Wilhelm Raabe
Gedelöcke
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4.

Von dem Herrn Obristen Benediktus von Knorpp

Von den soeben beschriebenen Stunden an flossen natürlich nunmehr alle die verschiedenen bedenklichen Gerüchte über den Kurator in der einen entsetzlichen Gewißheit von der grausamen, abscheulichen und verruchten Apostasie des Mannes zusammen, und mit schauderndem Wohlbehagen sah ihm die Stadt Kopenhagen in die Fenster. Nun kamen die absonderlichsten Histörchen zu Haufen hervor wie die Regenwürmer beim Laternenschein, und hundert Leute, welche den Kurator in ihrem Leben nicht gesehen hatten, erinnerten sich an Dinge und Worte aus jeder Epoche seines Daseins, die wohl geeignet waren, die allgemeine christliche Betrübnis zu begründen und zu steigern. Die Herren Doktores segneten ihren abtrünnigen Patienten nach jeglicher Krankenvisite; denn wenn auch ihre Kunst sie dann und wann im Stiche lassen mochte, Jens Pedersen Gedelöcke ging ihnen nimmer aus, und wie nützlich und annehmlich ein solcher stets frischer Gesprächsstoff sein mag, das weiß der wohl, so selber eines solchen in seinem Berufe bedürftig ist. Auch der ehrwürdige Herr Hieronymus zog nach besten Vermögen seinen Vorteil aus dem halsstarrigen rationalistischen Sünder und wußte ihn an jedem Sonntag in seiner Trinitatiskirche in einer andern und stets feurigeren Beleuchtung als abschreckend Exempel auf die Kanzel zu bringen und fand nur einen Dorn an der Rose, nämlich den frommen Eifer der Kollegen, so den Kuratorem zu eigenem Gebrauch entlehnten, ohne das ius primae possessionis im geringsten zu achten. Was den Famulus David Bleichfeld anbetraf, so konnte derselbe nicht mehr über die Gasse gehen, ohne daß sich Mann und Weib an seinen Mantel oder Rockschoß hingen, um ihn mit Fragen, Kopfschütteln und guten Ratschlägen bis aufs äußerste zu torquieren.

Im Hause selber hockte die Frau Mette im Sack und in der Aschen, hielt ihr Töchterlein zwischen den Knieen, genoß wie die Stadt Kopenhagen den kitzelnden Schauder des unerhörten Zustandes und nahm dazwischen in zerknirschter Gehobenheit die wunderlichsten Kondolenzbesuche an. Es kamen Leute aus den höchsten wie aus den niedrigsten Ständen zu ihr: gottesfürchtige Kammerherrn und Hofdamen vom erleuchteten Hofstaat Seiner Majestät des Königs Christian des Sechsten, theologisierende Geheimräte, mystische Schuster, wohlmeinende Bürgerfrauen, besonders aber viele Pastorenwitwen mit den gedruckten oder ungedruckten Predigten ihrer Seligen und mehr als ein inspiriertes Waschweib. Die hohe und niedere Geistlichkeit hielt das Haus blockiert, wie der Türk den Russen Anno elf am Pruth; im Schoß der Universität summte und brummte es wie in einem Bienenkorb, der sich zum Ausschwärmen rüstet, und es war kein Teetopf, kein Bierkrug und keine Bettgardine, hinter welchen nicht das Pro und Contra in Sachen Gedelöcke mit Eifer abgewogen wurde.

Gedelöcke selber verbiß seine leiblichen Schmerzen hinter verriegelter Tür, ließ sich von seinem getreuen Famulo das Buch Koheleth, welches wir den »Prediger« Salomonis nennen, vorlesen, schlug noch einen Hauptsturm der Kopenhagener Prediger ab und machte am ersten Ostertage des durch ihn so denkwürdigen Jahres 1731 sein Wort wahr und ging mit dem Gefühl, als ob ihm ein eiskalter Teller auf den Magen gedrücket werde, hinüber in eine bessere Welt, um vor einer andern Stelle als dem dänischen Oberkonsistorio und dem Kopenhagener Polizeimeister und obern und untern Publiko von seinem Leben, Taten und Meinungen Rechenschaft zu geben. Er ersoff, verstockt wie Pharao, elendig im Roten Meere seiner Sünden, wie der Pastor Hieronymus Mockel sagte. Er zeigte, daß er zur richtigen Zeit seinen Abtritt zu nehmen wußte, wie der Professor Ludwig Holberg mit einem noch vieles andere sagenden Achselzucken bemerkte. Er schlug sich dreimal an die Brust und rief: »Ich weiß, daß ein allmächtiger Gott ist!« und verschied – wie Monsieur David Bleichfeld später auf dem Polizeiamt berichtete.

Nun weiß man aus der Geschichte, daß um die Stunde, da der großmächtige, grausame Tyrann und verruchte Königsmörder Olivier Cromwellius, so sich auch den Protektor von England heißen ließ, den Atem verhauchte, ein erschrecklich Unwetter sich erhob, welches viele Fensterscheiben und Schornsteine zerschlug, auch manchen Baum umwarf und sonst vielerlei betrübtes Unheil anrichtete: um die neunte Abendstunde des ersten Ostertages 1731, als der Kurator Gedelöcke seine Rechnung abschloß, entstand nur ein trockenes Wehen, das kaum den Staub und die Abfälle in den Gassen von Kopenhagen umherwirbelte, aber späterhin so gut wie das engelländische Sturmwetter zu den »Zeichen« gerechnet wurde. Es rasselte der Wind ein wenig an dem Fenster, als klopfe eine Hand an die Scheiben. »So lasse ich dich dem, welchem du angehören willst, Jens Pedersen Gedelöcke!« rief der Prediger von der Dreifaltigkeitskirche und entfernte sich mit seinem Küster Jesse Brägge; das Gesinde stürzte fort, die Frau verbarg sich mit dem Töchterlein in ihrem Gemache. Niemand harrte bei dem toten Manne aus als sein Famulus und sein Kater, welcher letztere später natürlich ebenfalls zu den »Zeichen« gezählt wurde. Und als David Bleichfeld eine halbe Stunde nach dem Tode seines Patrons in sein Kämmerlein hinaufstieg, um aus dem verborgensten Schubfach seines Schreibpultes das an den Herrn Obristen von Knorpp gerichtete Schreiben des Kurators hervorzunehmen, hielt der Kater die Leichenwache fürs erste ganz allein.

Mehr instinktmäßig und mechanisch als in klarer Überlegung dessen, was geschehen müßte, richtete der Famulus den letzten Auftrag seines Herrn aus; aber selbst die Gewißheit, nur der letzten Grille des Verstorbenen Vorschub zu leisten, würde ihn auf seinem Wege nicht aufgehalten haben.

Er verließ das Haus und trug das versiegelte Papier in beiden Händen vor sich her durch die finstern Gassen. An einer Ecke traf er auf die ehrwürdigen Herren von der Trinitatis- und der Frauenkirche, welchen ein Diener mit der Laterne vorleuchtete. Sie hielten den Verstörten an und sprachen, indem sie eine längere Zeit hindurch an seiner Seite schritten, heftig und hitzig auf ihn ein, ohne daß er sie anfangs verstand. Als er aber allmählich ihre Meinung und die Wege, welche sie gingen, begriff, da schob er das Schreiben Gedelöckes hastig in die Brusttasche und knöpfte mit zitternden Fingern jeden Knopf darüber zu; noch hastiger nahm er sodann seinen Abschied von den zwei Pastören und beschleunigte seine Schritte dergestalt, daß er fast gänzlich außer Atem vor der Wohnung des Obristen Benediktus von Knorpp anlangte und vor übermächtiger Aufregung und Mangel an Luft kaum imstande war, daselbst Einlaß zu begehren und seinen Namen zu nennen.

Da stand er denn auf dem Hausflur und murmelte: »Ah, so ist es gemeint! So ist es – o, ich konnte es mir denken! O, Jens Pedersen Gedelöcke! O, Herr Kurator! O, mein guter, guter Herr und Patron!« und aus dem obern Gestock des Hauses drang ein rauher, kriegerischer Gesang herab, welcher sein erschüttert Gemüte auch wenig kräftigte und festigte. Nun führte ihn eine uralte, hexenartige Dienstmagd die Treppe hinauf; nun trat er aus der Kühle in die Hitze, nun stand er zwischen gepackten Soldatenkoffern in einem dichten Nebel von Tabaksqualm, und das Lied von der Schlacht bei Kjöge paßte fürtrefflich zu dem Manne, so in hohen schwedischen Stiefeln, mit der Tonpfeife im Munde, zwischen dem Fenster und dem hohen Steinkrug auf dem Tische hin und her schritt und jedesmal, wann er die Nase und den Schnauzbart in dem Kruge versenkte, wußte, was er tat.

»Der Herr Obriste sind heute mittag von Altona angelanget und gehen übermorgen mit dem Regiment nach Frederikshall«, hatte die Wirtschafterin auf der Treppe dem Famulo mitgeteilt, und der Herr Obrister kommandierten sich selber »Halt!« und »Front«, standen stocksteif vor dem Boten des Kurators Jens Pedersen Gedelöcke und schnarrten:

»Bonsoir, Monsieur Bleichfeld; ist Er's denn, oder ist Er's nicht? Bei allem, was lebet, wie siehet Er aus, Herr Studio! Ist Ihm der General Stenbock, der König Karl oder der Teufel selbst begegnet? Was bringet Er mir von Sich oder Seinem Herrn?«

»Der Herr Kurator lassen sich dem Herrn Obristen allergehorsamst rekommandieren; – vor einer Stunde sind sie sanft entschlafen.«

»Halt!« schrie der Kriegsmann, beide Hände wie Klauen dem zusammenknickenden Famulus auf die Schultern schlagend und ihm die scharfe dünne Habichtnase so nahe als möglich unter die Augen rückend: »Ruhe im Glied! Was hat Er gesaget, Monsieur?«

Der Famulus wiederholte stotternd seine Nachricht, die hellen Tränen liefen ihm dabei jetzo über die hagern Backen, und der Kriegsmann ließ seine Schulterblätter frei, leerte im jähen Schrecken und Schmerz seinen Krug bis zum Grunde, setzte sich auf den nächsten Holzschemel und seufzte in tiefster Zerknirschung:

»O David Bleichfeld, das verdirbt mir mehr als diesen Abend! O Bleichfelde, mit diesem Wort hat Er mir mehr in der Hand zerbrochen als diese tönerne Pfeife, und Famule – holla – ich kenne den Jens Pedersen – und ich glaube Ihm noch nicht, Monsieur David! Er ist geschickt worden, mich anzulegen zum Willkommen, Kamerade, – sehe Er mir noch mal in die Augen.«

Noch einmal packte der alte Kriegsmann den Unglücksboten und sah ihm in das klägliche Gesicht. Als er ihn aber zum zweiten Male freiließ, zweifelte er nicht länger, sondern seufzte:

»O Jens, Jens, du halsstarriger, widerborstiger, närrischer Bursch, so hast du mir denn den letzten Schabernack gespielt und bist vom Posten abgezogen, ohne Lesung und Rapport zu hinterlassen. O du fahnenflüchtiger Bösewicht, die Hand hättest du wenigstens mir noch einmal drücken sollen! Monsieur Bleichfeld, ich sage Ihm, das hat mir nicht geschwanet, daß ich zu einem solchen Feste aus Holstein einrücken solle. O Jens, eine solche Freundschaft wie die unsrige ist nie erhöret worden, und nimmer haben zwo menschliche Kreaturen in solchem Hader, Ekel und Widerwillen miteinander gelebet, denn wir zwei beide! Monsieur Bleichfeld, seit wir uns vor unserer Väter Türen zu Helsingör um Ball und Kreisel die Köpfe blutig schlugen, seit wir in Rosenborg-Have Anno 1695 um die Mamsell Spegelmann einander in die Haare gerieten, sind wir wie zwo Zwillingsbrüder gewesen und haben kein Jahr verstreichen lassen, ohne uns gegenseitig aufs Eis zu führen, und nun ist er fortgegangen, Meister Bleichfeld, und hat seinen alten Kumpan allein im dänischen Dreck gelassen! Ich habe schon längst in Altona auf seine diesjährige Schnurre gewartet; aber solches geht doch über allen Spaß – ohne ein Aviso – ohne ein Wort zum Abschied –«

»Nicht ohne ein Wort zum Abschied, Herr Obrister!« rief der Famulus, das Schreiben seines Patrons hervorziehend. »Dieses ist für Euch, Herr von Knorpp, und mir auf die Seele gebunden. Leset und lasset mich Eurer Opinion, Eures Rates und Trostes genießen; es ist seine letzte Meinung also gewesen.«

Mit eilfertiger, ein wenig zitternder Hand hatte der Oberst nach dem wohlversiegelten Brief gegriffen, ihn mehrfach von jeder Seite beäugt und endlich erbrochen.

Da saß er am Tisch, die Skriptur auf Armeslänge von sich abhaltend, und das wechselnde Spiel der Muskeln auf seinem runzligen, zähen, verwetterten Ledergesicht war wohl eines feinen und gewandten holländischen Pinsels würdig. Betrübnis, Erstaunen, Zornigkeit und helle Wut zerrten in solcher blitzesschnellen Folge Stirn und Nase, Schnauzbart, Kinn, Backen und Mundwinkel durcheinander, daß der kummerbelastete Famulus ob des mirakulosen Anblicks betroffen Schritt für Schritt zurücktrat und zuletzt, als der Kriegsmann mit einem wilden Fluch und einem donnernden Faustschlag auf den Tisch verkündete, daß dieses das Tollste und Heilloseste sei, was ihm seit dem Travendahler Frieden vorgekommen, – wie von dem Faustschlag selber getroffen zusammenfuhr und schier in sich selber verschwand.

»Weiß Er, David Bleichfeld, was er mir hier schreibt«, schrie der Obrist und brüllte, als der Famulus den Kopf schüttelte: »Er wendet sich an mich und an Ihn, Davide, um sechs ungehobelte Bretter und ein stilles Loch in der Erde! Er weiß, was für schwarzes Gevögel ihm über dem Kopfe fliegt und herabstoßen will! Wir beide sollen ihn begraben, Monsieur, bei Nacht und Nebel, still und fein säuberlich, Monsieur. Er hat uns seinen armen stinkenden Leichnam vermacht, Meister David Bleichfeld. Seinem Hausdrachen trauet er nicht über die Gasse und noch viel weniger bis auf den Kirchhof, und was den ehrwürdigen Herrn Hieronymus Moekel anbetrifft, so – – Himmel und Hölle, bei allen Gruben, an denen ich je auf einem dänischen champ de bataille gestanden habe, Jens Pedersen Gedelöcke, es soll geschehen, wie du es wünschest, und sollte ich das Haus mit meinen Füsilierern im Sturm nehmen müssen!«

Auch der Famulus las nunmehro das Schreiben des Kurators und rief sodann: »O Herr Obrister, er hat recht, und Eile tut wahrlich not! Der Herr Oberprediger von Trinitatis ist freilich schon auf dem Wege, ein hochehrwürdiges Konsistorium ist bereits zusammenberufen, und was die Dunkelheit dieser Nacht gebiert, das wird am Morgen gar schön und propre daliegen –«

»Und übermorgen segeln wir auf Alt-Norge!« rief der Kriegsmann, den Dreimaster auf die Perücke stülpend; »Gewehr über! Marsch auf der ganzen Linie! O Jens, Jens, wie magst du von deiner Wolke herablachen, denn also hast du mich in deinem ganzen Leben noch nicht zum Narren gehalten; aber wer zuletzt lacht – ach Gott, es ist eine elende, nichtsnutzige Welt – marsch, Meister David, lasse Er die schwarzen Vögel nur zu Haufen fliegen; wir holen meinen Regimentsfeldscherer, Herrn Snorro Skalholt, aus seinem Garnisonsspital; dann können wir ihnen die Volte zu drei schlagen, und, Monsieur David Bleichfeld, wenn Er übermorgen mit mir und meinem Regiment an Bord des Själland gehen will, so soll Er mir hochwillkommen sein, und zu überlegen wär's!«

»Jawohl, zu überlegen wär's!« seufzte der Famulus; aber der Gedanke an das Testament des Kurators Gedelöcke, an die herrliche Bibliothek und die zweitausend dänischen Reichstaler legte sich ihm wie ein spanischer Reiter in den Weg; mit einem Ruck der Verzweiflung zog er den Hut in die Stirn, folgte unsicheren Schrittes dem Kriegsmann, welcher bereits die Treppe hinunterstapfte, und fand sich zwanzig Minuten später vor dem Spital der Kopenhagener Garnison unter dem Fenster des isländischen Doktors, welches der lange Oberst, auf den Zehen stehend, mit dem Stockknopf grad erreichte.

»Wach ist er; aber Danziger Goldwasser ist auch ein liebliches Getränke«, sprach der Herr von Knorpp. »Da werden wir ihm doch wohl die Scheibe einschlagen müssen. Hallo, holla, da ist er!«

Auf das wiederholte Gepoch wurde mit einem grimmigen Getöse das Fenster in der Höhe aufgerissen, und, beleuchtet von einer flackernden Kerze, schob sich der dickste Kopf der dänischen Monarchie in die Nacht vor.

»Ist das nicht wie ein Nordlicht?« fragte der Oberst, seinen Ellenbogen dem Begleiter in die Seite stoßend. »Gut Freund, Meister Snorro Skalholt! Steige Er hernieder, Camarado, man hat eine Arbeit für Ihn!«

»Eheu, dux legionarius!« schnarrte die Erscheinung im Fenster, das zerwühlte flachshaarige Haar zurechtschüttelnd. »Seid Ihr es, Herr von Knorpp? Was habet Ihr für Euern Gehorsamsten? Mit oder ohne Messer, Obrister?«

»Herunter mit dir, Island!« schrie der Kriegsmann. »Das Weitere wird man dir schon auf dem Wege sagen!« Das Fenster schloß sich; der Doktor Snorro Skalholt trat in die Gasse und erfuhr, um was es sich handle. Fürderhin lachte er nur von Zeit zu Zeit grimmig in den Bart und rieb sich die Hände unter dem Mantel. Bereit, auch das Äußerste für ihre Pflicht zu nehmen, erreichten die drei Verbündeten das Haus des Kurators Jens Pedersen Gedelöcke.


 << zurück weiter >>