Wilhelm Raabe
Vom alten Proteus
Wilhelm Raabe

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Zweites Kapitel.

Da wir, Gott sei Preis und Dank, nicht zu »denen Gelehrten, welche es nicht können von sich geben,« gehören, so wollen wir nun dem Hüpf-, Brüt- und Lebenspunkt im Ei dieser Historie näher gehen. Dieses machen wir so, liebe Gevattern, daß wir uns aus allem Volk ein Pärlein – ein Männlein und ein Fräulein selbstverständlich – auslesen, der Jungfrau den rechten Arm, dem Jüngling den linken bieten und sie über die Planke an Bord unserer, das heißt ihrer Arche führen. Von einer Sintflut, die den Rest verschlingt, kann und wird übrigens nicht die Rede sein. Die ganze Menschheit ist ja mit allem Eifer bei Tag und Nacht beim Kiellegen oder Bewimpeln ihrer Rettungsschiffe; und wir lassen jedermann sein Fahrzeug nach seinem Geschmack und Verständnis zimmern und ausstatten. Was unsern eigenen Kahn anbetrifft, so sind wir eben im Begriff, denselben von neuem so gut als möglich seetüchtig zu machen. Nach mehr als einer tollen Fahrt rund um die Welt hat er's sehr nötig, einmal von Grund aus verpicht zu werden, und das dazu nötige Pech ist auch vorhanden. – Über die wilden Wasser des Lebens in verhältnismäßiger Sicherheit zu fahren, wird dem Menschen nicht so leicht gemacht, als er es sich in seinen jungen Tagen vorstellt.

Und so erfuhren das Hilarion und Ernesta und zwar leider nicht bloß zu ihrer Verwunderung.

Hilarion und Ernesta hießen nämlich die beiden guten Kinder, die in einer holden Mondscheinnacht, wie sich das von selbst versteht, über den Namen ihrer Rettungsbarke sich klar geworden waren. Er aus der auch weit verbreiteten Familie Abwarter, sie eine Piepenschnieder, überboten einander in jener süßen Nacht an lieblichen Vorschlägen.

Er schlug vor: »Der Himmel auf Erden.«

Sie (naiv): »Die gute Hoffnung.«

Er: »Die ewige Treue.«

Sie: »Das holde Glück.«

Er hielt das Kürzeste für das Passendste und schlug vor: »Die Liebe.«

Sie gab nach und flüsterte: »Ja!« fügte jedoch nach einer langen, atemlosen Pause hinzu: »Bis übers Grab!«

Und dabei blieb es, was den Namen anbetrifft. In einem neuen langen, langen Kusse durch den Zaun und vermittelst vier im Mondlicht flimmernder Wonnetränen wurde die Taufe vollzogen; die Arche hieß: »Liebe bis übers Grab«.

In der Tat eine recht wohlklingende Devise für den heimtückischen Weltozean: vorausgesetzt, daß es nicht einmal in einem Seeberichte hieß:

»Schiff ›Liebe bis übers Grab‹, Kapitän Hymen, in Ladung mit Pottasche vom Anfang der Welt nach Havre de Grace; leck, mastenlos angesprochen bei Kap Finisterrae; gesunken usw. usw. usw.!«

Denken wir nicht daran! Malen wir es uns beileibe nicht aus! Weshalb auch wollten wir uns das so sehr Unwahrscheinliche vor die Phantasie rücken?

Auf die Mondscheinnacht folgte im natürlichen Laufe der Zeit ein Morgen, auf diesen ein zweiter und so fort. Und dann gab es eines Tages einen Auflauf auf der Werft ob des neuen Bauunternehmens, und die Leute liefen zusammen: die einen, um ihren Beifall, die anderen, um ihre Mißbilligung auszusprechen. Alle aber sagten:

»Nein, so was!«

Die Eltern Ernestas jedoch sagten noch einiges mehr, und bei der nächsten verstohlenen Zusammenkunft der beiden jungen Liebenden flüsterte die junge Dame:

»O Gott, Hilarion, ich habe so viel Verdruß um unsere Liebe, daß ich es gar nicht ausdrücken kann. Seit sie dahinter gekommen sind, bin ich wie verraten und verkauft. Du machst dir keinen Begriff davon, wie fein sie sind, um mich elend zu machen. O, bitte, bitte, tue es nicht wieder, sieh nicht wieder mit dem Opernglase nach unserer Loge wie neulich in Romeo und Julie! Gegen das, was ich nachher im Wagen beim Nachhausefahren von Mama anzuhören hatte, und meine Gefühle dabei, war das ganze Trauerspiel nichts, nichts, gar nichts! Und was Papa bemerkte, das war aus dem Leben gegriffen, und der alte Capulet hätte sich dreist ihn zum Muster nehmen können seiner unglücklichen Tochter gegenüber. O Hilarion, ich bin unglücklich, und was daraus werden soll, weiß ich nicht, und wenn du mich totküßtest! Bitte, laß es jetzt einmal und gib mir einen vernünftigen Rat.«

Das war viel verlangt; aber der junge Schiffsbauer machte wenigstens den Versuch:

»Hast du nicht mich, mein Herz, und habe ich nicht dich, du Süße, Süße? Was will die ganze übrige Welt uns anhaben?«

Ernesta trug ihren Namen nicht umsonst; – sie konnte sich leider nicht sanft aus den Armen des Geliebten losmachen: aber sie sagte, indem sie ihm durch das zierliche, wenn auch solide eiserne Gartengitter die Hand leicht und doch fest auf das Herz, das heißt auf die in der Brusttasche über demselben ruhende Zigarrentasche legte:

»Leider Gottes, sehr viel! Sie kennt deine Umstände nur zu genau und sagt mir über deinen Charakter Sachen, die ich gottlob für unwahr halte, an denen ich aber sterben würde, wenn sie wahr wären.«

»Nun, das muß ich sagen!« rief der Geliebte. »Kind, ich versichere –«

»O, tue das nicht! Sieh, ich weiß ja, daß sie lügen, und ich weiß auch, aus welchen Gründen, und wenn sie auch stets behaupten, daß es nur geschehe, weil sie es wohl mit mir meinen –«

»Der Teufel soll sie holen! Alle miteinander! Ernesta, liebe, liebe Ernesta, meinen Charakter, mein Herz kennst ja nur du allein! Herrgott, ich bin ein guter Mensch, aber in diesem Augenblick und nach dem, was du mir da eben mitteilst, möchte ich doch am liebsten dem Universum den Schädel einschlagen!«

»Mir dann mit? Mir auch?« flüsterte die Geliebte. »O, bitte, bitte, tue es nicht. Ich weiß ja, daß sie die Unwahrheit sagen, und daß der Onkel –«

»Puh, der Onkel!« ächzte der Geliebte unter dem so plötzlich auf ihn gehäuften Gebirge der Verleumdung hervor und schloß, mühsam nach Luft ringend, ohne irgendwie abzuschließen, »der Onkel, der Onkel! Puh, der Onkel Pü–terich! – U–h!« – –

Dem jungen Manne gingen tausend unheimliche Bilder durch den Kopf, und alle betrafen das Faktum, daß die Hinterfenster des alten Barons auf seine – Hilarions – Vorderfenster blickten und daß der würdige alte Herr wahrscheinlich nicht selten aus seinem Kammerfenster sah.

»Ja, ja,« schluchzte Ernesta, »er hat den Eltern kurzweg erklärt, daß er, wenn ich nicht, wie sie ihm versprochen hätten, seinem guten Freunde Magerstedt meine Hand geben würde, seinem Testament ein Ko– Ko–Ko– wie nennt ihr Juristen das doch? In den Lustspielen kommt es öfters vor, und man lacht darüber; aber im Leben soll es etwas Entsetzliches sein!«

»Ein Kodizill will er seinem Testament anhängen, wenn du seinen guten Freund Magerstedt nicht heiratest?« stammelte Hilarion. »Uh, die beiden alten verhuzzelten, nichtsnutzigen Uhus! Mädchen, daß der Weg zu dir nur über meine Leiche geht, weißt du; aber dem Herrn von Magerstedt breche ich selbst als Leiche noch den Hals. Den werde ich zum Stolpern bringen! Und – Ernesta, Ernesta, was des Onkels Testament anbetrifft, so habe ich da meine ganz eigenen Ansichten. Wenn man mir nur Glauben schenken würde, wenn ich nur die Beweise beibringen könnte, daß dem ein Kodizill weder auf- noch niederhilft, so würde ich heute abend noch – jetzt auf der Stelle mit deinem Papa und deiner Mama reden, um den bodenlosen alten Heuchler zu entlarven. Aber sie glauben, sie glauben mir ja nicht!«

»Und außerdem ist dir ja unser Haus von jetzt an auf ewige Zeiten verboten!« schluchzte Ernesta. »Sie stecken mich in ein Kloster, sie machen mich zur barmherzigen Schwester, sie schicken mich zurück nach Lausanne zur Madame Septchaines und lassen mich noch mal drei Jahre lang dort erziehen. Sie haben es mir fest und heilig versprochen, daß sie noch viel gräßlichere Pläne mit mir im Sinne haben, wenn ich dich noch ein einziges Mal sehen würde. O Gott, o Gott, was soll ich tun? Sage es mir doch nur, was ich tun und was ich lassen soll!«

In diesem Moment rief man vom Hause her:

»Ernesta! Ernesta, wo steckst du?«

Und auf der einen Seite fuhr die junge Dame, auf der anderen der junge Mann von dem Gitterwerk zurück.

»Hier, Mama!« flötete die Geliebte, echt weiblich merkwürdig geschickt gleich den unbefangensten Ton findend.

»Ich erdrossele den Onkel Püterich!« ächzte Hilarion, den leichten Strohhut vom Kopfe stoßend, als er sich verzweiflungsvoll und ratlos in den jugendlich lockigen Haarwuchs griff. Ganz mechanisch brannte er wohl eine Zigarre aus dem Besteck, auf dem vorhin die Hand der Geliebten ruhte, an, aber sie ging ihm wieder aus. Sie schien so wenig Luft zu haben wie er selber, und noch nie war ihm ein lauer Sommerabend so schwül vorgekommen, und ein Glück war's nur, daß ihm des alten Barons guter alter Freund Magerstedt nicht auf seinem Wege begegnete. Eine Szene auf öffentlicher Promenade hat ihre Unannehmlichkeiten für alle Beteiligten außer den Zuschauern, und auch die werden nicht selten nachher als Zeugen vom Gericht vorgeladen.

 


 


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