Wilhelm Raabe
Im Siegeskranze
Wilhelm Raabe

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Im März sind die Russen zum erstenmal in Hamburg eingerückt, und am zweiten April haben die Preußen bei Lüneburg einen Sieg gewonnen; sie ritten schnell, aber doch nicht schnell genug für die angekettete Ungeduld. Das war das Verderben für meine Ludowike.

In dem Kaufmannshause am Markte, in welchem der Älteste der Brüder Kupfermann diente, ist ein versteckt Hinterstübchen gewesen, darin hat der Kommis sein Bett und seinen Tisch gehabt, und darin hat er seine Verschwörung mit dem Leutnant Wilhelm und dem Honold gemacht. Nachher hat man viel darüber gesprochen, und jedermann hat sein kluges oder dummes Wort dazu gegeben, und mit dem Bedauern und der Trauer ist das Besserwissen und Besserkönnen aufgestanden und hat gedeutet und die Achseln gezuckt – das ist leicht und behaglich genug gewesen; wenn es uns heute noch etwas anginge, würde ich auch ein Wörtlein darüber zu sagen wissen. Ich war nicht unter den Leuten, welche in der Stille und Heimlichkeit in der Kammer des älteren Kupfermann zusammensaßen, ich weiß nur von meiner Schwester Ludowike und der Stunde, in welcher sie Abschied von ihrem Bräutigam nahm und ihn herausreiten ließ und hieß in sein Verhängnis.

Der Himmel war rot im Schein der Abendsonne über unserm Garten, und an der Hecke hielten sich die Brautleute umfangen und küßten einander heiß und konnten nicht voneinander lassen. Ich saß im Grase an dem Schneckenhügel, und sie achteten nicht auf mich, noch sonst auf die Welt, bis ich ihnen zurief, der Herr Leutnant Honold komme auch. Der ritt auf der Landstraße her an die Hecke und beugte sich herüber und rief den beiden etwas zu, was sie sehr bewegte. Ich sah, wie meine Ludowike den Arm ihres Bräutigams fester ergriff, und ich sah, wie alle drei sich darauf die Hände reichten wie zu einem Schwur. Nicht genau weiß ich mehr, ob auch der Kaufmann Kupfermann zu ihnen trat, ich glaube es aber; ich weiß nur, daß an diesem Abend und in dieser Nacht eine große Unruhe in der Stadt herrschte und daß der Polizeikommissär an den Häusern hingeschlichen ist und auf die Gespräche und das Flüstern der Leute auf den Bänken vor ihren Haustüren gehorcht hat. Die Husaren, welche bei den Bürgern im Quartier lagen, saßen mit auf den Bänken; denn es sind ja lauter Landsgenossen gewesen, welche ganz zu uns gehörten, und die einen haben die Kinder ihrer Wirte auf den Knieen gehalten und die anderen in ihrer Hand eine andere Hand; der Schulz hatte viel zu erhorchen, denn die Marwitzschen Reiter waren bis über die Vorberge des Harzes herangestreift. Jeden Augenblick erwartete man, die Lärmtrompete zu vernehmen und das Befehlwort zum Satteln und Aufsitzen gegen die, welche in jenen Stunden noch unsere Feinde genannt wurden. Es kam jedoch nichts dergleichen; ob aber auch die fernen, blauen Berge allgemach im Abendnebel versinken mochten, das Fieber und die Ruhelosigkeit in den Herzen wollten nicht stille werden.

Ich schlief mit meiner Ludowike in einer Kammer. Erst hatte meine Wiege neben ihrem Bett gestanden, und jetzt stand mein Bettchen daneben. In dieser Nacht sah die arme Schwester den Mond kommen und gehen, und wenn ich aus meinem Kinderschlaf emporfuhr, so lag sie entweder knieend neben einem Stuhl oder stand am Fenster, jetzt im hellen, weißen Licht, jetzt in der Dämmerung, und hielt die Brust mit der Hand. Wenn ich sie dann leise anrief, so merkte ich, daß ich sie stets aus einer Art von Verzückung erweckte; sie zitterte, schüttelte den Kopf, strich mit der Hand über die Stirn und kam auch wohl zu mir und setzte sich auf den Rand meines Bettes und flüsterte: »Sei still, sei still!« – Einmal hat sie mir auch die Hände zusammengelegt, wie man sie zum Gebet faltet, doch immer sprang sie gleich wieder von neuem auf und lief zum Fenster zurück, um zu lauschen. Ich hörte die Glocke Mitternacht schlagen und eins und zwei; dann bin ich mit dem nahen Morgen in einen festern Schlaf verfallen, und als ich daraus erwachte und jach aufrecht im Bette saß in einem kalten, fröstelnden Luftzug, da ging in diesem kalten Hauch es vorüber wie ein Gespenst und verkündigte das, was kommen sollte.

Die graue Helle blickte in die Kammer, Ludowike hatte die Fensterflügel weit aufgeworfen. Sie mußte laut gerufen haben; denn ich war mir nun deutlich bewußt, daß ein Ruf, ein Schrei mich erweckt habe; – von der Landstraße her, über den dämmerigen, nebeligen Gärten erklang scharf und klar eine Reitertrompete und verhallte in der Ferne, und das ist der Abschied des Leutnants Kupfermann gewesen.

»Ade, ade, mein Lieb, ich gebe dich hin, leb wohl in Ewigkeit, ich muß dich geben fürs Vaterland, – lebe wohl, lebe wohl!« Das hat die Schwester gerufen und umschlang mit beiden Armen das Fensterkreuz. Ich weinte laut und habe die Hände nach ihr ausgestreckt, und sie ist auch zu mir gekommen, nachdem die Trompete verklungen und alles wieder still war. Das Rotkehlchen auf dem Dachfirst mochte wohl singen und sich auf den Sonnenuntergang freuen; wie die Ludowike und ich aber zusammengekauert gelegen und auf den Tag gewartet haben, das ist fast zu schlimm, um davon sagen zu können.

Mein Kind, mit diesem Sonnenaufgang ist es wie ein Sturmwind über die Stadt gegangen, daß die beiden Leutnants mit ihren Zügen statt auf den Exerzierplatz den Preußen entgegengeritten seien. Da haben sie denn wirklich die Lärmtrommeln an allen Ecken geschlagen und zum Nachsetzen geblasen, und die Kameraden mußten in hellem Galopp hinter den Kameraden drein, sie zu fangen oder zu Boden werfen. Das war ein arger Tag! Wie ein schönes, bleiches Bild ist die Ludowike ruhelos umhergegangen; sie war wie ein gefangenes Tier in seinem Käfig, ihre Augen waren so groß und so starr, und immer hat sie nach dem fernen Gebirge hinübergesehen – o wie muß sie ihren Schatz in ihren Gedanken begleitet haben! Vor unseren Fenstern vorüber führte der Polizeikommissarius mit seinen französischen Gendarmen den Kommis Kupfermann in Ketten geschlossen und grüßte höhnisch und drohend, und die Bürgerschaft stand und ballte nur die Faust in der Tasche, gezeigt hat sie aber niemand. Und nun flogen die Gerüchte wie die Schwalben, bald hoch, bald niedrig. Einmal hat es geheißen, ein Mann habe die Nachricht gebracht: des Herrn von Marwitz Reiter kämen wirklich und mit ihnen im Triumph der Honold und der Kupfermann. Da ist ein verhalten Jauchzen im ganzen Städtchen gewesen; Nachbarn, welche zehn Jahre lang in Todfeindschaft lebten, haben sich die Hände über den Zaun gereicht, und der alte Stimmler, welcher der geizigste Mann im Orte gewesen ist, hat einen Sack voll Kartoffeln ins Armenhaus geschickt. Darüber hat man trotz aller Beklemmung so gelacht, daß ich dir heute noch davon erzählen kann; der Jammer aber kam doch über alles Lachen mit der richtigen Botschaft. Sie brachte keiner aus unserem Volke, sondern ein französischer Trompeter, welcher schwarz und verstaubt auf abgehetztem Gaul zum Marktplatz und zur Kommandantur gesprengt ist und mit seinem »Vive l'empereur!« verkündigt hat, daß die abtrünnigen Schwadronen samt ihren Führern eingeholt, umstellt und nach harter Gegenwehr gefangen seien und daß der Kaiser Napoleon auch sonsten noch wohlauf sei und sieghaft und großmächtig sich verhalte. Da konnte man wieder einmal recht die Menschen in ihrer Art sehen. Es hatte ein jeglicher solchen Ausgang vorhergesehen und vorhergesagt, ein jeglicher wusch wie Pilatus seine Hände in Unschuld. Sie verkrochen sich alle wieder im Dunkel, aus welchem sie die Köpfe erhoben hatten – das war, wie wenn ein Bub am Ufer mit dem Stock aufschlägt und die Frösche auf allen Seiten mit einem Satz ins Wasser springen und unterducken. Ein Wunder ist's gewesen, daß sie nicht ihre Häuser zur Feier des Ereignisses illuminierten, und wenn das der Kommissär Schulz verlangt hätte, so würden sie es gewiß getan haben. Mit Hohnlachen und grimmigen Drohungen ist dieser Schulz in seiner französischen Uniform in unser Haus gekommen, als könne er sich hier an seinem höchsten und besten Triumph weiden. Da hat er geschrieen, wie jetzt alle Verräter an dem Kaiser Napoleon und dem König Hieronymus ihren Lohn dahinnehmen müßten und wie er sich kein größeres Gaudium wisse, als daß es so gekommen sei. Denn nun habe man alles Recht, zuzugreifen und dem Verrat die Kehle zusammenzudrücken. Die Leutnants mit ihren Folgern seien schon auf dem Wege nach Kassel zum Kriegsgericht, und den Kommis Kupfermann werde er an diesem Tage noch expedieren, aber es sei noch manch anderer vorhanden, welchen er lehren wolle, wie es dem Menschen vor den neun Exekutionsflinten zumute sei.

So hat er geschrieen, und da ist ihm meine Schwester Ludowike entgegengetreten, von allen die einzige, daß ihr hohes Gedächtnis bis an den Tod in meiner Seele leuchtet. Ja, sie wußte wohl, daß sie am meisten hingegeben und verloren habe, daß keine Rettung für den gefangenen Bräutigam sei; aber sie hat sich nicht gebeugt, solange ihr Geist hell war, und der Schulz hat das auch verspürt; es ist ihm selber gezeigt worden, wie es einem vor dem Schwert des Richters zumute sein kann. Unter den Verschüchterten hat die Schwester aufrecht gestanden mit erhobener Hand und den wahren Verräter und Niederträchtigen mit ihrem Wort zurück und aus dem Hause getrieben; – es ist herrlich und schrecklich zugleich gewesen, und obgleich ich nur ein einfältig dummes Kind war, so hat sich doch mein Herz in allen Tiefen bewegt. Nachdem aber die Ludowike den Schalk fortgetrieben, hat sie sich umgewendet und ist still hinausgegangen; auch ich hab ihr nicht folgen dürfen, man hat sie ihren Weg allein gehen lassen wollen, denn sie haben gemeint, daß es gut sei, wenn sie sich nun in der Stille ausweine; jawohl, für ein ander Mädchen hätte das wohl genügen mögen, aber nicht für meine Ludowike! Ja, hätte sich die Stadt anders gerührt, hätte man die Sturmglocken geläutet gegen die Unterdrücker, so wär's ein ander Ding gewesen, und die Schwester wär sicherlich gerettet worden. Da hätte auch sie hinausstürmen können, wie es nachher andere Frauen und Mädchen getan haben, die verkleidet in die Regimenter getreten sind und den ganzen wilden Krieg mit durchmachten. Aber es blieb ja alles still, und so mußte auch die Ludowike still bleiben, das war ihr Verderben. Freilich hat sie ruhig gesessen, aber schon in den ersten Tagen nach dem Unheil nicht als eine Ergebene, sondern als eine Geistesabwesende. Sie ist auch immer ruhiger geworden, wie die Zeit vorüberging bis zu der Stunde, in welcher die Nachricht gekommen und von dem Maire der Stadt bekannt gemacht worden ist, daß die beiden Leutnants Honold und Kupfermann samt einem Teil ihrer treuen Reiter vom Kriegsgericht verurteilt und erschossen seien, und folgende Umstände haben sich dabei in unserem Hause begeben und sind mir so klar in Erinnerung, wie wenn sie mir gestern gleich einem Stein auf den Kopf gefallen wären.

Es ist ein lieblicher, stiller Tag gewesen, an welchem die Sonne hell durch die Fenster schien, und an dem Tische zwischen den beiden Fenstern saß die Ludowike und schrieb. Sie hat einen Trostbrief an den alten Vater ihres Bräutigams geschrieben, einen stolzen, tapfern Brief, denn einen andern hätte ihr das starke Herz nimmer zugelassen. Wir, die wir seit dem großen Unglück immer auf den Zehen, wie in einem Krankenzimmer, um sie herumgingen, taten das auch an diesem Morgen; wir wußten alle, was kommen mußte, aber keiner hat doch geglaubt, daß der Schlag so schnell herniederfallen werde, und mein jüngster Stiefbruder, der, mit hoch erhobenen Händen vom Markt hereinstürzend, die blutige Nachricht ausschrie, hätte sich auch zusammennehmen können. Er war aber außer sich und wußte nicht, was er tat, – mit einem Weheruf sahen wir alle auf die Schwester, welcher ja jetzt das Elend den Kranz aufsetzte.

Mein Kind, sie ist nicht vom Stuhl gesunken, sie hat nicht das Haar zerrauft, auch hat sie nicht wie wir andern laut aufgeschrieen. Sie saß mit dem Rücken uns zugewendet und hielt sich über ihren Briefbogen geneigt; – sie hat weiter geschrieben, und wir haben ihre Feder in der tiefen Stille, welche es jetzt in der Stube gab, leise kritzeln hören. Sie hat nicht den Kopf erhoben, sie fuhr nicht zusammen; es war, als habe sie weder die Botschaft noch unsere Wehklage vernommen; der Vater, der hinter sie trat und seine Hand auf ihre Schulter legte, zitterte wie im Fieber, aber Ludowike zitterte nicht. Mein Kind, mein Kind, es war viel schlimmer! – Bei der leisen Berührung wendete sie sich um, sah auf den alten Mann, sah auf uns, lächelte und zeigte ihre weißen Zähne. O, da hat man ganz genau gewußt, daß sie alles vernommen habe und daß das Schlimmste für sie und uns eingetroffen sei; sie ist nicht wieder bei sich gewesen von dem Augenblick an, bis auf eine Minute vor ihrem Tod; ihr Leben und das meinige aber sind in dieser Zeit so zu einem gemacht, daß kein Jammer, welcher den Menschen hienieden treffen kann, darüber geht.


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