auf, irgend etwas klirrt scheppernd.

Walker reißt die Tür auf.

Hunt steht mit dem Revolver in der erhobenen Hand unmittelbar hinter der Tür, die Inderin liegt regungslos auf dem Sofa, von dem Yogi ist nichts zu sehen.

»Was gibt's?« schreit Walker den Detektiv an und sieht sich wild um.

Hunt läßt den Revolver sinken, fährt sich mit der Linken über die Stirn und schüttelt geistesabwesend den Kopf.

Walker läßt ihn stehen und stürzt zu der leblosen Frauengestalt. Sie ist unverletzt, aber ohnmächtig.

Hunt steht immer noch regungslos.

Der deutsche Kommissar hat die Tür zum Nebenzimmer aufgerissen, der Inder ist nicht da. Der Kommissar läuft zum Fenster – die Scheiben des geschlossenen Flügels sind zerschossen und schreit: »Da rennt er ja!«

Tatsächlich läuft der Inder über den Hof und verschwindet gerade hinter einem Nebengebäude. An dem Fenster führt eine Feuerleiter hoch, der Zusammenhang ist klar.

Die deutschen Beamten rasen die Treppe hinunter.

Walker rüttelt Hunt. »Was ist denn eigentlich mit Ihnen los, Chef?«

Hunt reißt sich zusammen. »Kruzitürken! Der Yogi hat mich regelrecht hypnotisiert. In dem kurzen Augenblick! Erst als er aus dem Fenster kletterte, konnte ich abdrücken, zu spät natürlich. Ohrfeigen könnte ich mich, ich wußte doch, was er für ein Teufelskerl ist.«

Walker schüttelt den Kopf, er begreift nicht, wie so etwas möglich sein soll.«

»Wo sind eigentlich die deutschen Beamten geblieben?« fragt Hunt. »Sind sie dem Inder nach?«

»Yes, wir sahen gerade noch, wie er über den Hof lief. Viel Vorsprung kann der Hexenmeister nicht haben.«

*

Ein wildes Schluchzen ertönt von dem Sofa her. Die Inderin hat sich aufgerichtet und weint schrecklich.

Hunt tritt zu ihr. »Habe ich Sie erschreckt mit meiner dummen Knallerei, Miß? Nun, es ist ja nichts geschehen.«

Die Inderin sieht ihn scheu an, dicke Tränen laufen ihr über die Wangen, sie kauert sich ängstlich in einer Sofaecke zusammen. Hunt sieht sie bedauernd an und ist in größter Verlegenheit, was er tun soll. Plötzlich stutzt er und sieht das Mädchen scharf an. Wo ihr die Tränen über die Backen gelaufen sind, ist die braune Haut wie weggewaschen, dafür schimmert es weiß durch.

Hunt stößt einen Pfiff aus und läuft ins Nebenzimmer. In einer Ecke findet er, was er sucht: einen Waschtisch. Hunt nimmt ein Handtuch, taucht einen Zipfel in die Waschschüssel und reibt die feuchte Stelle tüchtig mit Seife ein.

»Zeigen Sie mal her, Miß,« sagt Hunt schmunzelnd und hebt der Inderin das Kinn hoch. Er fährt ihr mit dem Handtuch ins Gesicht und reibt so tüchtig, daß die Inderin aufwimmert. Hunt zieht das Handtuch fort: alle vorstehenden Teile des Gesichts sind weiß geworden wie bei einem Europäer.

Hunt tritt einen Schritt zurück und betrachtet sehr aufmerksam sein Werk, die Inderin kuschelt sich ängstlich in das Sofa zurück. »Blaue Augen haben Sie auch, Miß?« stellt der Detektiv vergnügt fest. »Schätze, da hat James J. Hunt einen Haupttreffer gemacht. Ahnte doch schon lange so etwas.«

Walker kommt mit dem Kriminalkommissar zurück. »Wir haben das Überfallkommando gerufen, Sir. Der Kerl muß sich irgendwo versteckt haben, wir konnten ihn noch nicht finden. Soll ich das Frauenzimmer mitnehmen?«

»Welches Frauenzimmer?« fragt Hunt und tut sehr erstaunt.

»Na, die Inderin,« antwortet der Kommissar und sieht nach dem Sofa. »Donnerwetter, was ist denn das für eine Malerei?« fragt er verblüfft und sieht die halb weiß gewordene Inderin an.

»No, das ist keine Malerei, ich habe nur die braune Schmiere zum Teil runtergewaschen. Im übrigen ist das weder ein Frauenzimmer noch eine Inderin, Sir!«

»Ja, was ist denn eigentlich los?« fragt der Kommissar erstaunt. »Ich soll sie also nicht verhaften?«

»Durchaus nicht! Der Haftbefehl richtet sich nur gegen den Indienmann. Das hier ist die Tochter des englischen Obersten Morris, die werde ich selbst gleich mitnehmen.«

»Morris?« flüstert die Inderin und sieht den Detektiv mit großen Augen an. »Mor–ris?« Sie scheint auf den Klang zu lauschen und schließt lächelnd die Augen.

Dr. Lively schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, als Hunt im Monopol erscheint und berichtet. »Die Tochter von Morris soll die braune Maid auf einmal sein? Mann, erzählen Sie mir doch keine Märchen!«

»Ich bin Detektiv und kein Märchenonkel,« antwortet Hunt trocken. »Verlassen Sie sich darauf, Doktor, die Sache ist richtig! Ich werde Ihnen das gleich haargenau erklären, aber jetzt lassen Sie sich bitte erst ganz schnell ein Zimmer geben, damit wir die arme Miß aus dem Wagen holen können!«

Die falsche Inderin zieht sich ihr Kopftuch über das Gesicht – um den Wagen hat sich schon eine Menge Neugieriger gesammelt – und wird von Hunt und Lively auf ein Zimmer gebracht. Lively redet ihr gütig zu, sie beruhigt sich etwas, aber sie schüttelt nur dauernd den Kopf und weint vor sich hin.

»Geben Sie ihr ein Schlafmittel,« flüstert Hunt dem Arzt zu. »Und dann rufen Sie das Zimmermädchen und lassen unsere Inderin ins Bett packen! Erst mal ausschlafen, dann findet sich schon alles andere.«

Dr. Lively gibt die nötigen Anweisungen, dann geht er mit Hunt in den Speisesaal, wo Walker schon wartet. Sie bestellen Mittagessen, und Lively sucht sorgfältig auf der Weinkarte, bis er eine ihm zusagende Marke gefunden hat. Als es lieblich bernsteinfarben in den Gläsern funkelt, stößt der Arzt mit Hunt und seinem Gehilfen an und sagt: »So, und jetzt packen Sie mal endlich aus, Sie Geheimniskrämer!«

Hunt lächelt. »Das Geheimnis sieht nur so aus, Sir, weil Sie nicht wissen, was ich weiß. Also Sie erinnern sich doch, daß der Major Neston eine Art Tagebuch geführt hat, bei dem aber nur der Anfang aus seiner indischen Zeit ausführlich geschildert war? Sie wissen auch, daß dieses Tagebuch zusammen mit dem Überfall auf Morris und zugleich dem Auftauchen unserer ›Inderin‹ uns auf die Spur brachte, weil in dem Tagebuch auch etwas von einem Yogi stand, mit dem Neston und Morris einen Zusammenstoß hatten.«

Lively nickte. »Well, aber was hat das mit der angeblichen Miß Morris zu tun? Steht die auch in dem Tagebuch Freds?«

»Ganz recht, das tut sie, und zwar im Zusammenhang mit dem Yogi. Morris und Neston waren nach der Geschichte bei dem Opferfest sehr vorsichtig, weil sie befürchteten, die Hindus würden sich irgendwie an ihnen rächen. An die beiden Offiziere hat sich aber niemand herangetraut, aber die kleine Tochter von Morris, die Ethel hieß, war eines Tages plötzlich verschwunden! In dem Tagebuch steht das nur ganz kurz und eine Bemerkung dazu, daß es sich bei der Entführung des Kindes sicher um einen Racheakt des Yogis handeln müsse. Beweise hat Neston dafür allerdings keine angegeben, er schreibt nur, daß alle Nachforschungen vergeblich blieben, obwohl die ganze Besatzung tagelang die Gegend abstreifte. Frau Morris sei dann bald danach vor Gram gestorben, sie sei allerdings immer schon kränklich gewesen. So, Mr. Lively, und nun sagen Sie mir gefälligst, wie soll eine Inderin ausgerechnet zu der Anhängekapsel kommen, in der die Bilder von Morris und seiner Frau sind? Das Ding habe ich aber im Bett der angeblichen Inderin gefunden, als ich in Islington nach der Flucht des Yogi seine Wohnung durchsuchte! Im übrigen: Haben Sie vielleicht schon mal eine Inderin mit weißer Haut und blauen Augen gesehen? Ihre Haare sind übrigens auch bloß schwarz gefärbt, wie ich bei der Wischerei merkte. Ist es Ihnen nicht auch schon aufgefallen, daß sie für eine Inderin viel zu groß und schlank ist?

Und schließlich: Sie und Mr. Walford kannten die Bilder in der goldenen Kapsel nicht, können Sie ja auch nicht, denn Frau Morris ist schon lange tot, und das Bild des Obersten ist auch über dreißig Jahr alt. Walford meinte, die Lady kürzlich gesehen zu haben, meinte aber, sie sei ihm nicht vorgestellt worden. Ihr Freund hat ganz recht, er hat nämlich im Wohnzimmer des Obersten das große Ölbild von dessen verstorbener Frau gesehen! Als ich gestern O'Grady holte, sah ich das Bild zum erstenmal und erkannte es sofort als ein Gegenstück zu dem Kapselbildchen.

Daß Morris eine kleine Tochter gehabt hat, wußte O'Grady auch, er behauptete allerdings, sie sei in Indien gestorben. Wie der Diener zu dieser Annahme kommt, das verstehe ich nun nicht recht. Vermutlich ist er erst nach dem traurigen Ereignis der Bursche von Morris geworden, und Morris mag ihm das so erzählt haben, weil die Wahrheit ihm noch schrecklicher erschien als der Tod. Möglich auch, daß sogar Morris selbst der Überzeugung ist, sein Kind sei ermordet worden.«

Der Kellner, der schon dreimal an den Tisch getreten war, räuspert sich und fragt, ob er auftragen dürfe. »Bitte, selbstverständlich,« antwortet Lively. »Wir hatten nur noch etwas Wichtiges zu besprechen. Und eine neue Flasche bringen Sie bitte auch gleich mit.«

*

Als sie nach dem Mittagessen beim Kaffee zusammensitzen, fragt Lively: »Wie soll das nun eigentlich mit Miß Morris werden? Denn daß sie es wirklich ist, leuchtet mir nach Ihren Erklärungen auch ein.«

»Zunächst einmal müssen Sie als Arzt sich sehr um sie bemühen. Sodann setzen Sie wohl am besten eine Anzeige in die Zeitung und beschaffen ihr schleunigst eine Engländerin oder sonst ein anständiges Menschenkind, das Englisch spricht, als Gesellschafterin. Mit Ausfragereien seien Sie zunächst sehr vorsichtig! Sie müssen zu tasten versuchen, wie weit sie sich noch an ihre Kindheit und an ihre Eltern zu erinnern vermag. Den Anhänger mit den Bildern geben Sie ihr möglichst bald, sie wird ihn schon schmerzlich vermißt haben.«

Lively hat aufmerksam zugehört. »Gut. Was soll ich aber antworten, wenn sie sich an ihre Eltern erinnert und nach ihnen fragt? Ich kann ihr doch unmöglich sagen, daß ihre Mutter längst tot und ihr Vater augenblicklich – hm – etwas verblödet ist.«

»Nein,« antwortet Hunt eifrig. »Da werden Sie schon lügen müssen, Sir, und ihr erzählen, ihre Eltern erwarteten sie in England. Mit der Zeit muß man ihr dann so nach und nach die Wahrheit beibringen, wenigstens mit ihrer Mutter, denn Morris kommt sicher wieder in Ordnung.

Eins können Sie aber ruhig tun, sie nämlich nach den jüngsten Ereignissen in England fragen, ich meine nach ihren Erlebnissen mit dem Yogi. Hoffentlich weiß sie, wo der Yogi den Major untergebracht hat, das wäre großartig.«

Der deutsche Kriminalkommissar erscheint und sieht sich suchend um. Der Kellner zeigt ihm den Tisch Livelys.

»Mr. Hunt,« erklärt der Kommissar, nachdem er auch die anderen begrüßt hat, »der Inder ist uns leider entkommen. Wir haben aber ermitteln können, daß er mit dem Mittags-D-Zug nach Saarbrücken gefahren ist. Wir riefen sofort die Polizei in Saarbrücken an. Der Zug war leider schon lange eingelaufen, sie haben den Inder aber auf dem Bahnhof gesehen, er ist ja auffällig genug trotz seiner europäischen Kleidung. Wenn er den Pariser Eilzug bekommen hat – und Zeit hat er reichlich dazu gehabt –, dann ist er jetzt schon beinahe in Paris.«

Hunt ist aufgesprungen. »Damn't! Und wie komme ich am schnellsten nach Paris?«

»Nehmen Sie doch das fahrplanmäßige Flugzeug, Mr. Hunt! Es fährt in anderthalb Stunden. Sie können es noch erreichen. Soll ich anrufen und Ihnen einen Platz sichern?«

»Ja, tun Sie das bitte, Sir!«

Der Kommissar verspricht es und verabschiedet sich.

»Well, Mr. Lively,« sagt Hunt. »Dann muß ich eben noch einen Abstecher nach Frankreich machen. Schade, daß Miß Morris schläft. Wenn sie uns erzählen könnte, wo der Major untergebracht ist, könnte der Yogi von mir aus zum Teufel gehen, aber jetzt muß ich mich leider noch an ihn halten.

Hören Sie bitte zu, Doktor! Walker bleibt auch hier im Gasthaus bei Ihnen wohnen und paßt auf. Gehen Sie und natürlich erst recht Miß Morris während meiner Abwesenheit nicht aus! Wir wissen ja nicht, ob der Yogi nicht vielleicht nur einen Haken schlägt und schneller wieder hier auftaucht als ich, denn ich muß ihm leider nachlaufen.

Falls Sie inzwischen von Miß Morris herausbekommen sollten, wo der Major steckt, dann telegraphieren Sie sofort an Scotland Yard, damit die den Major herausholen können!

Auf Wiedersehen, Sir, ich muß mich verdammt beeilen. – Walker, halt deine Augen offen, du kennst den braunen Teufel ja!«

Hunt bittet den Kellner, ihm eine Taxe zu bestellen. »Allright, Sir, directly!« antwortet der, und Lively lächelt, weil Hunt ganz selbstverständlich englisch gesprochen und auch einen Kellner erwischt hat, der das auch versteht.

In Paris fährt Hunt sofort zum amerikanischen Generalkonsulat, wo man ihn kennt. Ein Konsulatssekretär kommt mit zur Seinepräfektur. Die Präfekturbeamten sind sehr höflich, die Verhandlung ist nur etwas umständlich, da Hunt kein Wort Französisch versteht und der Konsulatssekretär dauernd dolmetschen muß. »Wir lassen sofort einen Polizeifunk los, Messieurs. Wo wohnt Monsieur Hunt, wo können wir ihn telefonisch erreichen?«

Der Sekretär antwortet, daß Hunt im Generalkonsulat wohnen werde, und fügt auf dessen Bitte noch hinzu, daß vor allem Marseille und Calais benachrichtigt werden müßten, da es wahrscheinlich sei, daß der Yogi entweder nach Indien fliehen oder nach England zurückkehren werde.

»Gewiß,« antwortet der Franzose verbindlich. »Das hatte ich mir auch schon gedacht. Fahren Sie ganz beruhigt zum Konsulat, Messieurs, Sie werden nicht lange auf Nachricht zu warten brauchen!«

Es dauerte aber doch bis gegen Mittag des folgenden Tages. Hunt hat die ganze Nacht nicht geschlafen und sich die größten Vorwürfe gemacht, daß er in Frankfurt nicht vorsichtiger vorgegangen ist. Da meldet endlich die Präfektur, daß ein Inder, auf den Hunts Beschreibung passe, in Marseille beobachtet worden sei. Hunt will sofort nach Marseille. Er hat Glück, das fahrplanmäßige Flugzeug fliegt in gut einer Stunde ab. Das Generalkonsulat will ihm einen Platz bestellen, aber das Flugzeug ist ausverkauft. Das Konsulat bittet die Präfektur wegen des Ausnahmefalles um ihre Vermittlung. Wirklich ruft die Seinepräfektur nach einigen Minuten auch schon wieder an, ein Herr Dubois sei zurückgetreten und überlasse seinen Platz dem Detektiv; Herr Dubois gestatte sich, Herrn Hunt unbekannterweise glückliche Fahrt zu wünschen. »Höfliche Leute, diese Franzosen,« denkt Hunt.

*

Hoch über Marseille und seinem Hafen steht die Felsenkirche von Notre-Dame, darüber noch das Standbild der Heiligen Jungfrau. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne vergolden das Standbild, es scheint zu glühen.

Unten an der Küste flammen Leuchtfeuer in allen Farben auf, die Lichter der Schiffe huschen hin und her.

Hunt wird auf dem Flugplatz von einem französischen Kriminalbeamten in Empfang genommen, der ihn höflich in eine Taxe nötigt. Der Franzose spricht fließend englisch, ein viel vornehmeres Englisch, als das amerikanische Geknautsche Hunts. Aber er sieht grünlich-braun aus wie ein Leberkranker.

Hunt fragt ihn daraufhin.

»Oui, Monsieur,« nickt der Franzose und fährt englisch fort. »Ich war lange in den Kolonien. Algier, nun das geht noch, aber Tonking ist schlimm. Viele kommen überhaupt nicht zurück.« Der Franzose seufzt.

Hunt schüttelt den Kopf. Warum nur diese Europäer ihre Nasen überall hinstecken, wo es ungesund für sie ist? Da sind wir Amerikaner doch klüger.

»Wir haben Ihren Inder am Hafen beobachtet,« berichtet der Franzose. »Wahrscheinlich sucht er eine Überfahrtsgelegenheit nach Indien. Mit Sicherheit können wir es allerdings nicht behaupten, daß es Ihr Mann ist, aber die Beschreibung paßt sehr gut auf ihn. Mit seinen Augen muß auch etwas nicht in Ordnung sein; Sergeant Laroche, der ihn beobachtet hat, meinte, der Mann schiele.

Wir wissen, wo der Inder wohnt, und lassen ihn von einigen unserer tüchtigsten Leute dauernd unauffällig überwachen.«


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