Wilhelm Raabe
Des Reiches Krone
Wilhelm Raabe

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Sie haben wirklich von der Reichsheiligtümer Rückkehr zuerst gewußt in Nürnberg – die Spielgenossinnen der Jungfrau Barbara – sie und die Bürgermeister und Collegium Triumvirorum, die drei obersten Hauptleute, so die Schlüssel zu den Heiligtümern früher und die Schlüssel der Stadttore und der Stadt Paniere immerdar in Verwahrung gehabt haben.

Als ein groß Mysterium brachte es die Jungfrau aus dem Spinnkränzelein der Stromerin heim und hat es mir also auf die Seele gebunden, obgleich es natürlich zum Feste schon durch die ganze Stadt lief und hellesten Jubel in jeglichem Gemüte aufregete.

Da war es denn! Was ich nach dem Willen des unglücklichen Freundes und der Mater Leprosorum allein getragen hatte, solange es sich im geheimen verbergen ließ, das mußte nun hervorbrechen, und keine Dämme ließen sich dagegen aufwerfen. Die große Herrlichkeit, die meiner Vaterstadt beschieden war, setzte unserem Unglück nur den letzten Dornenkranz auf, und an demselben Abend noch, an welchem die Jungfrau aus Herrn Sigmundi Stromers Hause so selig heimgekehret war, hab ich dem Meister Theodoros Antoniades meine Angst und mein Leid kundgemacht. Unter all den Hunderten, so ich kannte und mit denen ich umging, war er der einzige, welchem ich meiner Seele Jammer offenbaren mochte und konnte.

In Stillschweigen und finsterem Ernst hat mich der heimatlose griechische Mann angehöret; dann hat er gesprochen: »Auf Chios, unter dem Brandschutt meiner Vaterstadt und meines Hauses ließ ich die Leichen meines Weibes und der blühenden Söhne und Töchter. Mein Vaterland geht unter, ist untergegangen; – auf müden Fittichen umkreist des oströmischen Reiches Adler die alten Mauern der hohen Imperatoren; es ist keine Rettung mehr für Konstantinopolis, die große Stadt. Ich trage eine tote Sprache unter fremden Völkern um, und wenn die Fremden ihrer Schöne sich freuen, so wird mein Leid nur größer dadurch. Ich trage auch mein Leid in Schweigen, mein Sohn, und warte, was Gott tun wird. Die Welt neiget sich zum Abend nicht nur für der Byzantiner uralte Macht und Prächtigkeit; – wer will noch viel sorgen für das Stündlein, das eben vorhanden ist? Die jüngste Jugend ist alt; – was läßt sie sich viel bange machen? Wer will sich wehren gegen den Jüngsten Tag? Ich gedenke jenes Tages, an welchem die schöne Maid zu uns trat und euch junge Gesellen hinaustrieb in den Kampf, in den vergeblichen Streit: wenn du willst, mein Sohn, so will ich der Jungfrau verkündigen, was das Schicksal ihr bereitet hat.«

Ich habe den griechischen Mann zu der Base Cäcilia, der Stollhoferin, geführt, zu der Sondersiechen Mutter, und am folgenden Morgen sind wir alle drei zu der Verlobten Michel Grolands gegangen, haben ihr das Buch des Todes aufgeschlagen und auf die Stelle gedeutet, die ihr Geschick in flammenden Schriftzügen wies. – –

Es klingt mir wie ein Klang der Zinken und Posaunen im Ohr; aber der kommt nicht herüber mit dem Volksgeschrei von Sankt Sebaldi Kirchhofe. Horch, die Glocken von neuem – Benedikta voran! Ja, nun hat der Prediger Johannes das Seinige gesagt; mit Psalmen und Litaneien zieht das Volk von Nürnberg durch die Gassen, in den dunkelsten Winkeln seiner Häuser heute Asche auf die Häupter zu streuen und morgen das alte Leben von neuem zu beginnen. Der Schall der Zinken und Posaunen, der durch die Historie meines Lebens gehet, der klinget herüber vom Mittwochen nach unserer lieben Frauen Verkündigung in den Fasten des Jahres 1424, an welchem Tage die Krone des Reiches der Deutschen zurücke kam nach Nürnberg.

Wirklich waren vom Rate der Stadt die Herren Sigmund Stromer und Sebald Pfinzing nach Ofen zum König Sigismund gesendet worden, und in aller Stille und Heimlichkeit hatte der Römische König ihnen die Heiligtümer überantwortet – in solcher Heimlichkeit, daß nicht mehr denn sechs Personen darum wußten. Und am achten Tage nach Lichtmessen haben die beiden Herren die großen Kleinodien nach Nürnberg abgeführet auf einem Wagen, dessen Fuhrleut vermeineten, daß sie eine Last der Fische, so man Hausen nennet, führten. Erst eine Meile vor Nürnberg haben diese Fuhrleut erfahren, welcher Ehr und Herrlichkeit sie gewürdiget gewesen seien, und haben sich im freudigen Schrecken von den Rossen in den Staub des Weges niedergestürzt und haben auf den Knieen das Heiligtum verehret.

Glocken und Gesang des Volkes! Zinken und Trompeten! Wir sind alle hinausgezogen auf das Gerücht von dem Nahen der Abgesandten und des Schatzes, den sie mit sich brachten. Zu Tausenden und Zehntausenden – Männer und Frauen, Greise und Kinder, sind wir der Krone entgegengezogen: ein größerer Tag ist seit Menschengedenken nicht in den Chroniken der Stadt verzeichnet worden. Vor allen andern aber sind die Beladenen gekommen, so jedes Jahr in festo armorum Christi, solange die Kleinodien in der Stadt Hut gewesen sind, ihr Leid vor den Waffen des Herrn niedergelegt und um Erlösung gebeten haben. Alle Kranken, die gehen konnten, knieeten mit den übrigen am Wege, und alle die, so im Herzen bedrängst waren, haben sich niedergeworfen bei denen, deren Leib nur geängstet war. Da hat kein Unterschied unter den Leuten gegolten, kein Stand hat dem andern sich vordrängen dürfen; vor des heiligen deutschen Volkes Krone, Zepter, Schwert und Apfel, vor dem heiligen Eisen des Speeres, der Christi Brust eröffnete, vor den fünf Dörnern aus seiner Dornenkrone sind alle gleich gewesen, alle Brüder und Schwestern im Erdenjammer. Mit den Jungfrauen ist die traurigste unter den Jungfrauen, ist die Grossin zur Kirche vom Heiligen Geist gegangen, allwo inmitten der Stiftung ihres Ahnherrn Konrad Grossen, in des Leprosen Garten, die Reichskleinodien vordem ihre Wohnung hatten und nunmehr von neuem niedergesetzt werden sollten.

Es ist wohl ein Jahrhundert her, da schlief einer – ein reicher Mann, ein armer Mann, der Sondersiechen einer, Konradus aus dem Geschlechte der Hainzen, auf der Stelle, wo heute des deutschen Volkes Reichsheiligtümer in Sicherheit geborgen ruhen. Er schlief in seinem Garten unter einem Lindenbaum, und im Schlafe kam ihm ein Traum von einem großen Schatze, so in diesem, seiner Väter Erbe, in der Erde liege. Und der Ort des Schatzes wurde ihm auch gezeiget, und der Leprose ging im Traum und folgte einem lichten Führer; aber die Stelle zu zeichnen, die ihm angedeutet war, griff er eine Handvoll Blätter von der Linde und legte sie auf den Ort; dann erwachte er und besann sich. Als er aber zweifelnd im Garten umherwandelte und nicht wußte, ob er dem Gesicht glauben sollte, da fand er das Häuflein Lindenblätter und mit dem den Glauben an die Wahrheit seines Traumes wieder. So sind die Seinigen zu ihm gekommen, haben mit Staunen die wundersame Mär von ihm vernommen und mit ihm angefangen, in die Erde zu graben. Er aber, der sondersieche Mann, hat alles, was man finden würde, zur Ehre Gottes den Armen und den Kranken versprochen, und siehe, es ist wahrlich ein großer Schatz gehoben worden in dem Garten der Hainzen an der Pegnitz, und der Herr Konradus hat sein Gelübde gehalten. Das Spital und die Kirche Zum Heiligen Geist sind von den gefundenen Reichtümern gegründet und erbauet worden, und ruhet also jetzo des deutschen Reiches Krone auf der Stelle, so des Leprosen Hand und Wille dem Baumeister und den Steinmetzen zu ihrem Werke anwies. Den aussätzigen Mann aber hat man, wie ich schon bemeldet habe, fürderhin Konrad den Grossen genannt, und zum ewigen Gedächtnis hat ihm und seinen Nachkommen der Kaiser Ludwig der Baier die vierundzwanzig Lindenblätter zusamt dem Berglein, auf welches er sie im Traume trug, in das Wappen gegeben.

Während nun Mechthild Grossin mit den andern Jungfrauen zum Portal vom Heiligen Geist gegangen ist, die Krone zu erwarten, bin ich mit den Genossen und dem Volke ihr vor das Tor hinaus entgegengezogen. Eine halbe Meile von der Stadt sind wir des Wagens und seines Geleites ansichtig worden.

Da gingen die Rosse stattlich in ihren Geschirren und neigeten die Köpfe, als wüßten auch sie nun, was sie führeten. Und die Herren Sigismundus Stromer und Sebaldus Pfinzing zogen barhaupt zur Rechten und zur Linken des Wagens. Im Schweigen ritt das gewappnete Gefolge, und in der Menge, die aus der Stadt kam, wurde es auch still. Es schwieg der Lobgesang des Volkes, und nur die Glocken aller Türme von Nürnberg vernahm man noch aus der Ferne. Die zu Pferde waren, die stiegen ab und knieeten am Wege, die Zügel in der Hand. Es knieete jedermann, und langsam sahen wir den Wagen, der so große Herrlichkeit trug und von der Blindenburg im Ungarlande ausgefahren war, an uns vorüberziehen. Und als er vorüber war, da hat sich ein jeglicher wieder erhoben von den Knieen, und ein jeglicher ist im Zuge gefolget, und von neuem hat alles Volk den Lobgesang angestimmt. Von der Stadt her sind aber alle Glocken immer heller und freudiger erdröhnet, und von den Wällen und Türmen haben auch Tausende gejauchzt; – da hat man einmal recht gesehen, ein wie groß, gewaltig Volksspiel das alte Nürnberg in seinen edlen Mauern hausete! Es ist ein Gedränge gewesen vom Tore durch alle Gassen und über die Märkte wie ein brandend Meer; doch ist in dem heftigsten Gedränge an diesem Tage kein bös Wort, kein Schlag gefallen; es ist kein Messer oder Schwert in der Scheide gelockert worden. Ein jeglicher hat es wie eine eiserne Hand auf seinem Herzen gespüret, und die Wildesten haben sich geduldig in die Ecken und Winkel drücken lassen.

So zogen wir ein mit der Krone, so zogen wir durch die Gassen bis auf den Platz vor der Kirche Zum Heiligen Geist. Wie mir zumute gewesen ist in dem großen Gewoge, das mich willenlos hob und schob, das kann ich nicht mit Worten sagen. Es war eine tränenvolle und doch süße Entrückung; – meine Seele war gefangen in allem Erdenleid, und doch schwebete sie hoch darüber, und es war ein Fühlen in mir von einer herrlichen Begnadigung, der ich zugerissen wurde; – so kamen wir auf den Kirchplatz Zum Heiligen Geiste, allwo mit den edlen Jungfrauen, dem Rat und der Pfaffheit die Unglücklichsten des Volkes auf der Kleinodien Nahen warteten.

Ja, da ist keine Schranke aufgerichtet gewesen. Alle Kranken und Elenden, so kommen wollten, durften kommen. Und sie waren vorhanden, die Unseligen von Sankt Johann, die Heimatlosen von Sankta Martha, die Armen aus allen Stiftungen. Sie alle sind zugelassen, den Schrein des Heiligtumes mit den Händen zu berühren und um Hülfe zu flehen; denn es ist kein Sanktuarium so gnadenbringend gehalten als dieses, welches des deutschen Volkes Krone und die Waffen Christi barg!

Tolle! lege! Die eiserne Hand, die ein jeder auf seinem Herzen fühlte, die ward auf dem meinigen plötziglich wie glühend und dann wie Eis: mit vorgestreckten Armen bereitete der Sondersiechen Mutter einem verhüllten Manne einen Weg durch das Gedränge, und auf den Stufen der Kirche hab ich einen kurzen Augenblick den Meister Theodoros neben einem bleichen Mädchengesicht erschauet. Mit pochendem Herzen schreibe ich nieder, was geschah.

Wie eine Mauer trennte mich das Volk von den Geliebten, doch wie eine Mauer hielt mich auch das Volk aufrecht. Ich sah den Meister Theodoros, den Verhüllten und die Base Cäcilia nicht mehr; aber über die Häupter der Menge sah ich noch die schöne weiße Jungfrau auf den Treppenstufen, wie sie im letzten Strahl der Abendsonne inmitten ihrer Verwandtschaft stand und niederblickte auf den Wagen mit dem heiligen Schrein und das schlimme, schauerliche Gewühl der Kranken und Verlorenen. Da ist mir eine Erinnerung gekommen von jener Stunde, als in der Kreuzkirche auf dem Karlsteine der gute Ritter Michel Groland vor des Reiches Krone neben mir kniete und den Schwur tat, nun zu werben um des Reiches andere Krone, das beste Weib der besten Stadt des Reiches. Und mit dem ist ein Ruf des Staunens und ein Zurückweichen der Menge eingefallen, und im Lichte des Abends hab ich über den Häuptern des Volkes die Mechthild lächeln sehen und ein Winken nach der Tiefe tun! Der letzte Schrecken ging an mir vorüber; ich sahe die Maid niedersteigen und verschwinden aus dem roten Lichte, so das Portal der Kirche Zum Heiligen Geist färbte; aber ein urplötzlich Getöse hat das Volk mächtig beweget. Unter dem Portal haben die andern Jungfrauen die Arme erhoben und laut gerufen; die Herren vom Rat sind auch vorgeeilt und herabgestiegen; mich aber hat es vorangerissen durch die wogende Flut der Menschen, und ein Arm hat mich noch im rechten Augenblick erfaßt und unter den Hufen der Rosse, so des Reiches Heiligtümer herbeigeführt hatten, vorgezogen. Die Rosse stiegen auf und schlugen aus; doch der Meister Theodoros Antoniades hat mich errettet vor ihren Hufen und den Füßen des Volkes. Und siehe – und ich sahe vor dem Schreine, der des deutschen Volkes höchste Heiligtümer barg, daß die Liebe wahrlich den Tod überwindet, ja Schlimmeres als den Tod zu einem Lachen macht!

Vergebens hat der Freund und Bruder in das grausige Gewimmel seiner Leidgenossen zurückweichen wollen: das Schwert, so am Kreuze Sankt Johannis zwischen ihm und der Welt im Boden stand, das hatte hier keine Macht der Abwehr. Vergebens hat sich mit hellem Schreckensruf die greise Mutter der Leprosen dem schönen Mädchen in den Weg geworfen und es mit ausgebreiteten Armen zurückdrängen wollen. Vergebens sind die Verwandten, die Eltern und die Brüder herzugeeilt – niemand hat die Jungfrau halten dürfen; ruhigen Schrittes ist sie vorgetreten und hat dem Verlorenen beide Arme um die Schultern gelegt und ihre schöne bleiche Wange an die härene Kutte auf seiner Brust. Da ist ein Zurückdrängen der Gesunden gewesen, aber ein Zudringen der Kranken von Sankt Johannis Siechkobel, und ist eine tiefe Stille worden.

»Michel«, hat die Jungfrau gesprochen, »Michel, siehe, du hast dich vor mir verborgen, aber hier auf meiner Ahnherrn geheiligtem Boden hab ich dich mir wiedergewonnen. Siehe, ich wußte, daß diese Stunde kommen werde, wo jegliche Macht nichtig sein würde gegen mich. Wie hätte ich sonsten das Leben getragen? Willst du dein Wort nun nicht halten, mein Freund? Das Wort, was du gesprochen hast vor der Krone des Reiches? Heute vor der Krone des Reiches mahne ich dich daran, du Lieber. Die Erde ist für uns beide untergegangen; aber wir beide – du und ich, sind doch gerettet. Du stößest mich nicht von dir! Du verbirgst dich nicht mehr vor deiner Braut, vor deinem Weibe!«

Sanft und doch fast wild und mit großer Gewalt hat sie ihm die Mönchskappe von der Stirn zurückgeworfen, und zum erstenmal, seit wir auf dem Karlsteine Abschied voneinander nahmen, hab ich des Freundes geliebtes Antlitz wieder erschauet. Die Geißel, mit der Gott die Völker straft, hatte den stolzen Ritter schlimm getroffen, das schöne Haupt furchtbarlich versehrt. Die Lepra, die ihm die starken Arme und Füße und das tapfere, treue Herz verzehrte, die hatte ihn im Gesicht uralt und hager gemacht und alles Feuer aus den Augen weggefressen. Und die vordem so festen Füße trugen den armen Kranken nicht länger in dem Jammer und dem unsäglichen Glück; er sank hinab an der lichten Gestalt der Verlobten, und sie beugte sich zu ihm nieder wie zu einem Kinde.

 

Und weil sie nun alle in Nürnberg Bescheid wußten um die Liebe und das grausame Schicksal des Grolanders und der Grossin, so ist nun ein Geschrei aufgestiegen – ein Schreien sondergleichen. Plötziglich haben alle Kranken angestimmt: »Herr, erbarme dich unser!« Doch aus der Kirche vom Heiligen Geiste her hat man in dem nämlichen Augenblick angefangen zu singen: »Gloria in excelsis Deo!« Die Türen sind aufgeworfen, und vom Hochaltar herüber haben die Lichter und Kerzen in den Abend hinein geflimmert. Von allen Seiten ist des Volkes Flut angeschwollen, und ein Wogen ist worden um den Schrein mit des Reiches Kleinodien. Aus allen Gassen ist ein Hindrängen zum Portal des Heiligen Geistes gewesen, als das Heiligtum hoch auf den Schultern der Auserwählten die Treppenstufen hinaufgetragen wurde. Da ist niemand mehr seiner mächtig gewesen im Gewühl; die Stollhoferin hab ich vom Boden aufgezogen, und der griechische Meister Theodoros und ich haben sie mit unsern Leibern geschützet. Die schöne Mechthild aber ist in der Sondersiechen Haufen hineingezogen worden und nicht mehr gesehen, als des Reiches Krone am Altar niedergesetzet war und man nach ihr suchen konnte, da des Volkes Stürmen und Drängen sich gesänftiget hatte. –

Wie suchte man nach ihr in den Gassen von Nürnberg! Mit gezogenen Schwertern haben die Gevettern und Freunde der fürnehmen Grossen-Familie an den Toren gewartet; aber in schwarzen Haufen, Hunderte mit Hunderten, sind die Sondersiechen an Unserer Lieben Frauen vorüber, über der Herren Markt, vorbei am Rathaus und über den Weinmarkt dem Neuen Tor wiederum zugezogen durch die Nacht. Den Ritter Groland von Laufenholz und die holdselige Mechthildis hat niemand an diesem Abend oder in dieser Nacht in den grausigen Zügen erblickt.

Am Neuen Tore habe ich geredet zu den Vettern und Freunden. Wahrlich, der Bruder Johannes Kapistranus hat heute auf seinem Predigtstuhl nicht mehr seines Herzblutes in seinen Worten vergossen als ich in jener Nacht. Mit Weinen und Zähneknirschen sind die edlen Herren zurückgewichen, und edle Frauen und Jungfrauen aus der Verwandtschaft haben mir dazu geholfen, daß keine wilde Tat im Wahnsinn und in der Ratlosigkeit und Trauer getan worden ist.

Als alles still geworden war, bin ich allein dem Wege der Leprosen gefolget vor die Stadt hinaus bis zu dem Spital von Sankt Johann. Es war schon Nacht, aber doch noch ein Schein im Dunkel; und als ich dem steinernen Kreuz, bei dem vor einem Jahr das Schwert im Boden stand, nahe kam, hat wiederum eine dunkle Gestalt auf der Bank gesessen.

Schaudernd habe ich gezögert und von ferne den Schatten angerufen.

Da antwortet mir durch die Finsternis eine Stimme: »Μακάριοι οι πενθου̃ντες, ότι αυτοὶ παρακληθη̃σονται!« Selig sind die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. –

Es war der alte treue Lehrer, der heimatlose griechische Mann von der Insel Chios, der die Worte aus unseres Herrn Jesu Christi Bergpredigt zu mir sprach, und ich trat in Schweigen zu ihm heran, und er faßte meine Hand, sprach fürder auch nichts mehr, sondern zog mich zu sich herab auf die Steinbank und deutete nach dem Lichtschein aus den Fenstern von Sankt Johann hinüber.

Dorten summete es, und war ein Gewühl in dem Hause und um das Haus, schauerlich zu hören und noch schlimmer zu ahnen in der Nacht. Wir aber saßen bis über die kalte, dunkle Mitternacht hinaus und hörten den Gesang der Verlorenen und hörten die Klagetöne verhallen gegen das Grauen des Morgens zu; – wir saßen gefühllos gegen die Nacht, den Frost und den scharfen Wind; – wir saßen schweigend, der byzantinische hohe Meister und ich, der Alte und der Junge, und es war kein Unterschied zwischen unsern Seelen.

Das war die Nacht, in der sich mein Leben wendete. Durch den Klagegesang von Sankt Johann habe ich die süße, kindliche Stimme gehört, wie Sanctus Aurelius Augustinus sie auch vernommen hat. Von den frühesten Zeiten an bis in die gegenwärtige schaurige Stunde ist alles, was ich erfahren hatte, solange ich atmete, an mir vorbeigezogen, und siehe, aus dem großen Leid ist die große Ruhe erwachsen. Ja, ich bin ein Mann und bin ruhig geworden; die Buße, so der Bruder Kapistranus heute von dem Volke von Nürnberg verlangt hat, ist eine andere als die, so mir durch die Gnade Gottes auferlegt worden ist in den Tagen meiner Jugend, da wir um des Reiches Krone kämpften und da des Reiches Krone zu uns zurücke kam. Geduldig hab ich fortan in der Erde wilden Schlachtenlärm hineingesehen, geduldig in der Natur Spiel und Wandel. Ich hab mich nimmermehr gegrämet, wenn die Blätter im Herbste falb geworden sind; wenig aber hab ich mich auch gefreuet, wenn ein neuer Lenz ein neues, grünes Gras, die Welt zu schmücken, hervorgelocket hat. Ich habe die Angst von mir abgetan und bin fürderhin unentwegt geblieben in der Zeiten Drangsalen.

Der Zeiten Drangsale waren freilich entsetzlich. Noch einmal zog ich aus wider die Hussiten und sahe abermals bei Außig das deutsche Volk zu Boden liegen. Aus dieser schlimmen Schlacht bin auch ich wund heimgekommen und hab den Freund und guten Ritter Michel Groland von Laufenholz nicht mehr in der Erdennot funden. Der Braut bin ich begegnet in den Gassen, die ging aufrecht in der Seelnonnen Gewand, stützete die greise Stollhoferin, der Sondersiechen Mutter, und grüßte still herüber. Die Narren bekreuzigten sich ihres Geschickes halben; doch die Zeit war schon vorhanden, da die Weisen auch sie um ihres Herzens Frieden beneiden mußten. Die Grossin hat noch ein gar schönes Leben gehabt. Mater Leprosorum! Sie hat den Namen wie einen Kranz mitten im Elend von Sankt Johann vom Boden aufgehoben und hat ihn wie eine Krone getragen bis an ihren Tod, und es sind viele gewesen, die haben sie selber des Reiches Krone genannt, doch zu ihren Ohren ist das Wort wohl nicht gekommen, es hätte auch keinen Sinn für ihr schönes Herz gehabt.

Viel Herrlichkeit hab ich noch gesehen: – den Reichtum und der Völker Gewirr zu Venedig, der Römer uralte Arbeit und Neapels Sonnenschein und blaues Meer. Mit offenen Augen hab ich alles wahrgenommen und mit Wissen und Willen nichts dessen verabsäumet, was meine Wege durch den Tag mir anboten. Ich habe geredet vor Fürsten und vor hohen Senaten stolzer Republiken; nicht ungesegnet sind auch zu Hause meine Mühen für der edlen Vaterstadt Nutzen und Heil gewesen. Jetzo lieget auch das hinter mir – wahrlich, es ist Abend worden!

Im Mai dieses Jahres 1453 ist Konstantinopolis in des heidnischen Feindes Hand gefallen; der Diana Halbmond, das Wappen von Byzanz, stehet auf der Türken Feldzeichen dem Kreuz der Christenheit entgegen. Doch die Bücher und Rollen, von der Mönche und Schreiber Hand mühesam geschrieben, die edlen Manuscripta, so uns der gute Freund Michel Groland, da wir noch jung waren, mit dem Ellenbogen in der Laube vom Tische schob, die werden nun der Menschheit durch die rechte schwarze Kunst in die Hände gegeben: – tolle! lege! –

Es ist dem Meister Theodoros Antoniades ersparet blieben, des oströmischen Reiches vollen Untergang zu erleben; doch das erste mit Lettern gedruckte Buch hat er noch mit Augen gesehen und weise Worte darob gesprochen.

Des deutschen Reiches Krone lieget noch in Nürnberg – wer wird sie wieder zu Ehren bringen in der Welt?


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