Wilhelm Raabe
Im Siegeskranze
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Im allerersten Anfang hat er gelächelt und sich die Stirn gerieben und wieder leise gelacht und zu sich gesprochen: »Ja, das ist etwas anderes, ei, ei, ei, Herr Kollega; na, sintemalen sich die Sache also verhält, junger Mann, so soll er das Winkelchen haben und das Fenster obendrein; wünsch ihm viel Pläsier dazu!« – Hat also einen Briefbogen genommen, um dem betrübten Verliebten seine veränderte Meinung mitzuteilen. Er mag auch wohl schon die Feder ins Dintenfaß getaucht haben, aber dabei ist's geblieben; und, mein liebes Kind, so geht es mit den guten Vorsätzen der Menschen sehr häufig in dieser wankelmütigen Welt. Mein Herr Vater hat erst noch einen Blick in des Nachbars Garten tun wollen, und dann hat er sein Schreiben auf den folgenden Tag verschoben, und dann ist ihm der Zweifel gekommen, ob er auch recht an dem Nachbar handle, wenn er solche Liebelei begünstige, und so hat er die Ausführung seines guten Willens von einem Tage auf den andern und von einer Woche auf die andere verspart. Der Garten des Nachbars aber ist währenddem immer grüner und lustiger geworden; denn auf den Märzen folgte der April, und das war denn der rechte Monat für diesen Geisteszustand. Am Ende hat der Herr Vater nicht mehr mit Lächeln an den armen Studenten gedacht, sondern er ist ganz verdrießlich und hitzig geworden, wenn die Rede auf ihn gekommen ist, und der Student hätte doch ein viel größer Recht gehabt, ärgerlich auf den Herrn Vater zu sein; aber so ist die Welt, mein Kind, und so ist sie immer gewesen.

Ja, so geht's in der Welt, und es würde mir, wie gesagt übel anstehen, meinen eigenen Vater und deinen Urgroßvater anzuklagen, weil er nicht tat, was er nicht zu tun brauchte, und tat, was er nicht lassen konnte. Daß ich es nur kurz sage, es hat ihn eine gar heftige Neigung und Liebe zu dem jungen französischen Mädchen, meiner Mutter und deiner Urgroßmutter, erfaßt, trotz seiner Witwerschaft und seiner drei Kinder; und nachdem er seine Zeit mit seiner Neigung gekämpft hat und von ihr überwunden ist, ist er zum Nachbar gegangen und hat um sein schönes Kind angehalten. Um den Studenten hat er sich dabei gar keine Sorgen gemacht.

Nun denke nach darüber, mein Kind! Es sind dein Ururgroßvater und deine Ururgroßmutter damals keine jungen Leute mehr gewesen, und die Not in ihrer eigenen Heimat, die Flucht mit ihren Drangsalen und Ängsten und der Aufenthalt in dem fremden Lande unter den fremden Menschen haben sie auch nicht jünger gemacht. Mit großer Furcht haben sie ihres Kindes wegen an ihren Tod gedacht und an die Verlassenheit, welcher es anheimfallen möchte, wenn es so allein und fremd in der Fremde zurückbliebe. Es war damals so viel Krieg und Blutvergießen von Mittag bis Mitternacht, von Morgen bis Abend, daß ein Elternpaar noch viel ungerner als heute solch ein arm, unschuldig, jung Wesen allein und ohne Hülfe ließ. Als deshalb der wackere, geachtete, vermögliche Mann kam und dem Ururgroßvater antrug, er wolle die Sorge um die Tochter, wie er es vermöge, von ihren Schultern nehmen und das Kind sein Leben lang halten wie sein Herzblatt, da haben sie sich nicht lange bedacht, sondern haben ihm nach einem kurzen Rat ihrer Tochter Hand zugesagt. Es ist nämlich im Franzosenland so die Sitte, daß man die Kinder niemals fragt, ob sie auch nicht einen andern lieb haben, sondern die Eltern wählen den Bräutigam oder die Braut nach ihrem Gefallen und Verstande, und die Kinder werden dann in die Stube gerufen, um ja zu sagen, und weil sie es nicht anders gewohnt sind, so fügen sie sich und nehmen ihr Los, wie's kommt. Ob meine Mutter sich um den Studenten ihr Herzlein sehr zerbrochen hat, weiß ich nicht; vielleicht hat sie wohl nicht eben mehr von ihm gewußt als sonst von der Welt; gewehrt hat sie sich nicht gegen ihrer Eltern Willen und ist also schon im Sommer des Jahres achtzehnhundert meines Vaters Frau geworden. Im Sommer des folgenden Jahres bin ich dann geboren, und so kommt eins aus dem andern, wie es Gottes Wille ist.

Von dem Studenten weiß ich weiter nichts zu sagen; heut ist's ihm sicherlich einerlei, ob er damals gewonnen hat oder nicht, und damals wird er sich gewiß auch getröstet und sein Herz anderswo unter Dach und Fach gebracht haben. Seltsam ist's aber doch, daß wir hier so sitzen, ich eine alte Frau und du meine Enkelin, und sehen seine Gestalt in der Ferne vorübergehen und schreiben das Jahr achtzehnhundertundsechsundsechzig!

Deine französischen Urureltern haben mit ihrer Eile, ihr Kind in eine gute Versorgung zu geben, wohl recht gehabt, insofern ihre Tage auf Erden freilich gezählt waren; sie haben aber doch nicht recht gehabt, denn der Tochter Tage waren ja mit den ihrigen gezählt; so etwas will jedoch das Alter zu keiner Zeit glauben. Grand-père ist bald nach der Hochzeit gestorben, und grand-mère hat mit meiner Mutter meine Geburt nur um eine kurze Zeit überlebt. Sie liegen in dem Boden, aus welchem wir aufgewachsen sind; wo ihre Wiege stand, das weiß niemand mehr zu sagen. Das sind Schatten, nichts als Schatten, und wie einem von einem hohen Berge aus die Menschen, ihre Häuser und Dörfer und Städte verschwinden in der weiten Ebene, so sind uns ihre Not und Sorge verschwunden, daß wir uns ganz genau darauf besinnen müssen, um daran glauben zu können. Was aber nun kommt, das tritt klarer hervor aus der vergangenen Zeit; meine eigene Seele muß für alles eintreten, und wenn ich für so schwere Erlebnisse, wie sie mir beschieden waren, noch gar jung war, so mußt du bedenken, daß auch der Schmerz nur allzugern auf ein weißes Blatt schreibt. Doch ich will fortfahren, wie ich angefangen habe.

Mein Vater ist nun zum zweiten Male ein Witwer und diesmal ein tiefgebeugter und gebrochener Mann gewesen; ich sehe ihn in diesem Augenblick ganz genau vor mir, wie ich diese meine alte, trockene, runzelige Hand sehe. Hätte er dem Studenten seinen Willen gelassen, so würde er sich wenigstens einen großen Kummer erspart haben, es war ihm deshalben doch die Hülle und Fülle zugeteilt. Eine andere Person richtet sich auf und geht hervor aus der Dunkelheit; deren Geschick wurde mit feurigen Buchstaben in mein Herz gegraben, und war's bestimmt, daß sie um diese Zeit mein ganzes Leben einnehmen sollte. Das ist meine Stiefschwester Ludowike.

Liebes Kind, als ich geboren wurde, da war gewiß eine merkwürdige Zeit, aber die Zeit war noch viel merkwürdiger, als ich den Kopf aus der ersten Unmündigkeit erhob und anfing, über die Dinge nachzudenken. Ach, ich habe solches viel früher tun müssen, als es gottlob dir und manchem andern, glücklicheren Kinde beschieden worden ist. Damals hatte die Welthistorie das arme Deutschland im Schoß wie eine Kaffeemühle, und wir waren die Bohnen, deren durfte nicht die kleinste ausspringen. Die Franzosen, welche deine Ururgroßeltern und deine Urgroßmutter in unser Vaterland ausgetrieben hatten, waren ihnen dann in hellen Haufen mit Roß und Wagen nachgedrungen, und wie sie in ihrem eigenen Reiche alles auf den Kopf gestellt hatten, so schüttelten sie nunmehr auch bei uns alles nach ihrer Art und Lust zusammen, und da ist es gewesen, wie wenn man einen alten Rock wendet und daraus zurechtschneidet, was das Zeug hergibt und wie es passen oder auch nicht passen will. Sie hatten ihr Königreich Westfalen aufgerichtet, und des Napoleons Bruder, der auch Napoleon hieß, aber Hieronymus dazu, war unser König; denn wir gehörten mit zu jenem Königreich Westfalen, wie das in jedem Geschichtsbuch zu lesen ist und wie man es euch auch in der Schule erzählt haben wird, wenn man noch davon spricht. Ja, was mag man euch erzählen? Wenn der Schulmeister nicht selber dabei gewesen ist, so kann er doch nichts davon wissen, so etwas muß man selbst erleben; und wenn man auch nur ein zwölfjähriges Kind gewesen ist, so hat man doch sein volles Maß von der Welthistorie auf sein Teil bekommen. Der Mensch zieht sich jede Zeit nach seinen eigenen Schicksalen und denen der Personen, mit welchen er während des Tumultes oder auch während der Windstille verkehrte, zusammen, und so ist es auch mit mir. Von den großen Schlachten kann dir natürlich der Präzeptor hundertmal genauer Bericht geben als ich; aber von meiner Schwester Ludowike weiß er nichts, und mit ihr habe ich doch die Jahre achtzehnhundertdreizehn und -vierzehn wie in ein Tuch gefaßt und halte sie wie an den vier Zipfeln zusammen.

Anno zwölf waren die Franzosen nach Rußland gegangen und hatten unsere Landsleute zu Haufen mitgeschleppt, daß sie ihnen die Stadt Moskau mit erobern helfen sollten. Ihre Heeresmacht war gleich einer Schlange, wie die Welt sie noch nie gesehen hatte, denn während der Kopf mit den giftigen Zähnen schon längst den Leib des Feindes gepackt hatte, ringelten sich die letzten Glieder ihres Leibes noch immer durch unser Land. Und als der Herr der Schlange den Kopf zerbrach, da wand sich der zuckende Schweif noch über ein Jahr auf dem deutschen Boden in einem blutigen Knäuel, bis ihn der alte Blücher über die Schwelle gekehrt hat, wie es im Buche steht, oder noch besser in den Gassen gesungen wird. Wie solches zu unserem Weinen und Lachen, zu unserer Trauer und unserem Triumph sich ereignete, wie es damals in den Häusern und Herzen aussah, das will ich dir nunmehr beschreiben und kann es auch; denn der kleinste Ort war wie der allergrößte, und durch ganz Europa, wo der Franzos den Fuß niedergesetzt hat, sind der Menschen Gedanken, Wünsche und Taten auf die gleiche Art durcheinandergegangen.

Nun gehe ich weiter.

Es lagen in unserem Städtlein vier Schwadronen von einem Husarenregiment, und dabei standen zwei Leutnants, deren einer hat Wilhelm Kupfermann geheißen und der andere Honold, dessen Vorname ist mir nicht bewußt. Mit dem Kupfermann ist meine Stiefschwester Ludowike verlobt gewesen, und er hatte einen Bruder, der war Handlungs-Kommis in einem Kaufmannsladen am Markt, und der Polizeikommissarius in der Stadt hieß Schulz, der war ein böser, heimtückischer Gesell und ganz französisch gesinnt, denn sonst hätte das französische Regiment ihn ganz gewiß nicht in seine Stelle eingesetzt. Als ich im vergangenen Jahre zum ersten Male nach so langer, langer Abwesenheit auf Besuch dort in meinem Geburtsort war, da habe ich mit Staunen wieder erfahren, wie das Neue ganz leise und allmählich über das Alte kriecht und das Ganze doch so sehr denselben Anschein behält. Sie hatten hier gebaut und dort niedergerissen, hier das Morsche verputzt und dort das Wackelnde gestützt; aber heute wollte ich dir noch die Fenster der beiden Soldaten zeigen, mein Kind, und den Türpfosten, an welchem der Kommis zu lehnen pflegte, und das Haus des Polizeikommissärs und noch so manches andere, von welchem ich dir sagen werde. Es ist zum Kopfschütteln, wie solch eine alte, alte Geschichte nach fünfzig und mehr Jahren immer noch ihren Unterschlupf auf der Stelle findet, wo sie passierte.

O, es hat auch viel, viel Platz auf einem gar kleinen Raum: die Russen waren schon in Deutschland, die Preußen waren zu Hunderttausenden aufgestanden, wir aber waren noch gefangen in diesem Königreiche Westfalen und hielten uns selber gefangen, und das alles ging wie durch unser Gemüt, so durch unser Haus und Städtlein. Es mußte vieles, vieles Platz darin finden, und der Himmel behüte dich, mein Kind, daß du nicht gleichfalls erfahren mußt, wieviel solcher großer Verwirrungen, Angst und Hoffnung sich in eine Viertelstunde, in die blühende Fliederlaube oder an den Platz am warmen Ofen drängen kann.

Da hat man bei Tag und bei Nacht gehorcht und zu jeder Stunde geglaubt, den Schall der Kanonen zu vernehmen, da hat man die Suppe stehen lassen und die Stühle zurückgestoßen und ist vor die Tür gestürzt, und es fuhr doch nur ein Wagen über die Brücke, oder der Zimmermann klopfte auf seinem Zimmerplatz, oder es war sonst dergleichen alltäglich gewohnt Geräusch. Ich bin ein klein Mädchen gewesen und habe den Erwachsenen oft mit offenem Munde nachgesehen, aber mein Teil an aller Erwartung habe ich auch gehabt und weiß wohl Rechenschaft darüber zu geben. Und wenn ich, solang ich jung war, nicht viel zum Lesen kam, weil der Haushalt und mein seliger Alter und die Kinder es nicht litten, so habe ich doch den Kommis Kupfermann ganz genau gekannt, und das ist jetzt, wo es so still um mich her geworden ist und so lange Jahre vergangen sind, auch etwas recht Nachdenkliches und Verwunderungswürdiges, obgleich er nur ein ganz schmächtig Männchen mit ganz blöden Augen und einem zu kurzen Bein war. Sein Bruder Wilhelm ist der schönste Mann gewesen, aber in dem Kleinen und Schwachen war das Feuer und der Verstand und der mächtige Wille; er hat gut Bescheid gewußt in der Welthistorie, dieser Kommis Kupfermann, niemand hat gleich ihm die Zeit angeben können – ach, ach, er verrechnete sich zuletzt nur um eine Viertelstunde, ja nur um die Hälfte einer Minute, und zu blutig, zu schrecklich ist das ausgeschlagen!


 << zurück weiter >>