Wilhelm Raabe
Des Reiches Krone
Wilhelm Raabe

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Wilhelm Raabe

Des Reiches Krone

Am dreiundfünfzigsten Tage der Belagerung – anderthalb Jahrtausende nach dem Untergange der römischen Republik, neunhundertsiebenundsiebenzig Jahre, nachdem der König der Heruler den Knaben Romulus Augustulus auf das Landgut des Lucull in Kampanien gesendet hatte, – war Konstantinopel gefallen. Zwei Kaisertümer und zwölf Königreiche gab Gott in die Hand des zweiten Mohammed, Morads Sohn. Was die Christenheit in dumpfem Stumpfsinn, sich selber zerfleischend in Religionskriegen und Fehden der Fürsten und Völker, nicht abwehren wollte, das war nun vollendet. Der große Schrecken war da. –

Am Tage des heiligen Laurentius in diesem Jahre 1453 sitzt in einem engen Gemach in einem Hause am Paniersberge in Nürnberg ein greiser Mann, der schreibt, was wir nachher lesen. Das tiefe Fenster ist dem Hausgärtlein und darüber hin der Stadtmauer zugewendet. Das Stüblein ist kahl und ohne jeglichen Schmuck, doch über dem Garten liegt die Sonne, und der Tag ist freundlich und der Himmel blau.

Es ist still und doch nicht still. Freilich ist das Gemach des Schreibers der Stadt und den Gassen abgewendet; aber ein seltsam Tönen und Summen schwirrt durch die Lüfte, und die alten tapfern, hohen Schutzmauern und Türme werfen den Schall gar eigen zurück; – es ist auch das Gemach des Schreibers mit dem Summen und Klingen, dem wunderlichen Rauschen gefüllt. Wer nicht seiner Gedanken und seiner Feder sicher und mächtig wäre, der möchte heute in Nürnberg wohl schwerlich ein künstlich Werk mit Griffel, Dinte Papier und Pergament vollenden.

Der graue Mann stützt wohl auch dann und wann die Stirn mit der Hand und horcht dem Getön; aber wahrlich, es hat nicht die Macht, ihn zu wirren; sein Auge sucht nur zeitweilig ein wenig nachdenklicher den lichten Himmel, aber er legt die Feder nicht nieder; er weiß mit Schreiberskunst Bescheid und hat wohl etwas zu sagen, was auch seine Macht behalten mag ob allem Schall und Farbenspiel der Erden.

 

Tolle! lege! Nimm und lies! Siehe, so schreibt der heilige Augustinus: »Siehe, da hörte ich von einem nahegelegenen Hause her eine singende, immer sich wiederholende Stimme, als wenn sie von einem Knaben oder Mädchen käme: ›Tolle, lege! Nimm und lies!‹, und die Farbe entwich mir, und ich sann, ob etwa in einem Kinderspiel diese Worte vorkämen, und konnte mich nicht erinnern, sie jemals gehört zu haben. Und die Tränen stockten mir plötzlich, ich stand auf und deutete es als eine göttliche Stimme!« – – Siehe, das ist es! Durch die große Vergünstigung, durch die Gnade Gottes habe auch ich die singende Stimme, halb wie die eines Kindes und halb wie die eines der Boten des Höchsten, vernommen und das Wort gefunden, das mir der Welt Wirrwarr deutete und mir den Frieden gab. Wie Divus Aurelius Augustinus habe ich von mir getan der circensischen Spiele Lust, des Kaisers Waffenglanz und Ehre und alle Pracht von Rom.

Ich habe gehört und gesehen – Dinge, wunderbar zu erzählen und zu beschreiben. Da ich noch jung war, hab auch ich ein helles Licht im Trübsal gesehen; – da ich noch jung war, hat sich auch mein Leben wenden müssen.

Was will Benedikta auf Sankt Sebald mit ihrem feierlichen Ruf? Was wollen die andern Glocken auf allen Türmen meiner Vaterstadt? Ich höre sie durcheinander nah und fern; ich höre meine Brüder und Schwestern sich drängen in den Gassen und über die Märkte mit Psalmen und Wehklagen – wie ein fernes großes Wasser im Aufruhr höre ich das Volk.

Nach Sankt Sebaldus Kirchhof strömt's auf den ehernen Ruf: Vox ego sum vitae, voco vos, orate, venite! Bruder Johannes Kapistranus stehet auf dem steinernen Predigtstuhl an der Mauer der Kirchen, zu predigen von der Heiden Sieg, des oströmischen Kaisers Fall, von des Antichrists Nahen und dem Untergange der Welt. Sein Ruf zur Buße ist über alle Glocken erklungen; in allen Städten, durch welche er gezogen ist, hat man Feuer angezündet und des Tages Tand und Eitelkeiten – Würfel und Brettspiel, Schellen und Schlitten, Wulsthauben und spitzige Schuhe – mit Geschrei und Weinen hineingeschleudert: so wird man heute auch in Nürnberg tun, hundertfache Üppigkeit von sich abstreifen und – in Hoffart und Lust der Welt sich morgen wiederfinden, wie man gestern war und heute ist.

Wahrlich, der eifrige franziskanische Mönch redet gut; alle Christenheit, zu der er gesprochen hat, hat das erfahren. Er redet nicht um Lob und Dank der Toren und Schwachen, er greift den Stärksten an das Herz, er schonet nicht. Die Männer im Harnisch packt er, und die eisernen Platten auf ihrer Brust werden wie das linde Gewand über den Brüsten der Weiber. Er fasset zu, und die, so gekrönte Helme tragen, müssen nieder auf die Kniee wie die Frauen, so von den Wiegen ihrer Kinder hergekommen sind, wie die Jungfrauen, so vom Kranzwinden und Sträußleinpflücken, von der Spindel oder dem Webstuhl kamen. Der Bruder Johannes redet gut, er übertönet die Glocken; aber mit welcher Zunge müßte er reden, wenn er die sanfte Stimme übertönen wollte, die vordem zu mir gesprochen hat?!

Ich habe nicht mehr Brettspiel und Würfelspiel, Schnabelschuhe und Geckengewand in die Flammen zu werfen; es ist nicht not, daß ich mich mit den andern auf Sankt Sebaldi Kirchhofe dränge; aber gewaltig ist der feuerige Mönch Johannes Kapistranus! Die große Unruhe, welche er über der Stadt Gemüter brachte, hat auch mich ergriffen; ich habe mich ihrer nicht erwehren mögen, und so sitze ich an diesem Tage Sancti Laurentii im Jahre, da Byzantium gefallen ist, und schreibe nieder, was ich erlebte in meiner Jugend, da auch des deutschen Volkes Krone beinahe verlorenging und da ich mit den andern stritt für die Krone. Während die Stadt sich bewegt und rauscht wie ferne Meeresflut, schreibe ich auf, was die sanfte Stimme sagte, die so frühe mich auf dem Wege durchs Erdenleben umrief und die auch aus wildester Zeit und verworrenstem Schrecknis mir zu Ohr und Herzen drang. –

Ich bin aus altem, ratsfähigem, nürnbergischem Geschlechte, habe die Rechte nicht ohne Fleiß und Verstand studieret zu Prag, bis ich bei begonnenen hussitischen Wirren auszog mit den andern gen Leipzig. Ich habe das Schwert geführt für die Stadt und das Reich, habe der Stadt Gleven befehligt in harten Schlachten und bin der Stadt Gesandter gewesen bei der Republik Venedig und bei der Königin von Neapolis, der zweiten Johanna. Marsilius Ficinus hat mich seinen Freund genannt, und Kosmus, der Mediceer, hat mich zu Florenz in seine Platonische Akademie aufgenommen. Ich bin der Herr meines Leibes und meines Hauses, ich bin ein reicher Mann und bin des Lebens müde.

Des Lebens müde?.... Nein; aber ich bin seit langen, langen Jahren des Lebens erfahren, und Bruder Johannes heute bei Sankt Sebald hat mir nichts zu sagen.

Ich bin wahrlich nicht des Lebens müde; aber wie der heilige Bischof von Hippo, Aurelius Augustinus, weiß ich, daß die Spiele der Erwachsenen Geschäfte genannt werden, und wie ich frühe die Spiele der Jugend von mir getan habe, so habe ich nun auch des Alters Spielen entsagt. Ich bin zur Ruhe gekommen durch die Gnade Gottes.

Zur Ruhe! Noch freue ich mich dieser meiner großen und trefflichen Vaterstadt, ihrer Kunst und Klugheit, ihrer Gunst und ihres Ruhmes bei den Nationen. Ich freue mich in der Erinnerung der Schönheit der Erden, wie ich das Glänzen des Tyrrhenischen Meeres im Sonnenlicht heut im Gedächtnis mir wecken kann. Ich freue mich der edlen Männer und Frauen, die mir begegnet sind unter Germaniens Himmel wie unter dem Himmel Italias. Wahrlich, ich sah vieles in der Welt, wahrlich, ich habe gelebt, und ich lebe; nur ist es heute nicht der Erden Gepränge, von welchem ich unter dem Glockengeläut des Bußpredigers bei Sankt Sebald schreibe.

Mit herzlicher Neigung habe ich immerdar an meiner Vaterstadt gehangen und sie keiner andern Stadt, sei sie noch so schön in Lorbeerwäldern gelegen gewesen, nachgesetzet. Mögen andere sich ihres Arno, ihrer blauen adriatischen Flut rühmen: ich preise die Stadt meines Vaters und meiner Mutter; – es ist immer still in mir geworden, wenn ich ihrer auf dem Wege gedacht habe. Ich preise hier an dieser Stelle und in dieser Stunde die Stadt, welche Mechthilden, die Grossin, geboren werden sah!

Als ich noch jung war, ist ein volkreich Leben in meines Vaters Hause gewesen; doch das ist nach und nach verstummet – eine Stimme nach der andern. Die alten Leute sind tot und die Brüder und Schwestern auch; ich bin allein übriggeblieben, und mein Tritt in dem alten Hause ist der einzige von vielen aus einer großen Freundschaft und Verwandtschaft, der den Widerhall erweckt auf den Stiegen und in den Gängen und Gemächern. Darum bin ich auch zurückgewichen aus den Gemächern, welche einst von so holdem Lärm erfüllt waren und welche in die bunte Gasse hinabsehen. Ich sitze wiederum in dem Stüblein, das mein gewesen ist, da ich ein Knabe und nachher, da ich ein Prager Student war. Ein enger Raum genügt mir, die ungeschmückte Wand ist mir lieber als die gezierte; ich liebe mein Gärtlein mehr als der Straßen Tumult, und die Baumwipfel, so bis zu meinem Gesims aufreichen, ergötzen mich mehr als aller Pomp der Aufzüge der Geschlechter und gemeinen Bürgerschaft, des Rates und der Geistlichkeit dieses erlauchten nürnbergischen Gemeinwesens.

Ich habe die stolzen Gemächer des Vorderhauses mit ihrem Geschmuck, Zierat, Schnitzwerk und aufgehängten Waffenwerk den Spinnen und Mägden überlassen: es ist die Jugendzeit, welche mich im hohen Alter in mein winzig Schülergemach zurückgezogen hat, es ist mein Garten und der, in welchem Mechthilde Grossin als ein klein Mägdlein spielte und als eine Jungfrau lustwandelte, die mich zu sich hinübergezogen haben.

Aber ich hauste damals auch nicht allein in dem kleinen Gemach. Im Jahre 1390 hatte Ritter Hans Groland mit seinem Bruder Ulrich seinen Burgstall Laufenholz der Stadt Nürnberg zu einem offenen Hause verschrieben, und verbunden hatten sich beide Brüder, daß weder sie noch einer ihrer Nachkommen das Haus an einen andern als einen Nürnberger Bürger oder eine Nürnberger Bürgerin verkaufen sollten. Als man aber im Jahr zweiundneunzig die große Schlagglocke auf Sankt Sebald einweihte, da sind schon beide Brüder gestorben gewesen, und des Ritters Hans Sohn, Michel Groland, ist meines Herrn Vaters Mündel geworden und zu uns ins Haus gebracht, da niemand sich seiner annehmen wollte. Mein Herr Vater aber hatte wenig mehr zu bemündeln als den wilden Junker selbst; denn das Geschlecht hatte von alten Zeiten her schlimm gewirtschaftet, und es war für den letzten daraus wenig übriggeblieben von Lehen und Allod, wie denn die Grossen schon seit Kaiser Ludwigs des Bayern Zeiten Burgglessen, so denen von Laufenholz eignete, innehatten.

Der wilde Junker Michel ist mein Freund gewesen, und Mechthilde Grossin die Braut des Junkers. Auch ihre Stimmen sind verstummt, ihre Fußtritte verhallet: Tolle! lege! – tolle! lege! –

Seit Konrad Hainzen, den man Conradum Leprosum und nachher Conradum Magnum, d. i. Grosse, nannte, ist kein stattlicher Geschlecht in Nürnberg aufgekommen und an dem starken Baum mit hundert Ästen keine schönere Blüte als Mechthild Grosse, deren Vater am Paniersberge der Nachbar meines Vaters gewesen ist. Mir ist es ein Wunder, wenn es auch sonst kein Wunder ist, daß ich heute welk und grau über der schönen Dirne sommerlichen Garten in ihr Fensterlein sehe, während auch sie nun schon seit Jahren hinweggegangen ist aus dem Leben, wie sie in aller Jugendschöne aus ihrem Stüblein hinwegging.

Ja, sie ist hinweggegangen, und niemand hat sie aufhalten können – nicht Vater, nicht Mutter, nicht der großen Stadt und des großen, ehrbaren Geschlechtes Macht, Kraft und Ansehen!

Der Liebe hat sie gehorchet, und des Ahnherrn Winke ist sie gefolget, tolle! lege! –

Es war ein jährig Büblein, das man meinem Herrn Vater in das Haus brachte, und ist gewesen wie ein junger Adler, der den Alten aus dem Nest fiel und von einem Zeidler unter dem Arme heimgenommen wurde. Es hat mein Vater wohl erfahren müssen, was es sagen will, Adlerbrut aufzuatzen; – ich aber, der nur wenig älter war als der Junker Michel, habe wohl meine Freude an dem guten Spielgesellen gehabt, bis aus den Buben Junggesellen und aus den Spielgenossen Freunde für das Leben und den Tod geworden waren.

Ja, bei des lustigen, wilden Königs Wenzel Zeiten waren wir Knaben; und wie es auch im Reiche ging und welche Fehden auf eigene Faust die Stadt zu führen hatte mit Heinrich von Buchteck, Georg von Wichsenstein, mit Sybold Schelm von Bergen und manchem Dutzend anderer Placker, selbst meines Herrn Vaters sorgenvoll Losunger-Gesicht, das doch gemeiner Stadt Schatzkammer, Siegel und Urkunden in so wüsten Tagen zu bewachen hatte, konnte oft nicht beharren in den grimmen Falten ob der Jugendlust in dem Hause am Paniersberge. Und der Tag bei Rense, der auf deutschem Boden der Herrlichkeit des Königs Wenzel ein wunderlich Ende machte, hat wahrlich unserer Bubenherrlichkeit kein Ende machen können.

Anno Christi 1400 ist Mechthild Grossin in unserm Nachbarhause in diese Welt des Leidens hineingeboren worden; – unter dem römischen König Ruprecht sind der Junker Groland von Laufenholz und ich in das Jünglingsalter hinübergekommen. –

Siehe diese Sonne! Sie liegt wie Gold auf der grauen Mauer der Stadt und der Zinne des Mauerturmes, meinem Fenster gegenüber; in mein nördlich Gemach kann sie freilich nicht dringen; aber ich sehe sie, wie ich sie sah in den Tagen meiner Jugend. Was predigt der Mönch bei Sankt Sebald vom Weltuntergang? Die Welt geht nicht unter, weil Konstantinopolis in der Helden Hand gefallen ist, weil der Deutschen Reich in seinen Grundvesten wankt, weil die arme Menschheit in Sünden wandelt, wie sie in Schmerzen und unsäglichem Elend wandeln muß! Ein freundlich Wehen bewegt die Bäume meiner Jugend; sie neigen sich einander zu über die Gatter, so der Nachbarn Gärten scheiden. Die unsteten Schatten von Zweig und Blatt tanzen auf dem Boden, es hüpfen und flattern die fröhlichen Vögel in den hohen Kronen; die Sommerblumen meiner Jugend blühen in meinem Garten und in der Nachbarn Gärten: die Welt wehrt sich heute noch wie in den alten Tagen durch Schönheit und Lieblichkeit gegen des zornigen Mönches Wort. Tolle! lege! Nimm und lies und verstehe recht und hüte dich wohl, einen falschen Sinn in das Wort zu legen, das vor dir aufgeschlagen wurde und dein Leben und das Leben deiner Zeitgenossen bedeutet!

Als wir, der Michel und ich, Junggesellen geworden waren und unser mutwillig Teil nahmen an Fackeltänzen und Schönbartlaufen, da schlupfte des Nachbar Grossen klein Mädchen durch die grüne Hecke und kam scheu und doch auch mutwillig in die Laube, wo wir damals zuerst saßen mit dem Meister Theodoros Antoniades, dem vertriebenen Mann von der Insel Chios, den sein böses Gestirn zu meinem hohen Segen nach Nürnberg geleitet hatte. Er hatte vor dem türkischen Feinde nichts gerettet als etliche Rollen und selbstgeschriebene Bücher und seine Sprache, davon es ausging wie eine Offenbarung und gleich einem siebenfarbigen Lichtstrahl in meine Seele fiel. Ich half dem Heimatlosen zu leben, und er lehrete mich seine griechische Zunge und wollte sie auch den Freund lehren, und es wäre auch vielleicht angegangen, wenn das Kind nicht sein lockig Häuptlein in die grüne Laube gesteckt hätte. Der Meister Theodoros malte uns eben mit einem Stück Kreide das erste Gamma auf den Tisch, da kam das Kind, und das Griechische war verloren für den wilden Junker Michel Groland von Laufenholz. Er fing das Kind mit Lachen und hob es kosend in die Luft und störte uns mächtig. Ich schalt ihn ernstlich, doch er lachte nur mehr und hat es um das Dirnlein nicht über das Alphabet hinausgebracht: da aber schon bildete sich sein Schicksal heraus und das meinige.

Das Dirnlein ist zu jeder Lektion gekommen, so wir in dem Garten hielten, und wenn der Michel uns fernerhin auch nicht viel störete, so hielt er doch die kleine Freundin auf dem Knie, und die Mechthild hat wohl mehr von dem Meister Theodoros Antoniades gelernt als der Michel; denn sie hörte aufmerksam und still genug zu und sah mit großen, ernsten Augen auf das kummervolle Gesicht des weisen, verbannten Lehrers. Nach der Lektion war auch sie freilich wild genug, und der Michel Groland und sie haben Jagden gehalten durch den Garten um Busch und Baum, daß alle Nachbarn die Köpfe aus den Fenstern schoben und die Grundherrschen Frauen und Jungfrauen aus dem Hause Zum Güldenen Schilde mit fröhlicher Verwunderung sich an ihr Gartengitter lehneten und dem Spiele zwischen dem jungen Kind und dem erwachsenen Kind lächelnd zusahen. Selbst die uralte Mutter, die Altmutter des Hauses Zum Schilde, die ein jung Eheweib war, als Kaiser und Reich in ihrem Hause über die Güldene Bulle zu Rate saßen, die vor dem Altar des Hauses neben den Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches gekniet hatte, selbst die kam, auf ihren Stab und ihrer Enkelin Arm gestützt, an den Zaun und hatte ihre Lust an der Jugend Lust.

Tolle! lege! Diese Altmutter, die Anna Grundherrin, die vor Kaiser und Reich so großer Ehren gewürdigt wurde, hat nachher noch eine größere Ehre auf sich genommen in Barmherzigkeit und Demut. Sie ist der ersten Mater Leprosorum, der ersten Mutter der Sondersiechen, der Ußlingerin, Helferin gewesen; und da ich nicht Kaiser- noch Reichshistorie schreibe, sondern von mir und den Meinigen, so brauche ich von der Güldenen Bulle nicht weiter zu reden, wohl aber von den Sondersiechen, und wahrlich habe ich ein traurig Recht dazu, wie man wohl erkennen wird, wann ich heute abend diese Feder niedergelegt haben werde.

Im Jahre unseres Heilands 1394 hat sich das christliche Herz zuerst auf die Sondersiechen gewendet. Damals war ein gar frommer Prediger in der Stadt, der Meister Niklas im Spital Zum Heiligen Geist. Dem gelang es zuerst, die Gemüter des Volkes von Nürnberg zu erwecken mit Gottes Beistand. Er fing an zu predigen in seiner Kirche für die Leprosen und schrie laut um Handreichung für das große, unsägliche Elend und schrie vor allen zu den milden Frauen, rührete ihnen das Herz, und sie antworteten seinem Rufe.

Da kamen zuerst drei andächtige Weiber, die Ußlingerin, dann die große Anna Grundherrin aus dem Güldenen Schilde und die Anna Weidingin, die huben an, die Sondersiechen zu speisen: im Anfang drei Tage in der Marterwochen, am Mittwoch, Grünen Donnerstag und am Karfreitag. Und andere folgten und immer andere, und ward ein leuchtend Werk im Jammer. Da kamen sie, mehr denn zweitausend Verlorene, auf Sankt Sebaldi Kirchhof, wo der feurige Bruder Johannes Kapistranus auf dem Predigtstuhl stehet, und saßen nieder nach der Ordnung zu Tisch, und ward eine Stiftung im ersten Eifer für alle Zeiten, der Sondersiechen Stiftung, und ward nach Recht und Billigkeit den Weibern die Führung gegeben. Deren Älteste aber ist der Sondersiechen Mutter genannt worden.

Das war alles im Eifer! Und wenn in der Frauen Busen die milde Flamme blieb, bei dem Rat nahm sie balde an Licht und Wärme ab und erlosch schon im Jahre 1401. Da kam ob des gewaltigen Zudrängens eine Verordnung, daß die Leprosen nicht mehr in die Stadt gelassen werden sollten, auf daß die Gesunden vor ihnen verschonet blieben, und der Herr mußte selbst zufahren aus der Höhe, daß das gute Werk und Wort Domini Magistri Nicolai am Heiligen Geist nicht zu größerem Elend denn vorher verkehret würde.

Ja er fuhr baldig und scharf zu, schickte Siechtum über die Stadt ohne der Sondersiechen Verkehr, schickte Sterbensläufe, wie sie bei Menschengedenken nicht vorgekommen waren. Wie Tolle rannten die Kranken durch die Gassen; denn die Geißel nahm ihnen Sinn und Verstand, und war kein Unterschied zwischen Armut und Reichtum, zwischen Adel und Gemeinen, zwischen Ratsfähigen und Unratsfähigen.

Der Herr fuhr scharf zu aus der Höhe, und von neuem wurde in den Kirchen gepredigt für die Leprosen, und ein jeglicher Kanzelherr hielt dem bußfertigen Volke vor, das sei die Strafe von Gott für die Grausamkeit, so man an denen geübet habe, die sich nicht selber helfen können. Ist also sowohl der große wie der kleine Rat in sich gegangen, und ist von neuem beschlossen und öffentlich verkündiget worden, daß die Sondersiechen aus ihren Siechkobeln vor den Mauern wiederum zu ihrem Almosen in die Stadt zugelassen werden sollten. An der Stelle der Ußlingerin aber ist die gute Frau Anna, die Grundherrin, der Leprosen Mutter geworden. –

Die Grundherrin hat nicht lange mehr dem Spiel des jungen Kindes der Grossen mit dem Junker Groland zugeschaut. Sie ist seliglich abgeschieden und hat ein hochherrlich Begräbnis empfangen. Das Kinderspiel ist dann auch einem Ende zugeeilet; denn als die Zeit herangekommen war, sind wir beide nach Prag auf die Universität gezogen, der Herr Michel von Laufenholz und ich, und haben daselbst verharret, ein jeder auf seine Weise, bis in das Jahr 1409.

Nun weiß ein jeglicher, was in dem Jahre vorgefallen ist, wie der Streit zwischen den Realisten und den Nominalisten zum Austrag kam, wie der König Wenzel der deutschen Zunge zwei von den drei Stimmen nahm, die sie bei allen akademischen Wahlen nach des Kaisers Karl des Vierten Stiflungsbrief zu geben hatte, und wie wir auszogen, bei fünftausend ausländische Professoren und Studenten, und den Flor der berühmten Schule brachen. Was aber dem einen ein tiefer Ernst gewesen ist, das war dem andern nur ein gar lustiger Spaß, und zu denen, so die Sache am fröhlichsten nahmen, gehörte mein guter Stubengesell, der Michel, und wäre wohl viel Papier zu beschreiben, wenn man alle die Torheiten und Tollheiten verkündigen wollte, so er verübte auf dem großen Zuge von Prag gen Leipzig. Damit der neuen Universität nichts fehlte, wessen sich die alte gerühmet haben mochte, so mußte auch der Junker Michael Groland von Laufenholz mit uns in Leipzig einziehen, und hat ihn der Markgraf Friedrich der Ernsthafte wohl oder übel mit den andern willkommen heißen müssen.

Aber auch in Leipzig ist der Michel mein treuer und guter Freund geblieben und hat um mich und mit mir in dem gelehrten Wesen ausgehalten bis in das folgende Jahr 1410. Dann sind wir beide nach Hause zurückgekommen, haben alle die Unsrigen noch am Leben getroffen, den griechischen Meister Theodoros Antoniades nicht ausgenommen. Die Mechthild Grossin trafen wir als ein zehnjährig Mägdlein, also der Wärterin noch nicht lange entwachsen; aber wahrlich – pulcherrima puella infans!


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