Wilhelm Raabe
Des Reiches Krone
Wilhelm Raabe

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Im Herbste, im Oktober des Jahres unseres Herrn 1423 ist der Freund und gute Ritter Michel Groland von Laufenholz aus Hungarn heimgekehret nach Nürnberg als ein armer, kranker, verlorener Mann, der sein Schwert nur noch als einen Stab, sich darauf zu stützen, brauchen konnte, und folgendes ist die Art, wie er kam.

Es ist ein trüber Nachmittag gewesen, und ich hab in seltsamer Melancholey am Fenster gesessen, doch nicht in meinem eigenen Stüblein, sondern in dem Saal, so nach der Gassen hinausgehet, und habe still gesessen, unlustig zu jeglichem Werk und Wort. Über die Zacken und Giebel der Dächer hat das schnelle Wehen das graue Gewölk eilfertig hingetrieben, und das Volk ist auch eilfertig gewesen in der Gassen, denn es hat einen jeden gelüstet, zu Hause zu sein; mir aber war es sonderlich angstvoll im Hause.

Die Wände sind auf mich eingerückt, die Decke hat sich gesenket, und der Wind, der die gewirkten Bilder auf den Teppichen an den Wänden bewegte und leise mit den Gewaffen der Vorväter an den Pfeilern klirrte, hat mit den Atem mehr benommen als die Angstbirne, so der Henker den armen Sündern in der Marterkammer in den Mund schiebt. Da ist ein Bote gekommen, ein Bub, im eiligen Lauf von meiner Frau Base Cäcilia, der Stollhoferin, der hat auch mühsam Atem geschöpft und hat in Gottes Namen einen Gruß von der Stollhoferin bestellet und ausgesaget, draußen beim Siechkobel von Sankt Johannes vor dem Neuen Tore sei jemand vorhanden, der verlange, mit mir zu reden. – Die Stollhoferin ist damals gewesen, was man nennet der Sondersiechen Mutter – Mater Leprosorum –, die älteste derer mildtätigen Frauen aus patrizischem Geschlechte, so nach den guten Predigten des seligen Bruders Magister Nikolaus beim Heiligen Geist zuerst den armen Kranken um Gottes willen Handreichung taten, wie ich das auf einem vorigen Blatte schon geschrieben habe. Es hat mich daher diese eilige Entbietung wohl ein wenig gewundert; doch bin ich ihr willigen Gemütes sogleich gefolget und hätte ihr, wie jegliches brave Herz in der Stadt Nürnberg, zu jeglicher Stunde des Tages oder der Nacht Folge geleistet, einerlei, ob mich der Leprosen Mutter vom Hochzeitmahl, vom Taufschmause oder aus der Reihe der Leichengänger zu ihrem höhern Dienst abgerufen hätte.

In dieser trübsinnigen Stunde ist mir die Entbietung der Base sogar als das Zuträglichste erschienen, das mir geschehen konnte; die Bedrückung der Seele schwand vor dem ernsten Ruf; der graue Himmel und der böse Geist hatten keine Macht mehr in meiner Seele. Ich entließ den Boten vorauf mit einem Gruß an die Frau Base, nahm eiligst den Mantel über den Scheckenrock und trat hinaus in den dunkeln, herbstlichen Tag.

Der Menschen Getümmel, das mich alsogleich in der Gasse empfing, erlösete mich gänzlich von der Dämonen Angriffen. Aus dem Erker des Nachbar Grossen grüßte Mechthild freundlich lächelnd hernieder; ich mochte mich wohl wundern, daß ich nun ein ganz anderer war als vor einem Stündlein; aber ich tat das nicht, sondern nannte mich kurzweg einen Narren und schritt weiter fürbaß, unter der seit dem Überfall des Leiningers immer noch wüst und verlassen liegenden Burg vorbei, dem Neuen Tore zu.

Es grüßte mich unterwegs mancher gute Freund und hielt mich an mit: »Woher?« und: »Wohin?« Wenn ich gesagt hatte, welches Weges ich gehe, so zuckte man wohl die Schultern und sah nach dem drohenden Gewölk, und der eine und andere lud mich ein für den Abend in diese Trinkstube oder in jene; ich aber, der ich wußte, daß ich heut für den Meister Theodoros doch nicht mehr tauge, nahm die Einladung des ersten guten Gesellen an und versprach mir einen muntern Abend, weit über das Nachtglöcklein hinaus.

So kam ich vor das Tor und gedachte, meine gute Laune trotz allem, was die Base mir auflegen mochte, wohl festzuhalten. Aber der Tag, der mir zu Hause wenig gefallen hatte, der gefiel mir noch weniger draußen vor der Mauer. Da lag das Feld schon kahl, und die Bäume stunden blätterleer, und der Wind, so in den Gassen schon seinen Willen gehabt hatte, den bändigte nun nichts mehr; er tummelte sich und trieb sich um, wie es ihm gelüstete, scheuchte trockenen Staub in heftigen Wirbeln in die Luft und lachte höhnisch den kommenden Abend an. Doch ich nahm den Mantel fester um die Glieder und schritt rüstig weiter, dem Spital von Sankt Johann zu.

Damals stand nur der Siechkobel, Anno 1323 samt dem Kirchlein von den Herren Tezeln errichtet, im freien Felde. Der große Kirchhof Zum Heiligen Grabe war noch nicht vorhanden. Ein jedermann mag heut hinausgehen und nachdenken über den ersten Grabstein, der den heiligen Sebastian an seinen Baumstumpf gebunden vorstellet und mit der Jahreszahl 1427 die Inschrift trägt:

War das nit ein sehnliche und jämmerliche Klag,
Ich starb aus meinem Haus selb dreyzehend auf einen Tag; –

der große Kirchhof ist wahrlich nicht vergeblich eingerichtet worden seiner Zeit!

Im Jahre dreiundzwanzig stand das Haus mit seinem Kirchlein alleine im Feld, von wenigem Gebüsch umgeben, – ein niedrig, langausgestreckt Gebäude, von dem der Wanderer gern das Gesicht abwendete, wenn er auf der Landstraße daran vorüberzog. Die Stätte war selbst im holden Sommer kein freundlicher Anblick, denn von diesem Orte konnte selbst die lieblichste Blüte des Jahres den großen Schauder nicht tilgen! Heute aber war der Himmel grau, die schwarzen Wolken zogen über das Dach des Siechkobels hin, und die schwarzen Raben flatterten um ihn wie um einen Galgenberg. Eine schlimmere Schädelstätte konnte sich aber auch keine Menschenseele ausdenken.

Es ging auch ein Hag um einen weiten Raum rund um das Haus, und gegen den Heerweg war ein Gatter gemacht. Ein steinern Kreuz war aufgerichtet neben dem Tor, und unter dem Kreuze war eine Bank, auch von Stein.

Als ich näher kam, sah ich zwei Gestalten unter dem Kreuze. Auf der Bank saß ein Mann, angetan mit einem langen braunen Rock wie ein Kappenmönch, der hielt das Haupt tief gesenket und hatte es ganz mit der Kapuze verhüllt. Einige Schritte von ihm ab stand die Stollhoferin, meine Base; die hatte auch das Haupt gesenkt und hielt die Hände zusammengeschlagen, wie in großem Jammer. Und wiederum vier Schritte von den beiden ab, gegen den Weg zu, war ein Schwert in den Boden gestoßen, gleich als eine Abwehr und Warnung gegen das Näherkommen.

Da wußte ich nun schon von weitem, was das alles bedeutete und weshalb und wozu die Base Cäcilia mich aus der Stadt abgerufen hatte. Aber wer der verhüllte Mann war, wußte ich nicht; ich stand still neben dem Schwert und sagte: »Gott grüße Euch, Base, da bin ich zu Eurem Dienst. Um der Barmherzigkeit, wer ist es?«

Ein jäher Schrecken durchschütterte mich, doch ahnete ich noch nicht, was ich erfahren sollte.

»Wer ist es, Base Stollhoferin«,« fragte ich zum zweitenmal. Da erhub die alte Frau laut schluchzend die Hände zum dunkeln Himmel; doch der Mann im Mönchsgewande stützte das mit der Kappen verhüllte Haupt auf die linke Hand und deutete mit der andern auf das im Boden aufrecht stehende Schwert.

Da ging ein neuer Schrecken – ein Schrecken der Schrecken – mir durch Leib und Seele, ich sahe auf die Waffe – und taumelte rückwärts wie unter dem Schlag eines Streithammers. Es verwirrte sich das Bild der Welt vor meinen Augen; ich taumelte auf den Füßen und schrie laut, ja laut, laut auf.

Das war ja das Schwert, das gute Schwert, welches so oft und so lustig das alte Haus am Paniersberge erschüttern machte! Das war ja das Schwert, das neben mir geleuchtet hatte in der Hussitenschlacht, die gute Wehr, die des deutschen Reiches Krone erlösen half aus der Feinde Hand! Das war das Schwert des Freundes, des Bruders!... Der verhüllte, auf der Steinbank zusammengekrümmte Mann im braunen Pilgerrock war der stolze Ritter Michel Groland von Laufenholz – mein Bruder – mehr als mein Bruder! – mein Freund, mein freudiger Mitschüler und Kriegsgesell, der arme Michel Groland!

Ich schwankte auf den Füßen, ich taumelte und fiel. Ich fiel mit der Stirne in den Sand und hörte einen großen Donner im Ohr und ein Klingen, gleich dem Pfeifen der alten Schlange, im Busen. Und als ich mich wieder aufrichtete, da war das fürchterliche Gespenst von der Bank verschwunden und auch das Schwert aus dem Boden; doch die Stollhoferin, der Sondersiechen Mutter, stand noch neben mir, in ihren schwarzen Mantel eingewickelt; ich aber blieb auf den Knieen und faßte ihr Gewand und schrie:

»Mutter, es ist nicht so! Saget, daß es nicht so ist, Mutter!«

Die Base hat die eine Hand aus den Falten ihres Mantels gezogen, als wollte sie meine Hände losmachen; doch dann bedeckte sie nur die Augen und sagte mit tiefem Seufzen: »Es ist so!... Wer will gegen Gottes Willen ankämpfen?«

Nun hob sie mich empor und legte mir den Arm um die Schulter und wendete sich mit mir der Stadt zu. Ich riß mich los und stieß sie unsanft zurück und eilte der Pforte von Sankt Johannis Siechkobel zu; doch sie ereilte mich noch und hielt mich auf und rief:

»Komm, Sohn; ich leide es nicht, und er will es auch nicht leiden! Laß ab; er hat es geschworen: es soll niemand aus der Welt der Lebendigen ihm nahe kommen. Mein Herz blutet wie das deine, mein Sohn; doch er hat recht, wir müssen nach seinem Willen tun.«

Ich rief: »Michel! Michel!«

Es antwortete nur der scharfe, zischende Wind in den dürren Gräsern. Die alte, greise Frau mußte mich, den starken Mann, stützen und leiten wie ein Kind auf dem Wege zur Stadt zurück. Meine Füße waren wie Eisen, doch meine Kniee gleich gebrochenem Rohr, und das Chaos war vor meinen Augen.

Wehe, was war aus der Erde geworden? Dort ragten die hundert Zinnen und Zacken, Giebel und Türme der großen, teuern Stadt Nürnberg und darüber zur Linken die Burg, welche der tapfere Ritter Michel auch mit erobern half für das geliebte Gemeinwesen. Nie hatte mein Auge anders als mit Freude und Hoffnung darauf geruht, auf welchem Wege ich der Heimat nahen mochte. Das war jetzt alles nichts mehr; wenn die Flamme mit tausend roten Zungen plötziglich über die Dächer geleckt, die Türme umzingelt und wie beim Weltuntergang in einem Hui das Ganze verschlungen hätte, so würde der Anblick mich nicht mehr vernichtet haben.

Mir grauete vor Nürnberg, wie es war, wie es dalag dunkel unter dem dunkeln Abendhimmel. Um die Burg hatte die Flamme ja schon geleckt; die Burg lag ja bereits dorten, geschwärzt von der Brandfackel, mit geborstenen Dächern, gebrochenen Türmen, niedergeworfenen Mauern! Was kümmerte es mich, daß die Stadt noch aufrecht stand?

Es war alles ein Spott und Hohn. Kein grünes Blatt, keine Blume, kein Lichtstrahl war übriggeblieben für den Trost der Menschheit. Es war zum Lachen, daß wir ausgezogen waren, um eine Krone zu erretten für ein Reich, so nicht mehr vorhanden war. Der griechische Mann von Chios, der kluge Meister Theodoros Antoniades, hatte das Richtige getroffen. Er war aus seiner Heimat geflohen, ehe die letzten Säulen und Pfeiler niederbrachen; und ich fand in dieser schlimmen Stunde nur ein Behagen, und das war in dem Gedanken, wie er zu tun und wie er fürderhin ohne Heimat, Eigentum, Wunsch und Hoffnung durch die Fremde zu pilgern.

Ich war also erniedriget, daß ich in diesem Augenblick an Mechthild Grossin gar nicht einmal dachte; aber das sollte auch kommen. –

Wir gingen langsam, und die Mater Leprosorum hat immer auf mich eingesprochen, doch ich habe wenig vernommen in dem Taumel; aber das wenige war jedwedes Mal gleich dem Blitz in der Gewitternacht. Der Sondersiechen Mutter hat mir erzählet, wie der Arme sie plötzlich und leise angeredet habe vor dem Siechkobel von Sankt Johann.

In Ofen im Ungarlande ist der Aussatz auf das deutsche Volk, so seine Krone begleitet hat, gefallen. Viele aus dem Zuge sind dorten gestorben, viele dorten geblieben. Manche aus dem Zuge sind auf dem Wege gestorben; nur Michel Groland hat, auf sein ritterlich Schwert gestützt, die Heimat wieder erreicht.

»Niemand kennet ihn bei Sankt Johann«, sagte die Base. »Seine leibliche Mutter würde ihn nicht mehr kennen. Ich habe ihn nicht erkannt, du würdest ihn auch nicht kennen. Gottes Hand greifet gräßlich; der Freund ist untergegangen, er ist lebendig begraben im Elend – heut ist die eitle irdische Lust für ihn verloren; sage du nun, mein Sohn, was wir tun sollen! Sein Wille ist, verschollen zu bleiben; – willst du dich seinem Willen fügen? Willst du die Last des Stillschweigens auf dich nehmen der Jungfrau am Paniersberge gegenüber?«

Mechthilde! Mechthilde! Da war das Wort, das mich noch um so vieles tiefer in den Abgrund stürzte und doch – doch allein mich wieder in die Höhe hinaufreißen konnte! Um diesen Namen habe ich zuerst wieder angefangen mich zu besinnen.

Ich fragte der Stollhoferin entgegen: »Ihr habet ihn nicht erkannt, Base Cäcilia, aber Ihr habet ihn gesehen. Ihr seid der Sondersiechen Mutter, bei Euch stehet die Antwort. Ist eine Hoffnung, daß er genese? Ist eine Hoffnung, daß wir ihn wiederhaben werden, wenn wir warten – ein Jahr – zwei Jahre – zehn Jahre?«

Die Stollhoferin senkte das Haupt tief er und bedachte sich lange. Wir standen auf der Brücke am Neuen Tor, und die Wächter hatten schon die Köpfe entblößt vor der Mater Leprosorum. Die Stollhoferin neigete sich zu mir und sprach: »Der Wille Gottes geschiehet, und er ist voll Güte, wie er der Schrecken voll ist: ich rede nicht zu der Grossin von der Heimkehr des Verlobten.«

Da gedachte ich an die Nacht, die schlaflose Nacht, so dem heutigen Schreckenstage jetzo folgte, und ich wog meine Kräfte, das Geschick des Freundes und der Freundin in Verschwiegenheit durch die Jahre zu tragen.

»Er träget es!« sprach die Stollhoferin, als ob sie meines Herzens innerste Gedanken wie von einer Tafel abläse. »Er träget es. Er ist ein rechter Ritter, hat geworben um die Krone und wird die Krone erlangen!«

Ja, ich habe es auch getragen. – –

Die Sommerlüfte sind noch immer voll der Klagen, die von Sankt Sebalds Kirchhofe herüberschwirren. Wie aber würden diese selben Lüfte erzittern, wenn der wilde, feurige Franziskaner dorten so eindringlich redete wie der Tropfen schwarzer Dinte, so mir hier aus der Feder auf das weiße Blatt fließt! Auf diesem Gange aus meinem Stüblein bis zum Spital von Sankt Johann und zurück hatte sich mein Leben geändert; es war nichts überblieben von dem Menschen, der vor zwei Stunden ausgegangen. Jedwedes Ding sah mich fremde an, und als ich in der Nacht auf meinem Bette ausgestreckt lag, da war die Finsternis gleich einem steinernen Grabesdeckel über einem Grabgewölbe. Ich lag die Nacht durch wach, aber ich konnte mich nicht regen. Im Siechkobel von Sankt Johann lag der Freund und Bruder ja auch wach unter dem verlorenen Volke und wartete, wie ich, im Elend auf den neuen Morgen!

Und die Dämmerung kam, es ward Tag, und ich begriff nicht, daß die Menschen ihr Tagewerk wieder aufnahmen. Es war mir ein Wunder, daß die Leute in der Paniersgasse nicht stehenblieben und auf mein Haus schmerzensvoll mit den Fingern deuteten. Ich meinte, mein ärgster Feind hätte das tun müssen.

Daß die Menschen ihre harte Arbeit um das Leben wieder anfingen, das begriff ich erst, als ich des Freundes arme Braut aus der engen Tür ihres Hauses in den Garten treten und sie ruhiglich unter den herbstlichen Bäumen, im gefallenen Laub durch die braunen Büsche wandeln sah. Es kam der griechische Meister Theodoros, der sah zuerst, daß ich krank war, und forschete voll Sorgen und Bekümmernis. Kopfschüttelnd nahm er Urlaub. Nun kam ein Bote von den beiden Herren Konrad und Peter den Mendeln mit einem Schreiben; das verlangte von mir einen rechtlichen Beistand und einen Rat wegen der Stiftung der Herren für die Seelnonnen, und das war gut; denn damit faßte auch mich der ewige Wirbel des Tages wieder und ließ mich nicht frei, wie sich der grimme Schmerz auch dagegen sträuben mochte. Andere Leute, deren nichtige Nöten und Zwiste ich vor den Gerichten der Stadt zu vergleichen und auszutragen hatte, kamen und gingen, und allen hatte ich Red und Antwort zu stehen bis wiederum zum Abend, bis in die zweite Nacht tief hinein. Das war sehr gut; aber vor den Schrecken der Finsternis rettete es mich nicht.

Am zweiten Tage nach der Begegnung unter dem Steinkreuz an der Pforte von Sankt Johannis bin ich zum erstenmal der Jungfrau im Nachbarhause unter die Augen getreten, und ich nahm es für ein Glück, daß der Meister Theodoros Antoniades schon vor mir dorten gewesen war und ängstlich davon gesprochen hatte, wie mich eine schwere Krankheit bedrohen müsse. Zärtlich hat die Jungfrau Mechthild um mich gesorget, und ich hab mit blutendem Herzen lachen müssen, und mit leichter Rede habe ich ihr entgegnet, daß kein leiblich Gebresten mich drücke, daß keine verborgene Liebesqual und keine schnöde Abweisung mir so schnell die Wangen gebleicht und die Stirn gefurcht habe.

Das war die Zeit der Umkehr! Das waren die Tage, so die Knochen morsch und mürbe und das Blut in den Adern erstarren machten! Ruhelos bin ich bei Tage und bei Nacht im Felde gewandelt und hab im Hin- und Widerlauf zähneknirschend mit dem greulichen Gespenst gestritten. Nimmer ist der Schatten des Verhüllten von meiner Seite gewichen.

»Er tötet sich, wenn du zu ihm eindringst in seiner Verlorenheit. Er hat es geschworen!« sagte die Stollhoferin. »Er ist ein rechter Ritter; er will sein Schicksal allein tragen. Du sollst fröhlich sein, läßt er dir sagen, mein Sohn. Du sollst denken, er sei gefallen in der Schlacht oder gestorben bei den Ungarn. Du sollst im Kreise deiner Genossen freundlich seiner gedenken und dich nicht härmen.«

»Und Mechthilde?« fragte ich dagegen. Und die Base Cäcilia hat mir abgewinket und ist schweigend von dannen gegangen. –

Die Freundschaft und Verwandtschaft hat sich damals mehr um mich bemühet als sonsten in Jahren; doch den härtesten Streit hab ich allerwegen bestehen müssen gegen die liebliche Sorge der Jungfrau. Es kam der November und mit ihm der Winterschnee. Da tanzte und schmauste man viel und hoch in Nürnberg, und sie zogen auch mich hervor aus jeglichem Versteck, und sie zerrten mich mit Gewalt und Drohen auf die Feste, um mir die Grillen zu vertreiben und das schwere Blut wieder gesund und leicht zu machen. Ach, sie ahnten ja nicht, was ich sah in ihren Festsälen und wovon ich nicht reden durfte! Das Schwert Michel Grolands, das Schwert des Freundes und Bruders stand überall in den Boden gestoßen vor mir – stand abwehrend vor jeder Freude und jeglichem Genügen. Wie konnte ich dem schönen, lächelnden Mädchen, das mir so freundlich die Hand zum Tanze bot, die eigene Hand reichen? Das Schwert stand mir überall im Wege, nicht nur im Festsaale, sondern ebenso in der Kirche, in der Gerichtsstube, in meinem eigenen stillen Gemache. Ich kam nicht darüber hinaus – es stand da und wehrte, und die Lust des Lebens fiel von mir ab; – es war keine Rettung vor diesem Schwerte, das einst der liebe Freund so froh und mutig geführet hatte! –

Die Braut des Lebendigtoten ist währenddem durch den November und Dezember des unseligen Jahres in ihrem süßen Vertrauen auf Gottes Güte fürder gewandelt. Auch sie hat nach alter Weise die Tänze und Feste der Jugend nicht verabsäumen dürfen; auch sie, die mit ihrer lieblichen Hoffnung viel lieber in der Stille und Einsamkeit ihres Stübleins geblieben wäre, hat mit den andern hinaus müssen, und so sind wir uns überall begegnet, und ihr schönes Vertrauen und Zutrauen hat die schaurige Last auf meiner Seele schwerer gemacht von Tag zu Tage. Als sie mir dann plötziglich abfiel, da war's mir, als wenn einem Wunden der Armbrustbolzen aus der Seite gezogen wird und in der roten Flut nachstürzenden Blutes das trümmer- und leichenvolle Schlachtfeld ringsum versinkt, alles untergeht, die ganze Welt vor den Augen verschwindet.

Gegen die heilige Weihnacht zu ist an einem Abend die Jungfrau strahlend in aller Fülle ihres Glückes heimgekommen aus Herrn Sigmundi Stromers Hause, allwo Jungfrau Barbara Stromerin den andern Spielgenossinnen eine Fröhlichkeit zubereitet hatte. Atemlos und geheimnisvoll hat mich noch an dem nämlichen Abend eine Magd aus der Grossen Hause zu ihrer jungen Herrin entboten. Mit dem Finger auf dem Munde, zwischen Lachen und Weinen hat Mechthildis dann mir zugeflüstert: eine große, teure Neuigkeit sei in Herrn Stromers Hause unter den Mägdelein von Ohr zu Ohr gegangen. Es sei noch ein Geheimnis, aber doch eine Wahrheit: des Heiligen Römischen Reiches Krone, das Schwert und der Mantel Caroli Magni komme zurück nach Nürnberg; alle höchsten Heiligtümer kämen zurück nach Nürnberg in das alte Recht – es sei kein Zweifel daran; der Kaiser wolle es, und der Rat wisse es, und Barbara Stromerin habe es auch schon gewußt, und wegen des guten Ritters Michel Groland sei das große, hochherrliche Geheimnis unter den jungen Dirnen in des Herrn Bürgermeisters Hause, doch ohne sein Wissen, umgegeben.

»Der Sommer ist zurückgekehrt, mein Freund!« hat die Grossin gerufen. »Gesegnet sei der Kaiser, daß er die Krone uns wiedergibt in treue Hut! Sie haben mich alle geküßt, die Gespielinnen, und wir haben uns mehr gefreuet als die Bürgermeister und die Dreimänner, wir Mägdlein; – nun freue du dich auch, mein treuer Freund, und schüttele ab den Gram, der dich drückt und von dem ich dich mit meinem Herzblut erlösen möchte. O du, weshalb willst du nicht mit deinem Bruder und mir glücklich sein, da nun die alte Zeit wiederkehrt und ein neues, doppeltes Glück?!« –


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