Wilhelm Raabe
Vom alten Proteus
Wilhelm Raabe

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Zehntes Kapitel.

Bin ich es noch?« fragte sich der Waldbruder, als er eine Stunde später wieder einsam und allein am Tische in seiner Hütte saß und in das Licht seiner Öllampe starrte. Er dachte zehn Minuten über die Frage nach und löste sie nicht. Wer löst überhaupt solche Fragen?

»Jedenfalls bin ich ein schöner, ein recht netter Konstantius!« murmelte der Alte. »Blasen mir diese beiden Kinder auf meine dreißig Jahre weisester Weltabgeschiedenheit, nennen mir einen Namen und erzählen mir eine Geschichte, die sie wahrscheinlich selber nicht glauben, und – hier sitze ich und möchte mich selber in die Nase beißen, um den Glauben an meine Existenz im Kosmos wiederzugewinnen! – Innocentia! – Alles dieses sieht ihr doch so ganz ähnlich! So machte sie es im Leben! so führte sie uns alle an der Nase! – Und wohin, wozu wollte sie mich, als wir alle noch jung waren, führen, ziehen? – Wie glänzt und lächelt das lieblich durch die Nacht der Zeiten! – Und sie hatte einen so üblen Ruf und war doch die Schönste, die Beste, die Unschuldigste von ihnen allen! – Innocentia! Wie haben wir uns so grimmig lächerlich gemacht, wenn wir über ihren süßen Namen lachten und schlechte Witze darüber rissen! – Uh, nun hat sie dreißig Jahre lang hier im Walde über mich gelacht, und recht ist mir geschehen! O du mein Heiland, was für Witze werden sie und ihre Genossen und Genossinnen in Busch und Baum, im Bach und Sonnenstrahl, im Wind und Regen über mich gemacht haben? Und dann die andere! – dreißig Jahre hinter der Tapete? es ist nicht auszudenken, aber ähnlich sieht es ihr auch! – O Püterich, Püterich, Philibert Püterich, ich habe freilich die Absicht, dich morgen meine ganze Verachtung fühlen zu lassen; aber eins hat mir die Einsamkeit verliehen – Selbsterkenntnis! und der größte Narr von uns zweien bist du nicht gewesen. Und dieser Magerstedt! – o du mein Leben, wie diese Kerle sich amüsiert haben werden, derweilen ich hier als ein Schuhuh saß – Uh!«

Der hohle Backenzahn und das Stück von der anachoretischen Frucht des Eichbaums drin, die bis jetzt geschwiegen hatten, meldeten sich auch von neuem, und zwar als müßten sie viel Versäumtes nachholen.

Mit beiden Händen an der Backe, ächzte der Einsiedler um seinen Tisch herum.

»Das kommt nun auch alles zusammen!« stöhnte er. »Und dabei soll man dann seine Beschaulichkeit unverstört erhalten. Aber ich habe es mir lange gedacht, daß dieser Ort für meine Konstitution zu feucht sei. Was bin ich hier anders gewesen als ein Trockenwohner für Fuchs, Luchs, Dachs und Eule? Da hat selbst sie es angenehmer gehabt bei ihren Wanzen, meine – Rose, Rosa von Krippen! Ich kenne das alte Gebäude, – die Jahrhunderte haben dran getrocknet. O Innocentia, Innocentia! – ich lasse mir ihn ausziehen, und – bei allen Dämonen in allen Elementen – ich ziehe selber aus. Morgen mit dem frühesten bin ich auf dem Wege zum Zahnarzt – das ist wenigstens ein plausibler Grund für einen Charaktermenschen, um seinen festesten Vorsatz zu ändern! Nebenbei werde ich dann ja auch wohl erfahren, was an der Kindergeschichte, die mir da das junge Volk der Gegenwart vorhin vorgetragen hat, Wahres ist. Eines steht fest: weder zu diesem greulichen Ziehen in der Kinnlade, noch zu den Wundern, die dies unglücklich verliebte Pärchen mir aus der Stadt und aus dem Walde zutrug, braucht die eigene Phantasie das geringste hinzuzutun.«

Damit setzte er sich wieder oder fiel vielmehr erschöpft auf seinen Stuhl zurück. Er nahm die heiße Stirn in die Hand und heulte dumpf vor Schmerz und in der Erinnerung früherer Tage. Am andern Morgen aber finden wir ihn sonderbarerweise noch am Leben. –

Der andere Morgen fand seinerseits die kleine Ernesta, in Tränen und Verzweiflung aufgelöst, in ihrem Kämmerlein in der Villa ihrer guten, sorglichen Eltern sicher hinter Schloß und Riegel, und machen wir Papa und Mama durchaus keine Vorwürfe deshalb. Wir würden unser Töchterlein unter den obwaltenden Umständen gleicherweise hinter Schloß und Riegel verwahrt haben.

Wie die junge Sonne den Assessor Hilarion fand? – Wir geben Stift, Pinsel und Farbentöpfe in die Hand der Leserin und überlassen ihr die Ausmalung; sie wird sicherlich das richtige Kolorit treffen.

Der Herr von Magerstedt machte erst gegen Mittag Toilette, und auch dabei sind wir nicht gern zugegen. Aber der Onkel Püterich?!

Er hörte den Freund im Stockwerke unter sich bei seiner morgendlichen Verschönerungsarbeit summen und husten und bekam mehrfachen Besuch von verschiedenen Gläubigern, die sich heute, wie sie sich ausdrückten, zum allerletzten Mal zum Narren halten ließen. Außer dem jungen Tage hielten zwei Geisteraugen den Onkel, hinter der Tapete hervor, scharf im Blick; – o könnten wir ihn doch auch mit diesen Geisteraugen, mit den Augen Rosa von Krippens, sehen! Da wir es nicht vermögen, da wir nicht den leisesten Funken einer gespenstischen Liebesflamme gegen ihn in uns zu erwecken imstande sind, so bleibt uns nichts übrig, als uns schaudernd abzuwenden:

»Brrrr!« – – – –

Frische Luft ist uns wieder einmal das erste aller Bedürfnisse geworden, und es zu befriedigen, liegt gottlob in unserem Vermögen. –

Der große Wald schüttelte im Sonnenschein den Nachttau ab, und der Einsiedler, Vater Konstantius, verließ den Wald, um sich nach dreißig in der Abgeschiedenheit von der Welt zugebrachten Jahren zum ersten Mal wieder in die Stadt zu verfügen und mit seinem Bankier zu sprechen. –

»Ah!« – – –

O wie der Wald hinter ihm drein gelacht und gekichert, o wie Innocentia sich über ihn amüsiert hatte! Über ihn, seinen verbundenen Kopf, den Strick um seine Hüften und den dicken Prügel, den er zu seinem Schutz und Trost aus seiner Sammlung von Knitteln zur Begleitung ausgewählt hatte. Bis unter die letzten Bäume hatte ihn der feine, der zierliche, der lustig, liebliche Spuk, der nicht hinter der Tapete gesteckt hatte, begleitet, und dann – war seit Erschaffung der Erde noch nie eine Lerche so hoch in die blaue Luft gestiegen, als die, welche bei dem Austritt des Alten aus dem jungen Gebüsch über seinem Haupte hing und zwitschernd aus Voltaire tirelierte:

»C'est le triomphe de la raison, de bien vi, vi, vi, vivre avec les gens, qui n'en ont pas!«

»Und dreißig Jahre lang hab' ich mit mir selber gelebt!« stöhnte der Vater Konstantius in demselben Moment, wo der kleine kluge Vogel aus dem blauesten Äther zurückfiel in die Ackerfurche zwischen die hohen Halme des Weizenfeldes.

»Konstantius!« rief es noch einmal spöttisch-zärtlich im Walde; doch der Alte zog den Kopf zwischen die Schultern und stapfte weiter, von der frischen Höhe hinab, der Dunstwolke zu, welche die Stadt überhing. Die Geisterwelt muß wohl mit einem ausgebildeten Sinn für innere geistige Schönheit begabt sein; wir in Innocentius Stelle würden dem grauen Biedermann ganz etwas anderes nachgerufen haben. –

Er rannte zu. In einem kurzen Trabe nahm er den uns bereits bekannten Weg zur Stadt unter die Füße. Erst fünfzig Schritte von der ersten Vogelscheuche im Felde, die gleich ihm mit einem dicken Prügel bewaffnet war und auch sonst ihm ungemein ähnlich sah, fiel er in einen gemäßigteren Gang. Er hatte diese Vogelscheuche aus der Ferne für den ersten lebendigen Menschen auf dem Pfade zu den übrigen Millionen seiner Brüder und Schwestern gehalten, und er atmete befreit auf, als er sah, daß er sich geirrt habe.

Der erste wirklich lebendige Mensch, der ihm begegnete, war ein altes Weiblein, das seinerseits ihn anfangs für eine Vogelscheuche genommen zu haben schien und hell aufkreischte, als es seinerseits sah, daß es sich gleichfalls geirrt hatte.

Mit gefalteten Händen stotterte die Alte ein Stoßgebet.

»Friede sei mit Euch! guten Morgen – ein angenehmer – Morgen, Mütterchen!« sprach der Eremit, den der Eindruck, welchen er hervorbrachte, beinahe noch einmal zur Umkehr bewegen hätte. Aber ein neues scharfes Zucken durch den Zahn machte ihn zum Herrn seiner sonstigen Empfindungen. Er schritt weiter und traf auf den zweiten Lebendigen, einen reitenden Wächter der öffentlichen Sicherheit, der nicht aufkreischte, sondern seinen Dienstgaul anhielt und den Vater Konstantius nach seiner Legitimation fragte.

Der Gestellte hatte zu antworten, und diesmal wäre er beinahe umgekehrt worden, und er entging diesem Schicksal nur mit genauer Not.

Papiere konnte er nicht aufweisen; die idealste Auffassung von Welt und Leben kam dem Mann mit dem Helm und Säbel nicht nur »verflucht kurios«, sondern auch »verteufelt verdächtig« vor; – Oppermann aber half.

In seiner höchsten Verlegenheit berief sich der Alte auf seinen Freund Oppermann, und der Dragoner sprach:

»Dem Seiner sind Sie? Nun, das hätten Sie ja gleich sagen können, Herr! – Zum Zahnarzt wollen Sie? Dieses konnte ich Ihnen doch nicht anfühlen; – das haben wir alle Tage, daß wir solch einen Vagabunden von einem falschen Gebresten kurieren. Aber da Sie Oppermann Seiner sind, so ist das freilich eine andere Sache; wir haben dann schon manchmal zusammen über Sie diskutiert, und so marschieren Sie nur zu und versuchen Sie's selber drunten, ob man Sie durch die Barriere läßt. In der Stadt mögen Sie dann meinetwegen aussehen, wie Sie wollen.«

»Ich empfehle mich, Herr Wachtmeister,« sprach der Einsiedler, und der Landdragoner, an den Helm greifend, sah ihm noch eine geraume Weile kopfschüttelnd nach.

»Wenn der nicht ins Naturalienkabinett gehört, so will ich mich samt meinem Pferde ausstopfen und zum öffentlichen Nutzen und Pläsier drin aufstellen lassen!« brummte er, ehe er weiter trabte. »Aber es hat mich doch gefreut, endlich den Kerl einmal gesehen zu haben.«

In der Pappelallee war schon ein bunteres Leben, und der Vater Konstantius wünschte sich eine Tarnkappe, um ungesehen die Stadt zu erreichen. Jede ihr Dasein auf die Verwunderung der Menge gründende öffentliche Persönlichkeit hätte ihn um das Aufsehen, welches er erregte, beneiden können.

»Hurrjeses!« staunte das gemeine Volk.

»Aber ist es denn möglich? Gibt es dergleichen wirklich noch?« fragten sich die Gebildeten; und der Waldbruder zog statt der mangelnden Tarnkappe die Kapuze über die Nase und wendete sich in äußerster Beklemmung am ersten Tore seitwärts. Er wagte es hier noch nicht, einzutreten; scheu schlich er über die Promenade zum zweiten Tor, und – da erst wagte er es.

Zu seinem Glück wurde gerade inmitten des bekannten großstädtischen Getümmels ein Betrunkener auf die Wache geführt.

»Oppermann!« murmelte der Eremit. »Ich setze ihm eine lebenslängliche Rente dafür aus!« fügte er hinzu, und mit drei weiten Schritten befand er sich gleichfalls inmitten des Gewühls und war geborgen. Fünf Minuten später stand er im Schatten eines öffentlichen Monuments, schwindelnd, aber doch gefaßter. Letzteres hinderte freilich durchaus nicht, daß er wie ein Verzückter um sich starrte; er hatte es ganz und gar vergessen, wie viele Menschen und wie viele Dinge sonst noch es auf Erden gab. Jeder Rippenstoß, den er erhielt, war ihm eine neue Offenbarung: und wieder eine Viertelstunde später stellte er, auf einem Eckstein an einem weiten, sonnigen, wimmelnden Marktplatze sitzend, selber an sich die Frage:

»Aber ist es denn möglich? Gibt es – mich denn noch in der Welt?« – –

Da sich jetzt niemand mehr um ihn kümmerte als ein altes Fischweib, das ihn recht freundlich grüßte, und da ihn sogar die Polizei vollständig ignorierte, so wurde es ihm allgemach ganz vergnüglich zumute. Sein Zahnweh war ob der Aufregung auf einmal wieder wie weggeblasen, und er fing an, Hunger zu verspüren, und sah sich nach einer Gelegenheit um, denselben zu befriedigen.

In einer Spelunke niedrigsten Ranges speiste er zu Mittag und zwar seit langen Jahren zum ersten Male warm. In einer Restauration höherer Art würde ihn kein Kellner etwas Anderen als eines Rufes nach dem nächsten Schutzmann gewürdigt haben; aber bei der irdenen Schüssel und dem Blechlöffel fand er Gesellen, mit denen er auf gleichem Fuße stand; das Getränk war auch zu loben; und höchlichst gestärkt – »als ein ganz anderer Mensch!« – erhob er sich von der Bank, um von neuem in die heiße Mittagssonne hinauszutreten.

Das Interesse an den immer wechselnden Bildern um ihn her wuchs dergestalt, daß er nach und nach ganz vergaß, weshalb er eigentlich hergekommen sei. Die Straßen auf und ab wandelnd, widmete er den Schauladen ein stets steigendes Interesse. Vor den Fenstern der Buchhändler widmete er den Titeln der neuesten Bücher das intensivste Anstarren. Wir könnten mehr als einen Kollegen an dieser Stelle glücklich machen, indem wir durch die spezielle Erwähnung des Titels seiner Bücher an seiner Unsterblichkeit mitarbeiteten, aber –

Der Vater Konstantius reißt uns nach der anderen Seite der Gasse hinüber. Hier, vor einem Schneiderladen stehend, vergleicht er sein jetziges Kostüm mit dem, was er vor dreißig Jahren ablegte, und dieses wieder mit dem, was heute Mode ist; und dreimal mit dem kleinen Finger der rechten Hand die Stirn berührend, murmelt er:

»Hm!«

Kopfschüttelnd kreuzte er von neuem die Gasse und stand wieder eine Weile vor dem Fenster des Buchhändlers.

»Sonderbar!« sagte er und dann nach einem längeren Nachdenken: »Der Kerl ist sicherlich im Besitz eines Spiegels!«

Nun wendete er sich, seinen Weißdornknittel hoch hebend:

»Bei allen Geistern in der freien Natur und hinter der Tapete, daß ich den Leuten kurios vorkomme und daß ich aus der Mode bin, weiß ich; aber wissen will ich jetzt, zum Henker, wie ich eigentlich aussehe!«

Und seinen Stab weit hin unter das erstaunte, lächelnde Volk schleudernd, griff er erst in seinen Bart und dann in seinen Busen:

»Es geht nicht anders! Ich muß mich sehen! Vom Kopf bis zu den Füßen muß ich mich endlich einmal wieder sehen!«

Auch der maître tailleur würde sofort nach der Polizei gerufen haben, wenn nicht der seltsame, wie außer sich in seinen Salon hereinstürzende Kunde ihn augenblicklich in der Sprache des Erbfeindes angerufen hätte:

»Un moment, monsieur! Je m'expliquerai en deux mots! Nur drei Worte, mein Bester!«

Drei Worte und der Wurf einer alten abgegriffenen Lederbrieftasche auf das Bureau des Künstlers genügten vollkommen. Der Vater Konstantius explizierte sich auf eine Weise, die den Gentleman taylor mit offenem Munde lauschen ließ und ihn ungemein höflich machte.

»Disposez de moi!« stammelte er. »Je ferai tout pour vous obliger, monsieur le baron!«

»Aber Zeit habe ich nicht!« schrie der Einsiedler.

»Ich glaube, den Herrn Baron auf der Stelle und ganz nach seinen Intentionen bedienen zu können, und es wird mir eine sehr große Ehre sein,« stotterte der Schneider, in aller Verdutzung und Betäubung mit den ungeheucheltsten Bücklingen sich die Hände reibend. So etwas war ihm selbst in London und Paris nicht vorgekommen!

 


 


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