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Achtes Capitel.
Der Weihnachtsmann.

Eine Stunde später verließ Victor das Schloß Espenberg, und zwar in der Ueberzeugung, daß Graf Valerian keineswegs so unrettbar dem Tode entgegengehe, wie der Doctor es behauptete. Sie waren heiter von einander geschieden und der Graf hatte sich ans Fenster geschleppt, um die schönen Pferde Bessano's in Augenschein zu nehmen, als sie vorgeführt wurden.

Frisch und muthig griffen die edlen Thiere aus, nachdem Victor sie erst dem Grafen hatte vorreiten lassen. Man sah ihnen die Strapazen der Nachtreise durchaus nicht an, und wenn dem jungen Manne nicht der Gedanke an die trauernde Fanny v. Espe so schwer auf der Seele gelastet hätte, so würde ihm dieser Ritt durch das winterliche Gefilde viel Vergnügen gewährt haben.

Der Himmel hatte sich aufgeklärt und spannte sich lichtblau über die Schneeflur aus. Die Sonne glänzte matt darüber hin. Eine frische, kalte Luft durchwehte den weiten Raum, der sich endlos auszudehnen schien, weil der Horizont unerkennbar war. Minutenweis warf Victor seine trüben Gedanken ab und verfiel in angenehme Träumereien, die ihn nach Peerau führten, wo er Fanny v. Espe zum ersten Male erblickt hatte. Er leugnete sich den gewaltigen Eindruck ihres ersten Anblickes keineswegs ab, sondern pflegte die Erinnerung daran wie ein liebliches Phantasiebild, das nur augenblicklich durch traurige Reflexionen getrübt war.

Wie auf Flügeln getragen, kamen die Reiter in dem Städtchen an, wo sie nächtlich gerastet. Auch jetzt wollten sie hier Halt machen und den Pferden einige Stunden Ruhe gönnen.

Victor sprengte eben, von seinem Diener gefolgt, die Straße hinab, als dicht vor ihm eine Postchaise sich in Bewegung setzte und unter lärmenden Signalen abfuhr.

Gleich darauf hielt er sein Pferd an derselben Stelle an, denn das Wirthshaus war auch zugleich das Posthaus.

»Wer fährt da fort?« fragte er beiläufig den Hausknecht, eigentlich nur, um etwas zu sagen.

»Ein Herr von Espe mit seinem Sohne!« referirte der Hausknecht.

Victor blickte frappirt hinter dem Wagen her.

»Kennen Sie ihn?« setzte der Hausknecht sprachlustig hinzu. »Er wohnt seit einigen Monaten hier im Orte.«

»Wohin reist er?«

»Nach der Residenz!«

Damit war eine Unterredung zu Ende, die zu den günstigsten Resultaten hätte führen können, wenn nicht Victor gar zu sorglos gewesen wäre. Er ließ jedoch den Herrn v. Espe, welcher natürlich kein Anderer wie Herr Eberhard war, fahren und begab sich ins Haus.

Da er nicht länger verweilen wollte, als zur Verpflegung der Pferde nöthig war, so trat er in das Passagierzimmer ein und setzte sich behaglich im Sopha zurecht, das hier stand. Das Zimmer war leer, aber man sah, daß so eben in aller Eile ein Mittagessen verzehrt worden war. Die Teller standen noch da und indem Victor seinen Blick achtlos darüber hinschweifen ließ, blitzte ihm ein kleiner Gegenstand in die Augen.

Rasch bog er sich vor, um dies blitzende Ding näher zu besichtigen. Es war eine Attrape, eines jener Spielwerke, worin ein kleiner Behälter verborgen ist, und stellte einen liegenden Jagdhund vor.

Aber dies Ding schien werthvoll. Jedenfalls war es von einem edlen Metalle, von Silber und vergoldet oder gar von Gold. Das Halsband des Hundes zeigte einen Kranz von Granaten und die Augen waren aus Brillanten gebildet.

Kopfschüttelnd betrachtete Victor dies ausgezeichnet gearbeitete Spielwerk sehr genau, um den Zweck desselben zu erforschen. Es gelang ihm aber nicht. Nicht eine Spur von Oeffnung war zu finden, so viel er es auch drehete und wendete.

Ueber den Besitzer des kleinen reizenden Kunstwerkes konnte er gar nicht zweifelhaft sein. Es gehörte Demjenigen, der hier gespeist hatte, und das war augenscheinlich kein Anderer, als der Herr v. Espe.

Victor zog rasch die Klingel.

Der Wirth erschien eiligst in Person und fragte nach seinen Befehlen.

Als ihm der junge Mann das gefundene Kunstwerk entgegenhielt, erkannte er es augenblicklich für die Schnupftabacksdose des Herrn, der hier mit seinem kleinen Sohne dinirt hatte und versprach für die richtige Ablieferung Sorge zu tragen, da der Herr noch am selben Tage von seiner kleinen Reise zurückkehren werde.

Victor nahm die sogenannte Schnupftabacksdose nochmals zur Hand und betrachtete sie abermals von allen Seiten. Es war unmöglich, daß sie geöffnet werden konnte, und wenn der Wirth nicht lächelnd versichert hätte, daß er mehrmals gesehen, wie der Herr, der sehr stark riechenden Spaniol schnupfte, sich derselben bedient habe, so würde es von Victor für unglaublich erklärt worden sein.

Dies kleine Abenteuer beschäftigte den jungen Mann höchst angenehm bis zu seiner Weiterreise und er dehnte seine Oeffnungsversuche bis zu dem Moment aus, wo er sein Pferd wieder besteigen wollte.

Mittlerweile war es Abend geworden. Die Sonne war gesunken. Ein leichter Nebel hatte sich eine Zeit lang über die Gegend ausgebreitet und wich dann, um dem hellsten Mondlichte Raum zu geben.

Es schlug fünf Uhr, als Victor mit seinem getreuen Diener das Städtchen verließ.

In vier Stunden konnten sie in der Residenz sein, da der Weg von jetzt an außerordentlich gut gebahnt war und der Mond ihn hell genug beleuchtete.

Er berechnete, daß er früher heimkam, als man ihn erwarten konnte, wenn er den Knaben gefunden hätte. Dann würde er einen Wagen des Grafen benutzt haben, der acht Stunden mehr gebrauchte, als ein Reiter.

Dennoch aber strebte er rastlos vorwärts. Eine geheime, unabweisliche Stimme sagte ihm, daß seine beschleunigte Heimkehr für Frau von Espe ein Trost sein würde. Je näher er freilich der Residenz kam, desto beklommener wurde es ihm ums Herz. Er brachte nichts Erfreuliches heim, nicht 'mal eine leise Hoffnung. Man mußte den Knaben zu den Tobten zahlen.

Victor sah unter diesen wechselnden Gefühlen endlich die Thürme der Residenz vor sich und er begrüßte mit einem tiefen Athemzuge die Parkanlagen des herzoglichen Gartens, die bald darauf begannen und sich seitwärts dem Wege entlang zogen. Unwillkürlich hielt er im Trabe inne und ritt langsamer, während sein Blick zerstreut über die prächtigen Bäume hinwegstrich, die, wie von unsichtbaren Feenhänden geschmückt, am Wege paradirten. Da standen die Taxusbäume mit ihrem ewig grünen Laube. Leichte Schneemassen hatten sich auf den dichten kleinen Kronen der Zweige gelagert und der Frost hatte den Nebel um das frische Grün geformt, daß sie aussahen wie glasirt. Das Mondlicht glitzerte in diesen vergänglichen Edelsteinen und zündete Tausende von kleinen Schneelichtern an, die in der sanftbewegten Luft zitterten, als spielten Engel mit diesen grünen Christbäumen. Eine heilige Stimmung bemächtigte sich des jungen Mannes. Die Erinnerungen aus seiner Jugend erwachten. Er sah sich im Kreise seiner Eltern und Geschwister, um den glänzenden Christbaum versammelte Freunde des Hauses erhöheten die Freude der Bescheerung, die durch des Commerzienraths Freigebigkeit einen pomphaften Anstrich gewann. Er sah sich im Geiste neben seiner sanften, gütigen Mutter, die ihm irgend eine Kleinigkeit verstohlen zusteckte und freundlich nickte, wenn er sagte: »Das hast Du wohl selbst gestickt und dann dem Weihnachtsmann gegeben?«

O diese süße stille Mutterliebe, die dem Geschenke dadurch Werth verlieh, daß sie es selbst gearbeitet hatte, wie rührte die Erinnerung daran plötzlich das Herz des jungen Mannes und füllte es mit heißer Sehnsucht!

Während dieser Träumereien hatte Victor das Ende des fürstlichen Parkes erreicht und bog nun links ab, um in die Vorstadt zu reiten. Da bewegte sich etwas vor ihm im Wege.

Eine kleine Gestalt sprang lustig hin und her, ein Tuch schwingend und silberhell lachend, wie Elfen lachen sollen. Victor stutzte. Er hielt sein Pferd etwas zurück, damit diese kleine Gestalt Zeit gewinne, den Weg zu räumen.

Das schien aber der Absicht derselben zu widersprechen. Hin und her schwebte das kleine koboldlustige Wesen, bis Victor ganz nahe war und die Worte verstand:

»Hei! Hei! Hei! Herr Reitersmann! Nimm mich doch mit zu meiner Mama!«

Wie vom Blitz gerührt, hielt er sein Pferd an und schaute in das, vom hellen Mondesstrahl erleuchtete kluge und kecke Gesicht des kleinen Menschen, der dicht neben dem Pferde stand. Dieses Gesicht –diese großen Augen – eine Erinnerung tauchte auf – er beugte sich tief nieder zu ihm, während derselbe furchtlos die Händchen emporstreckte und nochmals bat:

»Nimm mich mit zu meiner Mama – Weihnachtsmann hat's gesagt, Du würdest mich mitnehmen! Weihnachtsmann hat's gesagt!«

Zitternd glitt Victor vom Pferde, faßte das Kind in die Arme und fragte:

»Bist Du wirklich Arnold? Sprich, sprich Kind – bist Du Arnold?«

»Ja wohl! – Arnold v. Espe!« rief der Knabe hell und freudig!

»Allmächtiger! Wo kommst Du her?«

»Weihnachtsmann hat mich hierher gebracht!« lachte der Knabe mit keckem Uebermuthe.

»Aefft mich denn ein Spuk! Wo bist Du denn gewesen?«

»Beim Weihnachtsmann!« antwortete der Kleine wichtigen Tones. »Er hat mich auf dem Arm getragen und Siebenmeilenstiefeln angezogen und ist mit mir weit – weit umhergezogen – nun aber soll ich wieder zu meiner Mama und ein artiges Kind sein,« schloß er altklug.

»Träume ich denn,« rief Victor, betroffen von dem eigenthümlichen Pathos, womit der kleine Bube diese augenscheinlich eingelernten Worte herplapperte.

Der Diener, welcher kopfschüttelnd und theilnehmend ebenfalls sein Pferd verlassen hatte und beide Thiere am Zaume hielt, betrachtete sich zuerst aufmerksam das Kind und ließ dann klugerweise die Blicke forschend rundum schweifen, weil er einsah, daß der Knabe ihnen von Jemand in den Weg gestellt sein müsse. Er irrte sich aber, wenn er meinte, Denjenigen zu finden, der das gethan. Dieser Jemand hatte es vorgezogen, sich ganz aus der Gesichtsweite zu entfernen und das furchtlose Bübchen sich selbst zu überlassen.

»Du bist also wirklich der kleine Arnold?« fragte Victor endlich, seiner freudigen Ueberraschung Herr werdend. »Nun so komm! Wir wollen zu Deiner Mama!«

Er schwang sich aufs Pferd, ließ sich vom Diener das Kind heraufreichen und fort ging es über Stock und Stein, über Schnee und Eis, bis sie hinein waren in die Residenz.

Hui, wie flog der junge Mann die Straße hinauf, das Kind im Arme, um das eine Mutter geweint und getrauert hatte. Hui, wie sprengte er dahin, die Brust voller Jubel und Triumph!

So kamen sie vor dem Bessano'schen Hause an. Eine Dame schaute aus dem Fenster.

»Er kommt!« schrie diese Dame. »Er bringt ihn, gnädige Frau – unser Arnold!«

»Hei! Hei! die Bonne!« rief der lustige Junge und warf Kußhändchen hinauf. »Die hat mich gewiß schön gesucht,« setzte er, schelmisch in Victor's Gesicht blickend, hinzu.

Man sieht, der Knabe hatte keine Ahnung von dem herzerschütternden Empfang, der seiner wartete, und das kürzte die Sentimentalität desselben bedeutend ab.

Halb ohnmächtig vor Freude wankte seine Mutter ihm entgegen, war aber in kürzester Frist von ihrer Reizbarkeit des Gefühles geheilt und lachte aus Herzenslust über die muthwilligen Einfälle ihres wiedergefundenen Sohnes.

Bald saßen sie Alle um den Buben herum, der sich auf des Lieutenants Knie placirt hatte und tapfer mit den Händen focht. Die Sympathie glich hier alle Formenverstöße aus und fesselte die Herzen Derer, die sich im Grunde noch sehr fremd waren.

Durch Victor's Mittheilungen davon unterrichtet, daß Arnold erst kurz vor den Thoren der Residenz zu ihm gekommen sei, trachtete nun Jeder darnach, durch Fragen herauszukriegen, wie der Knabe von Peerau fortgebracht worden sei und wo er sich bis dahin aufgehalten habe.

Aber so schlau man auch fragte, es kam nichts Gewisses heraus, worauf man hätte fortbauen können. Aus den verworrenen Erzählungen des Kindes leuchtete hervor, daß er an jenem Novembermorgen mit seiner Angelruthe fortgeschlichen war, während Mademoiselle Brun Toilette machte, daß er am Strande gesessen hatte und daß ein Mann – er unterschied diesen Begriff ganz bestimmt durch die Erklärung »nicht ein Herr, sondern ein Mann« zu ihm gekommen sei und mitgefischt habe. Wodurch der Knabe zu der naiven Frage veranlaßt worden war: »ob er etwa der Weihnachtsmann sei?«, das erklärte sich nicht aus seiner Erzählung.

»Er sah gerade aus wie ein Weihnachtsmann!« meinte er, von den vielen bestürmenden Fragen ziemlich bestürzt, »und als ich ihn fragte, ob er der Weihnachtsmann sei, da lachte er und sagte ›Ja!‹«

»Nun sage, mein Kleiner,« bat Mademoiselle Brun, die wohl merken mochte, daß ihre steten Drohungen mit dem Weihnachtsmanne des Kindes Phantasie entzündet gehabt hatten, »hat Dich dieser Weihnachtsmann in den Sack gesteckt, weil Du wieder Fische angeltest, was Du durchaus nicht thun solltest?«

»Nein!« antwortete Arnold stolz. »Er hat mich nur auf den Arm genommen, hat seine Siebenmeilenstiefel angezogen und hat mich weit, weit in der Welt herumgetragen.«

»Weißt Du denn wohl, Herzenskind,« schmeichelte seine Mutter, »daß Du sehr lange von Deiner Mama fort gewesen bist und daß Deine Mama geglaubt hat, Du seiest ins Wasser gefallen und ertrunken?«

Der kleine Mensch sah Frau von Espe mit seinen großen, blauen Augen nachdenklich an.

»Aber Mama,« sagte er dann beklommen, »so dumm würde ich doch nicht sein und ins Wasser fallen?«

Ein allgemeines Gelächter belohnte ihn für diesen naiven Gedanken.

Allein so geweckt Arnold sich auch im Uebrigen zeigte, rücksichtlich seiner Abwesenheit wußte er gar nichts, was zur Annäherung an das wahre Sachverhältniß hätte führen können.

Man gab es endlich auf, ihn mit weiteren Forschungen zu quälen.

Victor äußerte die Meinung, daß sein Wiederfinden im Zusammenhange mit seiner Reise nach Espenberg stehen müsse und daß er nicht umhin könne, den Jäger Görrink in Verdacht zu behalten.

Am nächsten Tage fuhr Frau von Espe, ihren verloren geglaubten Sohn im Arme, als die glücklichste Mutter nach Peerau zurück, nachdem sie, verklärt von ihrem heißen Dankgefühle das Versprechen eines Besuches daselbst von allen drei Brüdern gleichsam erzwungen hatte.

Vorläufig wurde der Frühling, als der passendste Zeitpunkt, zu diesem Besuche bestimmt, der die schnell geschlossene Freundschaft befestigen sollte.

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