Wilhelm Raabe
Im Siegeskranze
Wilhelm Raabe

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Das war ein harter Winter, liebes Kind, und unsere Heere befanden sich nun in Frankreich, und dort wurden immer noch die blutigsten Schlachten geliefert; denn der Napoleon wollte sich noch lange nicht geben, obgleich man schon in Deutschland seiner Niederlegung wegen, wie ich dir eben erzählt habe, zum Tanze ging. Sonst aber ist es doch ganz still bei uns gewesen im Gegensatz zu der jüngstvergangenen Zeit. Das einzige kriegerische Leben brachten die Hörner und Trommeln der Haufen, welche den andern gen Westen nachzogen; aber das war doch ein ganz anderer Klang als in jenen Tagen, da der Feind noch in unsern Häusern und auf unsern Wegen lag. So sind der Januar und Februar des Jahres vierzehn vorübergegangen, und oft genug kam's noch von Sonnenuntergang herüber wie ein heißes Wehen mit dumpfen Gerüchten, mit Ahnungen und Grauen und bösen Ängsten. Ganz glatt ist es in dem fernen Franzosenland nicht abgelaufen, und es hat noch viel Blut gekostet bis zum April und dem großen Jauchzen der Völker über die eroberte Hauptstadt des Feindes. Im April jedoch haben sich alle Leute wie die Kinder auf den Maien freuen dürfen, denn nun war ja alles gut, und Friede war wieder in der Welt; selbst die, welche Brüder oder sonst liebe Verwandte auf den Schlachtfeldern verloren hatten, wollten es sich nicht nehmen lassen, zu Christi Himmelfahrt einen grünen Busch vor die Tür zu Stellen. Es ist ein Aufatmen in der Welt gewesen, wie die Welt es seit langer Zeit nicht mehr gekannt hat; und du, mein Kind, wirst's auch wohl dann und wann noch erfahren, wie leicht der Menschen Sinnen und Fühlen sich bewegt und mit dem Wind wechselt. Du wirst es erfahren im Guten wie im Bösen, und es muß wohl recht verständig in solcher Weise bestellt sein, denn der verständige Mensch siehet solches je klarer ein, je älter er wird.

Jaja, es war auch ein schönes Jahr, und wer irgend vergnügt sein konnte, der nahm nur sein volles Recht, wenn er sich aus vollem Herzen der guten Tage freute und kein eisern Gitter mehr gelten ließ. Es wäre ja auch zu betrübt gewesen, wenn das Volk die Kettenglieder, welche es denn doch immer mit sich hinausschleppt in das junge Grün, in ihrem vollen Gewicht hinter sich gespürt hätte.

Ich habe es häufig bedenken müssen, ob wohl jemals, auch jenseits des Kirchhofes, ein Augenblick kommen könne, in welchem ich diesen Himmelfahrtstag des Jahres vierzehn vergessen haben würde, – es müßte jedenfalls eine entlegene, entlegene Zeit sein! – In frühester, grauer, warmer Stunde bliesen sie schon einen Choral von dem Kirchenturm, ich lag in meinem kleinen Bett, erwachte davon, horchte und hörte, wie die Hausgenossen sich regten, hin und wider liefen, einander fröhlich begrüßten und sich zu ihrer Waldfahrt rüsteten. Man klopfte auch an meine Tür, und der Vater rief mich; aber wie gewöhnlich hatten mich so böse Träume in meinem Schlafe geschreckt, daß ich mich nicht mit den andern ermuntern, nicht mit ihnen freuen, nicht mit ihnen in den Wald hinausgehen konnte. Meine trüben Sinne drückten mir den Kopf wieder in die Kissen hinab, und ich schlief von neuem ein, während alle das Haus verließen. Sie drängten mich nicht, mit ihnen zu gehen, sie ließen mir in allen diesen Dingen meinen eigenen Weg, und das war auch gut.

In diesem zweiten Schlafe vernahm ich nun die Lieder der fröhlichen Menschen draußen, darauf die ersten Kirchenglocken, und als ich endlich zum zweiten Male erwachte, war's heller Tag und ein so blauer, so lichter Tag, wie die arme Erde sich ihn zu ihrer schönen Frühlingsfeier nur wünschen konnte. Da hab ich noch eine ziemliche Weile aufrecht im Bett gesessen und mich auf mein Dasein besonnen, dann bin ich aufgestanden. Es ist nun ganz still, still im Hause und auch im Städtchen gewesen; denn auch die Mägde hatten sich natürlich fortgeschlichen, und wer nicht in den Wald gegangen war, der rüstete sich nunmehr zum Kirchgange; ich aber hatte alles verschlafen, war ganz allein in der Stille, und wie ich mich auch auf mein Dasein besinnen mochte, ich konnte es sozusagen an diesem Morgen in keiner Weise wiederfinden; ich hatte an diesem Morgen mein ganzes Leben vergessen, und das war mein Geschenk vom Himmel für diesen Festtag.

Ich bin jetzt aufgestanden und habe mich langsam, noch immer schläfrig und träumerisch, angekleidet; dann saß ich nieder am Fenster vor der armen Schwester Nähtischchen, hielt die Hände untätig im Schoß gefaltet und sah den Sonnenschein auf dem reinlichen Straßenpflaster liegen; und das Glas mit Malblumen, das neben mir in der Fensterbank stand, ist allein schon ein ganzes Reich der Wunder gewesen.

Nun ist eine Unruhe wieder leise durch meine Glieder gekrochen; ich bin in den Garten gegangen. Im Hause auf dem Hausflur war es dunkel und kühl; in dem Garten schien die Sonne so hell und warm, und grad darum hat es mich gefröstelt; aber das hat nicht lang dauern können. Es blühte alles bis tief unter die Hecken, und die Bienen summten, ein süßer Schwindel griff mir an die Stirn; es war auch ein Bienengesumm in meinen Ohren, wie man es hat nach einer unruhigen, ängstlichen Nacht, wenn man hinausgetreten ist aus der dumpfen Kammer in solche freie, warme Luft, in solchen Duft von Buchsbaum und Holunder.

Der Kirschenbaum ließ seine ersten weißen Blütenblätter fallen; die Apfelbäume und Kastanienbäume standen in weiß und roter Pracht, und ich stand zwischen den Stachelbeerhecken und beugte das Gesicht nieder in das Leuchten und Duften. In diesem Augenblicke, diesem kurzen, kurzen Augenblicke hat mir die Schönheit und Lieblichkeit der Welt alle meine Kindermärchen wiedererzählt; es war ein Zauber, der alle Süßigkeit und alle Wehmut, alle Kraft und alle Müdigkeit in sich schloß. Und immer seltsamer wurde mir zumute; ich vernahm eine singende Stimme, und nun ist es mir gewesen, als sei diese Stimme schon ganz lange Zeit in mein Ohr geklungen und ich habe nur nicht darauf geachtet. Jetzt aber horchte ich, aber ohne daß mich der märchenhafte Zauber verließ. Ich hörte mich mit meinem Namen rufen, ganz weich und klagend und wie aus weitester Ferne, wie wenn einer fern, fern im Walde sich rufen hört. War das der singende Baum oder der sprechende Vogel? War das Schneewittchen oder das verlorene Kind? ... Ich fuhr zusammen und ließ den blühenden Zweig, den ich gefaßt hielt, jach zurückschnellen – die Schwester, die unselige, kranke, gefangene Schwester rief – rief mich – rief meinen Namen, und ich, ich hatte sie vergessen um die bunte, warme Frühlingsmorgenstunde – wie die andern!

Da bin ich zurückgesprungen mit einem wilden Sprung durch ein rot und gelbes Tulpenbeet in die dämmerige Kühle des Hausflurs. Da hielt ich mich am Türpfosten und hörte die Stimme im Hause; – die Schwester, die Schwester rief mich!

Das Herz klopfte mir in fieberhafter Aufregung; so allein wie heute war ich noch nie im Hause gewesen seit jenem Tage, an welchem man meine arme Ludowike in diese schreckliche dunkle Kammer eingeschlossen hatte. Ich war die Herrin heute, und niemand war da, mich in meinem Tun zu belauschen oder gar mich daran zu hindern. Da ist dann wieder eine neue Stimmung über mich gekommen, und die war auch sehr kurios; aber doch kann ich sie jetzt noch ausdeuten.

Es ging mir ganz wild und zornig durch den Kopf, daß ich beide Hände ballte und mit dem Fuße fest auftrat und mit den Zähnen knirschte – alles ihm Hohn und Trotz gegen den Vater, die Stiefbrüder und die ganze übrige Verwandtschaft, welche es am letzten Ende doch so gut mit mir meinten und nur aus großer Not an mir gefehlt hatten.

Was für ein Recht haben sie, dich jetzt auszuschließen von der Schwester? habe ich mich gefragt. Sie haben kein Recht; denn ihr beide ganz allein in der weiten Welt gehört doch nunmehr ganz zueinander; – ihr beide seid einander von dem lieben Gott im größten Elend anvertraut, niemand kann euch scheiden!

Niemand soll dich jetzt hindern, der Schwester die Freiheit wiederzugeben und sie aus ihrer Finsternis herauszulassen in die Sonne, unter die Blumen, in den Garten, in den Frühling! so schallte es in mir, und mein Herz hämmerte; und horch, horch, von neuem hörte ich meinen Namen mit wehmutsvollen, leisen, leisen Klagen und Bitten aus der Höhe. Da bin ich geduckt, an der Wand hin, in die Stube geschlichen und habe mit einem hastigen Griff den Schlüssel zu der Kammer der Gefangenen von dem Nagel neben der Uhr herabgerissen; dann in Sprüngen die Treppe hinauf!

O liebes Kind, die Ludowike hatte ihren Mund an das Schlüsselloch gelegt, als ich mich halb bewußtlos hinüberbeugte und durchlugen wollte; – ich spürte ihren Hauch, und sie bat: »Schließ auf, schließ auf, schließ auf!« – O liebes Kind, da hat eine andere Hand als die meinige den Schlüssel geführt und umgedreht, denn ich weiß nichts davon; aber eine gütige, eine barmherzige, sanfte Hand ist es gewesen – ich segne sie zu jeder Stunde, und alle Freude, alle Wonne, die ich nachher in meinem langen Leben bis zu dem heutigen Tage genossen habe, werden aufgewogen durch das Gedenken an jene hohe Vergünstigung, welche damals in meine kindische, unwissende Macht gelegt worden ist.

Das Schloß hat nachgegeben, die Tür ist aufgesprungen, und auf der Schwelle ihres Jammerortes kniete die Schwester und hat mich nicht mit den Zähnen und Nägeln angegriffen und zerfleischt, wie es mir die verständigen Leute vorgemalt hatten.

Sie ist auf den Knieen liegen geblieben mit weit ausgestreckten Armen. O, wie sah sie aus, wie sah sie aus! Es ist nun nichts, gar nichts mehr von der schönen Ludowike an ihr gewesen, der hohen stolzen Braut, die ihren Bräutigam mit ihrem vollen freien Willen in den Tod für das Vaterland sandte. Nichts ist mehr an ihr gewesen von jener Holdseligkeit, die sie auch dann noch behielt, als wir schon in dem Studierzimmer meines Vaters zusammengesperrt waren.

Ich rief sie nun auch, ich nannte sie mit allen liebkosenden Namen, ich sank nieder zu ihr und umfaßte sie mit meinen Armen. Ich hielt sie und drückte sie; aber sie rührte sich eine lange, lange Weile gar nicht und war wie ein kaltes Bild aus Stein, bis sie plötzlich aus der Erstarrung erwachend in die Höhe sprang und wild die geballte Rechte erhob, daß ich mich im Schreck zurückbeugte und den Kopf mit den Ellenbogen schützte, weil ich glaubte, nun werde sie doch zuschlagen. Sie hat es aber nicht getan, sie hat nur meine beiden Handgelenke gefaßt und mich mit übermächtiger Kraft emporgerissen von den Knieen. Sie hat mich zur Treppe gezogen und schnell ihr nach, die Treppe hinab; ich aber habe mich nicht gewehrt, auch nicht wehren können; ich war wie ein Spielzeug in ihrer Gewalt; aber auch wenn ich stark wie eine Riesin gewesen wäre, ich würde in diesen Augenblicken mein Leben, meine gesunden Glieder ihr doch haben überlassen müssen.

So hat sie mich jetzt zuerst in die Wohnstube gezogen und hier mich freigelassen; da ist sie im Kreise umhergelaufen, immerfort mit den Händen abwehrend oder sie wie im grimmigen Schmerz gegen die Stirn drückend. Auf einmal ist sie vor dem Spiegel stehen geblieben, aber schnell wieder zurückgefahren, als sie sich darin erblickte. Mit dem Finger auf dem Munde schlich sie auf den Zehen zum zweitenmal heran und sah sich zum zweitenmal in dem Glase. Da schüttelte sie hastig mit dem Kopfe und floh aus der offenen Tür, wie gejagt von ihrem eigenen Abbild; ich aber stürzte ihr nach durch den Hausgang in den Garten, so schnell, daß ich meine Schuhe auf der Schwelle verlor. Bin aber doch nicht schnell genug gewesen; denn als ich in das Freie kam, mußte ich mich nach ihr umsehen, nach ihr suchen; denn der Garten war voll hohen Gebüsches aller Art, und sie hatte sich untergeduckt wie ein Kind im Versteckspiel. Ich rief ihren Namen: Ludowike! Ludowike! so schmeichelnd und lockend, wie ich konnte, und da hörte ich sie hinter einem dichten Gesträuch lachen und schluchzen, und hastig brach ich durch das Gezweig zu ihr. Ach, da lag sie in dem hohen Grase, in dem Schein der warmen Sonne, und einen blütenvollen Zweig von einem Zwergapfelbaum hatte sie über sich hingezogen, und ihre großen, dunklen Augen leuchteten durch die Blüten. Als ich vor ihr stand, ließ sie diesen Zweig los, ergriff wieder meine Hände und zog mich herab auf die Kniee, doch nicht mehr heftig und ungestüm, sondern sanft und gemach. Es ging plötzlich wie ein Krampf über ihr armes, gelbes, hageres Gesicht, doch nach dem Krampf kam eine Stille, und da ist es gewesen, als ob für einen kurzen Augenblick ein Schleier von ihr gezogen werde: sie hat mich lange, lange mit ernsten, ernsten Blicken angesehen, und darauf hat sie mit ihrer Hand meine Stirne berührt und mit einer Stimme, die verklungen war seit jener Stunde, in welcher sie den Brief an den Vater ihres erschossenen Bräutigams schrieb, gesprochen:

»Es soll dir gut gehen, dein ganzes Leben lang, liebe Schwester, denn du hast mich nicht verlassen in meiner Not! Lege deine liebe Hand auf mein Herz, was müßte ich dir alles sagen, wenn ich Zeit hätte! Du hast Barmherzigkeit an mir geübt und sollst viel Freude haben. Sei still, liege still, rühre dich nicht, daß das Schrecknis nicht erwache! Wir wollen einschlafen, und du sollst neben mir liegen wie sonst, als du noch ein ganz klein, klein Kind warst, und im Glück wollen wir beide erwachen!«

Nun zieht sie mein Gesicht an ihren Busen und küßt mich, und ich liege weinend neben ihr, und sie hält mich so fest an sich gedrückt, daß mir fast der Atem entgeht: sie hält mich immer fester, und ich darf mich nicht rühren; aber es ist eine große Freude in mir, mein Herz klopft in aller jauchzenden Hoffnung.

Jetzt ist ihre Seele licht, die Dunkelheit ist vergangen, und ich, ich habe sie in die Sonne, in den Frühling, in die Freiheit führen dürfen, ich habe in ihrer Gefangenschaft mit ihr gespielt, und ich habe ihr Gefängnis aufgeschlossen, als sie von allen andern verlassen und vergessen war!

Wieder ist ein Krampf durch ihren Körper gegangen, und noch einmal hat sie mich fester ergriffen und an sich gedrückt; dann aber haben sich ihre Arme gelöst; sie seufzte tief und schwer, ihr Haupt schlug auf den Boden. Ich fuhr empor und starrte ihr in das Gesicht; – da war wieder alles anders, und so mußte es nun bleiben, – der ganze Friede war herabgekommen, – die Schwester Ludowike war tot. Wohl lange hab ich in Ohnmacht über ihr gelegen, und lange wieder hab ich in halber Bewußtlosigkeit von der Landstraße her über die Hecke die Lieder der aus dem Walde Heimkehrenden vernommen.

»Zur Brautnachts-Morgenröte
Ruft festlich die Trompete;
Wenn die Kanonen schrein,
Hol ich das Liebchen ein.«

»Laß mich nicht lange warten!
O schöner Liebesgarten,
Voll Röslein blutigrot
Und aufgeblühtem Tod!«

so sind sie singend in unsern Garten durch die kleine Pforte, die von der Chaussee hineinführte, getreten, und als ich die Augen öffnete, hab ich sie alle um uns stehen sehen mit grünen Zweigen auf den Hüten und grünen Zweigen in den Händen. Sie haben aber nicht mehr gesungen, sie haben aufgeschrieen, und ich habe ihre Gesichter im Kreise gesehen, –-- also hat unser Haus im Jahr achtzehnhundertvierzehn die Himmelfahrt unseres Herrn Jesu Christi gefeiert! –

Mein liebes Kind, wie die sterbende Schwester es mir gewünscht und vorausgesagt hat, ist mir nachher noch viel Gutes in meinem Leben widerfahren. Ich habe mein Teil von allem hingenommen, und daß ich heute hier sitze und dir bei so holdem Glanz des Abends von der Welt vor fünfzig Jahren erzählen kann, ist auch eine nicht kleine Vergünstigung des Himmels. Komm, laß dir die Haare aus der Stirn streichen, – weine nicht, halt dich wacker zu jeder Zeit; denn wer kann sagen, was du dereinst zu erzählen haben wirst, wenn deine Enkel zu deinen Knieen kommen und eine Geschichte aus den Tagen, in welchen auch du noch jung warst, von dir zu hören verlangen? –


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