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Weihnachtsgeister

Diese Skizze wurde lange vor den »Kindern von Finkenrode« geschrieben.
Der Verfasser.

 

Quand les gens desprit se mêlent dêtre bêtes,
ils le sont énormément.

Paul de Kock.

 

Eine noch wohl konditionierte Kinderpuppe!« rief der heisere Auktionator. – »Einen Groschen!« bot eine Weiberstimme kreischend und hell. – »Noch sechs Pfennige!« ließ sich ein anderer Liebhaber von einem Winkel des Gemaches aus vernehmen. – »Zwei Groschen!« sagte ich, stieß den Stock emphatisch auf den Boden und blies eine Rauchwolke nach dem in Frage stehenden Gegenstand hin.

Alle Augen der versammelten Menschheit richteten sich sogleich auf den zuletzt Bietenden und erkannten, daß die Stimme von einem kleinen, ziemlich wohlbeleibten Individuum ausgehe, welches ein Buch Konzeptpapier zur Ergötzung des »amusablen« Deutschlands, wie der Schriftsteller E. T. A. Hoffmann vom Halleschen Kirchhof zu Berlin sagen würde, unter dem linken Arm trug, eine Zigarre im Munde, einen Hakenstock in der rechten Hand führte und durchaus nicht aussah, als ob es irgendeinen nützlichen Gebrauch von einer ziemlich zerzausten und abgegriffenen Puppe machen könne.

»Zwei Groschen zum ersten – zum zweiten und zum – keiner mehr!« schrie der Auktionator; der Hammer fiel nieder, und ich, Karl Theodor Hinkelmann, war der glückliche Besitzer des im Katalog unter Numero 726 aufgeführten Kinderspielzeuges, welches mir gegen Erlegung der Kaufsumme auch sogleich eingehändigt wurde. – »Vortrefflich!« sagte ich, umspannte mit dem Daumen und Zeigefinger die Taille der jungen, mit Kleie gefüllten Dame, ließ sie, den Kopf voran, in die Tasche gleiten (ich führe sehr große Taschen und gewöhnlich auch mancherlei darin) und verließ die Versammlung.

Hier wird es nötig sein, die Erklärung abzugeben, daß ich selten eine öffentliche Versteigerung in meiner Nachbarschaft versäume, daß mich nichts mehr beschäftigen und erregen kann, als die Analysierung aller der verschiedenartigen Anhängsel des menschlichen Daseins, welche bei einer derartigen Gelegenheit zum Vorschein kommen. Wahrlich nicht, um nach Rokokoschnurrpfeifereien zu suchen, dränge ich mich bei einer solchen Auktion unter das Volk! Was haftet alles an diesen Lumpen und Lappen, an diesen abgenutzten, ärmlichen Gerätschaften, an diesem alten Lehnstuhl zum Beispiel, an jener halb zertrümmerten Wiege, an dieser Schachtel mit verblaßten, zerknitterten Papierblumen! Welch ein Buch ließe sich darüber schreiben!

Ich trat in die Gasse hinaus. Es schlug vier Uhr, und die Nacht sank bereits langsam herab auf die große Stadt.

Ein grauer eintöniger Himmel lag über den Dächern und es schneite. Es war aber kein eigentliches munteres Gestöber, wo das weiße Gewimmel in der Luft den Emporschauenden fast schwindlig macht und lustig alle Gedanken mit hineinzieht in den tollen, wirbelnden Tanz. Nein, die lustigen, flaumartigen Flocken schwebten in der kalten, grauen, stillen Luft wie unschlüssig, ob sie sich niederlassen sollten zur hart gefrorenen Erde oder nicht. Einzeln kamen sie, senkten sich, erhoben sich wieder, als ob sie sich eines Besseren besännen, gingen dann seitwärts weiter, um dann doch endlich irgendwo an einer Dachtraufe, an einem Häuservorsprung, an einer Nasenspitze lebenssatt sich aufzuhängen. Es war ein mürrisches, spleenartiges, hypochondrisches Wesen, und doch verkündete der verbesserte gregorianische Kalender den – vierundzwanzigsten Dezember, und die schönste Nacht der Christenheit lauschte schon ins Land herein! –

Die Menschen in den Gassen gebärdeten sich aber auch ganz anders als die Schneeflocken in der Luft. Sie hatten es gar eilig und wimmelten durcheinander wie ein aufgestörter Ameisenhaufen. Die Läden waren geputzt und funkelten im Schein der Lichter und Lampen, und manch ein Hagestolz, welcher in seinem Kaffeehause sein Journal hatte fallen lassen, nahm dasselbe nicht wieder auf, sondern kratzte sich mißmutig und verdrießlich hinter dem Ohr und dachte an mancherlei, was ihn durchaus nichts anging.

An der nächsten Straßenecke blieb ich stehen und schaute in das lustige Gewühl. Auch ich seufzte. – »Ich kenne auch einen Narren!« sagte ich zu mir selbst. »Einen gewaltigen Esel kenne ich!« –

Ach, meine Damen, ich habe mancherlei Unangenehmes durchgemacht, aber so wie gestern war mir mein Butterbrot doch noch nicht auf die »gute« Seite gefallen. Schwerer als päpstlicher Bann und kaiserliche Acht und Aberacht lag es auf mir! Sechs junge, schöne, liebenswürdige Fräulein und eine schriftstellernde Mutter hatten ihren Fluch über mich ausgesprochen; die angenehmste Weihnachtseinladung hatte ich verwirkt, unwiderruflich verwirkt. Ich will die Geschichte erzählen, denn

Wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott, zu sagen wie ich leide!

Ich war gestern zum Tee eingeladen von dem Geheimrat von Weißvogel, oder vielmehr von der Frau Geheimrätin, und knüpfte daran die Hoffnung, für heute abend zum Weihnachtsbaum ebenfalls eingeladen zu werden. (Der Geheimrat führt einen sehr guten Burgunder.) Ich hatte also meinem Frack und Hut ein anständiges Ansehen gegeben, um die deutsche Journalistik so gut als möglich zu repräsentieren, und verfügte mich mit dem Vorsatz, ungeheuer liebenswürdig und interessant zu sein, nach der Bureaustraße Numero sechsundneunzig. Mit gewohnter Grazie trat ich in den Salon der Frau Geheimrätin ein, wo ein allgemeines, von allen Seiten gerauntes Pst! Pst! mich empfing. Da mir in der Wärme des geheizten Zimmers die Brillengläser – ich bin sehr kurzsichtig – sogleich beschlugen, so war mir natürlich nichts lieber, als daß ich nun mit Anstand einige Augenblicke an der Tür stehen bleiben konnte, um erst den Duft von meinen Sehinstrumenten verziehen zu lassen. Während dies allmählich geschah, horchte ich der Stimme der Frau Geheimrätin, welche las – deklamierte:

Waldvogel sang's im Lindenbaum,
Schön Blümchen klang es nach im Traum,
Die Stern' am Himmel grüßten es,
Die leisen Winde küßten es,
Und überall, allüberall,
Von Berg und Wies und Wasserfall,
Trug es zurück der Widerhall,
Der Widerhall!

Ich schrak zusammen, zentnerschwer fiel es mir auf die Seele. Himmel, die Amalasuntha der Gnädigen! Ihr neuestes Opus! Alle Teufel, das habe ich ja ganz vergessen! Bei allen Mächten, wenn Weitenweber darüber geraten ist! Der Hut fiel mir fast aus der Hand; hatte ich doch gestern das Rezensionsexemplar von der gnädigen Frau erhalten und dabei ein schmeichelhaftes, zierliches Billett, und ich Unglückseliger hatte in der Zerstreuung das niedliche vergoldete Büchlein voll süßen Unsinns auf den Haufen schriftstellerischer Erzeugnisse geworfen, welche mein Freund Weitenweber von Zeit zu Zeit unter der Überschrift: »Allotria« tot macht! – Himmel und Hölle, wenn der Mensch für die Weihnachtsfeiertage Geld gebraucht und losgewütet hätte!

Meine Brille war unterdessen klar geworden, und ich konnte einen Blick wie ein erschreckter Hase auf die Versammlung werfen. Da saßen sie, Marie, Johanne, Albine, Theodore, Ida, Sophie, die liebreizenden Töchter einer dichtenden Geheimrätin, wie es schien, pflichtgemäß, töchterlich, ganz in jenen Seelenzustand versunken, welchen die empfindsamen Germanen vor ungefähr sechzig Jahren »angenehme Schwärmerei« nannten! – Zwei junge Juristen, drei Sekondeleutnants und ein ältlicher Theologe standen in einer Gruppe, wie ein Monument des passiven Widerstandes, und die übrige Gesellschaft drängte sich ebenfalls pflichtschuldig um die vorlesende Dichterin, welche eben ihr Buch zuklappte und in scheuer Selbstzufriedenheit den Blick erhob. Ein bewunderndes Stuhlrücken und Rauschen von seidenen Gewändern entstand, Seufzer, leise Ausrufe, zwei juristische, drei militärische und ein theologisches Bravo – der Geheimrat schaute etwas verdrießlich durch die Tür des Nebenzimmers, in welchem er eben die Spieltische zurechtgerückt hatte, ich trat schüchtern vor.

»Ah, Herr Doktor Hinkelmann!« flüsterte mit holder Stimme die Gnädige. »Warum so spät?« – Ich machte meine Verbeugung, und sie trat näher. »Haben Sie meiner auch freundlich gedacht?« raunte die Gnädige, mich beiseite ziehend. »Ich bin sehr gespannt auf die heutige Zeitung, Sie böser Kritiker!« – Es überlief mich heiß und kalt. O Weitenweber! Weitenweber!

Ein Bedienter erschien jetzt in der Tür. »Die gnädige Frau haben befohlen, daß ich die Zeitung –«

– »Jawohl, jawohl, Johann! Schnell, geben Sie, geben Sie!« Ich hielt mich an der nächsten Stuhllehne. Die Gesellschaft, die Töchter drängten sich um die Dichterin, deren Auge lächelnd die feuchten Bogen überlief. Jetzt! – Ach! – Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, die Hände, welche die Blätter hielten, zitterten – sie stieß einen Schrei der Entrüstung aus – zerknittert sank der unglückselige Wisch zu Boden.

»Mein Herr!« – »Gnädige Frau, ich – ich –« O Weitenweber, Weitenweber! – Die Visitenkarten an den Spiegeln liefen schwarz an; der Geheimrat hatte die Zeitung aufgehoben und verbarg das Gesicht zwischen den Bogen – ich kann nicht beweisen, daß man mich hinausgeworfen hat, aber –!

»Das kommt davon!« brummte ich, als ich mich wieder auf der Straße fand, »das kommt davon, wenn sich Kaliban in das schöne, ewig blaue Feenreich der Poesie und der Damenwelt wagt! O Weitenweber, Weitenweber!« – Wahrlich ist es nicht angenehm, unter den Fußtritten Ariels und seiner losen Schar zu liegen! Was half es mir, daß mir der Geheimrat auf den Vorplatz hinaus folgte, mich umarmte, mir einen Kuß auf jede Backe drückte und mir zwanzigmal sein: »Brav gemacht! Brav gemacht, lieber Doktor, liebster, bester, teuerster, einzigster Freund!« zuflüsterte? Was half es mir, daß er mich mit Austern stopfen, in Burgunder ersäufen wollte – sein Haus konnte er mir doch nicht wieder öffnen! O Marie, Johanne, Albine! O Theodore, Ida und Sophie! – O Weitenweber, Weitenweber!

Da stand ich nun an der Straßenecke, in dem Schneegestöber, welches jetzt heftiger geworden war. Der Lampenwärter kam und zündete die Gaslaterne neben mir an; in allen Stockwerken der Häuser flammten die Christbäume auf, und alles, was nur noch einen Weihnachtsgedanken im Herzen beherbergte, suchte ihn hervor aus dem vergessensten Winkel und begann seine Weihnachtsfeier. Von allen Kirchen der Stadt läuteten die Glocken das schönste Fest der Christenheit ein; mir ward gar wehmütig zumute, und unwillkürlich faßte ich nach der Puppe in meiner Rocktasche, zog sie heraus, drückte mich dichter an die Hauswand, an welcher ich lehnte, und betrachtete sie, während die Menge ununterbrochen an mir vorüberströmte und mit ihrem Getöse doch nicht ganz den Kinderjubel um die Weihnachtsbäume in allen den verschiedenen Wohnungen der Gasse übertäuben konnte.

Das Ding schaute mich aus seinen grellen, blauen Augen gar sonderbar an; die Stumpfnase hatte bereits beträchtlich Schaden erlitten, und aus einem Beine des unglücklichen Wesens rieselte die Kleie mir leise auf die Hand. »Ach, du armes Ding,« sagte ich, »auch du hast schon fröhlichere Weihnachtsabende als den heutigen, welchen du in meinem Besitze zubringen wirst, verlebt. Was meinst du, gehen wir nach Hause, oder fallen wir in eine Kneipe?«

Da die Puppe nicht antwortete, so zählte ich die Knöpfe meines Rockes. Sie entschieden für die Kneipe, und so schob ich behutsam meine Begleiterin in die Tasche und setzte meinen Weg durch die Straßen einsam fort, widerborstig gegen das Fatum, meiner – Wohnung zu. Bald genug war dieselbe erreicht, und niedergeschlagen stieg ich die dunklen, steilen Stufen empor und horchte auf jedem Treppenaufsatz ein wenig den hellen Kinderstimmen, welche fast hinter jeder Tür hervordrangen; der Weihnachtsabend stand ja in seiner schönsten Blüte! – In meinem Zimmer angekommen, sank ich auf den nächsten Stuhl und stützte den Kopf mit beiden Fäusten auf meinen Schreibtisch, wie ein Brahmane, der das mystische Om ausgesprochen hat und sich in den Zustand der höchsten irdischen Seligkeit versetzen will.

Ich kam jedoch nicht zur völligen Auflösung ins Nichtsein; ein Frösteln, welches mich überlief, erinnerte mich, daß ich mein Feuer nicht erlöschen lassen dürfe. Ich schob also neues Holz in den Ofen, und diese Beschäftigung erheiterte mich etwas. Ach, das Brummen und Knattern des Ofens, der tanzende Schein auf dem Fußboden und an den Wänden müssen einem solchen einsamen Gesellen, wie ich bin, oft vielerlei ersetzen! – Ich trat an das Fenster und schaute hinaus in die Nacht über die weißen Dächer. Ach, es war doch ein noch fröhlicherer Lichtschein, welcher aus dem Fenster der mir gegenüberliegenden Häuserreihe fiel! Fröhlicheres Geräusch erschallte dort hinter den niedergelassenen Vorhängen, als mein Ofen liefern konnte.

»Ich will arbeiten!« sagte ich, zündete meine Lampe an, zog einige Bogen Konzeptpapier hervor und setzte mich an meinen Schreibtisch. Meiner Puppe aber bereitete ich mit Hilfe einiger Bänder von Meusels Gelehrtem Deutschland einen Sitz dicht vor mir. Ich tunkte die Feder ins Tintenfaß, schaute in das Licht – eine Minute – zwei – drei – eine Viertelstunde! – »Beim Teufel!« rief ich aufspringend, »ich wollte, ich könnte bis zum nächsten Alltage die Zeit verschlafen!« Dabei brachte ich eine gar anmutige marmorartige Verzierung auf dem vor mir liegenden weißen Bogen hervor und warf die Feder fort.

Ein Schritt auf der Treppe ließ mich aufhorchen. Er näherte sich. – »Das fehlte mir gerade noch!« rief ich unwillkürlich aus, – »Weitenweber! Na, du kommst mir eben recht!« – Ich hatte den Edeln seit seiner Untat nicht wiedergesehen. – Die Tür öffnete sich langsam, und auf der Schwelle erschien wirklich in Lebensgröße mein Freund Theobul Raimund Weitenweber, ein Individuum, welches wahrlich einer Personalbeschreibung würdig ist.

Mein Freund ist lang und hager wie ein Laternenpfahl, mit welchem er noch die Ähnlichkeit hat, daß auch er erst bei einbrechender Nacht anfängt aufzuflackern und gasartig zu leuchten. Sein Haar ist von unbestimmter Farbe und stets kurz geschoren, seinen Spitzbart aber läßt er wachsen je länger, je lieber, und spielt derselbe ein wenig ins Rötliche. Dreht sich mein Freund um, so braucht er zu diesem einfachen Manöver wenigstens eine halbe Minute, setzt er sich nieder, so nimmt er genau die Stellung des Memnonsbildes in der Wüste an. Mein Freund führt einen Stock, der aber nur dann die Erde berührt, wenn ihn sein Herr in einem Winkel absetzt, sonst kommt er selten unter der linken Achsel seines Begleiters fort. Mein Freund Weitenweber trägt grauweiße Unaussprechliche, die unten in ein Paar schief gelaufene Stiefel enden, welche man unwillkürlich mit versteinerten antediluvianischen Mammutsfußstapfen in Verbindung bringt; einen weißgrauen Rock mit großen Knöpfen und einen eingedrückten weißgrauen Hut, in welchem sich ein buntes seidenes unheimliches Taschentuch aufhält. Handschuhe sind meinem Freunde etwas Unbekanntes, und alle denkenden Menschen, welche ihm auf seinen Wegen durchs Leben und durch die Gassen begegnen, bleiben, wenn sie es auch noch so eilig haben, stehen und blicken ihm verwundert nach. Mein Freund Weitenweber aber schaut niemand nach; abgemessenen Schrittes bewegt er sich, die spitze Nase hoch in den Lüften, die grauen, wie faules Holz glimmenden Augen halb geschlossen, die Unterlippe vorgeschoben, seinem jedesmaligen Bestimmungsort zu. –

»Guten Abend!« sagte diese Kreatur, welche mir die Salontür der Frau Geheimrätin von Weißvogel vor der Nase zugeschlagen hatte. – »Guten Abend, Weitenweber! Du hast mir eine schöne Geschichte eingerührt; ich wollte –« – »Weiß, was du wolltest!« sagte mein Freund mit einem Seufzer und zog aus seiner Rocktasche eine Flasche, deren Hals er mir zu fassen gab.

»Weitenweber, du hast mir einen großen Verdruß bereitet!« Gravitätisch zog das stoische Geschöpf eine zweite Flasche hervor und stellte sie auf den Tisch. »Ich werde nie wieder zu Gnaden angenommen werden – ach, Marie, ach, holde Sophie!«

Wo kriegte der Mensch alle die Flaschen her? Zwei andere machten ihre Erscheinung, und eine fünfte beschloß den Reigen. Gegen die Taschen meines Freundes sind die meinigen gar nichts.

»Weitenweber, ich habe wahrhaftig Mühe, dir diese Geschichte zu verzeihen. Sie hätten mich ganz gewiß auf heute abend eingeladen. O Albine, Johanne, Theodore! Wie angenehm hätte ich den Weihnachtsabend hinbringen können!« – »Ja, es soll Weihnachten sein!« sprach Weitenweber mit seiner Grabesstimme, nahm langsam den Hut ab, zog einen Stuhl an den Tisch, setzte vorsichtig seine edle Kopfbedeckung darunter, als könne es niemals einen sicherern, besseren Platz dafür geben, stellte seinen Wanderstab hinter den Ofen, kam zu dem Tisch zurück und saß nach zwei Minuten lotrecht mir gegenüber.

»Wirf die Bücher vom Tisch, Hinkelmann,« sagte er und brachte aus seinen Taschen jetzt auch noch mehrere Zitronen und eine löschpapierne Tüte mit gestoßenem Zucker zum Vorschein. Es waren wundersame Taschen! – »Mische den Stoff, Hinkelmann.« – Ich wußte nicht, ob ich lachen oder ob ich wütend werden sollte, holte aber doch meine geborstene Suppenschale hervor, welche mir als Punschbowle diente, und schob den Teekessel in den Ofen.

Während ich mich damit beschäftigte, sah mein Freund starr auf die Puppe, welche noch immer auf Meusels Gelehrtem Deutschland vor ihm lag. Von Zeit zu Zeit berührte er vorsichtig mit der Spitze des Zeigefingers ihre eingedrückte Nase und gähnte gewaltig dabei, bis er sich plötzlich erhob, zum Fenster hinschritt, die Arme übereinander schlug und hinausstarrte, wie ich vor einer halben Stunde hinausgestarrt hatte. Unterdessen fing das Wasser im Kessel an zu singen und zu sprudeln, und ich bekam zu viel zu tun, um mich ganz meinem langen Freund widmen zu können. Ich hörte nur, daß er von Zeit zu Zeit etwas vor sich hinmurmelte, bis ich endlich mit zwei gefüllten dampfenden Gläsern zu ihm hintrat und ihm das eine reichte. Er nahm es, hielt es in die Höhe, stieß ein dumpfes Geknurr aus, goß den Inhalt hinunter, seufzte, gab das Glas mir zurück und sprach: »Mehr Rum!«

Ich verbesserte den Stoff, und einen Augenblick später saßen wir einander gegenüber, die dampfende Schale in unserer Mitte. – Meusels Gelehrtes Deutschland nebst allen andern Büchern und Schreibgerätschaften war in die fernsten Winkel geflogen; die Puppe aber blieb neben unsern Gläsern liegen. Von der Gasse drang fröhlich das Geräusch der Weihnacht bis zu uns empor; im Hause jubelte bald nah, bald fern eine Stimme auf, und Weitenweber fing an seinen Spitzbart zu drehen, welches ein Zeichen größter Behaglichkeit bei ihm ist.

»Die Frau Geheimrätin von Weißvogel ist –« – »Eine Gans und soll mir mit ihrer Gänseblümchenpoesie vom Leibe bleiben. Fülle mein Glas, Hinkelmann.« – Ich kam dem Gebote nach, vernachlässigte aber auch mich selbst nicht. – »Nun kannst du noch einen Klotz in den Ofen werfen und mir einen Stuhl unter die Füße schieben. – So! – Nun unterhalte mich!«

Jetzt konnte ich nicht mehr. Ein ungeheures Gelächter verjagte alle Grillen und bösen Geisterchen, welche sich verschworen zu haben schienen, mich an diesem Abend zu quälen. Was aller Geist und Witz, der sich in der großen Stadt aufhalten soll und aufhält, nicht gekonnt haben würden, das brachten jetzt das unerschütterliche Phlegma und die kolossale Unverschämtheit meines edlen Freundes zuwege.

»Auf dein Wohl! Auf dein Wohl, Theobul!« rief ich ganz erheitert und stürzte ein Glas Punsch hinunter. – »Mein Wohl liegt mir sehr am Herzen,« versetzte Weitenweber, kam meinem Beispiele nach und schob mir sogleich das geleerte Glas wieder zu. – »Ich danke dir, daß du gekommen bist, Weitenweber!« sprach ich, indem ich es füllte. »Der Mensch besteht aus Leib und Seele, die edelste Kraft der letzteren aber ist die Vernunft!« sagte mein Freund, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich bin ein sehr vernünftiges Wesen.«

»Der Weihnacht Gruß!« rief ich, das Glas erhebend. – »Der Weihnacht Gruß!« wiederholte mein Freund, ergriff die Puppe, welche neben ihm lag, betrachtete sie eine Zeitlang und fuhr fort: »Da liegt Mysterium magnum, – das große Geheimnis – wie Jakob Böhme sagt. Wie bist Du an diese Puppe gekommen?« – Ich erzählte es. – »Und Du langweiltest Dich an diesem Weihnachtsabend? Du, welcher behauptest, ein Dichter zu sein?« Ich sah seufzend auf meinen wachsenden Körperumfang, aber Weitenweber fuhr fort: »Jakob Böhme sagt auch noch: ›Liebe Brüder zu Babel, tanzet doch nicht von außen ums Mysterium!‹ – Fülle die Gläser, Hinkelmann, nochmals der Weihnacht Gruß!«

Das aschfahle Gesicht meines Freundes rötete sich ein wenig, seine Augen gewannen allmählich einen stärkeren Glanz; es zuckte um seinen Mund. »Es ist mancherlei Art der Stimmen in der Welt, und derselben ist doch keine undeutlich, – sagt der Apostel Paulus. Horch, was die Stadt spricht, Hinkelmann! Der Weihnacht Gruß! Der Weihnacht Gruß! – Sei so gut und fülle die Gläser, Vortrefflichster!« – Es geschah. – »Elf Uhr! Nun schlafen die Kinder über ihren Freuden, ihren Puppen und bunten Bildern und goldenen Früchten ein und liegen traumlos in ihren Bettchen – dein Glas ist leer, Hinkelmann! – die Erwachsenen aber sorgen und jubeln noch fort, und wenn ihnen der Schlaf kommt, kommen mit demselben die Träume, das Irrlichtervolk des Geistes. Viele träumen auch wachenden Auges, und ich gehöre zu ihnen. Gebt mir Weihnachtsträume, gebt mir einen Weihnachtstraum, ihr geheimen Mächte, welche ihr die Menschen führt auf ihren Wegen! Auf dein Wohl, Hinkelmann, – und fülle die Gläser.«

Wahrlich, ich hatte die Gläser schon so oft gefüllt, daß mir ganz seltsam zumute ward. Was fiel dem Tische, der Punschschale, den Stühlen ein? Niemals in meinem Leben hatte ich solche krampfhafte Lebendigkeit an meinem Freunde Weitenweber gesehen. Er wackelte von einer Seite auf die andere, ward klein und groß, und wenn er trank, geschah es oft aus zwölf Gläsern zugleich. – Zwölf Uhr! verkündigte feierlich die Glocke der Marienkirche. Ein blauer Nebel lag vor meinen Augen. –

»Diese Welt ist ein großes Wunder!« sagte Weitenweber. »Wir wollen über die Weihnachtswelt wandern, Karl Theodor Hinkelmann! Fülle die Gläser. Diese Puppe soll uns führen! Ich erkenne eine alte Bekannte in ihr – holla, spiritus viarumdaemon ambulatorius! Erwache, Liebchen!«

Ja, fülle einmal einer die Gläser! Wenn sie nur nicht so gewackelt hätten! Und noch dazu mußte ich auf das Wunder achten, welches sich vor meinen Augen begab. Was hatte mein Freund Weitenweber mit meiner Puppe angefangen? Ich sah, wie sie den einen Arm ausstreckte, dann den andern – sie gähnte – dehnte sich – richtete sich auf – sah lächelnd umher – erhob sich ganz und stand aufrecht neben der Punschschale, machte einen zierlichen Knicks und darauf eine Handbewegung, die nichts anderes sagen konnte als: Meine Herren – me voilà! –

Bei Gott, das war nicht mehr Leder und Kleie und bunte Läppchen, das war nicht mehr ein von Kinderhändchen abgegriffener Holzkopf mit eingedrückter Nase! Elfenhaft-lebendig, in zierlicher Schönheit stand das kleine Wesen da und lehnte an einem Stäbchen, welches funkelte, als sei es aus einem Sonnenstrahl geschnitzt. Mit offenem Munde sah ich auf meinen Freund, welcher mit unbeweglicher Miene dasaß, als ob die Geschichte ganz in der Ordnung sei. Das einzige, womit er das Wunder begrüßte, war ein gewaltiger Seufzer und eine noch gewaltigere Wolke Zigarrendampfes.

Das kleine Wesen drohte ihm lächelnd und sagte: »Was hab' ich doch für Not mit dir! Zur Verzweiflung bringst du mich noch durch dein Gesicht. Nun sei artig und stelle mir den Herrn da vor.« – »Herr Karl Theodor Hinkelmann,« sprach mein Freund, auf mich zeigend, »ein Poet von Kopfzerbrechens Gnaden.« – »Freut mich ungemein,« schob die Elfe ein, mein Freund Weitenweber aber fuhr fort: »Hat sich bis jetzt mehr der Feld- und Waldpoesie gewidmet und mit Morgenröte, Blumenduft und Maikäfern gehandelt; wird aber jetzt zu fett dazu.« – »Es gibt auch in Feld und Wald Geschwister von mir,« sagte die Kleine. »Ich liebe die frische Luft, welche von den Feldern und Wiesen da draußen in mein Häuser- und Gassenreich dringt; ich liebe das Wasser, ich liebe die Blumen, wenn sie in der Scherbe vor den Fenstern zu blühen versuchen!«

»Und darf ich fragen, mit wem ich die Ehre habe –?« fragte ich jetzt und hielt mich mit beiden Händen an meinem Stuhl, weil ich erwartete, er würde im nächsten Augenblick mit mir davonfliegen. – »Wir haben keinen Namen, wir sind ein großes Geschlecht,« versetzte mit silberhellem Stimmchen die Kleine. »Wir in den Gassen, wir sind die Geister der Gassen – der da kennt uns!« – »Ja, ich kenne euch,« sprach mein Freund Weitenweber.

»Wir wohnen in der Kellerwohnung und in der Dachstube, wir schweben durch die glänzenden Ballsäle und sitzen zu Häupten der Kranken in den Hospitälern. Im Königspalast, in den Kirchen, in den Gefängnissen sind wir zu finden; wir begleiten den Sarg und den Taufzug und den Brautwagen, wir sind überall, wir erscheinen in tausenderlei Gestalten; aber wenige, wenige erblicken uns. – Was verlangst Du von mir, Theobul Weitenweber?« Und die Puppe erhob ihren Stab gegen meinen langen Freund. – »Zeige uns Deine Wunder! Laß deine Zauber walten, führe uns durch die Weihnachtswelt!«

»Ihr wollt die heilige Nacht sehen? Ei, ich will euch wohl führen – aber du weißt, Weitenweber, meine Bilder sind bunt, und der Herr (die Elfe zeigte auf mich) sieht aus, als würde er sie aufschreiben und drucken lassen und – dann fällt alle Schuld auf mich.« – Weitenweber nickte und schnippte die Asche von seiner Zigarre und sagte: »Laß ihn! Narrenhände beschmieren Tisch und Wände. Wenn wir beiden uns nur verstehen. Uff – ›ich bin der Allernärrischste, und Menschenverstand ist nicht bei mir‹ – Sprüche Salomonis, dreißigstes Kapitel, zweiter Vers.«

Das Püppchen lächelte und streckte seinen Stab in den Dampf, der noch schwach aus der Punschschale aufstieg. Sogleich verdichtete sich dieser, wallte massenhafter empor zur Decke und senkte sich dann langsam wieder herab, alles um uns her erfüllend. Die Lampe erlosch, aber ein helles Licht ging jetzt von dem kleinen Zauberwesen aus, welches in der Mitte des Nebels schwebte und seinen Stab langsam über dem Köpfchen schwang. Plötzlich tauchte es aus der Nacht auf, verschwunden war meine Punschschale, verschwunden meine Stube, die Stühle rutschten unter uns weg – wir befanden uns in einem geräumigen, behaglich ausgestatteten Gemache, in dessen Mitte auf einmal ein ziemlich großer Christbaum mit erloschenen Lichtern stand. Keine Menschenseele war zugegen. Eine tiefe Stille herrschte ringsumher. Der Tisch, auf welchem der geputzte Baum stand, war mit Kinderspielzeug der verschiedensten Art bedeckt.

»Sie sind zu Bett gegangen,« sagte unsere kleine Führerin. »Soll der Zauber beginnen, Freund Weitenweber?« – Ich schaute mich nach meinem Freunde um; er stand weitbeinig da, die Hände in den Taschen, die Zigarre im Munde. Er nickte.

Die Elfe setzte sich leuchtend in die höchsten Zweige der Weihnachtstanne und lehnte sich an den Goldstern auf der Spitze und sah nachdenklich uns an. »Sie sind zu Bett, die Kinder, die Alten, die Freudigen, die Betrübten – ach, sie schlafen nicht alle, – aber die große Stadt ist still, so still, wie in diesem Augenblick der Platz da draußen im Walde, wo dieser Baum gewachsen ist. Meine Brüder und Schwestern, welche dort wohnen, haben zu dieser Zeit weniger zu tun als wir, deren Reich die Gassen sind. Der Frühling schläft noch in den braunen Knospenhüllen an Busch und Baum wie meine Kinder in der Stadt in ihren Bettchen; die Käfer, die Schmetterlinge schlafen. Meine Geschwister da draußen haben jetzt nur für die braven Burschen, die Hasen und die frommen Rehe, zu sorgen und darauf zu achten, daß die herabsinkenden Schneeflocken die Gräser und Blumen und die junge Saat auf den Feldern hübsch zudecken, bis der Frühling alles aufweckt. Da draußen ist alles still; aber die große Stadt hat einen unruhigen Schlaf! Sie hat auch böse, böse Träume! Es schleichen Gestalten in den Gassen, finstern Herzens; es zählen die Kranken auf ihrem Schmerzenslager die Stunden, und die Verbrecher in den Kerkern rasseln mit ihren Ketten, und die Liebe ist noch wach und der Haß und das Glück und das Elend! Wir haben viel, viel zu tun in der großen Stadt!«

»Werde nicht elegisch. Kleine, du weißt, das kann ich nicht vertragen!« sagte Weitenweber. »Zeige uns die Weihnacht!« – »Was ich sagte, gehört dazu.« – »Was du sagst, verstimmt mich. Ich liebe die Heiterkeit.« – Die Elfe brach in ein helles Gelächter aus, das wie ein silbernes Glöckchen klang, und schaukelte sich auf ihrem Zweige.

»Er liebt die Heiterkeit! Er liebt die Heiterkeit! Nun, so hört! Vor kurzer Zeit war hier ein fröhliches Getöse. Dort hinter jener Tür lauschte ungeduldig pochenden Herzens eine Kinderschar, während hier der Vater und die Mutter diese Weihnachtstanne schmückten, und die ältere Tochter alle die Puppen und Pferde und Trompeten und Trommeln und die andern Geschenke ordnete. ›Horch, wie sie trappeln!‹ sprach lachend der Vater. ›Bist du bald fertig, Marie?‹ – ›Gleich, dieser Honigkuchenmann will durchaus nicht festhängen. So, endlich!‹ – ›Hier Richards Trommel, hier die Puppen für die Mädchen, hier Eduards Harlekin!‹ rief freudig die Mutter. ›Alter, nun kannst du die Lichter anzünden!‹ Im nächsten Augenblick flammte der Baum in voller Pracht; das Weihnachtsglöckchen erschallte und die Kinder stürzten jubelnd herein. Ich war dabei, ich gab acht, daß alles glücklich von statten ging.« –

»Ja, ich hörte den Spektakel, als ich die Treppe hinaufging,« bemerkte Weitenweber. »Ich mußte stehen bleiben, denn meine Taschen zogen mich fast zu Boden.« – »Hei, es war ein schöner Abend, und es kostete nachher Mühe genug, die Kinder zu Bett zu bringen. Aber nun schlafen sie und wir haben das Reich und die Herrschaft. Nun sollen die Geister erwachen.«

Ihren Zauberstab schwingend, umschwebte die Elfe, welche mit zwei Groschen wahrhaftig billig genug bezahlt war, die geputzte Tanne, berührte hier einen vergoldeten Apfel, dort einen bunten Zuckermann, dort ein seltsamliches Tiergebild. Das umherliegende Spielzeug berührte sie ebenfalls – die Bleisoldaten in ihrer Schachtel, die Puppen, die Nußknacker, die Kobolde in ihren Schnupftabaksdosen. Und unter ihrem Zauberstabe ward alles lebendig. Ein Klingen und Singen ging durch das Gemach; die goldenen Früchte und Figuren schaukelten sich an ihren Zweigen, die Bleisoldaten marschierten heran, die Püppchen hüpften herzu und nur Eduards Harlekin fehlte, ihn hatte sein glücklicher Besitzer mit zu Bett genommen und hielt ihn gar fest mit seinen kleinen Händen, so daß er dem Zauber nicht Folge leisten konnte.

»'s ist die Möglichkeit!« sagte Weitenweber. »Was meinst du dazu, Hinkelmann? Schauderhafter Unsinn!« – Ich meinte gar nichts, der Kopf schwindelte mir. – »Nun sollen sie erzählen, wo sie herkommen!« rief die Elfe. »Hört ihr wohl, ihr da zwischen den grünen Zweigen?« Die Äpfel und Nüsse schaukelten sich stärker, die Puppen knicksten, die Honigkuchenherren und -damen schlugen in die Hände, bis auf einen griesgrämigen Patron, der sie in den Taschen stecken ließ und die Beine wie ein X ausspreizte.

»Beginne du!« sprach die Elfe, einen dickbackigen Apfel berührend, dessen gesunde, rote Naturfarbe schon wieder bedeutend durch das aufgelegte Schaumgold lugte.

Der Apfel drehte sich sogleich unzählige Male an seinem Faden nach links, hielt dann einen Augenblick ein, besann sich, drehte sich dann ebenso lange nach rechts, kam endlich zur Ruhe und begann: »Ich komme vom Lande. In meiner Jugend war ich eine Blüte, weiß und rot und duftend. Hunderttausende meiner Geschwister schaukelten sich um mich her. Ich war schön und wußte es; Bienen, Käfer und Schmetterlinge sagten es mir oft genug. Ach, wo sind meine Blütenblätter geblieben? Der Wind trug sie von dannen, fort über den Garten, auf die staubige Heerstraße. Sonnenschein und Regen habe ich genossen; Tausende meiner Geschwister habe ich sterben und vergehen sehen. Ich dachte auch zu sterben! Aber Sonnenschein und Regen stärkten mich, der Sturm konnte mir nichts anhaben; ich wuchs und gedieh, meine Wangen fingen an zu glühen. Nun bin ich hier, und ich weiß nicht, ob ich wache oder träume! Man hat mir Glanz gegeben. – Wer sagt mir, wo ich bin? Wer sagt mir, ob ich wache oder träume?«

Weitenweber seufzte: »Ich nicht!« – »Ja, wer sagt mir, ob ich wache oder träume!« rief ich. – Die Elfe aber berührte, als der Apfel schwieg, seinen Nachbar, einen mißgünstig aussehenden gelben Honigkuchenmann, mit einer bitteren Mandel als Herz, und sagte: »Nun erzähle du!«

»Wer hat Ihnen das Recht gegeben, mich zu belästigen?« schnarrte dieser. »Respekt, ich bin eine Standesperson, ein Staatsbürger erster Klasse! Lassen Sie mich in Ruhe!« – »Hei,« rief die Elfe, »Du warst es, welcher sich gestern nicht aufhängen lassen wollte, du wolltest, als ich euch erweckte, die Hände nicht aus den Taschen ziehen!« – »Gute Nacht!« schnarrte der süße Staatsbürger erster Klasse und drehte uns die Schattenseite zu. – »Höflichkeit ist eine schöne Tugend!« bemerkte Weitenweber. »Darf ich Ihnen meine Visitenkarte einhändigen?« – »Ich bin süß, das weiß ich!« sagte der Honigkuchenherr, noch einmal über die Achsel schauend. »Ich habe die Kritik nicht zu fürchten.« – »Schlafen Sie wohl, Brummbär!« rief ärgerlich meine Puppe. »Mögen Sie sobald als möglich verzehrt werden!« – Es gibt auch noch hohle Zähne und schlechte Magen, das tröstet mich!« sagte gähnend der süße Mann. –

»Laßt ihn, laßt ihn!« riefen jetzt zwei Puppen, von denen die eine wie eine Balldame, die andere wie eine Bäuerin angetan war. »Wir wollen euch unsere Geschichten erzählen!« Und die Bäuerin begann: »Ich komme aus einer engen, dunklen Gasse. Da befindet sich in einem hohen Hause ein kleines Stübchen. Da bin ich geboren. Am Fenster stehen fünf Blumentöpfe mit Schlingpflanzen. Die grünen Blätter winden sich in jedem Topfe über und um ein kleines Holzkreuz, auf welchem jeden ein Name geschrieben ist. Eine alte Frau sitzt am Fenster mit der Brille auf der Nase und näht. Ihr verdanken wir das Leben. Ein kleines Mädchen, ihre Enkelin, sitzt ihr zu Füßen und reicht ihr die bunten Zeugstückchen zu oder fädelt ihr die Nadel ein. Die alte Frau hatte vor wenig Jahren noch eine zahlreiche Familie – jetzt lebt nur sie und das kleine Mädchen noch allein. Auf jedem Kreuzchen in den Blumenscherben steht der Name eines der Gestorbenen. Die alte Frau kann nicht mehr hinausgehen, durch die weite Stadt, zu dem Kirchhofe vor dem Tore, sie hat sich einen kleinen Kirchhof in ihrem Fenster angelegt. Das große Gesangbuch liegt auf dem kleinen Tischchen vor ihr, die alte Katze schnurrt zur Seite der Enkelin, welche mit leiser Stimme ein Schullied singt. Bratäpfel tanzen singend im Ofen, und von Zeit zu Zeit sucht einer das Weite und rollt hinab auf den Fußboden und hin über den weißen Sand. Das ist jedesmal ein großes Ereignis, in dem kleinen Zimmer. Das Kind springt lachend dem Flüchtling nach, der Kater macht schnurrend einen Buckel, die Großmutter aber hält mit ihrer Arbeit ein und schiebt die Brille auf die Stirn. Ist das nicht wie ein Blick in ein Märchen? Wir –«

»Wir sind aber nicht in dem kleinen Stübchen bei der Großmutter und dem Kinde, der Katze und den Bratäpfeln geblieben!« fiel hier die Balldame der Bäuerin ins Wort. »Wir sind endlich hinaus gelangt in die große Welt, hinaus auf den Weihnachtsmarkt. Ei, das war etwas anderes! Da waren Lichter und Glanz, da war Leben, Hunderttausende von Menschen! Ich bin für die große Welt geboren, ich trage Krinoline. Deshalb bekam ich auch meinen Platz ganz vorn; den besten Platz, von welchem aus ich das ganze Getümmel überschauen konnte. Wie die Leute mich anstarrten! Ei, meine schönen, weißen Schultern gefielen ihnen. Ich saß in dem ersten Rang, und der Käufer kam bald genug, eigentlich viel zu früh für mich; ich wäre gern noch an meinem Platz geblieben; ich bin für die große Welt geboren.«

Ein gewaltiger Seufzer Weitenwebers unterbrach hier die Sprecherin. Mein Freund hatte seine Brieftafel hervorgezogen und notierte sehr eifrig die Rede der Balldame, wobei die Zigarre sich in seinem linken Mundwinkel taktmäßig auf und ab bewegte.

»Ach, wer doch auch für die große Welt geboren wäre!« ließ sich jetzt eine Stimme vernehmen, welche aus der Tiefe, grabesähnlich, hervorkam. Unsere kleine Elfe schaute von ihrem Zweige verwundert nieder, und ebenso taten alle Puppen und Püppchen; nur der Staatsbürger erster Klasse rührte sich nicht.

Auch ich sah mich nach dem Sprechenden um, mein Freund Weitenweber aber entdeckte ihn zuerst. Stöhnend klappte er seine lange Gestalt zusammen, bildete aus seinen unendlichen Beinen zwei spitze Winkel, legte die Hände auf die Knie und blickte ernsthaft und schweigend auf einen seltsamen schwarzen Burschen, welcher wehmütig und vergessen unten am Stamm der Weihnachtstanne stand. Er schien aus getrockneten Pflaumen zusammengesetzt zu sein, der Kopf bestand aus schlecht bemaltem Ton, die Haare glichen einem Büschel Schweinsborsten. Er hatte eine Art Besen in der Rechten, und mit der Linken setzte er eben eine Leiter an den Stamm der Weihnachtstanne, um daran hinaufzuklettern in die grünen, geschmückten Zweige.

»Seht mal den! Seht mal den! O welch eine Nase! O welche Augen! O welches Haar! Seht seine Beine!« erklang es von allen Ästen. – «Laßt ihn!« rief die Elfe, ihren Stab ausstreckend. – »Er wird meine Robe beschmutzen,« sagte die Balldame, ängstlich hin und her trippelnd. – »Werft ihn hinunter; er riecht so übel!« riefen die Marzipane, und der Lebkuchenmann wachte plötzlich auf aus seiner Erstarrung und schnarrte: »Schlagt ihn auf den Kopf, schlagt ihn auf den Kopf! Was will der Proletarier hier oben?«

»Kehren, kehren, kehren!« rief der schwarze Pflaumenbursche unten und faßte die ersten grünen Zweige und schwang triumphierend seinen Besen. Alles rettete sich vor ihm so hoch als möglich hinauf, und nur die kleine Bäuerin blieb auf ihrem Platze. »Sie fürchten sich vor mir; sie wollen nichts von mir wissen; – ich will kehren, kehren, kehren!« sagte der schwarze Mann; aber die Elfe flatterte zu ihm hin, faßte mit ihren weißen Händchen seine drohend aufgehobene Pfote und sang: »Laß sie, laß sie! Störe die heilige Nacht nicht! Es sind Freunde hier, erzähle deine Geschichte!«

Der schwarze Bursche kauerte demütig nieder auf dem Zweige, welchen er erreicht hatte, und begann: »Aus einer dunkeln, feuchten Kellerwohnung komme ich; am hellsten Tage fällt kein Sonnenstrahl hinein. Im Sommer läuft das Wasser in Tropfen von den schwarzen Wänden, und im Winter überziehen sich dieselben mit weißem Reiffrost. Da bin ich geboren. Als ich meine Geburtsstätte verließ, lag auf dem Strohlager im Winkel unter einem Stück grober Sackleinwand eine Leiche, und viele, viele hungrige Kinder kauerten verschüchtert umher. Am Tisch saß ein starker, kräftiger, aber bleicher und hohlwangiger Mann beim Schimmer einer elenden Lampe. Die Hand, die einen Stier niedergeschlagen hätte, bog den Draht, reihte die welken, schmutzigen Früchte auf, welche meine Glieder bilden. –

In dem Schneewind da draußen, in der kalten Winternacht, auf den eisigen Steinen sitzt ein armes kleines Kind, und vor ihm stehen meine Brüder in Reih und Glied aufmarschiert. O kauft sie, kauft sie! Sie kosten nicht viel! Ihr seid barmherzig, ihr scheut nicht das Ausgeben des Geldes, nur das Stehenbleiben und Suchen nach Geld scheut ihr. O kauft meine Brüder! Die Hand, die nach den Kupferpfennigen greift, ist bald wieder gewärmt; der Schnee, welchen der Nordwind über die Stadt treibt, ist schneidend; meine Brüder frieren, und das kleine Kind hat weder Schuh noch Strümpfe in der Winternacht.« –

»Die bewaffnete Macht werde ich aufrufen!« schrie der Honigkuchenmann. – »Angetreten!« rief eine dünne Stimme. »Schultert 's Gewehr! Marsch! Marsch!« und die Bleisoldaten rückten klirrend heran. Aber die Elfe berührte den süßen Kerl mit ihrem Stabe, und er mußte sich zufrieden geben, auch die Bleisoldaten hielten es für angemessen, sich still in ihrer Schachtel in den Hinterhalt zu legen. Weitenweber aber kratzte sich hinter dem Ohre und schnitt Gesichter wie ein Besessener.

»Christ ist geboren! Christ ist geboren!« rief die Elfe. »Hört ihr die Glocken in der stillen Nacht? Christ ist geboren! Christ ist geboren! Hört ihr die Stimmen im Himmel, die Stimmen auf Erden? Christ ist geboren! Friede im Himmel und auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« – » Et nunc et semper et in saecula saeculorum!« sang Weitenweber mit heiserer Stimme. »Wenn es nur schon so wäre!«

»Christ ist geboren! Christ ist geboren!« rief die Elfe aufs neue und erhob den Stab. Das Reich der Puppen war blitzschnell in die Dunkelheit, in das Nichts zurückgesunken. Graue Wolken umgaben uns, und wir wurden von ihnen getragen, und die Elfe schwebte in unserer Mitte. Ihre Gestalt ward größer und größer, ihre kindlichen Züge wurden ernst, behielten aber ihre unsägliche Schönheit. – Ein feierlicher Gesang, Orgelklänge und Glockengeläute ertönten leise, leise unter unsern Füßen und wie aus weiter Ferne. –

»Wir schweben über der Weihnachtserde, aber wir sehen sie nicht. Das einzelne ist vergangen!« sagte mein Geist, in dem mehr steckte, als ich bei seinem Einkauf vermutete. »Horcht, die katholische Kirche!«

» A solis ortus cardine
Ad usque terrae limitem
Christum canamus principem
Nazm Maria virgine
«

erklang es, jetzt anschwellend, jetzt verhallend, wie aus Hunderttausenden von Kirchen nah und fern. – »Horcht, die protestantische Kirche!« rief die Elfe, und näher, voller, kräftiger brauste es auf:

»Vom Himmel hoch da komm' ich her,
Ich bring' euch gute neue Mär,
Der guten Mär bring' ich so viel,
Davon ich singen und sagen will!«

»Christ ist geboren! Christ ist geboren!« sang die Elfe. »Der Morgen kommt, der Morgen kommt! Seht da!« – Aus dem Nebelmeer unter uns tauchte es auf: Türme, Kuppeln, Dächer, weißbeschneit, erschienen. Lichter blitzten hier und dort. Die Orgelklänge, der Gesang verhallte, aber ein dumpfes, unbestimmbares Rauschen drang zu uns empor. Ein trübes Chaos lag die große Stadt zu unsern Füßen, überdeckt von dem dunkel wallenden Wolkenschleier.

»Der Morgen kommt, der Morgen kommt! Friede allen Betrübten, allen Bekümmerten!« sang die Elfe. – »Seht, die Krähen flattern um die Kirchtürme! Horcht, die Gassen rufen mich! Dort kommt das Licht!« – Ein roter Schein zuckte im Osten empor.

»Ich scheide, ich scheide!« rief die Elfe. »Gruß dem Christmorgen!« – Sie zog den weißen Wolkenschleier, der sie umgab, über ihrem Haupt zusammen, die Umrisse ihrer Gestalt wurden unbestimmter, – sie war verschwunden.

»Weitenweber!« schrie ich entsetzt. Die Wolken, welche mich bis jetzt getragen hatten, wichen unter meinen Füßen, kopfüber schoß ich pfeilschnell herab auf das Häusermeer, gerade auf eine fatale Kirchturmspitze zu – schrille, scheußliche Stimmen schlugen an mein Ohr. »Weitenweber!« schrie ich. »Hilfe!« – Die Krähen um den Turm der Marienkirche fuhren krächzend auseinander, ich schlug nieder auf die Spitze der Wetterfahne und erwachte.

Tiefe Dunkelheit umgab mich, nichts rührte sich. Ich tastete mit zitternder Hand umher und fand, daß ich auf dem Fußboden saß. Hinter mir hatte ich die Lehne meines umgefallenen Stuhles. Eine geraume Zeit hindurch starrte ich verblüfft in die Nacht, bis sich allmählich meine fünf Sinne wieder zusammenfanden. Ein glühender Punkt in der Dunkelheit zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein tiefer Seufzer ließ sich vernehmen. »Weitenweber!« rief ich.

Der glühende Punkt bewegte sich ein wenig. – »Was gibt's?« fragte die grabesähnliche Stimme meines Freundes. – »Was ist aus der Lampe geworden?« – »Ausgegangen vor einer Stunde.« »Weitenweber!« – »Nun?« – »Ich glaube, ich bin mit dem Stuhl umgefallen!« – »Scheint so.« – – »Ach – Weitenweber!« – »Bist du nicht bald fertig?« – »Ich habe einen seltsamen Traum gehabt.« – »So? Freut mich ungemein! Es mag schönes Zeug gewesen sein! Daß du dich nicht unterstehst, ihn zu Papier zu bringen; – hast dem Chamäleon gerade genug Abonnenten verjagt! Der Stoff ist zu Ende – o!«

Ich erhob mich taumelnd und renkte meine Glieder ein wenig wieder ein. Dann gelang es mir, nach Überwindung mancher Schwierigkeiten, Licht anzuzünden. Wahrhaftig, ich befand mich in meinem Zimmer, und an meinem langen Freund war durchaus keine Veränderung zu bemerken. Berge von Zigarrenasche und Wolken von Zigarrendampf umgaben ihn; übrigens steckten seine Hände noch immer in den Hosentaschen, streckten sich seine Beine noch immer so weit als möglich in die Unendlichkeit hinaus. Sein Hut stand noch immer unter seinem Stuhl. –

Ich kann es nicht leugnen, der Blick, welchen ich auf die Puppe neben der leeren Punschbowle warf, war etwas scheu und mißtrauisch. – Ich seufzte, Weitenweber seufzte. –

Schöne Damen, bittet für uns! –


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