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Einer aus der Menge

1.

Ihr steht an der Ecke der belebten Straße einer großen Stadt. Hunderte von Menschen drängen sich im ununterbrochenen Strome an euch vorüber, immer neue Gesichter, daß euch ein Schwindel überkommt, wenn ihr nicht daran gewöhnt seid, in diese Fluten zu schauen. Hunderte von Gesichtern laßt ihr teilnahmlos gleichgültig vorübergleiten, bis endlich euer Auge sich auf eines heftet – zufällig, welches euch magisch anzieht, euer Interesse mehr oder weniger anregt, ohne daß ihr euch Rechenschaft darüber geben könnt, wie das kommt. Ihr erblickt diese Züge in diesem Augenblick zum erstenmal, und doch seid ihr, wenn ihr bis jetzt geträumt habt, gleichgültig dreingeschaut habt, nun auf einmal wach! Ihr folgt dem Wesen, welches euch erweckt hat, mit den Augen, ihr verlaßt sogar auch wohl euern Standpunkt und schreitet ihm nach bis zur nächsten Straßenecke. Ihr sucht an die Seite jenes Unbekannten zu gelangen, sucht seine Stimme zu hören, die Farbe seiner Augen genauer zu erkennen – – da kreuzt eine Gesellschaft den Weg – der Zauber ist gebrochen, das Gesicht versunken – ein Tropfen im Meer! –

Wenn euch nun im Vorübertreiben der Menschen ein Gesicht auffällt, wie eben gesagt, so wird ein Etwas darin liegen, welches es, vielleicht für euch nur, von hundert andern, welche euch gleichgültig sind, unterscheidet. Seht, dieses Etwas in den Menschen, sei es was es wolle, zu erkennen, blitzschnell es zu erfassen, es festzuhalten, es die tausend Phasen und Schattierungen, deren es fähig ist, durchlaufen zu lassen, das ist das Geschäft einer Art seltsamer Gesellen, zu denen leider auch ich gehöre. Leider! – Ach, es ist ein Geschäft, dem des Lumpensammlers, des Kehrichtdurchsuchers vergleichbar!

Wie selten findet man in dem Schmutz, dem Auswurf des Lebens einen silbernen Teelöffel, eine zertretene Schmucknadel? Lumpen und Lappen und Glasscherben fallen uns genug unter die Hände, und wenn sich auch aus Lumpen und Lappen, Fetzen und Flittern und Glasscherben mancherlei darstellen läßt, so ist es doch gar nicht angenehm, damit zu tun zu haben. –

Ich bin bei diesem meinem Geschäft ein alter Mann geworden, habe das Schäfchen meines Gleichmuts auf das Trockene gebracht und habe Zeit genug übrig, mir manchmal eine kleine phantastische Ausschweifung zu erlauben, welche jüngere und gelehrtere Leute als ich für eine Torheit, für eine Lächerlichkeit zu erklären das Recht haben. Es macht mir zum Beispiel mehr Vergnügen, einen Rebus zu erraten, als den Kurszettel zu studieren oder mich über einen Leitartikel zu ärgern, welchen man gleich einem Handschuh umkehren und auf beiden Seiten anziehen kann.

In diesem Sinne betrachtete ich auch folgende Reime, welche in den zierlichen, feinen Schriftzügen einer Frauenhand auf einem zerrissenen, beschmutzten Blatte standen, das mir der Zufall, wenn ihr es Zufall nennen wollt, in die Hände trieb. Sie lauteten:

Belagerte Stadt

1.

Was kündet am nächtlichen Himmel
Der rote Feuerschein?
Dort bricht durch Blut und Flammen
Der wilde Feind herein!

Das jammernde Volk vom Lande
Strömt zu den schützenden Mauern;
Es kommen Reiche und Arme,
Es kommen Edle und Bauern.

Sie schleppen die Greisen, die Kranken,
Die Kinder, die Herden zur Stadt; –
Ist's nicht, als ob die Sündflut
Die Welt verschwemmet hat?

Die Weiber in den Kirchen
Auf den Knien früh und spat,
Die Männer auf den Mauern,
Die Ratsherrn stets im Rat!

Von den Türmen Sturmesglocken,
Vom Walle Schuß auf Schuß!
Und wir – im Häuslein am Tore,
Wir tauschen – Kuß um Kuß!

Das Feuerrohr lehnet im Winkel,
An der Hüfte klirrt das Schwert; –
Ein Kuß in solchen Zeiten
Ist tausend Küsse wert!

2.

In meines Liebchens Kammer,
Da ist das Fensterlein
Versponnen und verhangen
Vom grünen, wilden Wein.

Die Scheiben sind zerbrochen,
Die Ranken sind zerfetzt;
Denn vor den Mauern und Wällen
Liegen die Feinde jetzt!

Aus den Gräben, von den Türmen
Feuer und Feldgeschrei!
Mein Handrohr und mein Liebchen
Sind wieder mit dabei.

Auf jeden Schuß die Antwort;
Wir halten's noch lange aus!
Auf jeden Kuß ein Küßchen –
Ihr Feinde geht nach Haus!

Mein Liebchen reicht die Kugeln
Reicht mir ihren roten Mund;
Das ist ein wonnig Küssen
Zu solcher bösen Stund'!

Mein Liebchen reicht die Lunte,
Preßt mir dabei die Hand;
Und blitzt das Pulver vom Zündloch,
Drückt sie sich an die Wand.

Es zittert und bebt der Boden!
Es wankt und schwankt das Haus!
Sie rücken heran zum Sturme –
Hinaus, auf die Mauer hinaus!

Mein Liebchen schürzt ihr Röcklein,
Mit Kugeln die Schürze sie füllt –
Torwächtermaid auf dem Walle
Wohl tausend Landsknechte gilt!

3.

Herr Jörg, der Bürgermeister,
Weiß gut den Kolben zu führen;
Die lahme Liesel vom Kirchplatz
Weiß gut das Pflaster zu schmieren, –

Die toten Freunde nach Haus!
Die toten Feind' in den Graben!
Das war das dritte Stürmen:
Sie wollten's nicht besser haben!

Hei, Lieb, wisch ab die Trän'!
Hei, Lieb, schenk güldnen Wein!
Was kümmert's zu solcher Stund',
Fällt ein Tropfen Blut hinein?

Hei, wie die Äuglein leuchten!
Wie leuchtet der Wein im Glas!
Ein Trunk zu solcher Stunde
Wiegt auf manch volles Faß!

4.

Zehntausend Knechte geworben –
Wie ist ihr Mütlein gekühlt!
Fünftausend Knechte verdorben –
Sie ha'n das Spiel verspielt!

Sieg, Brüder! – Jesus, das traf!
War das der letzte Schuß?
O Lieb, verlaß mich nicht!
O Lieb, den letzten Kuß!

O Lieb, das ist der Tod –
Faß mich in deinen Arm!
Gerettet, gerettet die Stadt!
Ack, Lieb, tu dir kein'n Harm!

O Lieb, die Stadt gerettet!
O Lieb, nimm hier mein Schwert
Solch Tod in deinem Arm
Ist wohl das Leben wert!

Walter R. waren diese Reime unterzeichnet, und ich tat die Schritte hinein in das Gewühl des Lebens und folgte dem vor mir auftauchenden, unbekannten Gesicht, aus welchem jenes Etwas leuchtete, von dem ich oben gesprochen habe.

Nach langem vergeblichen Suchen und Mühen stieg ich endlich die steile und dunkle Treppe empor, welche zu der Tür führte, an welcher der Name »Walter R., Buchhalter,« auf einer Visitenkarte zu lesen war. Das Wort »Buchhalter« war jedoch durch einen Federstrich fast unkennbar gemacht. Auf mein Pochen öffnete ein junges Mädchen die Tür – ich sah in das Dämmerlicht eines Krankenzimmers.

»Wen suchen Sie, mein Herr?« fragte das junge Mädchen. »Sie haben sich wohl in der Türnummer geirrt. Vielleicht kann ich Ihnen Auskunft geben!« – Ich stotterte einige Worte der Entschuldigung und die Frage: »Herr R. wohnt hier?« – Das junge Mädchen senkte traurig den Kopf. »Herr R. ist krank; er ist nicht mehr in einem Geschäft,« sagte sie leise. – »Wer spricht da von Walter R.?« rief eine hohle und doch schneidende Stimme hinter der Tapetenwand, welche das Gemach in zwei Hälften teilte. »Wer ist da, Anna?«

Ein unheimlicher Schrecken überkommt einen, wenn man ein menschliches Wesen – es mag noch so fern stehen! – welches man lange gesucht, das man sich vielleicht in der vollen Kraft des Lebens und der Gesundheit vorgestellt hat, auf dem Krankenbette, dem Sterbebette findet. – Sollte ich zurücktreten, ohne den Fuß hineingesetzt zu haben in diesen dämmerigen, schwülen Raum, in welchem mein Dichter, abgesperrt von der frühlingsfrischen Welt da draußen, entrückt dem wimmelnden Leben da drunten in den Gassen, seinen kurzen Lebenstraum zu Ende träumte? »Wer ist da, Anna?« fragte die erloschene Stimme hinter dem Vorhang wiederum. »Schicke ihn fort, Anna; laß sich keinen zwischen mich und dich drängen!«

Eine Angst lag in dem Tone der Stimme, mit welcher dies gesagt wurde, daß ich einen Schritt vortrat gegen das junge Mädchen und ihr das zerrissene Blatt mit den Reimen reichte. »Ich suche den Verfasser dieses Gedichtes, mein Fräulein; hier glaubte ich ihn zu finden.« – Das junge Mädchen sah mich erstaunt, verwirrt an. »Mein Herr –« – »Ich bin ein alter Mann, ein unbeschäftigter, wunderlicher alter Mann, welchem man schon viele Grillen verziehen hat; ich bitte, verzeihen Sie mir auch diese, welche mich zu Ihnen führt!«

Die großen, vom Nachtwachen müden Augen des Mädchens wurden womöglich noch größer und leuchtender. »Ich bin die Braut Walters,« sagte sie leise. »Wir haben jeder nur den andern – er ist sehr, sehr krank; aber treten Sie ein – es wird ihn vielleicht erfreuen. – Walter, hier ist ein freundlicher alter Herr, welcher deine Bekanntschaft machen will!« fuhr sie lauter fort. »Er hat ein Gedicht von dir gelesen.« – Ich hörte, wie der Kranke krampfhaft in die Kissen griff. »Er kommt mich zu sehen? Er hat mich aufgesucht, weil ihm einige trübselige Reime, welche ich gemacht haben könnte, in die Hand gefallen sind? Anna, Anna, trau ihm nicht! Sie wollen dich mir entreißen – Anna, verlaß mich nicht!« –

Die arme Braut sah mich bittend an. Mein alter Kopf, mein weißes Haar erschienen ihr nicht allzu gefährlich. »Walter, es ist ein alter freundlicher Herr – ich verlasse dich ja nicht! Wer könnte mich dir nehmen?« – »Ich will ihn sehen – den freundlichen alten Herrn!« sagte der Kranke, und ich trat näher an das Lager. Gegenseitig betrachteten wir uns einige Augenblicke. Walter R. war in der Tat sehr krank.

»Verzeihen Sie mir, daß ich zu Ihnen gekommen bin, Herr R.?« fragte ich. – »Gib dem Herrn einen Stuhl, liebe Anna. – Also Sie haben mich meiner Verse wegen aufgesucht? Das ist eine seltsame Ehre! Wie ist das Blatt in Ihre Hände geraten?« – Ich erzählte es und setzte noch mancherlei hinzu, wovon ich dachte, daß es dem Armen Freude machen könnte. Die Muskeln seines Gesichts zuckten nicht mehr so krampfhaft, ein wehmütiges Lächeln glitt über sein Gesicht. »Ei, Anna hätte wohl noch mehr von der Art verlieren können; sie mag in ihren Taschen und Kästen noch manche von solchen Torheiten und Spielereien aufbewahren – alter Herr, deshalb hätten Sie die vielen Treppen nicht heraufsteigen sollen – ah, die Luft geht einem doch bald aus!«

Ein Hustenanfall unterbrach den Kranken; Anna trat besorgt näher. »Sprich nicht so viel, Walter, lieber Walter!« sagte sie. »Du weißt, der Arzt hat es verboten.« Ein besorglicher, liebevoller Blick, wie ich ihn mir neben meinem Sterbebette wünsche, glitt zu mir herüber. Ich erhob mich. »Ich muß Sie jetzt verlassen, mein junger Freund – es hat mir große Freude gemacht, Sie zu finden. Wenn ich wiederkomme, sind Sie wohler, wir sprechen dann noch mancherlei miteinander.« – »Gib ihm noch ein paar Blätter!« sagte der Kranke, während seine Braut ihm das Kopfkissen zurechtlegte. »Er kann sie dir wiedergeben, wenn du dein Herzchen zu sehr daran gehängt hast, Ännchen. Gott befohlen, Herr! – Erzählen Sie Ihren Bekannten nichts von diesem Besuch, dieselben würden Sie auslachen – ah, eine Stunde Schlaf!« –

Ich stand wieder in der Gasse. Auf meinen Augen lag noch die grüne Dämmerung des Krankenzimmers, welches ich eben verlassen hatte– ich schöpfte tief Atem – ich rieb mir die Stirn. Lebendigstes Leben, lustiges Gewirr umher – ich erwachte wie aus einem bösen Traum! In der Hand hielt ich ein Päckchen Papiere, umwunden von einem roten Bande, und lange starrte ich auf die erste beschriebene Seite, ehe sich die Buchstaben zu Worten, die Worte zu Gedanken auseinanderlegten. Auf offener Straße an eine Hauswand gedrückt, las ich die erste Seite des Papierheftes, welches mir Anna, die Braut des kranken Walter, gegeben hatte. Es waren heitere, leben- und lustatmende Verse. Hier sind die ersten:

Sprang der Osterhas
Durch die grünende Welt;
Kinder und Verliebte
Suchten im sonnigen Feld.

Welch ein schönes Nest
Hat mein Liebchen entdeckt!
Unterm Veilchenbusch
Fein war es versteckt.

Viele schöne Eier
Lagen glänzend drin,
Und mein jubelndes Liebchen
Kauerte neben es hin.

»Eier rosenrot!
Eier himmelblau!
Keins von ihnen schwarz!
Keins von ihnen grau!«

Die rosenroten
Waren voll Küsse;
Die himmelblauen
Waren voll Lieder; –
Und Dämmerung ward es,
Eh' wir nach Haus kamen!

Eine geraume Zeitlang blickte ich mit blinden Augen in das um mich her wogende Getümmel. Das war eine Minute des Verlorenseins in den Widersprüchen des Lebens! – Wie grell trat die furchtbare Ironie der gelesenen Verse in diesem Augenblick mir vor die Seele! Von welchem schrecklichen dunkeln Hintergrunde löste sich das sonnige, heitere, Lebens- und Liebeslust atmende Bild, welches der arme Walter gezeichnet hatte, ab! – Auf dem kürzesten Wege suchte ich die freie Natur zu erreichen, um auf einer grünen, einsamen Rasenbank das Liederbuch des Sterbenden weiter zu durchblättern. Stunde auf Stunde schlüpfte unbemerkt vorüber, und es war später Abend geworden, als ich durch die endlosen Straßen meiner Wohnung zuschlich. Armer Walter! –

2.

Viele Tage trug ich das Bild des sterbenden Dichters mit mir herum, ohne einen Augenblick gewinnen zu können, ihn wieder aufzusuchen. Jeder hat so viel mit sich selbst zu tun, die Kleinigkeiten des Kampfes um die eigene Existenz reißen den Menschen allzusehr hin und her, als daß er nicht die wichtigsten, heiligsten Pflichten darüber vernachlässigen und vergessen sollte. – Endlich führte mich das Schicksal von neuem mit der jungen Braut Walters zusammen. An dem buntgeschmückten Tische einer Blumenhändlerin traf ich sie, um einige wohlfeile blühende Gewächse in schlechten, irdenen Töpfen handelnd. Ich trat zu ihr, und sie erkannte mich sogleich. – »Er liebt nur die wachsenden Blumen!« sagte sie mit einer Träne im Auge. »Die gepflückten machen ihm Grauen.«

Die gepflückten Blumen machen ihm Grauen! Welch einen Blick in die Tiefe dieser mit der Vernichtung kämpfenden Dichterseele, der die verwelkende Blume ein ganzes Trauerspiel bedeutet!

»Lassen Sie mich unserem Freunde – nicht wahr, ich darf sagen: unserem Freunde? – ebenfalls eine kleine Freude machen. Liebt er die Rosen?« – »Sie sind sehr gut, mein Herr! – Ja, er hat die Rosen gern; aber sie sind so teuer in jetziger Jahreszeit!« – Ich kaufte die beiden schönsten Rosenbüsche, welche die Verkäuferin aufweisen konnte, und faßte unter jeden Arm einen. »Wollen Sie mich so mit Ihnen gehen lassen, Fräulein Anna?«

Das arme schöne Kind streckte die Hand schüchtern aus, um mir einen der Blumentöpfe abzunehmen; sie hatte aber außer den von ihr erhandelten Resedapflanzen noch ihr Körbchen zu tragen. – »Lassen Sie mir das Vergnügen,« sagte ich; »es ist eine hübsche Last!« – Stumm schritten wir die erste Zeit nebeneinander her, sie das Köpfchen traurig gesenkt, ich von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Seitenblick auf das junge so früh gebeugte Wesen werfend.

O du heiliges Unglück, welch einen Zauber lässest du aufleuchten, wenn deine geheimnisvolle Hand eine reine, schuldlose Stirn berührt! Ich bedauerte den sterbenden Walter jetzt nicht mehr, da er seine unbekannten Lieder in dieses eine treue, süße Herz so tief und unauslöschlich hatte einschreiben können.

»Er ist so krank – o, und ich liebe ihn so!« sagte endlich Anna. »Wir kennen uns seit so langer, langer Zeit!« – Ich konnte kein banales Trostwort finden. »Das Leben geweihter Menschen zählt nach Sekunden, nicht nach Jahren, ihr armen, glücklichen Kinder!« entgegnete ich. – »Er hat niemand, welcher sich um ihn bekümmert; ich kann ihn nicht verlassen, wie Böses die Nachbarn – die Leute auch davon sprechen!« – Ich nahm meine beiden Rosenstöcke in einen Arm, wie ein Mensch, welcher die rechte Faust gebrauchen will, – es war ein Gestus, den der Körper unwillkürlich zu einer langen Gedankenreihe machte, welche der Geist blitzschnell bildete.

»Er geht davon und läßt mich hier allein – und die langen, langen Jahre kommen!« – Ein leiser Schauder überlief den Körper des Mädchens. »Ich möchte mit ihm sterben!« hauchte sie. –

Wir hatten die Gasse erreicht, in welcher der kranke Dichter wohnte. »Er darf nicht merken, daß ich geweint habe!« sprach die Braut. »Er hat solch ein scharfes Auge, und er wird jetzt so leicht böse!« – Wir waren in den dunklen Hausgang getreten; Anna setzte ihre Blumentöpfe und ihr Körbchen nieder, drückte das Taschentuch einige Augenblicke gegen die feuchte, eiskalte Wand und preßte es auf die geröteten Augen. Dann stiegen wir langsam die vielen Treppen hinauf. Wie hatte sich die Stimme Annas verändert, als wir leise in das Krankenzimmer eintraten! – »Hier ist der Herr, welcher unsere Lieder so gern hat, Walter!« sagte sie fröhlich. »Er bringt dir zwei Rosenstöcke schau,– welche Pracht!«

Der Kranke saß diesmal in einem weiten, mit Kissen ausgepolsterten Lehnstuhl, in dem hellen Strahl, welchen die junge Frühlingssonne durch das Fenster sandte. Er wendete uns den Rücken zu, schaute aber bei unserem Eintritt schnell über die Schulter. Ein Lächeln flog über seine bleichen Züge, als er mich erblickte.

»Willkommen, Herr!« rief er mit schwacher Stimme. »Nun, haben Sie Ihre Neugier befriedigt? Nicht wahr, es gibt mehr von solchen Burschen wie ich?« – »Es gibt mehr solcher Burschen,« sagte ich lachend, »aber es gibt nur einen Walter R. Aus seiner Individualität kann jeder machen, was er will; freilich auch, was er kann!« – »Das ist der Knoten, – Fräulein Anna!« sagte der Kranke, lächelnd sich zu seiner Braut wendend, welche sich über seinen Sessel beugte. Sie küßte ihn auf die Stirn; dann verschwand sie durch die Tür, und ich hörte, wie sie draußen ihren häuslichen Geschäften nachging.

Des Kranken Gesicht hatte sich sogleich verfinstert. »Glauben Sie, alter Herr, ich täusche mich über mein Schicksal? – Das Spiel ist zu Ende, und war doch kaum angefangen! Der Herbst tötet mich – die Würmer sind die einzigen, welche etwas aus meiner Individualität machen werden – im Herbst wird Anna allein sein!« – Es lag ein Jammer in dem letzten Wort, welchen keine Feder zu schildern vermag! – »Hoffen Sie, hoffen Sie!« redete ich, um etwas zu sagen, um eine peinliche Pause auszufüllen; aber der Kranke fuhr aufgeregt in die Höhe. »Sprechen Sie mir nicht von der Hoffnung; sie ist es, die mich tötet, die mich aufreibt! Ich meine oft, ich sei zu fein organisiert für die Hoffnung – sie ist es, welche, seit ich denken kann, meine Nerven hat zucken und schwingen lassen. Nehmen Sie mir die Hoffnung, und ich werde leben!« – »Sprechen Sie nicht! Beruhigen Sie sich! Ich bin gekommen, Ihnen zu erzählen – Sie sollen den Mund halten!« rief ich lebhaft, erschreckt durch die krampfhaften Bewegungen des armen Kranken.

Dieser lächelte trüb. »Lassen Sie mich, ich habe mancherlei auf der Brust; vielleicht werde ich besser atmen können, wenn ich mich davon befreie. Ihre Anwesenheit tut mir wohl, und ich danke Ihnen dafür. Wenn Sie aber fortgehen, bitte, so nehmen Sie die Hoffnung mit fort, und ich verspreche Ihnen, gesund und ein ordentlicher Staatsbürger, ein tüchtiger Kaufmann, ein Gelehrter zu werden – was Sie wollen! O nur Ruhe, Ruhe, Ruhe!« – Ich begriff, woran der Arme starb und senkte das Haupt. Mit dem Scharfsinn der Sterbenden faßte Walter R. diese Bewegung auf. – »Sehen Sie – Sie verstehen!«

Er griff nach meiner Hand und flüsterte mit ängstlicher, leiser Stimme: »O besuchen Sie Anna einmal, wenn ich tot bin – von Zeit zu Zeit – bis Sie uns vergessen haben. Sie sollen ihr kein Geld geben, sie wird sich schon durch die Welt helfen; aber sie wird so einsam im Leben, so einsam im Leben! Verstehen Sie mich? – Gehen Sie zu ihr, wenn Sie einmal nichts Besseres zu tun haben; bringen Sie ihr einen Blumenstrauß, oder nur ein freundliches Wort, oder eine Weintraube im Herbst – sie ißt sie gern! – Hören Sie, lassen Sie das arme Kind nicht einsam – es ist ein Schrecken, die Einsamkeit!«

Ich preßte die Hand zusammen, daß die Nägel in das Fleisch drangen. In diesem Augenblick trat Anna wieder ein; ihr erster Blick galt dem Geliebten, und als sie in das gerötete, belebte Gesicht desselben schaute, auf welchem ein trügerischer Schimmer von Gesundheit spielte, war sie blitzschnell an seiner Seite, und ein Strahl hoffnungsvoller Freude glitt über ihre bleiche Stirn.

»Nun nimm deinen Trank, Guter!« bat sie, das Arzneifläschchen ergreifend. »Nicht wahr, es tut dir gut? – Er hat doch nicht gesprochen?« wandte sie sich an mich.

Der Kranke nahm die ihm dargebotene Arznei und machte ein Gesicht gleich einem verzogenen Kinde. »Hei,« sagte er, » das könnte den Teufel aus der Hölle jagen, wieviel leichter einen solchen albernen Husten aus einem solchen Narren wie ich! Nun lauf aber nicht mehr draußen umher! Setze dich und unterhalte den Herrn; ich höre zu und sage kein Wort. Zeig dem Herrn einmal, was für ein kluges Mädchen du bist!« – Anna drohte dem Dichter lächelnd mit dem Finger, kam aber seinem Gebote bereitwillig nach und setzte sich mit einem Nähzeuge zu uns. Wir fingen an ruhiger und heiterer zu werden.

»Wo und wann hat Herr Walter den ›Osterhas› geschrieben, Fräulein Anna?« fragte ich. – »O, der Bösewicht schreibt seine Reime gar nicht selbst – ich muß sie aufschreiben! Er quält mich recht! – Der ›Osterhas‹? warten Sie – ah, jetzt weiß ich es! Ich wollte einmal den Don Carlos aufführen sehen, und Walter war wirklich so höflich und kaufte mir ein Billett. Ich weiß es noch wie heute; es war im November vor zwei Jahren; als wir aus dem Theater kamen, regnete es und schneite, und es war so dunkel, daß man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Trotzdem sprach ich aber den ganzen Weg über von den gesehenen Herrlichkeiten, und Traurigkeiten, und als wir zu Hause waren – damals lebte meine Mutter noch! – da kam es heraus, daß der unartige Mensch unterwegs, statt mir zuzuhören, den ›Osterhasen‹ gedichtet hatte. Ich habe ihm aber auch die Wahrheit gesagt.«

Lächelnd hatte Walter während dieser Erzählung Annas auf einem Blättchen Papier gekritzelt; jetzt schaute er auf. »Also ich habe nicht auf deine Expektorationen gehört, he? Gib Achtung, Fräulein Naseweis! –

Vorhang herunter,
Trauerspiel ans!
Führ' jetzt mein schluchzendes
Schätzchen nach Haus.

»Ich hätte geweint?« rief Anna. »Hören Sie den Lügner!« – »Wie eine echte deutsche Jungfrau hast du geschluchzt,« sagte Walter; »sei still! Durch deine Unterbrechung hast du mir den ganzen Effekt vernichtet! –

Scheint auch der Mond nicht,
Leucht't auch kein Stern:
Amor geht mit uns,
Trägt die Latern!«

»Bravo!« rief ich. »He, das Versemachen steckt an! O, wir können es auch! –

Ach du armer Prinz!
Ach du armer Marquis!
O du böse Prinzessin
Eboli!«

Anna klatschte in die Hände, und Walter meinte lächelnd: »Laß ihn auch die Rosen riechen, welche er gebracht hat! – Zur Belohnung!« –

Es ist nicht möglich – es kann nicht sein! Gott, du darfst sie nicht trennen! klang es verzweiflungsvoll in mir, indem ich diese beiden Kinder betrachtete und der wahrhaft göttlichen Komödie lauschte, welche sie – jeder vor dem andern – spielten! Mit Vorbedacht brachte ich das Gespräch auf gewöhnliche Gegenstande; ich verließ das Gemach erst, als Walter in seine Kissen zurückgesunken und eingeschlummert war. –

3.

Die große Macht, welche die Schicksale der Menschen bestimmt, läßt sich nicht erbitten. Klarer und klarer wurde mir – der Dichter schied, wie er es selbst gesagt hatte, mit den Blumen des Sommers. Ich wurde allmählich ein gern gesehener Freund und Tröster der beiden armen Kinder. Ach, es war wenig, was ich ihnen bringen konnte! Die Veilchen und Primeln verblühten – es kam die Zeit, wo die Rosen billig genug wurden, um auch die Wohnungen der Armen zu schmücken; das Korn wogte draußen auf den Feldern, erst grün, dann immer goldener. Es ward ein heißer Sommer. – Allmählich verloren sich die heftigen, krampfartigen Gemütserregungen Walters, er ward stiller und träumerischer. Stundenlang saß er, tiefsinnend auf einen bestimmten Fleck starrend, die Stirn in die magere Hand gelegt, und nur von Zeit zu Zeit verfolgte dann ein angstvoller, unruhiger Blick die leichte, zarte Gestalt seiner Braut, wie sie sorgend durch das Zimmer glitt. Das Öl der Lampe versiegte mehr und mehr, – es neigte sich zum Ende.

Am sechzehnten November des vorigen Jahres stand ich mit der armen, stillen, bleichen Braut an dem eben zugeworfenen Grabe des unbekannten, toten Dichters. – Tröste dich, Anna, es kommt in der Welt nichts um; auch nicht eine Träne, auch nicht ein Blutstropfen!


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